Submission — Tim Sean Lee Mut Lu
Der aus dem Regen kam
19. Oktober 2018 — MYP N° 23 »Instinkt« — Text: Tim Sean-Lee Mut-Lu, Fotos: Caroline Wimmer
Ich folge meiner inneren Stimme, ergo folge ich meinen Instinkten. Der Herbstregen und die wiedereinkehrende Dunkelheit inspirieren mich. Die dunkle Jahreszeit und die menschenleeren Straßen in der Nacht schaffen eine spezielle wie auch sehr sinnliche Atmosphäre, die mich schon immer in den Bann gezogen hat. Um den Kopf frei zu bekommen, laufe ich sehr oft alleine durch die Nacht.
Alleine zu sein bedeutet nicht, einsam zu sein. Vielmehr gehört Mut dazu, denn alleine sein zu können bedeutet, sich mit den eigenen Dämonen auseinanderzusetzen, diese zu verstehen, zu bekämpfen und, wenn möglich, zu eliminieren (natürlich auf die Charles Bronson-Art).
Wenn ich heute zurückblicke, sehe ich Folgendes vor meinen Augen: Charles Bronson begleicht die Schulden der Benachteiligten und agiert als Racheengel (je nach Betrachtungsweise), denn bei Ungerechtigkeit sieht er relativ schnell rot. Begleitet wird er von dem sagenumwobenen Höllenreiter im rebellischen Ledergewand namens Priester Judas, der aus der Hölle entkam, um seine Jünger zu vereinen und diese auf die Apokalypse vorzubereiten. Und Sade trauert – mit ihrem unverwechselbar melancholischen Klang – um die Liebe des Mannes, den sie niemals halten kann.
Die Ästhetik und Stimmung der in den 50er bis 80er Jahren produzierten Filme und Musikstücke haben mich sehr stark beeinflusst. Ich kann mich sehr gut daran erinnern, als ich Sergio Leones „Spiel mir das Lied vom Tod“ mit Claudia Cardinale und Charles Bronson zum ersten Mal sah. Vor allem das Set Design und die individuellen Outfits der Hauptprotagonisten habe ich bewundert. Es wirkte alles absolut authentisch auf mich und das wurde schließlich zu meinem Credo: Authentizität im Sein und Handeln und Minimalismus im Design und Kunst – das habe ich seit jenen jungen Jahren verinnerlicht.
Musikalisch war ich in den frühen Jahren sehr offen, solange es ehrlich und tiefsinnig war. Von Jazz, Blues, Soul, Dark Wave, Hard Rock, Metal bis hin zu Electro. Meine ersten Platten habe ich noch zu DM-Zeiten erworben, unter anderem „Turbo Lover“ (Judas Priest), „Big Fun“ (Inner City), „Just the way you like it“ (S.O.S.) und „Diamond Life“ (Sade), um nur wenige zu nennen.
Jedoch war ich bei der Auswahl der Künstler und Musikstücke sehr selektiv, das heißt es musste sinnlich, intensiv und tief sein – nach wie vor und noch intensiver selektiere ich heute die Tracks für meine DJ Sets: Die Musik, die ich spiele, hat etwas mit meiner Grundeinstellung zum Leben, zu meiner Gefühlslage und zu meinem Lebensstil zu tun. Meine ersten Chicago House und Deep House Sets habe ich 1998 in Heidelberg mit Vinyl gespielt. Es sind zwanzig Jahre vergangen und dazwischen ist viel passiert. Mehr dazu im folgenden Gespräch mit meinem guten Freund Michael:
Tim Sean-Lee Mut-Lu: Der aus dem Regen kam
Ein nicht so alltäglicher Abend mit Tim Sean-Lee Mut-Lu, DJ und Inhaber der Agentur “Instinkte“. Der erste Regen über Berlin nach vier Monaten, Herbststimmung und ein Mann, der aus dem Regen kommt. Wie vereinbart und ebenso selbstverständlich pünktlich steht Tim Sean-Lee vor der Tür. Er ist da! Sein Charme so unwiderstehlich wie die Leckereien aus seiner KDW-Tüte. Eine Flasche Weißburgunder, ein französisches Baguette und dazu Tiroler Bergkäse.
Tim sitzt wie so oft an der Stirnseite unserer Tafel und lehnt seine tätowierten Arme auf den Tisch. Ungewollt nimmt er drei Viertel des Raumes ein. Er legt Wert auf sein Äußeres: 50er Jahre-Trench Coat, James Dean-Shirt, perfekt sitzende 50er Jahre-Bundfaltenhose zu englischen Designerschuhen. Das ist die schicke Oberfläche.
Wir reden davon, was ihn jenseits des Berliner Hypes ausmacht. Tim ist ein Individualist. So ambivalent wie sein persönlicher Geschmack zwischen Charles Bronson und Sade, Judas Priest und Ennio Morricone, so selten findet man einen authentischen Typ wie ihn.
»Wenn ich logisch gehandelt hätte, dann wäre ich jetzt Maschinenbauingenieur. «
Michael:
Was denkst du, macht deinen Instinkt aus?
Tim Sean-Lee:
Schwer in Worte zu fassen, eine Art von Eingebung würde ich sagen. Wenn man der inneren Stimme Gehör schenkt und es zulässt, weiß man, dass es richtig ist. Mal die Logik ausschalten und auf das Bauchgefühl hören.
Wenn ich logisch gehandelt hätte, dann wäre ich jetzt Maschinenbauingenieur.
Habe stets versucht, meiner inneren Stimme zu folgen. Um Harmonie zu erlangen, sollte man – gerade bei schweren Entscheidungen – dem Bauchgefühl vertrauen. So ist es ja auch mit der Musik: Man hört zu und weiß relativ schnell, ob es einem gefällt oder nicht. Das hat nichts mit Logik zu tun, sondern mit Emotionen und ob es einen berührt. Die Musik war mein Rückzugsort und meine Leidenschaft. Emotional wie Bryan Ferry oder melancholisch wie „The End“ von The Doors, bis ich angefangen habe, diese Gefühlswelt intuitiv zu transformieren und im Tanz auszuleben.
Michael:
Für welche tänzerische Ausbildung hast du dich entschieden?
Tim Sean-Lee:
Ein Studium für Modern Dance an der Academy Orlando, USA.
Durch den Tanz habe ich meinen Emotionen zum Ausdruck verholfen.
Modern Dance ist sehr sinnlich und verkörpert Leidenschaft.
Eine Leidenschaft, die sich nahezu in allen Bereichen meines Lebens instinktiv durchsetzt und die ich ebenso für Musik und Mode aufbringe.
Textilien, und damit meine ich nicht die billig produzierten Massenwaren für die Wegwerfgesellschaft, sind für mich ebenso sensuell und schaffen ein Gefühl von Individualität, ein wenig wie beim Tanz. Es scheint mir fast so, als würde der Gesellschaft immer mehr das Denken abgenommen. Fast alles wird einem vorgekaut und fertig präsentiert. In den 80ern und 90ern, ohne die Super High-Speed Digitalisierung, musste man sich mit Mode, Musik oder was auch immer auseinandersetzen. Man musste sich selbst darum kümmern und logischerweise Zeit investieren, um sich Wissen anzueignen, das heißt eine Leidenschaft, die einen beflügelt und pusht. Heute vertrauen die meisten Leute Google! Folgende Situation beschreibt es wohl am besten: Man trifft sich (noch) mit Menschen, spricht über dies und das und irgendwann kommt es zu einem Punkt, an dem dein Gegenüber etwas nicht zu 100 Prozent nachvollziehen kann. Und was macht sie beziehungsweise er?! Richtig: Google fragen statt dem Gegenüber Glauben zu schenken. Ich frage mich: Wie haben unsere Mütter, Väter und Vorfahren all das aufbauen können, ohne eine Antwort von Google zu erhalten? Wie konnten sie alle von A nach B kommen, ohne sich zu verirren? Waren wohl allesamt Genies. Und nein, ich habe nichts gegen Google – ich nutze es auch, wenn es angebracht ist.
»Kommunikation besteht nicht nur aus Worten und Lauten.«
Michael:
Wie wichtig ist Kommunikation für dich?
Tim Sean-Lee:
Durch das Studium der Kommunikationswissenschaften konnte ich die Bereiche Mode, Tanz und Musik effektiv verknüpfen. Und es hat mir geholfen, meine Visualität auch in Wort und Schrift zu übertragen. In der Kommunikation verwende ich sehr oft die bildliche Sprache. Ich erinnere mich an eine Situation vor Jahren in einem Düsseldorfer Buchhandel. Ich war auf der Suche nach etwas Besonderem, hatte aber nichts Bestimmtes in Gedanken. Es sollte an „Das Parfum“ von Patrick Süskind herankommen und mich sofort fesseln – schwer genug. Während ich durch die Gänge lief und in Gedanken schon das Geschäft verließ, passierte etwas, das mich bis heute berührt: All diese Cover-Fotos und Illustrationen auf den Büchern fliegen einem förmlich zu und im Bruchteil von Sekunden treffen wir die Entscheidung „gefällt“ oder „gefällt nicht“, so auch ich an diesem Tag. Bei einem der Cover-Illustrationen dachte ich mir Folgendes: Was hat ein Kinderbuch mit einem Elefanten und Zirkuszelt hier in dieser Abteilung zu suchen? Wie banal dieser Gedanke war, habe ich sofort bemerkt und blieb stehen. Warum tat ich das? Warum habe ich etwas verurteilt und beurteilt, ohne es zu kennen? Genau diese Fragen haben mich dazu gebracht, sofort zurückzulaufen und das Buch zumindest etwas näher zu betrachten. Das war ich mir selbst und dem Autor schuldig. Ich war ungerecht in meinem Urteil und wenn ich etwas nicht ausstehen kann, dann Ungerechtigkeit. Also nahm ich es in die Hand, auf der Vorderseite die besagte Illustration. Ich drehte es um – es gab keinen Umschlag, ergo auch keinen Klappentext – und habe Folgendes gelesen: Kindern erzählt man Geschichten zum Einschlafen, Erwachsenen damit sie aufwachen… Seit jenem Tag habe ich das Buch mehrmals gelesen und ebenso alle weiteren Werke des Autors.
Kommunikation besteht nicht nur aus Worten und Lauten: Meistens beginnt die Kommunikation nonverbal, die visuelle Wahrnehmung ist ein sehr ausgeprägter Instinkt. Unser äußeres Erscheinungsbild ist voll bestückt mit Informationen und Mode und Textilien sind ein Bestandteil dieser Informationen. Das gilt wohl für die meisten Lebewesen auf der Erde und dient zumeist der Partnerwahl und/oder der Fortpflanzung. Mein Erscheinungsbild wurde sehr früh durch den amerikanischen, italienischen und englischen Stil der Leinwanddarsteller der 50er und 80er Jahre geprägt. Meine Eltern zelebrierten den 80er Jahre Lifestyle sehr intensiv, demnach war ich ungewollt gut angezogen. Jeden zweiten Sonntag gab es die „Best Dressed“-Challenge (lacht) und das gänzlich ohne Hashtags. Da meine Eltern sehr viel Wert darauf gelegt haben, an Wochenenden Familienausflüge zu organisieren, musste sich jeder im Hause Mut-Lu fein machen.
»Die 90er Jahre habe ich sehr intensiv erlebt.«
Michael:
Sozialisierung schreibt man in unserer Gesellschaft groß: Normen, Anforderungen erfüllen, einen Beruf erlernen und dabei sich selbst finden.
Tim Sean-Lee:
Stillstand ist ein Zustand, den ich tatsächlich nicht kenne. Ich habe einen großen Drang, etwas zu kreieren und aufzubauen. Als ich meine Karriere in der Modewelt als Einkäufer und PR-Manager für Union Square begann, tanzte ich nebenbei noch am Nationaltheater Mannheim. Ich schuf mir meinen Ausgleich, indem ich mich eine Zeit lang auf das Auflegen konzentrierte. 1998 habe ich meine eigene Eventreihe gestartet und mich intensiv auf das Auflegen konzentriert. Im Fokus der Eventreihe stand House-Musik mit unterschiedlichen Stilrichtungen im Programm. Darüber hinaus war ich ein Jahr lang Resident im Memory Club und spielte in diversen Clubs in Süddeutschland. Und nach wie vor bestehen meine Sets aus den ursprünglichen House-Klängen: Chicago House und Deep House.
Die 90er Jahre habe ich sehr intensiv erlebt. Ich ging auf Burlesque-Partys, die damals noch in relativ kleinen Kreisen zelebriert wurden. Es war faszinierend, wie elegant und erotisch die Besucher auf den Veranstaltungen gekleidet waren. Es ist für mich fesselnd, wenn man nicht direkt blank zieht – direkte Nacktheit reizt mich nicht. Aufreizend angezogen zu sein, um den Drang zu verspüren, das Gegenüber auszuziehen, das erotisiert mich. In keine Verkleidungen schlüpfen, eher in eine zweite Haut, die ein Teil von mir ist.
Michael:
Konntest du dir deinen Lebensunterhalt mit dem Auflegen finanzieren?
Tim Sean-Lee:
Nein, das Auflegen war stets eine Leidenschaft, die ich intensiv und so professionell wie möglich realisiert habe. Zu diesem Zeitpunkt ist mir nicht in den Sinn gekommen, das Auflegen als Fulltime Job zu sehen. Nachdem ich mein Diplom in Kommunikationswissenschaften beendet habe, stürzte ich mich in die Textilindustrie und nahm meine erste Stelle als Einkäufer an. Als ich in meinen 20ern war, gab es noch keine Coworking-Plätze, es wurde auch kein Wert auf die sogenannte „Life-Work-Balance“ gelegt.
Der Ausgleich, auf den die meisten Arbeitgeber heute bei Ihren Mitarbeitern Wert legen, zum Beispiel durch Sport in den Pausen oder Zeiten der Erholung während der Arbeit, gab es zu meiner Zeit in der Arbeitswelt nicht. Ich wusste allerdings schon sehr früh, dass bei den meisten Arbeitsplätzen der Wohlfühlfaktor fehlt. Ich habe als Einkaufsleiter gearbeitet, war Produkt Marketing Manager, International Brand Manager und PR-Berater. Es lief so lange sehr gut, bis ich gar nicht mehr lief. Es konnte nicht gut gehen: immer auf der linken Spur mit Vollgas zu fahren, ist erschöpfend.
Meine DNA hat mich zum Pferdeflüsterer geführt, ich wollte und musste zur Ruhe kommen. Schon als Kind war ich fasziniert von Pferden, wahrscheinlich weil die Cowboys so cool darauf wirkten (lacht). Ich habe sechs Monate lang keinen Job angenommen und mich über mehrere Wochen bei der Reiterpension Marlie niedergelassen. Wolfgang Marlie – eine Koryphäe in Horsemanship sowie mein Reitlehrer – vertritt die Einstellung, dass man ein Pferd ohne Geschirr und andere Hilfsmittel reiten kann, wenn Vertrauen und Feinsinnigkeit die Basis zur Grundkommunikation ist. Er lehrte mich eine Kunstsprache aus Signalen, wodurch ich dem Pferd und mir selbst wieder näherkam. Ich habe mongolisches Blut in mir – und Reitervölker der Mongolei vertrauten stets in eine tiefe geistige Bindung zu ihren Pferden. Wolfang Marlie versucht, dem Reiter und dem Pferd die gegenseitige Angst voreinander zu nehmen,
sich nicht voreinander zu fürchten und gemeinsam nach Harmonie zu suchen. Diesem Prinzip versuche ich seit jeher treu zu bleiben. Bei Freunden, auf dem Reitplatz und bei der Arbeit.
»Ich selbst muss überzeugt sein von dem Projekt, der Idee und dem Resultat.«
Michael:
Wie kamst du zu deiner Agentur und dem Namen „Instinkte“?
Tim Sean-Lee:
Ehrlich gesagt habe ich gar nicht lange nach einem Namen gesucht. Ich interessiere mich sehr für Astrophysik und ebenso für das instinktive Verhalten in der Tierwelt. Und durch all diese Informationen über all die Jahre habe ich eines ganz klar und deutlich verstanden: die meisten – nicht-menschlichen – Lebewesen folgen ihren Instinkten. Dadurch war alles im Gleichgewicht, nur der Mensch hat es fertiggebracht, diesen Kreislauf zu unterbrechen und zum Teil auch zu zerstören.
Ich habe die Agentur als Antwort auf meine Ernüchterung der Fashion-Industrie gegründet. Ich wollte nur noch unter Konditionen arbeiten, die ich selbst bestimmen konnte. Die Agentur „Instinkte“ hebt sich von anderen ab, weil sie instinktiven Entscheidungen folgt. Meinen Entscheidungen, bei denen ich auf mein Herz vertraue und auf meinen Erfahrungsschatz zurückgreife. Ich selbst muss überzeugt sein von dem Projekt, der Idee und dem Resultat.
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Fotografie: Caroline Wimmer
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