Submission — Lumen L. Lessing
Sargmythos
14. April 2013 — MYP No. 10 »Meine Nacht« — Text & Foto: Lumen L. Lessing
Als die Gedankengebäude zum Thema Nacht aus meinen Erinnerungen in meinen Verstand ragten, spielten sich drei Nächte als seltsamer Panorama Split Screen alle gleichzeitig ab. Man kann es sich so vorstellen, dass das eigene Unterbewusstsein Mario Kart gegen und für sich selbst spielen möchte. Dabei ist man Verbündeter und Rivale zugleich. Ein recht merkwürdiges Erinnerungschaos jedenfalls. Um diesen Wirrwarr an Gedankenbildern Einheit zu gebieten, entschied ich mich für ein Alltagsmärchen. Zu meiner Person selbst: Ich bin eine Träumerin, weder Tag- noch Nachtträumerin, sondern Dauerträumerin. Das ist mein Wesenszug.
Am 10.10.10 wurde ich zum Geburtstag von Hiltrud eingeladen. Trotz Unwissenheit kam ich der Einladung nach. Als ich mit einer Schulkameradin eintraf, wurde ich für einige Sekunden wortleer. Es schien ein Riesenspektakel im Kleinen zu sein. Die gesamte Wohnung war eingekleidet mit Kunstwerken, Skulpturen und Fotografien. So als trüge die Wohnung einen orientalischen Mantel, den die Bewohnerin selbst gewebt, genäht und zusammen gestickt hat. Meine Augen waren nach den ersten Minuten bereits von der Vielfalt dieser Wohnung erschöpft. Doch es war eine Form der positiven Müdigkeit oder – NEIN Müdigkeit ist das falsche Wort- der visuellen Sättigung. Bevor ich nun die ersten Eindrücke irgendwie realisieren konnte, flüsterte mir die Schulkameradin zu: „ Finde den Sarg! “ Verdutzt schaute ich sie an. Sie lachte über meinen fragenden Blick. Vor allem , weil sie diesen speziellen Situationsblick an sich selbst kannte, wie sie mir anschließend zugestand. Denn die gleiche Aufgabe wurde ihr gestellt, als sie zum ersten Mal bei dieser wundersamen Frau war.
Ich glaube, nur Christopher Columbus kann nach empfinden, was ich in diesem Moment empfunden haben muss. Ich erwartete, eine alte Dame zu besuchen. Und in dieser Nacht öffnete sich mir eine völlig neue Welt. Wie einst der große Entdecker war ich auf Irrfahrt durch diese Wohnung, auf der Suche nach dem Sarg. Neben meinen Irrungen wurde auch ihr Geburtstag gefeiert. Während ich also suchend umher schaute, lernte ich allerlei Menschen kennen, unterhielt mich mit ihnen, lachte und lebte. Eine kleine Weile verging und im freudigen Trubel entdeckte ich – neben all den Statuen, Kunstwerken, Fotos, Bücher, Bildern, Installationen und Figürchen– auf dem Fußbodenteppich Teile einer Autobahn, die einst zerstört wurde. Mit dieser schön skurrilen Bodenbestattung fiel mir auf, dass jedes Zimmer dieser Wohnung mindestens einen Charakter und noch mehr Geheimnis in sich trägt (Ich habe bis heute nicht alle gelüftet und dieses Ereignis ist nun drei Jahre her.). Auf der Suche nach dem Sarg verstand ich nun die semantische Konstellation der Zimmer. So fand ich die Märchenecke: Inmitten eines etwa 6m2 kleinen Raumes stand ein ornamentaler Sessel, umgeben von kleinen Büchertürmen. Dort lauschte ich sphärischen Klängen.
Ein Mann thronte mit einem seltsamen „wok-artigem“ Instrument dort und tänzelte mit seinen Fingern darauf umher, wobei er den Wok umgekehrt auf den Knien hielt. Ich schloss die Augen und lies mir für meine Suche Zeit, verweilte bei ihm. Irgendwann verließ er seine Trance, schaute auf und sah mich an. Er erklärte mir, dass dies eine sogenannte „Hang“ sei.
Ein in Bern erfundenes Instrument, das aus zwei miteinander verklebten Halbkugelsegmenten aus Stahlblech besteht. Nach einem innerem Hin und Her fragte ich ihn schließlich, ob ich auch darauf spielen durfte. Er stimmte zu. Der erste Versuch war recht holprig. Meine Finger hatten bei den Aufschlägen nicht genug Kraft gehabt, um Töne erklingen zu lassen. Im Vergleich zu mir wurden seine Bewegung mit Leichtigkeit gezeichnet. „ Es ist eine Sache der Übung. Am Anfang solltest du einfach mit dem Druck der Aufschläge rumprobieren.“, riet er mir. Gesagt, getan.
Meine ersten Töne glitten durch den Raum. Zufrieden ging ich weiter. Nachdem ich nun die Wohnung zum siebten Mal mit meinen Blicken ertastet hatte, stieß ich plötzlich auf den Sarg. Das kuriose Objekt war aufgeschnitten und wurde als Regal genutzt! Was für eine nächtliche und vor allem abenteuerliche Suche zu Menschen, Dingen und Personen bis der Mythos des Sarges gelüftet wurde. Letztlich war dieser „nur“ ein Regal im Innenleben eines Skizzenbuches, welches als Wohnung von Hiltrud Neumann bekannt ist.
Lumen L. Lessing ist 21 Jahre alt, Visual Artist und lebt in Hamburg.