Submission — Lukas Leister

Ein halbes Jahr

14. Juli 2013 — MYP No. 11 »Mein Souvenir« — Text: Lukas Leister, Foto: www.beat-eisele.com

Der schwarze Fleck, da wolle er keine beschönigende Umschweife machen, sei ein haselnussgroßer Tumor mitten im Stammhirn. Dr. Larsson tippte mit seinem Mittelfinger unerträglich souverän auf dem Ausdruck der Röntgenaufnahme herum. Es hatte mich schon immer gestört, wenn Leute anstatt des Zeigefingers, der seine zeigende Funktion ja nicht offensichtlicher im Namen tragen könnte, den Mittelfinger zum Deuten benutzten. Dass es dann letzten Endes Larssons souveräner Mittelfinger sein musste, der mir das attestierte, was ich die letzten Tage befürchtete, war wie ein finaler Tritt in sowieso schon angebrochene Rippen.

Überhaupt wirkte alles an Larsson so unangenehm gefestigt und sicher. Seine klare, tiefe Stimme, seine kerzengerade Haltung und das markante Gesicht machten ihn zu dem, was man im Groben und Ganzen als genaues Gegenteil von mir bezeichnen kann.

Es täte ihm leid sagte er, während er wie einstudiert seine Hand mit tröstender Absicht auf meiner knorrigen Schulter parkte.
Doch trösten konnte er mich nicht und wollte ich mich auch nicht lassen.

Stattdessen schien mir seine Hand wie ein heißes Bügeleisen, das sich langsam seinen Weg durch meine Jacke, meinen Pullover und meine Haut brannte. Erschrocken von der Hitze, die sich plötzlich in meinem Körper ausbreitete, schubste ich seine Hand ungewollt grob von mir.

Davon unbeeindruckt schaute mir Dr. Larsson, der wohl auf eine Reaktion von mir wartete, mit einem starrem Blick in die Augen. Genau wie ich rechnete er wohl damit, dass ich jeden Moment in Tränen aus- und dann zusammenbrechen würde. Doch irgendwie schaffte ich es ruhig zu bleiben, nichts zu sagen und regungslos dazustehen, für eine – vielleicht auch zwei – Minuten.

Meine vermeintliche Gefasstheit ließ augenscheinlich auch den Arzt zumindest für einen kurzen Moment stutzen und verstummen, was mir für einen noch viel kürzen Moment ein beinahe befriedigendes Gefühl gab, mein Gegenüber aus seiner Routine gerissen zu haben.

Dass ich schon die letzten zwei Tage abwechselnd geweint, geschrien, nichts gegessen und wenig geschlafen hatte, konnte er nicht wissen und ich hätte den Teufel getan und es ihm erzählt.

„Wie lange?“, war das Erste was ich dann mit doch peinlich zittriger Stimme über die Lippen brachte – das hatte ich mir zurechtgelegt. In Arztserien schafft das Stellen dieser Frage für gewöhnlich einen dramatisch anmutenden Pathos. In meiner Situation war es nicht pathetisch und wenn überhaupt mutete es erbärmlich an. Indessen bot es der Souveränität Larssons Gelegenheit, sich in voller Pracht zurückzumelden.
Das könne er nicht sagen, da müsse man erst genauere Tests durchführen, es wäre mir nur nahezulegen, auch wenn er sicherlich leicht reden hätte, nicht den Kopf in den Sand zu ste… „Wie lange?“, unterbrach ich ihn. Larsson hielt inne.

Drei, vier Monate, wenn man sofort mit der Behandlung beginne und die Medikamente anschlügen, vielleicht auch ein halbes Jahr. Man könne mich heute noch aufnehmen, er würde sich persönlich darum kümmern.
Ob ich schon gepackt hätte, fragte er mich. „Nein.“, sagte ich und nickte trotzdem zustimmend, dass
das wohl das Nächste sei, was zu tun wäre.

Draußen vor der Klinik schien die Sonne. Ich schaute auf meine Uhr. Es war März, der zweiundzwanzigste, Mittagszeit. Larsson hatte recht, ich musste packen. In drei Stunden ging mein Flieger.

Ich nahm mein Notizbuch aus der Tasche und schlug den Jahreskalender auf der dritten Seite auf.

Ein halbes Jahr im besten Fall, dann wäre es September und bald Herbst.