Submission — Anna Maria Nemetz
Nächstenliebe in der Wüste Israels
Midburn 2018: Mitten in der israelischen Wüste feiern Festivalfans aus aller Welt den Trend der „Radical Self-Expression“. Wie es sich anfühlt, in einer Krisenregion Party zu machen, erzählt Anna-Maria Nemetz.
8. August 2018 — MYP N° 23 »Instinkt« — Text: Anna-Maria Nemetz, Fotografie: Meir Cohen
Sanfte Landung auf israelischem Boden am 15. Mai 2018 um 16:20 Uhr. I‘m back home – so zumindest fühlt es sich an, wenn ich nach Tel Aviv reise. Es ist mittlerweile das vierte Mal. Das erste Mal hat es mich dorthin verschlagen aufgrund eines Musikvideodrehs unter der Thematik „Die Suche und Umsetzung der persönlichen Freiheit in einer zunehmend unverständlich-grausamen Welt wie der unseren“. Die Realisierung erfordert vorab eine intensive Auseinandersetzung mit dem Land Israel und der Komplexität der vorherrschenden Konflikte. Mein Interesse wächst. Zudem bin ich von Minute eins magisch angezogen von dieser Stadt.
Es ist der 15. Mai 2018. Nur einen Tag zuvor, am 14. Mai, wurde die Botschaft unter Trump in Jerusalem eröffnet. Gleichzeitig war es der 70. Jahrestag der israelischen Staatsgründung. An Israels Grenze zum Gaza-Streifen kam es zu gewaltsamen Ausschreitungen. Über 60 Menschen kamen ums Leben, unzählige Menschen wurden verletzt. Mir fehlten die Worte. Der Friedensprozess des Nahost-Konflikts grenzt immer mehr an Utopie. Und ich bin auf dem Weg zu einem Festival… Es scheint mir, das Leben in Tel Aviv wird von dieser Absurdität bestimmt: Kämpfe, Waffenruhe, Kämpfe, Waffenruhe, Kämpfe, Waffenruhe… und dazwischen Leben – als gäbe es keinen Morgen. Hoch fliegen, jeden Tag, unter einem Raketenschutzschild!
Ich lande. Ich hetze zum Gepäckband und schnalle mir den scheißschweren Rucksack auf meinen schwachen Rücken. „Ordentlich festziehen, sodass sich das ganze Gewicht hauptsächlich auf meine Beine verlagert“, wie mir der Outdoor-Fachmann bei dem Rucksack-Kauf einen Tag zuvor mit auf den Weg gab. Die Vorbereitung auf den vermeintlichen Survival-Trip „Midburn“ in der Negev Wüste geschah in der allerletzten Minute. Zelt, Schlafsack, einen gut sitzenden Backpacker, Sonnencreme, ein schickes deutsch-authentisches Hawaii-Hemd, das nun nach jahrelangem Kelleraufenthalt endlich Einsatz findet, dazu Wasser, Müsliriegel en masse, die sich in der Wüste hoffentlich gut halten werden, und einen unentbehrlichen Sonnenhut in der angesagten Farbe Beige mit der dicken, nicht übersehbaren Aufschrift meines Rufnamens „Annama“ sowie der Telefonnummer meines Notfallkontaktes, genau wie mir meine liebe Mutter es verordnet hat.
Wenn Gaffa Tape doch nur tatsächlich die Welt zusammenhalten würde!
Der Funktionshut soll im Worst Case-Szenario zur Identifizierung meiner Person beitragen, sollte ich mich unter den Folgen der brennenden Sonneneinstrahlung in der Wüste in einen anderen, gegebenenfalls flüssigen Aggregatzustand umgewandelt haben. Zu guter Letzt ein XL-Gaffa Tape. Ich bin der festen Überzeugung, dass Gaffa Tape alle erdenklichen Probleme lösen kann. Slogan: „Das klebrige Wundermittel, das die Welt zusammenhält.“ Wenn es doch nur tatsächlich die Welt zusammenhalten würde! Ich glaube vollständig vorbereitet zu sein, um das Wüstenabenteuer unversehrt zu überstehen, wenn nicht gar zu überleben.
Durch mein zweites Zuhause schleppe ich mich mit Sack und Pack auf dem schnellsten Weg zum Spaceshuttle, das mich zum Festivalgelände bringen wird. Die Straßenoberflächen glühen vor Hitze und ich spüre, wie sich so langsam ein Feuchtbiotop in meiner Rückenregion unter dem Rucksack bildet. Herrlich! Die Truppe, die ich auf Facebook ausfindig gemacht habe und der ich mich im endlosen Abenteuerfieber anschließe („Midburn ride“), wartet bereits auf mich. Nach etwa zwei Stunden Autofahrt, neuen Bekanntschaften, tollen wertvoll-platonischen Gesprächswechseln, gekühltem „Goldstar“ Bier in den Adern, kleinen Köstlichkeiten mit Hummus im Magen und jeder Menge blauer Farbe in Form von kleinen Kunstwerken auf meinem Körper, bin ich nun legitimiert und bereit, das Festival mit bester Laune zu betreten.
»Welcome Burners, welcome home!«
„Welcome Burners, welcome home!“, heißt es an den Gates. Da ich mich zeitlich keinem Camp mehr anschließen konnte und somit „free camper“ bin, suche ich mir zuallererst ein lauschiges Plätzchen neben all den anderen Zelten auf 2 Uhr, um in erster Linie meine ganze Last loszuwerden. Ähnliches würde ich wohl auch in den Folgetagen tun, nur dass es – ganz dem Midburn-Selbstverständnis entsprechend – um die Befreiung von den psychischen Lasten des Alltags gehen wird. „Release your mind!“ heißt es hier. Mit einem blauen Edding tagge ich noch schnell – ebenso wie später auch alle anderen Freigeister, die mir auf dem Weg der Selbsterfahrung begegnen werden – mein zerschnittenes Shirt mit der Aufschrift „Free Mind“, um die Philosophie des Midburn in voller Gänze zu leben. Ein weiteres Shirt bekommt die pragmatische Aufschrift „Please help!“
Bei der Errichtung meiner Behausung für die nächsten sechs Tage kommt mir das sehr zugute. Ich überlege, ob ich jemals in meinem Leben ein Zelt aufgebaut habe. Die Antwortet lautet zweifellos: noch nie! Ungünstig, denke ich. Die Verzweiflung ist mir ins Gesicht geschrieben und so kommen schnell ein paar Helferlein beziehungsweise meine neuen Nachbarn zur Hilfe geeilt. Gott sei Dank! Bei solch körperlichen Anstrengungen wäre ich in der Hitze wohl eingegangen – und unter Teameinsatz wird das Ganze doch direkt zu einem schönen Erlebnis. Ich erhalte zudem noch einen köstlichen Granatapfelsaft mit Schuss. Fantastisch – ich bin angekommen! Fast schon heimisch.
Die folgenden Tage tanze ich, wie die meisten meiner Weggefährten, überwiegend durch das sandige Wüstenparadies. Schwebende Körper in beeindruckenden Outfits („radical self expression“) unter einem atemberaubenden Sternenhimmel, bunten Lichtern und hypnotisierender Musik – bei Nacht wie bei Tag, als wäre dieser noch ganz unberührt und bereit erweckt zu werden von friedlichen „Burners“, die langsam aus ihrem ganz persönlichen Utopia höchster Gefühle wieder in der Realität landen.
Das Einzige, was käuflich ist, sind kiloweise Eiswürfel.
Regelmäßiger Schlaf kommt nur selten vor. Also eigentlich nie. Zeit ist hier relativ. Entschleunigung, ein wunderbares Gefühl! Bin ich erschöpft, so lege ich mich zwischendurch mal auf gemütlich drapierte bunte Kissen im „Free Love Camp“ oder mache Rast auf dem riesengroßen pinkfarbenen Plüschteddy im „Crystal Grey Camp“. Oder ich finde einen ruhigen Moment in all den anderen tollen Camps. Nach einer kurzen Ruhephase wache ich um 4 Uhr morgens auf. Ein „Kumpel“ beziehungsweise ein „Seelenverwandter“ beziehungsweise ein „Bruder im Geiste“ beziehungsweise ein „Vertrauter“ und „Gleichgesinnter“ in goldenen Leggings weckt mich freundlich auf und überrascht mich mit einer Flasche Rotwein und Müsli mit Milch. Ohne auch nur einen einzigen Cent oder Shekel in den Taschen bekomme ich hier und da einen Snack, eine Erfrischung, ein tolles Gespräch, einen Tanz; Hilfe, wenn Not am Mann ist; eine ehrliche, viel zu lange Umarmung; ein strahlendes Lächeln, einen guten oder gut gemeinten Rat fürs Leben… Man bringt mit, was man glaubt zu brauchen, und beschenkt einander. Das Einzige, was käuflich ist, sind kiloweise Eiswürfel.
Einmal heile Welt spielen. Es kann so einfach sein. Wie gut das tut!
Nach dieser nahrhaften und liebevollen Stärkung finde ich mich tanzend bei magisch glühendem Sonnenaufgang inmitten der Wüste wieder. Laute Musik fliegt 24/7 durch die Lüfte. Mit Sand von oben bis unten bedeckt, Sandkörnern zwischen den Zähnen, alles egal. Körperlicher und mentaler Zustand: fantastisch. Zur anfangs befürchteten Umwandlung meiner Erscheinungsform – von fest zu flüssig, aber stets mit Hut – ist es nicht gekommen. Das Abenteuer Wüste ist ein einzigartiges, inspirierendes Herumtollen auf einem gewaltigen Spielplatz voller Attraktionen und großartiger Begegnungen mit unterschiedlichsten Menschen. Jeder kann tun und lassen, was er will, ohne den Kant`schen Imperativ zu verletzen. Unverfälschte Authentizität, Loyalität und Menschlichkeit werden in vollen Zügen zelebriert und toleriert. Eine Community unabhängig von Religion und Politik. Ein Symposium ganz im Sinne Lessings. Einmal heile Welt spielen. Es kann so einfach sein. Wie gut das tut!
Fotografie: Meir Cohen