Portrait — Sebastian Goddemeier
Provinz ist kein Ort
Journalist und Autor Sebastian Goddemeier hat sich queere Themen zum Sujet gemacht – und schreibt fleißig gegen gesellschaftliche Stigmata an. In seinen Texten schöpft er dabei oft aus dem eigenen Erlebten und Ertragenen. Ein Portrait über einen jungen Mann, dessen Geschichte eine ganz besondere ist. Und die sich so oder so ähnlich hätte überall ereignen können.
21. Februar 2021 — MYP N° 30 »Gemeinschaft« — Text: Jonas Meyer, Fotografie: Maximilian König
Das Städtchen Drensteinfurt kann sich wirklich sehen lassen. Der schmucke Ort im Herzen des Münsterlands glänzt nicht nur mit seinem erstaunlichen Repertoire an historischen Fachwerkhäusern. Es gibt außerdem vier Wasserschlösser, drei Grundschulen, ein Erlebnisbad und unzählige Kilometer Fahrradweg. Und auch die Vereinslandschaft hat, von Angelsport bis Zigarrenclub, so einiges zu bieten für die knapp 16.000 Einwohner. Erwähnenswert ist auch die niedrige Pro-Kopf-Verschuldung, die bei nur etwa einem Zehntel des Landesdurchschnitts liegt. Und dann, zu allem Überfluss, führt noch der westfälische Jakobsweg an der Stadt vorbei.
Nicht der schlechteste Ort also, um aufzuwachsen. Zumindest, wenn man nicht schwul ist. Wie Sebastian Goddemeier, freiberuflicher Journalist und Autor und mittlerweile 27 Jahre alt.
Um gleich ein gewisses Erwartungsmanagement zu betreiben: Die Lebensgeschichte von Sebastian ist nicht als Verdammung seiner Heimat zu verstehen. Sie ist kein Herabblicken der Großstadt aufs Land, keine Kriegserklärung des Heute an das Gestern, kein cool versus piefig. Drensteinfurt könnte überall sein. Und Sebastians Leben das eines anderen, vieler anderer. Gerade deshalb muss es erzählt werden.
»Im Kindergarten bin ich sehr gerne als Erdbeere im roten Tutu aufgekreuzt.«
Eine der frühesten Erinnerungen, die Sebastian aus dem Gedächtnis kramen kann, geht zurück auf seine Zeit im Kindergarten. „Ich weiß noch, dass ich dort sehr gerne im glitzernden Sailor-Moon-Kostüm oder als Erdbeere im roten Tutu aufgekreuzt bin“, erzählt er. Dass er nicht nur mit Hot Wheels spielte, sondern auch mit Barbies, war damals noch kein Problem. Und dass er gerne Kleider trug und sein Gestikulieren etwas feminin wirkte, auch nicht. Sebastians Welt war in Ordnung.
Dann, kurz vor seiner Einschulung, ließen sich die Eltern scheiden. Es folgte ein Umzug ins Sauerland, genauer gesagt nach Harth, ein 800-Seelen-Dorf in der Nähe von Büren. In dieser Zeit legte der Kleine extrem an Gewicht zu.
An seine Grundschulzeit in Harth hat Sebastian kaum gute Erinnerungen. Spätestens ab der zweiten Klasse wurde es ungemütlich für ihn, da er immer wieder von seinen Mitschüler*innen verspottet wurde – hauptsächlich wegen seines Übergewichts. Aber auch die Worte „Mädchen, Mädchen“ bekam er damals schon zu hören, „Schwuli“ ebenso.
»Unter allen Kindern war klar: Man möchte nicht schwul sein.«
„Unter allen Kindern war klar: Man möchte nicht schwul sein“, erzählt Sebastian. Dass dieser Begriff für einen Mann steht, der Männer liebt, wusste er da bereits. „Keine Ahnung, woher ich das Wort kannte“, überlegt er und fährt fort: „Ich erinnere mich, dass meine Oma einen Bekannten hatte, der schwul war. Ich glaube, das war das erste Mal, dass ich mit dem Thema in Kontakt gekommen bin.“ Und dass es sich dabei um etwas Schlechtes handeln musste, machten ihm seine Klassenkamerad*innen mehr als deutlich.
Sebastian weiß noch, wie überfordert er als Sieben- oder Achtjähriger mit dieser Situation war – nicht zuletzt auch wegen seiner familiären Verhältnisse. „Im Gegensatz zu anderen Kindern hatte ich nicht das Glück, wenigstens zuhause eine gewisse Stabilität vorzufinden“, erzählt er und ergänzt: „Ich hatte niemanden, dem ich mich anvertrauen konnte, und musste sehr früh lernen, mich um mich selbst zu kümmern.“
Der Junge fühlte sich zunehmend isoliert und einsam – und war der festen Überzeugung, irgendetwas sei falsch mit ihm. „Ich kam mir vor wie ein Aussätziger, weil es weit und breit niemanden gab, mit dem ich mich identifizieren konnte“, berichtet er. Viele Jahre später wird er in einem seiner Texte schreiben: „In meiner Kindheit lernte ich, Gefühle auszuschalten und sie zu unterdrücken: Wut, Trauer, Enttäuschung. All das verbot ich mir ab einem gewissen Punkt, um zu überleben.“
»Ich war einfach anders – also hat man sich auf mich geschmissen.«
Kurz bevor Sebastian in die sechste Klasse kam, ging es zurück nach Drensteinfurt. Damit änderten sich für den pubertierenden Teenager zwar der Wohnort und die Schule, nicht aber die Sticheleien von Seiten der Klassenkamerad*innen. Zu sonderbar war ihnen dieser neue Mitschüler, der gerade seine Emo-Phase auslebte und so überhaupt nichts gemein hatte mit den Jungs, die man sonst auf den Straßen, in den Schulen und Vereinen von Drensteinfurt sah.
„Ich fand Fußball immer scheiße, habe Jeannette Biedermann gehört und mir alle drei Wochen die Haare gefärbt“, erinnert er sich. „Dazu hatte ich immer ziemlich ausgefallene Klamotten an. Ich war einfach anders – also hat man sich auf mich geschmissen.“ Der Begriff geschmissen ist dabei wörtlich zu nehmen, nicht selten wurde Sebastian auch körperlich attackiert.
Und so kugelte sich der Teenager immer weiter ein, isolierte sich und versuchte, nichts von sich preiszugeben, was eine weitere Angriffsfläche eröffnet hätte. Darüber hinaus, so erzählt er, habe er extrem viel Energie dafür aufgewendet, sich selbst das Schwulsein abzusprechen. Immer wieder habe er versucht, Mädchen zu daten: „Ich habe mir gesagt: Nee, das bin ich einfach nicht.“
»Ich hatte das Gefühl, die Kontrolle über das Gerede zu haben, weil ich es selbst provoziere – und nicht, weil etwas falsch mit mir ist.«
Doch es waren nicht nur die Mitschüler*innen, die Sebastian zur Ablehnung der eigenen Gefühle brachten. Es fehlten auch die Vorbilder, die Identifikationsfiguren im Alltag. „Homosexualität vorgelebt zu bekommen war in Drensteinfurt nicht drin“, schildert er seine Erinnerungen an damals. „Und in der medialen Öffentlichkeit gab es damals nur wenige, aber völlig überzeichnete schwule Charaktere wie etwa Ross Anthony oder Olivia Jones.“ So etwas wie das normale schwule Pärchen von nebenan, da ist er sich sicher, wäre in seiner Kindheit und Jugend undenkbar gewesen.
Als das Mobbing immer größere Ausmaße annahm, versuchte er sich irgendwann an einer neuen Strategie und machte es sich zur Aufgabe, seine Mitschüler*innen bewusst zu provozieren. „Ich habe mein Auftreten total überzeichnet, indem ich etwa morgens den kleinen Weg vom Fahrradständer zum Schuleingang zu meinem kleinen Laufsteg gemacht habe“, erzählt er.
Mit goldenen Adidas-Schuhen und einem riesigen Schal um den Hals tat Sebastian nun jeden Morgen so, als wäre er ein Model, das den Catwalk entlang schreitet. „Ich wusste ja, dass die Leute ohnehin über mich reden“, beschreibt er sein damaliges Empfinden. „Und mit diesem Auftreten hatte ich immerhin das Gefühl, die Kontrolle über all das Gerede zu haben – weil ich es selbst provozieren konnte. Und nicht, weil etwas falsch mit mir ist.“
»Ich hatte irgendwann die Illusion: Wenn ich nur perfekt genug bin, dann mögen die mich.«
Nach der Provokationsphase folgte die totale Anpassung. In der Oberstufe trainierte Sebastian sein Gewicht ab, legte sich Klamotten zu, die auch von allen anderen getragen wurden, und hörte die Musik, die auch bei allen anderen gerade gefragt war.
„Plötzlich gehörte ich dazu: Ich hing mit den Coolen an der Schule ab,“ erzählt er und verrät: „Ich hatte irgendwann die Illusion: Wenn ich nur perfekt genug bin, dann mögen die mich. Dann müssen die mich mögen, es gibt ja gar keinen anderen Weg.“ Und so setzte er alles daran, einfach unter einer Fassade zu verschwinden.
Der enorme Gewichtsverlust sorgte dafür, dass Sebastians Gesicht immer markantere Züge annahm. Seine ausgeprägten Wangenknochen, blauen Augen und langen Beine machten aus dem 1,90 Meter großen Teenager einen gutaussehenden jungen Mann – so gut, dass er im Alter von 16 von einer Münchener Modelagentur unter Vertrag genommen wurde.
Wurde er anfangs noch für Foto-Love-Storys in der Popcorn gebucht, avancierte er relativ schnell zum Fashion-Model und reiste um die Welt. Doch dieser Nebenjob, der für etliche Jugendliche auch heute noch die Erfüllung aller Lebensträume bedeutet, war in der Realität weitaus weniger schillernd, als es die Hochglanzmagazine immer vermuten lassen.
„Ich war als Model nie wirklich erfolgreich und habe damit auch kein Vermögen verdient“, berichtet Sebastian. Der Grund: Er war zu fett. Jedenfalls glaubte man das bei einer Berliner Agentur und ließ ihn das auch unverblümt wissen. Dabei war er zu jener Zeit bereits ziemlich abgemagert. „Ich weiß gar nicht, wie oft ich damals geheult habe“, erinnert er sich. „Das sind eben die Dinge, an die die Leute nicht denken, wenn’s ums Modeln geht.“
»Man kann gar nicht anders, als deren Körper mit dem eigenen zu vergleichen – und das macht was mit einem.«
Auch wenn sich durch den prestigeträchtigen Job einiges in Sebastians Leben geändert hatte, eine Sache wurde er nicht los: den fast zwanghaften Drang, das Lebensmodell anderer zu kopieren. Wie etwa das irgendwelcher reicher Kids aus München, die ihr Aussehen und Tun – oder besser gesagt Nichtstun – auf Instagram ausstellten.
„Ich dachte, genauso muss ich sein: ständig nach Nizza fliegen und den ganzen Tag am Pool posieren – natürlich mit einer teuren Uhr am Arm“, erzählt er. Es dauerte nicht lange und er eiferte dem Lifestyle dieser Leute nach, und zwar deckungsgleich. „Mit Freunden in Nizza abhängen“ war etwas, was er nicht nur einmal zelebriert hatte, wie er uns etwas beschämt wissen lässt.
Heute befremdet ihn seine Motivation von damals: „Das alles hat sich immer sehr leer und synthetisch angefühlt – und es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich verstanden habe, dass Instagram nicht mehr ist als eine Oberfläche.“ Und er unterstreicht: „Ich musste lernen, mich so zu akzeptieren, wie ich bin. Und dass es völlig okay ist, wenn ich Chips esse statt Salat.“
Ganz losgeworden ist er den Druck nie, den diese Plattform auf Menschen und ihr Körperempfinden ausübt. Daher bezeichnet er Instagram ganz klar als Droge: „Auch ich folge dort Fitness-Influencern, die ich mir natürlich gerne ansehe. Man kann gar nicht anders, als deren Körper mit dem eigenen zu vergleichen – und das macht was mit einem.“
Aber im Gegensatz zu früher, so erzählt er, sei er heute in der Lage, das dort Gesehene und Begehrte anders zu reflektieren – oder überhaupt zu reflektieren. Damit meint er konkret: „Ich weiß, warum ich mir das anschaue. Ich weiß, was das mit mir macht. Aber ich kann mittlerweile recht gut steuern, wie ich damit umgehe.“
»Statt mich mit mir und meinen Gefühlen auseinanderzusetzen, fand ich es viel verlockender, einfach nur zu ballern.«
Apropos Droge: Es gab eine Zeit, in der Alkohol einen immensen Stellenwert in Sebastians Leben eingenommen hatte. Und damit meint er ausdrücklich nicht jene Tage, an denen er am Drensteinfurter Bahnhof herumlungerte und sich mit Veltins V+ die Kante gab – obwohl er auch damals schon Alkohol dazu benutzt habe, seine Gefühle zu regulieren, wie er erzählt.
Nach dem Abi war der junge Mann nach Berlin gezogen, um Journalismus zu studieren und der Enge der Kleinstadt zu entfliehen – mit all ihrer Homophobie. Doch gerade in den ersten Jahren gewann das Feiern nicht selten gegen das Studieren, Sebastian verlor sich regelmäßig in der Clubszene der Hauptstadt. „Ich wollte damals einfach nur verschwinden“, erinnert er sich und gesteht: „Statt mich mit mir und meinen Gefühlen auseinanderzusetzen, fand ich es viel verlockender, einfach nur zu ballern – Alkohol wohlgemerkt.“ Ein Fan anderer Drogen sei er nie gewesen.
»Ich musste lernen, dass das, was ich will, wahrscheinlich nicht das Richtige für mich ist.«
Das Résumé zu seinen mittlerweile acht Jahren in Berlin fällt daher auch eher nüchtern aus: Mit ihrem Angebot, ihrer Anonymität, Offenheit und Unverbindlichkeit habe ihm die Stadt ziemlich geschadet, erklärt er und fügt hinzu: „Genau das wollte ich ja – aber ich musste auch lernen, dass das, was ich will, wahrscheinlich nicht das Richtige für mich ist.“ Und so lässt er heute die Finger vom Alkohol.
Gut so, denn so hat er die Hände frei fürs Schreiben. Und schreiben, das tut Sebastian Goddemeier, als gäbe es kein Morgen. Im Alter von 14 verfasste er seine ersten Artikel für die Westfälischen Nachrichten, heute ist er als freiberuflicher Journalist für das Vice Magazin, den Spiegel und den Tagesspiegel tätig, wo er unter anderem das Format Queerspiegel betreut.
Dieser monatlich erscheinende Newsletter ist das beste Beispiel für all das, was sich Sebastian journalistisch zum Sujet gemacht hat. Seit Jahren befasst er sich mit Themen, die vor allem jene Menschen angehen und betreffen, die eher etwas außerhalb der sogenannten heteronormativen Mehrheitsgesellschaft sehen. Oder wie es jene Mehrheitsgesellschaft formulieren würde: die bunt sind wie der Regenbogen.
Dass er zu Beginn seines journalistischen Schaffens erst einmal über sein eigenes Leben und Erleben geschrieben hat, ist mindestens bemerkenswert. Denn vor allem in den Texten, die er seit 2018 auf der Website des Vice Magazins veröffentlicht hat, geht Sebastian so schonungslos, offen und ohne jede Form von Berührungsangst mit sich und seiner Umwelt um, dass man als Leser die eigene Offenheit und Aufrichtigkeit gerne mal in Frage stellt. Und ebenso die eigene Unterhaltsamkeit, denn in Sebastians Artikeln steckt eine gute Portion Spaß und Selbstironie. In ihrem Kern sind sie allerdings ernsthaft, persönlich und konkret – und in vielen Fällen als thematischer Anstoß mehr als überfällig – ja, auch noch im Jahr 2021.
Sebastian riet heterosexuellen Männern, sich »von hinten nehmen« zu lassen.
In „Schwuler Junge auf dem Land: Das hat eure Homophobie aus mir gemacht“ etwa erzählt er von seiner eigenen schwierigen Kindheit und Jugend in Drensteinfurt und einer homofeindlichen Umgebung, mit der auch heute noch viele junge Menschen zu kämpfen haben. In „Wo Paragraf 175 trotz seiner Abschaffung heute noch weiterlebt“ thematisiert er die auch heute noch an vielen Stellen existierende Diskriminierung nicht heterosexueller Menschen in Deutschland. Und mit dem Text „Wie meine Scham als Homosexueller meine Beziehungen zerstörte“ beschreibt er die eigene Problematik im Umgang mit seiner Sexualität.
In anderen Texten etwa hat er queere Geistliche zu Wort kommen lassen. Er hat über persönliche Erfahrungen in der Psychotherapie berichtet. Und er hat Menschen eine Stimme gegeben, die von ihren Homophobie-Erlebnissen am Arbeitsplatz und in ihren Familien erzählen.
Außerdem hat er in seinen Artikeln mit schwulen Klischees aufgeräumt, seinen Vater interviewt und berichtet, wie er sich als Dragqueen auf die Straßen von Neukölln getraut hat. Er hat aufgezeigt, wie ungesund unsere Gesellschaft für queere Menschen ist, ließ sich von Bill Kaulitz erklären, wie es sich anfühlt, das ganze Leben lang in eine Schublade gesteckt zu werden, und riet heterosexuellen Männern überschriftswirksam, sich „von hinten nehmen“ zu lassen.
»Als Jugendlicher hätte ich mich gefreut, wenn jemand über all diese Themen geschrieben hätte.«
Klar, Clickbaiting versteht der 27-Jährige natürlich, doch in allen geschilderten und nicht geschilderten Fällen verfolgt er ein konkretes inhaltliches Anliegen. Für letzteren, die Analsex-Empfehlung, hatte Sebastian den Sexualpsychologen Umut Özdemir interviewt. Dieser führt die für viele heterosexuelle Männer befremdliche und mit Scham behaftete Vorstellung von schwulem Sex auf ein Männerbild zurück, das in unserer Gesellschaft insgesamt kein verwundbares oder empfindsames sein darf, sondern nach wie vor von archaischen Stereotypen geprägt ist. Sebastians Ratschlag also an alle Hetero-Männer: Probiert es doch einfach mal aus – und nehmt dem Ganzen dadurch die Stigmatisierung.
„In meiner Arbeit und meinen Texten geht es vielfach um Selbstfindung und Akzeptanz“, erzählt der Autor. Er versuche immer herauszufinden, warum jemand so ist, wie er ist. Und es gehe ihm darum aufzuzeigen, dass es ein konkretes Problem gebe – und dafür gleich die eine oder andere Lösungsmöglichkeit mitzuliefern.
Sebastian schöpft oft aus dem selbst Erlebten, um anderen Menschen eine Hilfestellung anzubieten. „Als Jugendlicher hätte ich mich gefreut, wenn jemand über all diese Themen geschrieben und seine eigenen Gedanken mit mir geteilt hätte“, erklärt er – gerade, weil es damals kein sichtbares schwules Leben in seiner Umwelt gegeben habe. Und weil niemand davon erzählt habe, wie es ist, persönlich immer wieder eine Homophobie zu erfahren, die Leib und Seele verletzt.
»Vielerorts ist es für queere Jugendliche immer noch scheiße.«
Aus diesem Grund macht es ihn auch immer noch wütend, wenn er an die vielen Nachrichten denkt, die er von einigen queeren Jugendlichen aus Drensteinfurt nach der Veröffentlichung seines Heimat-Artikels erhalten hatte. „Die Kids haben sich bei mir bedankt, dass ich das mal aufgeschrieben habe.“ erzählt er. „Denn scheinbar hat sich da in all den Jahren nichts verändert. Und so ist es heute vielerorts: für queere Jugendliche immer noch scheiße.“
Drensteinfurt, das stellt dieser überaus wache und engagierte Mann immer wieder heraus, ist nichts anderes als ein Synonym – und zwar für eine Umwelt, die Menschen ausgrenzt, statt sie zu integrieren. Die diskreditiert statt respektiert. Die attackiert statt umarmt. Und die findet man, auch heute noch, überall in Deutschland, egal ob 400 oder vier Millionen Einwohner. Provinz ist kein Ort. Sondern ein Zustand, eine Geisteshaltung. Und meistens eine bewusste Entscheidung.
Aus diesem Grund richtet Sebastian mittlerweile in seinen Artikeln den Fokus immer seltener auf die eigene Biographie, sondern schreibt vielmehr aus einer allgemeinen Perspektive gegen die gesellschaftlichen Zustände unserer Zeit an. Dass er dabei vor allem auf großen Plattformen wie Vice, Spiegel oder Tagesspiegel veröffentlicht, hat seinen Grund: „Ich sehe mich in der Verantwortung, für eher heteronormativ geprägte Medien zu schreiben, damit dort queere Themen endlich vermehrt stattfinden.“
»Queere Themen gehen alle an – auch Franz und Hannelore auf dem Dorf.«
Dass dazu aus dem eher konservativen Lager nicht unbedingt Beifall zu erwarten ist und solche Themen gerne als Nischenprobleme einer schrillen urbanen Minderheit verspottet werden, ist für Sebastian ein Zeichen, dass hier noch viel Aufklärungsarbeit geleistet werden muss.
„Queere Themen sind unzähligen Menschen in diesem Land ein wahnsinniges Anliegen“, bekräftigt er und unterstreicht: „Diese Themen gehen alle an – auch Franz und Hannelore auf dem Dorf. Denn gerade bei denen ist es wichtig, dass sie ein Verständnis für queere Menschen entwickeln.“ Sebastian überlegt einen Moment, dann fügt er hinzu: „Wir leben in einer Gesellschaft, die alles dafür tut, dass sich Heterosexuelle ordentlich entwickeln. Alle anderen bleiben dabei auf der Strecke. Das muss sich ändern.“
An Drensteinfurt selbst ging Sebastians Vice-Artikel übrigens nicht ganz spurlos vorüber, nachdem er Ende 2019 veröffentlicht wurde. In dem kleinen Städtchen war der Text tagelang Gesprächsthema, auch weil die Westfälischen Nachrichten daraus zitierten und in Sebastians alter Schule einige Schüler befragten. „Mein Artikel hat eine kleine Welle losgeschlagen“, berichtet er mit einem nicht übersehbaren Grinsen auf dem Gesicht. Und er ergänzt: „Auch in Hamm und Münster war das Thema in der Presse. Und sogar 1LIVE kam auf mich zu. Mein Text hat also ein bisschen was bewirkt – und genau das war auch meine Intention.“
»Ich mochte Schwule nicht, weil ich in Drensteinfurt gelernt hatte, Schwule nicht zu mögen.«
In seiner journalistischen Arbeit prangert Sebastian übrigens nicht nur die Homophobie anderer an, sondern auch die eigene. Vor einigen Jahren, so erzählt er, sei ihm bewusst geworden, dass er persönlich ein Problem mit eher feminin wirkenden Männern hatte – er habe sie regelrecht abgelehnt.
„Jungs mit gebrochenen Handgelenken habe ich lange Zeit eher abfällig belächelt“, gesteht er. Und er erinnert sich, dass er anfangs immer nur einen bestimmten Typus Mann gedatet habe: „Das waren immer Jungs, die über weiblich auftretende Männer genauso verächtlich geredet haben wie ich – und die irgendwie mit sich selbst absolut nicht im Reinen waren.“
Als auch er von diesen Männern irgendwann so abwertend behandelt wurde, wurde er stutzig und sah sich genötigt, sich mit seiner eigenen, subtilen Homo-Feindlichkeit auseinanderzusetzen. Er fragte sich: „Wenn ich mir so einen abwertenden Typus Mann aussuche, trage ich diese Eigenschaft vielleicht auch in mir selbst?“
Er stellte fest, dass er von Kindesbeinen an mit einer familiär und gesellschaftlich anerzogenen Homophobie aufgewachsen war, die er tief verinnerlicht hatte – wie übrigens viele von uns. Psychologen sprechen hier von „internalisierter Homonegativität.“ In seinem Artikel „Schwuler Junge auf dem Land“ schreibt Sebastian: „Ich mochte Schwule nicht, weil ich in Drensteinfurt gelernt hatte, Schwule nicht zu mögen. Mir waren homosexuelle Männer immer etwas peinlich und unangenehm.“
Um mit dieser angelernten Haltung zu brechen, sah er nur einen Weg: die Flucht nach vorne. Sebastian suchte gezielt den Kontakt zu jenen Männern, die er vorher abfällig betrachtet hatte, tauchte in ihre Lebenswelten ein und entwickelte sogar einen eigenen Dragqueen-Charakter namens Dicki Minarsch. „Dickie ist zwar mittlerweile in Rente gegangen und befindet sich sauber zusammengefaltet in einer H&M-Tüte,“ lässt er uns wissen, „Aber wenn heute jemand zu mir sagt, er würde nur maskuline Männer daten, lässt das bei mir gleich drei Alarmglocken läuten.“
»Man kann gesellschaftliche Stigmata nur abbauen, wenn man sich zeigt.«
Warum die Äußerung, nur maskuline Typen attraktiv zu finden, in der schwulen Welt keine unbekannte ist, dafür hat Sebastian eine Theorie. Er glaube, dass gerade homosexuelle Männer einer falschen Männlichkeit hinterherliefen, die sehr heteromaskulin geprägt sei. „Ich habe die Vermutung“, erklärt er, „dass viele Typen, die so reden, sich für ihre eigene feminine Seite schämen und zur Kompensation völlig überzeichnete, archaische Männerbilder suchen – im Sinne von: viele Muskeln, dicker Schwanz, ich baller‘ dich drei Stunden durch.“
Wichtiger als heroisierte Männerbilder, so erzählt Sebastian, sei es ihm ohnehin, dass sich mehr queere Vorbilder zu erkennen gäben, und zwar durch alle Altersklassen und Gesellschaftsschichten hindurch – ein Wunsch, den er schon als Jugendlicher in Drensteinfurt hatte.
Dieses Anliegen richtet er vor allem an Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen und über eine gewisse mediale Reichweite verfügen. „Natürlich soll das jeder so machen, wie er meint,“ sagt er. „Aber gerade, wenn man als queerer Mensch eine gewisse Prominenz hat, bedeutet das auch eine besondere Verantwortung. Man kann gesellschaftliche Stigmata nur abbauen, wenn man sich zeigt.“
»Die Entscheidung dieser 185 Leute gibt anderen Menschen genau die Vorbilder, die mir als Jugendlichem gefehlt haben.«
Dass sich vor kurzem im Magazin der Süddeutschen Zeitung 185 deutsche Schauspieler*innen gemeinschaftlich geoutet haben, sieht Sebastian als gutes Zeichen für eine Veränderung in der Gesellschaft. „Besonders Schauspieler*innen haben häufig Probleme mit diesem Thema, weil ihnen dann weniger Jobs angeboten werden“, erklärt er und ist überzeugt: „Die Entscheidung dieser 185 Leute, öffentlich über ihre Sexualitäten und Identitäten zu sprechen, gibt anderen Menschen nun genau die Vorbilder, die mir als Jugendlichem gefehlt haben.“
Allerdings weist Sebastian auch ausdrücklich darauf hin, dass dieses so prominent an die Öffentlichkeit getragene Thema nicht nur ein Anliegen queerer Schauspieler*innen sei, sondern alle Berufe in der Branche betreffe. Als Beleg dafür nennt er die im Jahr 2019 gegründete Queer Media Society. Das bundesweite Netzwerk, in dem er selbst auch Mitglied ist, setzt sich gegen die Diskriminierung von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans*, inter* und nicht-binären Menschen in den Medien ein und hat sich darüber hinaus zum Ziel gesetzt, für mehr Vielfalt in der Berichterstattung zu sorgen.
»Wir möchten alle abholen: Queere, Angehörige, Heterosexuelle.«
Über queere Menschen zu schreiben bedeutet auch, ihre ganz persönlichen Coming-out-Geschichten zu erzählen – und zwar nicht aus Gründen des Sensationalismus, sondern weil gerade diese Geschichten greifbar machen, was es für ein Individuum bedeutet, in unserer Gesellschaft offen zu erklären, nicht heterosexuell zu sein.
Für sein neues Buch „Coming-out“, das am 23. Februar erscheint, hat Sebastian Goddemeier 18 Prominente zu ihren jeweiligen Coming-outs interviewt und diese Geschichten aufgeschrieben. Die Kapitel, so erklärt er uns, seien teils traurig und teils lustig, aber immer so verfasst, dass den Leser*innen die Möglichkeit geboten werde, sich damit zu identifizieren. Und er fügt hinzu „Wir möchten mit dem Buch alle abholen: Queere, Angehörige, Heterosexuelle.“
In seinem Buch kommen schwule, lesbische, bisexuelle und transidente Menschen zu Wort. Bei der Auswahl der Gesprächspartner*innen habe es allerdings die eine oder andere Schwierigkeit gegeben, sagt Sebastian: „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass insbesondere lesbische Frauen in der Öffentlichkeit nicht gerne über ihre Sexualität sprechen. Das kann ich nachvollziehen. Ich hoffe, dass wir irgendwann an einen Punkt kommen, an dem sich Frauen freier äußern.“
Einen transidenten Mann zu finden, sei ebenfalls schwer gewesen, berichtet Sebastian – zumindest einen, der öffentlich sprechen wollte. Mit dem Buch, so hofft er, könne er zusammen mit den 18 Interviewpartner*innen andere dazu inspirieren, ihre eigenen Geschichten offen zu erzählen.
Hatte sich Sebastian als Jugendlicher noch nach queeren Vorbildern in seinem Leben gesehnt, fallen ihm heute gleich mehrere Namen ein. Die französischen Autoren Édouard Louis und Didier Eribon etwa gehören dazu, die mit „Das Ende von Eddy“ beziehungsweise „Rückkehr nach Reims“ zwei beeindruckende autobiografische Romane verfasst haben.
»Die Welt braucht nicht noch eine Reisereportage von irgendwelchen Redakteur*innen, die in einem Fünf-Sterne-Hotel absteigen.«
Auch wenn es wahrscheinlich etliche Teenager gibt, die froh wären, jemanden wie Sebastian als besten Freund oder großen Bruder an ihrer Seite zu haben, sieht er sich selbst nicht als Vorbild. „Mit diesem Begriff tue ich mich wirklich schwer“, erklärt er und ergänzt: „Dafür stehe ich einfach zu wenig in der Öffentlichkeit. Ich würde mich eher als ein gutes Beispiel beschreiben – zumindest jetzt, wo ich nicht mehr in den Clubs versacke.“
Wenn er „in seinem kleinen Kämmerchen“ sitze und einen Text schreibe, denke er außerdem gar nicht darüber nach, wer sein Werk letztendlich lesen werde. „Ich versuche einfach das zu machen, wofür mein Herz schlägt und worauf ich Bock habe“, sagt Sebastian, „und manchmal ist das einfach, den Leuten vor die Füße zu pissen.“
Der Journalist macht eine kleine Atempause, dann fügt er hinzu: „Wenn ich irgendwann auf mein Leben zurückblicke, habe ich lieber etwas Ehrliches geschrieben, was einen anderen Menschen wirklich bewegt hat, als irgendeinen Kack. Die Welt braucht nicht noch eine Reisereportage von irgendwelchen Redakteur*innen, die in einem Fünf-Sterne-Hotel absteigen. Damit wird nichts bewegt, höchstens Buchungszahlen.“
»Der Goddemeier ist wieder da!«
Wenn Sebastian so etwas wie einen Reisebericht verfassen würde, würde der sich wahrscheinlich eh um seine Fahrten nach Drensteinfurt drehen. Bereits in „Schwuler Junge auf dem Land“ hatte er anklingen lassen, wie seltsam es sich anfühlt, an jenen Ort zurückzukehren, dem er als 19-Jähriger entflohen war.
Doch dieses Gefühl hat sich grundlegend verändert: „Ich kann mittlerweile ganz entspannt nach Drensteinfurt fahren“, sagt Sebastian, auch wenn ihm dort die Leute, wie er lächelnd berichtet, nach wie vor im Supermarkt hinterherschauen würden, leise zischend: „Der Goddemeier ist wieder da!“ Nicht erst durch seine Vice-Artikel hat er es in dem 16.000-Seelen-Städtchen zu einer gewissen Bekanntheit gebracht. Dabei dachte er noch bis vor kurzem, die Drensteinfurter würden gar nicht mitbekommen, was er tue und schreibe.
Wenn er heute den Ort besucht, an den er so viele negative Erinnerungen hat, tut Sebastian das ohne Bitterkeit. „Für mich ist das ein Stattfinden im Jetzt“, erklärt er. „Ich gehe da als die Person hin, die ich heute bin – und nicht als der Teenager, der ich damals war. Soll heißen: Heute bin ich nicht mehr hilflos und kann eine Situation verlassen, wann immer ich möchte.“
»Es war nicht cool, aber ich glaube, die anderen wussten es auch nicht besser.«
Das Wichtigste, was er in den letzten Jahren habe lernen müssen, sagt Sebastian, sei es, Leuten, Orten und Gegebenheiten zu verzeihen. „Das mache ich nicht für die anderen, sondern für mich – um meinen Frieden zu finden.“ Er kann das, was in der Vergangenheit passiert ist, mittlerweile annehmen, und klingt dabei überaus versöhnlich: „Es war nicht cool, aber ich glaube, die anderen wussten es auch nicht besser. Wir waren Kinder und die Zeit war, wie sie war.“
Inzwischen ist Drensteinfurt ein Ort, den er trotz aller Widrigkeiten mit dem Begriff Heimat verbindet. „Ich fahre da tatsächlich gerne hin und freue mich, durch dieses Kaff zu laufen,“ gesteht er.
Doch wirklich lange hält es Sebastian nie in dem kleinen Städtchen. Als Jugendlicher stieg er nach der Schule oft in die Bahn und fuhr in das gut 20 Kilometer entfernte Münster. Ein kleines Ausbrechen, das er auch heute noch pflegt, wenn er in Drensteinfurt seine Familie besucht. „Ich bin eben ein Großstadtkind“, sagt er. „Das war ich schon immer, auch auf dem Dorf.“
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Fotografie: Maximilian König