Portrait — Michael Bradler
Sieger der Geschichte
Weil er im Januar 1982 aus der DDR ausreisen wollte, wurde Michael Bradler von der Stasi verhaftet. Ein Dreivierteljahr lang saß der damals 20-Jährige im Gefängnis, davon mehrere Monate in Isolationshaft. Heute führt er als Zeitzeuge durch die ehemalige Haftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin-Hohenschönhausen.
22. Januar 2018 — MYP N° 22 »Widerstand« — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotos: Maximilian König
Als sich Michael Bradler am 11. Januar 1982 um 16:25 Uhr der Grenzübergangsstelle Sonnenallee in Ost-Berlin näherte, musste er seinen ganzen Mut zusammennehmen. Gerne hätte er in der Kneipe, die auf dem Weg lag, noch einen Cognac getrunken, aber man hatte dort seine Lieblingsmarke „Auslese“ nicht vorrätig. Also trat der 20-Jährige nüchtern vor das Wachhäuschen, schob seinen blauen DDR-Ausweis unter der Scheibe durch und erklärte dem wachhabenden Grenzposten, er wolle nach mittlerweile sieben erfolglosen Ausreiseanträgen sofort nach West-Berlin übersiedeln. Um seinem Vorhaben ein wenig Nachdruck zu verleihen, raunte er noch flapsig hinterher: „Die DDR ist mir scheißegal!“ Dann wurde er festgenommen. Erst ein Dreivierteljahr später war er wieder ein freier Mann – freigekauft durch die Bundesrepublik Deutschland und mit der Erfahrung monatelanger Isolationshaft in der zentralen Untersuchungshaftanstalt I des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. Oder kurz: im Stasi-Gefängnis Berlin-Hohenschönhausen.
Knapp 36 Jahre später steht Michael Bradler wieder hier, und das mehrmals pro Woche: 1994, fünf Jahre nach dem Mauerfall und vier Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung, wurde auf dem ehemaligen Gefängnisgelände eine Gedenkstätte errichtet, die im Juli 2000 in eine selbstständige Stiftung des öffentlichen Rechts überführt wurde. Für diese Stiftung ist Bradler seit vielen Jahren als Zeitzeuge tätig und führt Woche für Woche interessierte Besucher durch genau den Ort, an dem er selbst für viele Monate eingesperrt war – und das nur, weil er von einem Land in ein anderes übersiedeln wollte. Darüber hinaus übernimmt er auch Führungen in der ehemaligen Stasi-Zentrale im Stadtteil Lichtenberg, die nur wenige Kilometer südlich der Gedenkstätte Hohenschönhausen liegt und von der aus die systematische Überwachung und Repression der DDR-Bevölkerung organisiert wurde.
Michael Bradler wuchs ideal zu den Vorstellungen des Sozialismus auf, beide Eltern waren Mitglieder der SED.
Dass Michael Bradler als junger Mann den Entschluss fasste, die DDR zu verlassen, war ihm keineswegs in die Wiege gelegt. Im Juni 1961, kurz vor dem Mauerbau, kam er in Ost-Berlin zur Welt und wuchs mit einem älteren Bruder und einer älteren Schwester „ideal zu den Vorstellungen des Sozialismus“ auf, wie er sagt. Beide Eltern waren Mitglieder der SED, die Mutter arbeitete im Ministerium des Inneren in einer nicht unbedeutenden Position, der Vater war stellvertretender Direktor im Ministerium für Wissenschaft und Technik – jedenfalls offiziell. Was genau der Vater beruflich tat, weiß Michael Bradler bis heute nicht. Die Tatsache, dass sich dessen Dienstsitz auf demselben Gelände befand, auf dem zeitweise auch die Abteilung III der Staatsicherheit mit Schwerpunkt Funkaufklärung ansässig war, macht ihn immer noch etwas stutzig. Unterlagen von damals, die etwas Licht in die Sache bringen könnten, gibt es leider nicht mehr. Sie fielen wohl – wie so viele Informationen zu wichtigen DDR-Funktionären – der konzertierten Vernichtungsaktion der Stasi in den Wochen und Monaten nach dem 9. November 1989 zum Opfer.
Als 1971 Michael Bradlers Mutter starb, sprangen die Großeltern mütterlicherseits zur Hilfe und kümmerten sich ab nun verstärkt um ihn und seine Geschwister. Über die Jahre entwickelte er ein immer engeres Verhältnis zu den Großeltern, die mit ihren Jahrgängen 1900 und 1901 bereits zwei Weltkriege und die Gründung der DDR erlebt hatten. „Auch bei den Großeltern“, so erinnert sich Michael Bradler, „stimmte im Wesentlichen die Einstellung, was die DDR betrifft.“ Ab und zu machten sie mal einen Ausnahme und ließen die Enkel West-Fernsehen schauen: „Das war dann meistens so etwas wie Bonanza – als Kind schaut man ja das, was einen interessiert.“
»Wenn wir politische Informationen haben wollten, bekamen wir die hauptsächlich aus der DDR, die mir bis dahin auch ein klares Feindbild vermittelt hatte.«
„Hin und wieder“, sagt Bradler, „haben wir auch die Tagesschau oder andere West-Nachrichten geschaut. Aber wenn wir politische Informationen haben wollten, bekamen wir die hauptsächlich aus der DDR, die mir bis dahin auch ein klares Feindbild vermittelt hatte. Da hieß es: ‚Im Westen, da leben die ganzen bösen Menschen – Kapitalisten, Faschisten, Nazis. Und die, die dort keine Kapitalisten, Faschisten oder Nazis sind, sind Sozialhilfeempfänger, arbeitslos, drogenabhängig, Terroristen oder sonst was.’ Wenn man das sein Leben lang hört, verändert das einen irgendwann. Und als Kind ist man dafür sowieso sehr empfänglich.“
Doch dann kam 1977. Dieses Jahr sollte Michael Bradler nachdrücklich prägen, denn es brachte gleich zwei einschneidende Ereignisse mit sich: Zum einen durfte ein sehr guter Schulfreund von ihm, Thomas, mit seiner Mutter die DDR verlassen. Zum anderen hatten ihm die Großeltern eröffnet, dass sie ebenfalls in den Westen ausreisen würden. Bradler war verwirrt: „Ich fragte mich: Thomas und meine Großeltern wollen plötzlich irgendwo leben, wo alles so böse und schlecht sein soll?“ Und so fing er an, sich mehr und mehr mit dem Thema zu beschäftigen. Er schaute bestimmte Sendungen im West-Fernsehen und versuchte, sich öfter mal mit West-Berlinern auszutauschen, die in der DDR auf Besuch waren. „Ich war damals 16, in dem Alter hat man sowieso den Drang, sich nach allen Seiten zu orientieren“, erzählt er. „Am wichtigsten war mir in dieser Zeit, den Kontakt zu Thomas und meinen Großeltern nicht abreißen zu lassen. Die durften ja nach wie vor in die DDR einreisen.“
»Ich hatte irgendwie das Gefühl, dass die mir nicht alles erzählen, dass die mich anlügen. Und vor allen Dingen: dass die mich einengen.«
Dieses Jahr 1977 setzte in Michael Bradler einen längeren Prozess in Gange, der letztendlich vier Jahre anhalten sollte. Nach und nach stellte er fest, so sagt er, dass irgendetwas nicht stimmte in der DDR: „Ich hatte irgendwie das Gefühl, dass die mir nicht alles erzählen, dass die mich anlügen. Und vor allen Dingen: dass die mich einengen.“ Und so entschloss er sich im Sommer 1981, einen „Antrag auf ständige Ausreise“ in den Westen Deutschlands zu stellen und damit die DDR zu verlassen. „Der eigentliche Auslöser für diesen Entschluss – es gibt ja für alles einen gewissen Auslöser – war, dass es meinem Schulfreund Thomas ab dem Sommer 1981 plötzlich nicht mehr erlaubt war, in die DDR einzureisen. Ich hatte Angst, dass meinen Großeltern das Gleiche passieren könnte.“
Als Begründung für seinen Ausreiseantrag gab Michael Bradler an, seine Großeltern in West-Berlin unterstützen zu wollen, die mittlerweile in einem gewissen Alter und dementsprechend auf Hilfe angewiesen waren. „Einen Ausreiseantrag zu stellen erschien mir als die für mich einzige legale Möglichkeit, die DDR zu verlassen“, erzählt er. „Eine Flucht kam für mich von vornherein nicht in Frage. Ich wollte nicht an der Mauer erschossen werden – dass man dort erschossen wird, wusste man aus den West-Nachrichten. Die Nachrichten der DDR haben das zwar nicht verbreitet, aber wenn man genau hinhörte, konnte man erfahren, dass Grenzzwischenfälle auch meistens mit Schusswechseln verbunden waren. Das war mir einfach zu gefährlich.“
Um einen Ausreiseantrag zu stellen, habe man sich zu der Abteilung Inneres des Rates des jeweiligen Kreises oder Stadtbezirks begeben müssen, in dem man gemeldet war, erklärt Michael Bradler. Diese Abteilungen, so weiß man heute, arbeiteten eng mit der Stasi zusammen, die daraufhin die Antragsteller beobachtete. „In dieser Abteilung Inneres des Stadtbezirkrats saßen Leute, vor denen man einen gewissen Respekt hatte, man wusste ja nicht, wie sie reagieren würden. Wenn man seinen Antrag dort abgegeben hatte, wurde er geprüft – diese Prüfung dauerte in meinem Fall 15 Sekunden, dann wurde er abgelehnt. Verwaltungsgerichte in der Form, wie wir sie in der Bundesrepublik kennen, gab es nicht. Man musste sich mit der Entscheidung abfinden. Wenn nicht, blieb einem nur noch die Flucht.“
»Thomas erzählte, dass man im Westen ohne Probleme in andere Länder reisen konnte. Da fragt man sich natürlich: Wieso kann der das und ich nicht?«
Um irgendwie mit Thomas in Kontakt zu bleiben, fuhr Michael Bradler zusammen mit seiner Schwester Ende September 1981 in die Tschechoslowakei. „Wir durften nicht in den Westen fahren, er durfte nicht in die DDR. Also mussten wir uns irgendwo anders treffen”, erzählt er. Das Wiedersehen mit seinem Schulfreund war für ihn prägend. Bereits in der DDR hatte Bradler ihm telefonisch von seinem Ausreiseantrag berichtet, jetzt hatte er zwei Kopien dabei, die er Thomas aushändigte – mit der Bitte, ihn von West-Berliner Seite zu unterstützen. Thomas wiederum erzählte, dass er zwischenzeitlich eine Ausbildung zum KFZ-Mechaniker bei Mercedes-Benz angefangen hatte. Schon wieder war Michael Bradler irritiert: „Uns in der DDR sagte man immer, dass die Schüler im Westen extreme Probleme hätten, nach ihrem Schulabschluss einen Ausbildungsplatz zu finden – da konnte also irgendetwas nicht stimmen. Thomas erzählte auch, dass man im Westen ohne Probleme in andere Länder reisen konnte. Da fragt man sich natürlich: Wieso kann der das und ich nicht?“ Da Thomas nicht irgendein West-Bürger war, sondern ein guter Freund, gab es für Michael Bradler keinen Grund, ihm nicht zu glauben. Dass Bradler dieses Treffen mit Thomas, dem West-Bürger, nicht der Stasi gemeldet hatte und dass er diesem West-Bürger zudem noch von seinem Antrag auf ständige Ausreise erzählt hatte, sollte ein Jahr später zu Michael Bradlers Verurteilung vor Gericht führen. Aber dazu später mehr.
Nach seiner Rückkehr aus der Tschechoslowakei fing Bradler an, sich intensiv mit der Frage auseinanderzusetzen, wie er die DDR verlassen könnte, und beschloss Anfang Oktober, einen zweiten Ausreiseantrag zu stellen. Was er in dem Zusammenhang nicht wusste: „Alleine deshalb hätte ich nach DDR-Recht bereits verhaftet werden können – die DDR schuf sich ihre Gesetze eben so, wie sie sie gerade brauchte. Diese Gesetzte kannte man in der Regel aber nicht, da man in der DDR nicht ohne Weiteres Zugang zu juristischen Unterlagen oder Gesetzestexten erhalten konnte. Und so dolle mit den Rechtsanwälten war es in der DDR auch nicht.“
Und so stellte Michael Bradler von August bis Dezember 1981 insgesamt sieben Ausreiseanträge – jedes Mal ohne Erfolg. Als auch der siebte Antrag abgelehnt wurde, kam in ihm so langsam die Befürchtung auf, dass der Staat ihn bald zur Nationalen Volksarmee einziehen würde und es dann zu spät wäre: „Mir war klar, dass ich keine Chance mehr hätte, die DDR zu verlassen, wenn ich erst einmal bei der Armee war. Wir waren ja mitten im Kalten Krieg. Wer da als NVA-Mitglied einen gewissen militärischen Wissensstand hatte, der hätte niemals in den Westen reisen dürfen. Umgekehrt war das bei der Bundeswehr nicht anders, das war zu dieser Zeit halt so.“
Von 1963 bis zum Fall der Mauer 1989 verkaufte die DDR etwa 33.000 politische Gefangene an die Bundesrepublik.
Im Laufe der weiteren Suche nach einer Möglichkeit, das Land zu verlassen, erfuhr Michael Bradler dann etwas von einem möglichen Häftlingsfreikauf durch die Bundesrepublik: „Ich hatte gehört, dass Leute, die nach bundesdeutschem Recht unschuldig in einem Gefängnis der DDR saßen, regelmäßig von der BRD freigekauft wurden.“ Und tatsächlich: Von 1963 bis zum Fall der Mauer 1989 verkaufte die DDR etwa 33.000 politische Gefangene an die Bundesrepublik. Kostete ein Mensch am Anfang noch 40.000 DM, kletterte der Preis zwischenzeitlich auf bis zu 200.000 DM pro Häftling und pendelte sich bis zum Ende der DDR bei pauschal 96.000 DM ein. So zahlte der Westen in gut 25 Jahren etwa drei Milliarden DM an die DDR, die wegen ihrer maroden Wirtschaft dringend auf Devisen angewiesen war und für die diese Vereinbarung dementsprechend ein willkommenes Geschäft darstellte. (Quelle: Deutschlandfunk)
Und so nahm Michael Bradler am 11. Januar 1982 seinen DDR-Ausweis, begab sich zur Grenzübergangsstelle Sonnenallee und erklärte dem wachhabenden Posten, dass er nach West-Berlin ausreisen wollte. Daraufhin wurde er verhaftet und geriet in die Mühlen des Systems. „Aus meiner Sicht war relativ klar, dass die mich da nicht einfach durchlaufen lassen”, erklärt Bradler. „Aber von dem, was mich nach der Verhaftung erwarten würde, hatte ich absolut keine Ahnung. Ich kannte ja niemanden, der mal in Haft war und mir davon hätte berichten können. Ich kannte so etwas nur aus Krimis und hatte dementsprechend das Bild im Kopf, dass ich in einen dunklen Keller geschleppt und vor eine Lampe gesetzt würde.“
Bradler wurde über drei Stunden lang kommentarlos an der Grenzübergangsstelle festgehalten, bis um 19:50 Uhr zwei Männer in Zivil erschienen: „Stehnse auf, kommse!“ Auch wenn sich Bradler fest vorgenommen hatte, einen unbeirrbaren Gesichtsausdruck aufzusetzen und stark zu wirken, flatterten innerlich die Nerven. Begleitet von einigen Grenzsoldaten mit angelegter Maschinenpistole brachten ihn die beiden Männer zu einem Wartburg. Sie öffneten die Tür, drückten seinen Kopf nach unten und schoben seinen Körper in den Wagen. In ruhiger Stimmlage ordnete einer der Männer an, Bradler solle die ganze Fahrt über den Kopf unten halten und auf die Knie drücken. Dann fuhr der Wagen los.
»Sieben Stunden – das war relativ kurz für eine Erstbefragung. Ich kenne Vernehmungen, die gingen etliche Stunden länger, teilweise über Tage. Da nutzte die Stasi einfach den Schock der Verhaftung aus.«
Nach einer Viertelstunde erreichten sie die Untersuchungshaftanstalt II der Staatssicherheit in der Magdalenenstraße, die im Stadtteil Lichtenberg direkt neben der Stasi-Zentrale gelegen war. Was folgte, war Michael Bradlers sogenannte Erstbefragung – sie dauerte sieben Stunden, von 21 Uhr abends bis 4 Uhr morgens. Dazwischen gab es eine Pause von 15 Minuten. „Sieben Stunden – das war relativ kurz für eine Erstbefragung, wie man heute weiß”, erklärt Bradler. „Ich kenne Vernehmungen, die gingen etliche Stunden länger, teilweise über Tage. Da nutzte die Stasi einfach den Schock der Verhaftung aus. Es gab sogar eine spezielle Abteilung innerhalb der Stasi, die sich ausschließlich mit Verhaftungen beschäftigte.“
Nach der Befragung wurde Michael Bradler – mit den Nerven durch und furchtbar müde – in eine kleine Zelle gesperrt. Doch an Schlafen war nicht zu denken, denn das Licht blieb angeschaltet und von außen wurde permanent die Klappe des Türspions geöffnet, um ihn zu beobachten. Am frühen Morgen öffnete sich die Zellentür wieder: „Kommse!“ Nachdem man seine Hände mit Handschellen auf dem Rücken fixiert hatte, führte man Michael Bradler in einen Innenhof und zwängte ihn in einen Lieferwagen mit der Aufschrift „Rewatex“ – ein Reinigungsunternehmen der DDR. In dem fensterlosen Kleintransporter gab es insgesamt fünf Zellen für Gefangene, jede 40 cm breit, 60 cm tief und 150 cm hoch. Die Tür ging zu, das Fahrzeug setzte sich in Bewegung. „In dem Moment hatte ich wahnsinnige Angst und fragte mich: Was passiert jetzt? Man erhält ja keinerlei Informationen, so nach dem Motto: Jetzt hat sich der Strafbestand erhärtet, jetzt ermitteln wir erst mal in aller Ruhe weiter. Eine wirkliche Anklage gab es erst viel später.“
In völliger Dunkelheit und ohne die Möglichkeit, sich mit gefesselten Händen irgendwo festzuhalten, schlug Michael Bradler mit seinem Kopf immer wieder gegen die Metallwände seiner kleinen Gefangenenzelle. Mal fuhr der Kleintransporter nach links, mal nach rechts, mal ruckelte er über Kopfsteinpflaster, mal fuhr er über glatteren Asphalt. Nach einer Weile hielt das Fahrzeug an und es war zu hören, wie ein großes Tor geöffnet wurde. Dann setzte sich der Transporter wieder in Bewegung und kam kurz darauf zum Stehen.
Die Tür des Lieferwagens wurde geöffnet und Michael Bradler aus dem Fahrzeug gezogen. Ein gleißendes Licht schlug ihm entgegen. „Man weiß nicht, wo man ist, und ist völlig orientierungslos. Dann kommt man aus dem Lieferwagen raus und steht in einem so hell erleuchteten Raum, dass man glaubt zu erblinden.“ Kaum war er ausgestiegen, wurde er auch schon über einige Treppenstufen hinauf zu einer Tür getrieben, dann ging es hin und her durch etliche Korridore. „Ich wurde regelrecht angebrüllt, das war permanente Einschüchterung”, berichtet er. „Kommense! Gehnse! Hände auf den Rücken! Kopf nach unten!“
»Man kann eine Durchsuchung menschenwürdig durchführen oder diskreditierend. Hier war das Diskreditierende an der Tagesordnung, egal ob der Gefangene männlich oder weiblich war.«
Dann wurde eine Tür aufgesperrt. „An die Wand! Ausziehen! Hose runter!“ Was jetzt passierte, bezeichnet Michael Bradler heute als sogenannte Entpersonifizierung. Vor einer Gruppe von Wachposten stand er nun splitterfasernackt da, musste sich bücken und wurde auf die entwürdigendste Weise durchsucht. „Als das passierte, war ich wie in Trance. Man kann eine Durchsuchung menschenwürdig durchführen oder diskreditierend. Hier war das Diskreditierende an der Tagesordnung, egal ob der Gefangene männlich oder weiblich war. Da haben die keinen Unterschied gemacht.“
Nach dieser Tortur wurde er wieder auf einen Gang getrieben, immer noch vollkommen nackt. Ein weiterer Raum öffnete sich, jetzt wurde die Häftlingskleidung ausgehändigt. Danach ging es weiter zu einem dritten Raum – seine zukünftige Zelle. „Darin gab es einen Holzhocker, einen Holztisch, ein Holzbett, eine Toilette und ein Waschbecken. Kein richtiges Fenster, nur Glasbausteine. Auf dem Bett lagen eine Matratze und Bettzeug. Das war’s.“ Als er nun alleine in seiner Zelle war, so sagt er, sei Angst für ihn ein riesengroßer Faktor gewesen. „Was könnte jetzt passieren? Was machen die mit mir? Man malt sich viele Sachen aus, aber findet keine Antworten.“ Irgendwann schlief Michael Bradler ein. Einige Zeit später – wann genau, daran kann sich Bradler nicht mehr erinnern – wurde er aus seiner Zelle geholt: „Kommse!“ Und dann ging es wieder über diverse Gänge. Wenn an der Decke eine rote Lampe anging, musste er stoppen. Dann hieß es: „Halt! Gesicht zur Wand!“ Mit Hilfe roter und grüner Lampen wollten die Wachposten vermeiden, dass sich einzelne Gefangene auf den Korridoren begegnen. Leuchtete die Lampe rot, wurde gerade ein anderer Häftling durch einen Gang geführt. Leuchtete sie grün, war der Weg wieder frei.
Michael Bradler wurde nun einem Haftrichter vorgeführt, der den Haftbefehl mit dem Aktenzeichen „HsC.: 1/82“ verlas: „Der BRADLER, Michael – geb. am 22.6.1961 in Berlin ist in Untersuchungshaft zu nehmen. Er wird beschuldigt, sich der landesverräterischen Nachrichtenübermittlung schuldig gemacht zu haben, indem er im Zeitraum von August bis Dezember 1981 7 Anträge an staatliche Organe der DDR gerichtet hat, um seine Entlassung aus der Staatsbürgerschaft zu erreichen. Gleichzeitig informierte er den westberliner Bürger (geschwärzt) über diese Aktivitäten. Er übersandte ihm zwei Durchschriften seiner Ausreiseanträge und telefonierte zu diesem Zweck ständig mit ihm und führte mit diesem einen Treff in der Tschechoslowakei durch. (geschwärzt) wurde von ihm beauftragt, ihm Hilfe bei der beabsichtigten rechtswidrigen Übersiedlung nach Berlin-West zu gewähren und zu diesem Zweck Verbindung zu den entsprechenden Stellen in Berlin-West herzustellen. Verbrechen gem. § 99 (1) StGB. Er ist dieser Straftat dringend verdächtig. Die Anordnung der Untersuchungshaft ist gemäß § 122 (1) 2 StPO gesetzlich begründet, weil ein Verbrechen den Gegenstand des Verfahrens bildet.“ (Quelle: Haftbefehl, Kopie BStU)
»Zwölf Jahre Knast? Landesverräterische Nachrichtenübermittlung? Ich habe doch nur Ausreiseanträge gestellt.«
Was nicht im Haftbefehl stand, war der Satz, den der Haftrichter noch nachgeschoben hatte: „Die Höchststrafe für landesverräterische Nachrichtenübermittlung beträgt zwölf Jahre.“ Als Michael Bradler wieder zurück in seine Zelle geführt wurde, war er geschockt. Er konnte es einfach nicht glauben: „Zwölf Jahre Knast? Landesverräterische Nachrichtenübermittlung? Ich habe doch nur Ausreiseanträge gestellt.“ Heute weiß er, dass es das Ziel der Stasi war, ihn durch diese abschreckende Ankündigung zu zermürben und ihm den Gedanken auszutreiben, die DDR verlassen zu wollen.
„Die nächsten Wochen und Monate wurden bestimmt von unzähligen Vernehmungen, in den ersten vier Wochen täglich, dann wurden die zeitlichen Abstände größer”, erinnert sich Michael Bradler. „Wie viele Vernehmungen ich aber letztendlich hatte, kann ich nicht lückenlos nachvollziehen. Es gab nicht von jeder Vernehmung ein handschriftliches oder per Schreibmaschine verfasstes Protokoll. Es gab auch keine feste Dauer. Mal dauerte eine Vernehmung den ganzen Tag mit einer kurzen Pause zwischendurch, mal dauerte sie nur ein, zwei Stunden. Dahinter war kein System zu erkennen – genauso wie nicht zu erkennen war, was die überhaupt von mir wollten.“
Während dieser Zeit fing die Stasi an, in Bradlers Umfeld zu recherchieren. MfS-Mitarbeiter befragten Nachbarn, Arbeitskollegen Freunde aus dem Sportverein und Familienmitglieder. Teilweise wurden diese Personen zu einer Befragung vorgeladen. „Die Stasi versuchte herauszufinden, wer mich dazu bringen könnte, in der DDR zu bleiben. Sie entschied sich dann relativ schnell für meinen Vater, was aus der damaligen Sicht auch eine logische Entscheidung war. Meine Mutter war tot, meine Großeltern waren im Westen, da war der Vater eine umso stärkere Bezugsperson.“ Die Strategie der Stasi, so erzählt Bradler, sei es daraufhin gewesen, in den Vernehmungen systematisch seine Familie schlechtzumachen: „Sie sagten, mein Bruder hätte mich belogen, meine Schwester hätte mich belogen, mein bester Kumpel auch und meine Großeltern sowieso. Nur mein Vater hätte mich nie belogen. Er wäre der Einzige gewesen, der mir gegenüber immer ehrlich gewesen wäre. Und so haben sie ein Treffen mit meinem Vater organisiert, um mich mit ihm zu konfrontieren.“
»Mein Vater versuchte mich umzustimmen und sagte: ›Entweder du ziehst jetzt deine Ausreiseanträge zurück oder du bist nicht mehr mein Sohn. ‹«
Für dieses Treffen, das in der Haftanstalt in der Magdalenenstraße stattfinden sollte, wurde Michael Bradler nach Lichtenberg gefahren – wieder im Kleintransporter. „Mein Vater versuchte mich umzustimmen und sagte: ‚Entweder du ziehst jetzt deine Ausreiseanträge zurück oder du bist nicht mehr mein Sohn.’ Und das hatte er auch so gemeint. Mein Vater war voll und ganz von dieser DDR überzeugt. Er wuchs mit dem ideologischen Bild auf, dass die DDR das Gute verkörperte und der Westen ihr natürliches Feindbild war. Ich glaube nicht, dass er die Wende verstanden hätte, wenn er sie noch erlebt hätte.“
Michael Bradler ließ sich von seinem Vater nicht umstimmen und wurde zurück nach Hohenschönhausen gebracht. Vater und Sohn sahen sich nach diesem Treffen nie wieder, der Vater starb 1985 mit 53 Jahren. „Bis dahin“, sagt Bradler, „hätten sie alles wieder einstampfen können. Sie hätten sagen können: ‚Okay, jetzt bist du geläutert. Du gehst zurück in die DDR, ordnest dich da unter und lebst dein Leben weiter – natürlich ohne jemals darüber zu berichten, dass du hier inhaftiert warst.’ Doch darauf wollte ich einfach nicht eingehen. Für mich war damals die Perspektive relativ schlecht, wieder in die DDR eingegliedert zu werden, denn ich hätte davon ausgehen müssen, dass ich ständig im Visier der Stasi gewesen wäre oder dass ich – als nächste Konsequenz – meine Großeltern nicht wiedergesehen hätte.“
Bis ihm am 20. Mai 1982 endlich der Prozess gemacht wurde, hatte Michael Bradler in der Einzelhaft mit „zermürbender Langeweile“ zu kämpfen, wie er es nennt. „Wie viele Leute dem Druck nicht standgehalten haben und in der Isolationshaft tatsächlich durchgedreht sind, weiß man nicht. Man konnte das nur aushalten, wenn man für sich irgendeine Beschäftigung finden konnte – aber dafür gab es natürlich keinen Ratgeber. Die einen haben Matheaufgaben gelöst, die anderen haben Gedächtnisprotokolle erstellt, wieder andere haben gebetet”, erzählt er. „Ich selbst habe irgendwann angefangen, Würfel aus Brot, Marmelade und Wasser zu basteln. Das fand ich sehr entspannend. Man muss nur aufpassen, nicht erwischt zu werden – es war ja verboten, sich zu beschäftigen.
Mitte März hatte für Michael Bradler die Einzelhaft ein Ende, er wurde in eine Zweierzelle verlegt: „Ich hatte endlich einen Gesprächspartner, das war natürlich eine schöne Sache. Aber ich war auch recht misstrauisch, denn ich wusste nicht, ob mein Gegenüber Freund oder Feind war.“ Bradlers Zimmergenosse hieß Horst und war 52 Jahre alt. „Auch das war, denke ich mal, beabsichtigt. Wenn man zwei 20-Jährige in eine Zelle sperrt, kommen die immer schnell auf dumme Gedanken. Aber ein 52-Jähriger und ein 20-Jähriger, da gibt es keine wirklichen Schnittpunkte. Das war auch bei uns beiden so, wir fanden einfach keine gemeinsame Basis. Einige Jahre später habe ich Horst noch zwei, drei Mal in West-Berlin getroffen, aber auch da haben wir gemerkt, dass unsere Interessen einfach zu unterschiedlich sind.“
»Rechtsanwalt Dr. Vogel war bei denen, die aus der DDR ausreisen wollten, ein Begriff. Man vermutete, dass der gesamte Häftlingsfreikauf über ihn abgewickelt wurde.«
Etwa vier Monate nach seiner Inhaftierung hatte Michael Bradler zum ersten Mal die Möglichkeit, mit einem Rechtsanwalt zu sprechen. Bereits im Februar war ihm während einer Vernehmung ein Buch vorgelegt worden mit den Worten: „Da stehen alle Anwälte der DDR drin. Suchen sie sich einen aus!“ Bradler entschied sich für Rechtsanwalt Dr. Vogel: „Der war bei denen, die aus der DDR ausreisen wollten, ein Begriff. Man vermutete, dass der gesamte Häftlingsfreikauf über ihn abgewickelt wurde.“
Nachdem Bradler nicht auf das Angebot seines Vaters eingegangen war, wurde am 14. Mai 1982 Anklage erhoben – wegen „versuchter landesverräterischer Nachrichtenübermittlung, strafbar als Verbrechen gemäß § 99 (1), (2) StGB.“ Für Michael Bradler war das Lesen der Anklageschrift eine große Freude, denn die Tatsache, dass er wegen einer politischen Straftat verurteilt werden würde, war die Grundvoraussetzung, um auf die Freikaufliste der BRD zu gelangen. „Das war die Fahrkarte in die Freiheit!“ Gleichzeitig war er aber auch ziemlich angespannt, denn er hatte ja keine Garantie, dass dieser Plan auch wirklich gelingen würde.
Nach einem zweitätigen Prozess unter – de facto – Ausschluss der Öffentlichkeit wurde Michael Bradler schließlich am 24. Mai 1982 zu einem Jahr und vier Monaten Haft verurteilt, allerdings nicht, wie in der Anklage gefordert, wegen „versuchter landesverräterischer Nachrichtenübermittlung“, sondern wegen „landesverräterischer Agententätigkeit“, strafbar nach § 100 StGB der DDR. „Verurteilt haben sie mich nicht, weil ich meinen in West-Berlin lebenden Großeltern erzählt hatte, dass ich mehrere Ausreiseanträge gestellt hatte – das wäre ‚landesverräterische Nachrichtenübermittlung’ gewesen. Aber das fanden sie wohl selber doof”, erklärt Bradler. „Verurteilt haben sie mich letztendlich aus dem Grund, weil ich mich mit einem Kumpel getroffen und ihm Kopien meiner Ausreiseanträge in die Hand gedrückt hatte, die er mit in den Westen nehmen sollte. Das war die sogenannte Agententätigkeit.“ Diese „Tat“ hatte Bradler bereits in seiner Erstbefragung am 10. Januar geschildert. „Wenn sie gewollt hätten, hätten sie mich also einen Tag nach meiner Verhaftung verurteilen können. Aber das wollten sie nicht.“
»In Cottbus war ich mit einem Wärter konfrontiert, der alles in den Schatten stellte, was ich bisher erlebt hatte.«
Nachdem das Gerichtsurteil rechtskräftig wurde, wurde Michael Bradler am 15. Juni in die Haftanstalt Rummelsburg im Südosten Berlins verlegt, kurz darauf ging es weiter ins sogenannte Zuchthaus Cottbus. Kaum dort angekommen, war er auch schon mit einem Wärter konfrontiert, „der alles in den Schatten stellte, was ich bisher erlebt hatte”, schildert Bradler. „In einer großen Sammelzelle mussten wir Aufstellung nehmen. Nach einer Weile kam ein Kerl, der uns erst mal brüllend darüber aufklärte, dass er ein ‚Erzieher’ sei. Wir sollten hier nämlich zu ‚ordentlichen Mitgliedern der sozialistischen Gesellschaft’ erzogen werden.“
Dieser „Erzieher“ hieß Hubert Schulze. Von den Gefangenen in Cottbus wurde er aber nur „Roter Terror“ genannt. „Er war einer von insgesamt zwei Gefängniswärtern, die nach der Wende zu einer Haftstrafe verurteilt wurden”, erzählt Michael Bradler. Zum Prozessauftakt im Oktober 1996 schrieb „Welt online“: „Hubert Schulze – ‚Roter Terror’ oder ‚Reservetod’ nannten ihn die Tausende von Häftlingen, die jahrzehntelang durch seine Cottbuser Gefängnishölle gingen. Der heute 61-Jährige mit der kräftigen Statur – ‚Ich bin Wachmann bei einem privaten Sicherheitsdienst’ – schlug Gesichter blutig (wenn jemand beispielsweise seinen Ausreiseantrag nicht zurückziehen wollte), stieß Gefangene die Treppe hinunter, ließ sie stundenlang in eiskalten Wasserbecken sitzen, trat ihnen mit Knobelbechern in den Unterleib.“ (Quelle: Welt online)
Den Misshandlungen von „Roter Terror“ konnte Michael Bradler in Cottbus entgehen, dennoch war er dort, wie alle anderen Häftlinge, permanenten Repressalien ausgesetzt. Dazu kam, dass er stellenweise mit bis zu 19 anderen, „normalen“ Kriminellen in einer gemeinsamen Zelle saß – mit einer einzigen Toilette. Ohne Trennwand. Als sich Bradler einmal krank meldete, der Arzt ihm nicht glaubte und „viel Wärme“ verordnete, wurde er in den Keller der Haftanstalt gebracht: „Dort befand sich ein Bretterverschlag, etwa eineinhalb mal eineinhalb Meter groß, in den ich eingesperrt wurde. Ein Stuhl, sonst nichts. Direkt über dem Stuhl hing eine 200 Watt-Lampe, die mir ständig auf den Kopf schien.“ So verharrte Michael Bradler ganze acht Stunden lang in Totenstille und ohne ein Glas Wasser. Später erfuhr er, dass dieser Verschlag von den Häftlingen „die Straßenbahn“ genannt wurde. „Ein gefürchteter Ort, bestens geeignet, Widerstand zu brechen und ein für allemal auszuschalten“, erzählt er.
Ende September wurde er gemeinsam mit anderen politischen Häftlingen wieder verlegt, diesmal ins Zuchthaus Karl-Marx-Stadt, dem heutigen Chemnitz. „Dort gab es eine rätselhafte Anweisung“, so Bradler. „Wir mussten unser gesamtes Geld ausgeben und wurden in einen offenbar extra hierfür eingerichteten Laden geführt.“ Für ihn war klar: „Freigekaufte sollten keine Ostmark ausführen.“ Seine Hoffnung wuchs rapide an, es konnte also nur noch eine Frage der Zeit sein, bis er endlich freigekauft wurde.
Dann kam der 14. Oktober 1982, ein Donnerstag. Michael Bradler wurde in das Büro der Gefängnisverwaltung beordert. „Ich konnte fast nicht mehr stillstehen vor lauter Aufregung! Kurz und knapp hieß es: ‚Hier ist ihre Urkunde über die Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR und ihr Haftentlassungsschein. Sie verlassen das Staatsgebiet der DDR noch heute.’“
„Schon am Mittag war es soweit“, erinnert sich Bradler. „Im Hof warteten zwei futuristische Reisebusse mit Schiebetüren, das war für DDR-Augen nicht normal. Die zwei Busse brauchten wir auch, denn wir waren um die 80 Häftlinge. Dass so viele Leute auf einmal in den Westen gefahren wurden, hatte damit zu tun, dass eine Zeit lang auf dem ‚Freikaufmarkt’ nichts passiert war. Durch den Regierungswechsel in der Bundesrepublik wusste in der DDR keiner, ob die neue Kohl-Regierung auf die bestehende Vereinbarung beibehalten würde.“
»Dort ist etwas passiert, was ich nie geglaubt hätte: Die Nummernschilder der Reisebusse haben sich gedreht, per Knopfdruck.«
„Die Busse setzten sich in Bewegung und fuhren – im Konvoi mit zwei Stasi-Fahrzeugen – zum Grenzübergang Wartha/Herleshausen“, erzählt Michael Bradler. „Dort ist etwas passiert, was ich nie geglaubt hätte, wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte: Die Nummernschilder der Reisebusse haben sich gedreht, per Knopfdruck. Aus der Haftanstalt heraus waren sie noch mit DDR-Kennzeichen gefahren, jetzt waren plötzlich Nummernschilder aus dem Westen zu sehen.“ Und er berichtet weiter: „Die Busse haben auch keine Sekunde mehr auf DDR-Gebiet angehalten, soweit ich mich erinnern kann. Selbst die im Bus sitzenden Stasi-Mitarbeiter sind während des Grenzübertritts aus dem fahrenden Bus gesprungen.“
Es war geschafft, Michael Bradler war in Westdeutschland: „Als wir die Grenze hinter uns gelassen hatten, machte der Busfahrer eine Ansage, die ich mein Leben lang nicht vergessen werde: ‚Wir verlassen jetzt die Rollpiste der DDR und befahren eine bundesdeutsche Autobahn.’ Schlagartig war der Bus ruhig, unter unseren Rädern hatten wir glatten BRD-Autobahnasphalt.“ Gemeinsam mit den anderen freigekauften Häftlingen wurde Michael Bradler nach Gießen gebracht, ins damalige Notaufnahmelager für DDR-Flüchtlinge. „Es gab ein Begrüßungsgeld von 150 DM, außerdem hatten wir ein Telefonat frei. Ich habe meinen alten Schulfreund Thomas in West-Berlin angerufen – aber der war schon auf dem Weg nach Gießen“, erzählt Bradler. „Thomas hatte Kontakt zur Kanzlei Dr. Vogel aufgenommen, aber da man ihm dort keine genaue Auskunft geben konnte, war er am selben Tag auf gut Glück von Berlin losgefahren.“
So sahen sich die beiden Freunde in Gießen wieder, ziemlich genau ein Jahr nach ihrem Treffen in der Tschechoslowakei. Kaum hatten sie sich begrüßt, beschlossen sie, so schnell wie möglich wieder nach Berlin zu fahren. Während sich Thomas mit dem Auto alleine auf den Rückweg machte, versuchte Michael Bradler in Gießen, noch bis zum Schließen der Ämter am frühen Freitagmittag alle erforderlichen Behördengänge hinter sich zu bringen. Am Abend nahm er einen Flug nach Tegel – zum ersten Mal in seinem Leben fliegen.Warum es Bradler zurück nach Berlin zog, ist für ihn logisch: „Meine Großeltern lebten in West-Berlin, das war mein wichtigster Bezugspunkt. Wären sie in München gewesen, wäre ich nach München gegangen, wären sie in Hamburg gewesen, wäre ich nach Hamburg gegangen. Im Prinzip habe ich Berlin nicht verlassen.“
So fing Michael Bradler am 15. Oktober 1982, sieben Jahre vor dem Fall der Mauer, ein neues Leben an: „Mir war völlig klar: Im Westen schenkt dir keiner was. Um zu etwas zu kommen, muss ich mich reinhängen. Aber durch meine Großeltern hatte ich natürlich einen verhältnismäßig einfachen Start. Und mit meiner Berliner Schnauze bin ich in West-Berlin nicht aufgefallen ¬– das nimmt sich hier vom Dialekt ja nüscht. In München oder Hamburg wäre das wohl anders gewesen.“ Bereits kurze Zeit später nahm Michael Bradler, der in der DDR Feinmechaniker gelernt hatte, einen Job in der Metallverarbeitung an, erst bei einer Privatfirma in Kreuzberg, danach bei Zeiss Ikon. „Aber dort habe ich 1987 gekündigt“, erzählt er. „Dieser Herrschafts- und Befehlston des Meisters ging mir ziemlich auf den Geist.“ Und so machte er sich wenig später selbständig. 1988 heiratete er und kurz darauf wurde sein Sohn geboren.
»Es ist gerade mal acht Uhr, wie besoffen können sie eigentlich sein?«
Als der Abend des 9. November 1989 kam, saß Bradler in einem Restaurant im West-Berliner Stadtteil Wilmersdorf: „Gegen 20 Uhr stürzte ein Taxifahrer rein und sagte: ‚Die Mauer ist offen!’ Ich habe ihn erst mal völlig entgeistert angeschaut und gefragt: ‚Es ist gerade mal acht Uhr, wie besoffen können sie eigentlich sein?’ Am Stammtisch des Restaurants unterhielten sich die Leute auch darüber, dass da irgendetwas passiert sein müsste. Aber was genau, das wusste keiner.“ Gegen 22:30 Uhr fuhr Michael Bradler nach Hause und rief seinen Schulfreund Thomas an. Spontan beschlossen sie, zum Grenzübergang Invalidenstraße zu fahren, der einer der ersten war, der nach der Bornholmer Straße geöffnet wurde. „Bereits am Lehrter Bahnhof kamen uns so viele Leute entgegen, dass wir das Auto stehen lassen mussten. Dann sind wir gegen den Strom von West- nach Ost-Berlin gelaufen“, erzählt er. „Wir haben uns überhaupt keine Gedanken gemacht. Wäre ich da einer Polizeistreife in die Hände gefallen, wäre ich vielleicht wieder verhaftet worden – ich hatte als Westler ja keine Genehmigung, nach Ost-Berlin zu fahren. Ohne Visum und ohne Zwangsumtausch war ich nicht berechtigt, mich hier aufzuhalten.“
Obwohl Michael Bradlers Geschwister noch in Ost-Berlin lebten, zog es ihn nicht mehr zurück. Er blieb lieber in West-Berlin, lebte sein freies Leben und schob die Zeit, die er in DDR-Gefängnissen verbracht hatte, weit von sich weg. „Was sollte ich die Leute im Westen damit nerven?“, fragt er. „Wenn ich mal erzählt habe, dass ich in der DDR im Gefängnis saß, und dann noch bei der Stasi, dann wurde ich gefragt: ‚Wo genau hast du denn bei der Stasi eingesessen?’ Ich sagte, ich weiß es nicht. Aber das konnten sie nicht glauben und warfen mir vor, sie anzulügen. Irgendwann lässt man es dann bleiben. Was sollte ich ihnen auch anderes sagen? Ich wusste ja wirklich nicht, wo ich in Haft war. Immer wenn ich nach Hohenschönhausen gebracht oder von dort weggefahren wurde, saß ich in einem Transporter ohne Fenster.“
»Mein Sohn ist mit einem normalen Rechtsempfinden aufgewachsen und weiß, was man darf und was nicht. Für ihn bedeutete das: Wenn der Vater im Gefängnis war, musste der irgendetwas Böses angestellt haben.«
Erst im Jahr 1998 fing Michael Bradler an, über seine Geschichte nachzudenken. „Als mein Sohn zehn Jahre alt war, hat er mal mitbekommen, dass ich im Gefängnis saß. Für einen Zehnjährigen ist so etwas schwer zu verstehen. Mein Sohn ist ja mit einem normalen Rechtsempfinden aufgewachsen und weiß, was man darf und was nicht. Für ihn bedeutete das: Wenn der Vater im Gefängnis war, musste der irgendetwas Böses angestellt haben.“ So fing Bradler an zu recherchieren, tätigte ein paar Telefonate und stand irgendwann in der Gedenkstätte Hohenschönhausen, wo er an einer Führung teilnahm. „Dadurch habe ich erst 1998 erfahren, dass ich tatsächlich hier inhaftiert war“, erzählt er. Kurzerhand meldete sich Bradler im Zeitzeugenbüro – und übernahm wenig später selbst Führungen durch das ehemalige Gefängnis sowie die Stasi-Zentrale in der Normannenstraße.
Im Sommer 2001 begegnete ihm bei einer seiner Führungen ein Nürnberger Rechtsanwalt namens Michael Rothe. Die beiden freundeten sich an und veröffentlichten im November 2011 ein gemeinsames Buch mit dem Titel „Ich wollte doch nicht an der Mauer erschossen werden!“ In diesem Buch erzählen sie nicht nur Michael Bradlers Geschichte: Es geht ihnen auch darum, diese Geschichte mit „Gedanken zum aktuellen politischen Geschehen zu verbinden“ und aufzuklären – „über die häufig zu beobachtende Unwissenheit über die Zustände und Ängste in der DDR, oft eine regelrechte Ignoranz gegenüber dem sogenannten ‚real existierenden Sozialismus’.“
Für ihr Buch trafen Bradler und Rothe am 23. Mai 2011 auch einen ehemaligen Stasi-Offizier aus Hohenschönhausen, der Michael Bradler regelmäßig vernommen hatte. „Angst hatte ich vor dieser Begegnung keine, eher so ein generelles Unwohlsein. Ich musste während des Gesprächs mehrfach zur Toilette“, erzählt Bradler. „Drei Stunden dauerte das Interview und ich war richtig erleichtert, als es vorbei war. Man darf nicht vergessen: Ich war dem Mann fast ein halbes Jahr ausgeliefert.“ Am Ende gab „Leutnant X“ – so nennen Bradler und Rothe ihn in ihrem Buch – sein Einverständnis für die Veröffentlichung der Zitate – mit der Bedingung, seinen Namen nicht zu nennen. „Daran habe ich mich auch gehalten“, sagt Michael Bradler, „um andere Leute nicht zu verprellen, die einen Weg suchen, ihre Vergangenheit aufzuarbeiten. Ich habe den Vernehmer auch gebeten, sich mal mit der Gedenkstätte in Verbindung zu setzen. Es gibt dort noch viele offene Fragen, die man gerne an ehemalige Mitarbeiter des Gefängnisses stellen würde. Das hat er aber nicht getan – genauso wie er sich nie wieder bei mir gemeldet hat.“
»›Der Vernehmer kommt rein, schaut zuerst auf den Kaffee, dann auf mich und sagt: Den Kaffee könnse ruhig trinken, da ist nichts drin.‹ Dann geht er wieder raus.«
Das Kapitel im Buch, das die Abschrift des Gesprächs mit dem ehemaligen Vernehmungsoffizier beinhaltet, trägt die Überschrift „Der ‚gute Vernehmer’“. Ein „guter Vernehmer“, so Bradler, sei im Gegensatz zu einem „bösen Vernehmer“ einer, mit dem man eine Beziehung aufbauen könne. „Er bietet dir einen Kaffee oder eine Zigarette an. Oder er erlaubt dir, einen Brief zu schreiben. Der ‚böse Vernehmer’ gibt immer nur negative Information. Ein Beispiel: Der ‚gute Vernehmer’ bestellt mir einen Kaffee. Der Kaffee wird gebracht, ich trinke davon. In dem Moment, in dem ich den ersten Schluck getrunken habe, kommt der ‚böse Vernehmer’ rein. Er schaut zuerst auf den Kaffee, dann auf mich und sagt: ‚Guten Tag. Den Kaffee könnse ruhig trinken, da ist nichts drin.’ Dann geht er wieder raus. Und du fängst an zu überlegen: Was meint der eigentlich? Plötzlich wird dir klar, dass alles, was du hier drin bekommst, manipulierbar ist. Du bist denen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Und weil du auf diese Erkenntnis erst einmal gebracht werden musst, braucht es so jemanden wie den ‚bösen Vernehmer’.“
Einen Groll trägt Michael Bradler nicht in sich – jedenfalls nicht mehr: „Wäre mir 1998 mein Vernehmer über den Weg gelaufen, ich glaube, ich hätte ihm aufs Maul gehauen. Aber heute sehe ich das entspannter – auch weil ich weiß, dass ich ihn viel mehr ärgere, indem ich die Leute hier durch Hohenschönhausen führe. Für mich ist das eine innere Genugtuung. Ich muss mir immer vorstellen, wie das wohl gewesen wäre, wenn ich damals im Jahr 1982 meinem Vernehmer gesagt hätte, dass ich hier irgendwann einmal Gruppen aus dem Westen durchführen würde. Ich glaube, der hätte mich in die Psychiatrie einweisen lassen. So sehe ich mich letztendlich als Sieger der Geschichte.“
„Mein persönlicher Anspruch ist, vor allem junge Menschen für Geschichte zu interessieren, weil man nur aus Geschichte heraus verantwortungsvoll mit Gegenwart und Zukunft umgehen kann. Hohenschönhausen ist dafür ein optimaler Ort, denn hier wird Geschichte durch Menschen vermittelt, die sie selbst erlebt haben“, erklärt Bradler. „Manchmal bin ich wirklich erschrocken, wie groß das Unwissen vor allem bei Schülern ist. Beispielsweise wurde ich mal während einer Führung von einer Schülerin gefragt, warum die Nazis den Reichstag so dicht an die Mauer gebaut hätten. Da fällt einem nichts mehr ein, da ist man sprachlos.“
»Mein persönlicher Anspruch ist, vor allem junge Menschen für Geschichte zu interessieren, weil man nur aus Geschichte heraus verantwortungsvoll mit Gegenwart und Zukunft umgehen kann.«
„Aber man darf nicht aufgeben“, fügt Michael Bradler hinzu. „Mir ist bewusst, dass ich mit meinen Führungen nicht jeden Besucher erreichen kann. Aber manchmal gelingt es mir, bei dem einen oder anderen Menschen tatsächliches Interesse zu wecken und ihn dazu zu bewegen, an diesen Ort zurückzukommen. Vielleicht kommt er nach Wochen wieder, vielleicht nach Monaten, vielleicht erst nach Jahren. Aber er kommt. Und das gibt Hoffnung.“
Michael Bradler wird nicht müde, immer neue Besucher durch die ehemalige Untersuchungshaftanstalt I des Ministeriums für Staatssicherheit zu führen. „Wahrscheinlich würden die Stasi-Offiziere, die hier mal gearbeitet haben, die Führung etwas anders gestalten als ich“, sagt er mit einem Lächeln auf dem Gesicht. „Die Chance hätten sie ja unter bestimmten Voraussetzungen. Aber sie nehmen sie nicht wahr, sie kommen ja nicht her.“
Mit besonderem Dank an Michael Bradler sowie die Mitarbeiter der Stiftung Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen und des Stasimuseum / ASTAK e.V.
Michael Bradler & Michael Rothe: „Ich wollte doch nicht an der Mauer erschossen werden!“
ISBN: 978-3-00035544-8, zu bestellen beispielsweise auf mbradler.jimdo.com oder buchhandlung89.de