Portrait — Kaplan Weichlein
Wie fühlt sich spiritueller Instinkt an?
Wir sprechen mit einem katholischen Kaplan über das Mysterium der inneren Berufung, geistige Intimität und die Einsamkeit im Priesteramt.
24. November 2018 — MYP N° 23 »Instinkt« — Text: Katharina Weiß, Fotos: Maximilian König
Es ist Samstag, genauer gesagt der 25. August 2018. In Berlin findet gerade der „Zug der Liebe“ statt, eine öffentliche Tanzparade, auf der viele freizügige Technojünger den Slogans diverser NGOs und Initiativen huldigen – wie etwa „Reporter ohne Grenzen“, „Mission Lifeline“ oder „Moabit hilft“. Wir nehmen einen ähnlichen Weg wie die Feierdemonstranten, biegen jedoch kurz vor deren Ziellinie ab – zusammen mit unserem Fotografen Maximilian König zieht es mich heute an einen Ort, der für Prozessionen anderer Art bestimmt ist. Unweit der S-Bahn-Station Frankfurter Allee steht die katholische Pfarrkirche St. Mauritius. Hier – im Einzugsgebiet des „Berghain“, des „Polygon Club“ oder der „Rummels Bucht“ – predigt seit 2015 der junge Kaplan Raphael Weichlein. Ein Kaplan ist ein Hilfspriester, der nach seiner Priesterweihe noch keine Alleinverantwortung für eine Kirchengemeinde trägt. Ich habe den Theologen um ein Gespräch gebeten, in dem es um eines der größten privaten Mysterien gehen soll: die innere Berufung.
Wie ein spiritueller Instinkt drängt sie den, der sich angesprochen fühlt, zu einer bestimmten Lebensaufgabe. Während die katholische Kirche diese innere Berufung zum Priestertum als besondere Gnade Gottes betrachtet, kann sich der durchschnittliche Hauptstädter das entsagungsreiche Leben im Dienst einer Gemeinde kaum mehr vorstellen. Selbst ich – mit meiner bayerischen Kleinstadtsozialisation und den zehn Jahren als Messdienerin und Chorsängerin einer katholischen Mädchenschule – frage mich: Was bewegt einen Menschen dazu, sich für einen so vermeintlich unzeitgemäßen Lebensweg zu entscheiden?
»Mein Gemeindepfarrer sagte zu mir, dass es sich lohnen würde, auf die Stimme Gottes zu hören.«
Im Fall von Kaplan Weichlein begann die Identifikation mit dem Christentum durch die Taufe. In seinem Heimatort Herxheim in der Südpfalz wurde er auch Ministrant, sein Gemeindepfarrer war dabei eine prägende Figur seiner Kindheit. „Später sagte er zu mir, dass es sich lohnen würde, auf die Stimme Gottes zu hören“, erzählt Kaplan Weichlein. Bereits als Schüler verspürte der Lehrersohn „innere Impulse“, die ihn öfter zur Bibel trieben, als es bei Gleichaltrigen der Fall war. Ansonsten beschreibt sich Kaplan Weichlein damals als „unspektakulären Teenager“: Ein Gymnasiast, der einigermaßen gerne lernte und in einem Kinder- und Jugendchor sang. Er erinnert sich aber auch noch an die aufwühlende Fußballsaison 1998, während der er mit Kumpels den Aufstieg des 1. FC Kaiserslautern zum Deutschen Meister verfolgte.
Schon mit 15 begann er, die Interviewbücher von Kardinal Ratzinger, dem späteren Papst Benedikt XVI., zu lesen. „Ich kann nicht rational erklären, was mich da geritten hat, so ein Interesse zu entwickeln. Vielleicht bedeutet Berufung in meinem ganz persönlichen Fall, dass Gottes Geist mir eine Offenheit ins Herz gelegt hat, mich früh solchen Themen zu stellen.“ Das Priesteramt war immer eine Option, die manchmal vage war – und manchmal ersehnt. Doch direkt nach dem Abitur merkte er: „Ich bin noch nicht bereit, ich bin noch nicht reif.“ Da kam der Einberufungsbescheid der Bundeswehr gerade recht. Weichlein entschied sich gegen die zivile Alternative und für den normalen Wehrdienst, da ihm ein befreundeter Priester dazu geraten hatte. „Ich bin in einem sehr behüteten, dörflich-bürgerlichen Milieu großgeworden und war neugierig auf die Herausforderung, Menschen mal in einem ganz anderen Ambiente zu begegnen“, erklärt der junge Kaplan.
»Ist es mir wichtig, mich als Christ zu definieren? Ist es mir wichtig, weiterhin in die Kirche zu gehen?«
Die Monate beim Bund wurden zu einer wichtigen Erfahrung, er tauchte in vollkommen fremde Welten ein. Unterschiede in puncto Bildungshintergrund und Wertvorstellungen ließen ihn seine eigene Haltung nochmal überdenken: „Ich fragte mich: Ist es mir wichtig, mich als Christ zu definieren? Ist es mir wichtig, weiterhin in die Kirche zu gehen?“ Zu den eigenen Interessen zu stehen, auch wenn die anderen jungen Männer in der Einheit teilweise wenig Verständnis dafür hatten, formte den Willen von Raphael Weichlein. „Ich wurde innerhalb der Gruppe schon als einer wahrgenommen, der ein bisschen anders ist – auch wenn ich meinen Glauben niemandem auf die Nase gebunden hatte. Als wir mal darüber ins Gespräch kamen und ich mich mit meinem Gedanken, nach der Bundeswehr Priester zu werden, einem Kameraden anvertraute, war die erste Reaktion: ‚Waaaaas? Kriegst du keinen hoch, oder wie?‘ Da habe ich auch gelernt, mit solchen Fragen umzugehen“, erzählt der heute 35-Jährige mit versöhnlichem Ton.
»Evangelisch zu werden, nur um als Pfarrer heiraten zu dürfen, kam mir wie eine Mogelpackung vor.«
Die größte Prüfung sollte ihn allerdings am Ende seiner Wehrpflicht erwarten: Kaplan Weichlein, der damals 19 Jahre alt und einfach nur Raphael war, verliebte sich. Die junge Frau kannte er aus einer anderen Kirchengemeinde, in einer Bar kam er mit ihr zusammen. Schnell war es um die beiden geschehen – der Bezug zum Glauben verband das junge Paar: „Sie war nur ein paar Wochen zuvor auf dem Weltjugendtag in Toronto gewesen und erzählte mit viel Begeisterung von ihren Erlebnissen – das hatte sie sehr angerührt“, sagt Kaplan Weichlein. Er erinnert sich gerne daran, dass er mit ihr offen über viele persönliche Themen reden konnte. „Das war auch nicht nur eine kleine Romanze oder Affäre, sondern eine tiefergehende Beziehung, die über zwei Jahre hielt. Salopp gesagt: Alles war schick. Aber irgendetwas wollte mir keine Ruhe lassen. Die Berufung war wie ein inneres Ziehen. Irgendwann konnte ich nicht mehr leugnen, dass mich die Lebensform des Priesters stärker beschäftigt, als ich mir während der ersten Verliebtheit eingestehen wollte“, erzählt er mit nostalgischer, aber nicht wehmütiger Stimme.
Trotzdem merkt man ihm an, dass es ihm wehtat, die Verbindung zu lösen und der jungen Frau damit Liebeskummer zu bereiten. Einfach zu den Protestanten zu konvertieren, hätte sich für ihn nicht stimmig angefühlt. „Evangelisch zu werden, nur um als Pfarrer heiraten zu dürfen, kam mir wie eine Mogelpackung vor. Das wäre nicht redlich gewesen. Aber natürlich habe ich sehr mit mir darum gerungen, ob es nicht möglich ist, beide Wege zu gehen. Die Kirche sagt selbst: Beide Berufungen, die zur Ehe und die zum priesterlichen Dienst, ergänzen sich wechselseitig und sind gleich wertvoll.“
In der darauffolgenden Zeit konzentrierte er sich ganz auf dieses innere Ziehen. Und nach dem Weltjugendtag im Sommer 2005 entschied er sich endgültig, den Schritt ins Priesterseminar zu wagen. Dafür kam er nach Berlin. Schon bald stellte sich ein Gefühl der Ruhe ein: „Ich war angenommen und wusste: Es ist richtig.“
»Ich muss mir immer wieder der Frage stellen: Wie lebe ich meine Männlichkeit?«
Dennoch bleibt die Balance zwischen Geistig-Religiösem und dem Sinnlich-Lusterfüllten weiterhin ein Thema für Kaplan Weichlein. Vor zwei Jahren initiierte er in der Gemeinde St. Antonius in Friedrichshain, die neben der Gemeinde St. Mauritius in Lichtenberg der zweite pastorale Wirkungsraum von Kaplan Weichlein ist, einen „Kreis Junger Erwachsener“. Auch hier wurde bereits die Vereinbarkeit von Körperlichem und Geistigem diskutiert. „Ich als zölibatär lebender Priester darf mich da nicht ausnehmen. Ich muss mir immer wieder der Frage stellen: Wie lebe ich meine Männlichkeit?“ Es sei wichtig, dass auch Priester nicht vergäßen, sich als körperliche Wesen wahrzunehmen. Partnerschaften seien zudem nie nur eine Frage der Erotik, sondern vor allem des geistigen Austauschs. „Und hier müssen wir alle an unserer Reife arbeiten. Für die genitale Ebene findet man in jedem Lifestyle-Magazin viele Tipps und Tricks. Aber die geistig-personelle Ebene bedarf viel mehr Arbeit, für die uns oft das Know-how fehlt. Meine Kompetenz als Seelsorger kann es sein, hier geistige Stimuli anzubieten“, sagt er.
»Wer sich heute noch dazu entscheidet, katholisch in einer Kirche zu heiraten, dem bedeutet das auch etwas.«
Jetzt sitze ich hier und frage einen Priester nach den Grundsätzen für gelungene Partnerschaften. Doch im Gegensatz zu Schauspielern, mit denen ich über ihre Film-Ehen spreche, oder Rockstars, die ich nach ihren besten Flirt-Tipps frage, fühle ich mich in diesem Gespräch mit Kaplan Weichlein viel aufgehobener. Dass es den Leuten durchaus Spaß bereitet, Gespräche über Sex und Liebe auf einer theoretischen und manchmal abstrakteren Ebene als gewöhnlich zu führen, kennt er schon. Gerade in Paargesprächen zur Ehevorbereitung spreche er gerne über die beiden Dimensionen der Begegnung, die durch Christus, der mit in den Ehebund genommen wird, vielleicht sogar dreidimensional werden kann. Von den über 20 Paaren, die er bisher traute, sei noch keines geschieden worden.
„Wer sich heute noch dazu entscheidet, katholisch in einer Kirche zu heiraten, dem bedeutet das auch etwas.“ Miteinander beten, so sagt der Gottesmann, sei die beste Versicherung für eine lange Ehe. Das finde ich etwas kitschig. Romantisch hingegen finde ich seinen nächsten Satz: „So schön die Intimität zum Anfassen auch ist, eine starke Partnerschaft zeichnet sich auch durch eine geistige Intimität aus, die das ganze Zusammenleben erfüllt.“ Auch wenn ihm durch sein Gelöbnis der Ehelosigkeit die Mainstream-Erotik versagt bleibt, sieht sich Kaplan Weichlein durchaus mit Beziehungen gesegnet, die ihn durch geistige Nähe erfüllen: „Klar, jeder Mensch braucht Intimität. Aber die Frage ist, welcher Art.“
»Jeder Mensch braucht Intimität. Aber die Frage ist, welcher Art.«
Darüber will ich viel von ihm wissen – und Kaplan Weichlein antwortet auch geduldig und persönlich. Immer wieder webt er Stellen aus dem Alten Testament ein, in denen über die Liebe gedichtet wird. Doch so gut wir uns auch verstehen: An einem gewissen Punkt geraten wir unvermeidlicherweise an Inhalte, die uns an zwei Ufern eines reißenden Flusses positionieren, über den noch keine starke Brücke führt: Der Missbrauch-Skandal, die fehlenden Frauen im Priesteramt, die Ehe für alle. Es scheint unmöglich, ohne diese Totschlagthemen auszukommen – zumindest wenn man sich dabei nicht einfach so von einer journalistischen Beobachterin aktueller Kirchendebatten zur Gläubigen umetikettieren lassen will. Doch es muss auch reflektiert werden, dass die Fragen, mit denen ich Kaplan Weichlein auf die Pelle rücke, durchaus aktivistischer Natur sind. Objektivität ist im Hinblick auf die emotionale und zutiefst private Natur dieser Debattenfelder ein unerreichbares Gut.
Bevor wir unseren höflichen Streit vertiefen, stellt Kaplan Weichlein ein paar grundlegende Worte voran: Nur wer Schüler Gottes sei, könne sich daran beteiligen, das Reich Gottes zu verwirklichen. Dass ein Schüler eben auch lebenslang Korrekturen in Kauf nehmen müsse, unterstreicht Weichleins Wille zur Wandlungsfähigkeit. „Den christlichen Glauben zu leben heißt, sich gerade nicht in einem festen Lehrgebäude zu verschanzen und gegen alle möglichen Formen der Kritik zu immunisieren. An seinem Glauben zu wachsen bedeutet auch, ein Umdenken zuzulassen.“ Als Beispiel, wo dies der katholischen Kirche als solche gelungen sei, nennt er die Religionsfreiheit. Im 19. Jahrhundert gehörte der Vatikan zu den eifrigsten Gegnern des Konzepts der säkularen Religionsfreiheit. Mitte des 20. Jahrhunderts würdigte er es schließlich als grundlegendes Menschenrecht. Dass hier auch ein klerikaler Machtverlust das Umdenken erleichtert haben mag, sei meinerseits hinzugefügt.
»Christ zu sein ist in Berlin spannender als anderswo.«
Schwer tut sich die katholische Kirche auch immer noch damit, was Frauen im Priesteramt und gleichgeschlechtliche Ehebündnisse angeht. Kaplan Weichlein fällt da nicht aus der Reihe. Mit sexistischem oder homophonem Vokabular macht er sich aber nicht gemein, in diese Ecke kann ich ihn nicht stellen – auch wenn das einfacher wäre, als den Versuch zu unternehmen, ihn in seinem philosophisch durchdrungenen Glaubenssystem zu begreifen.
Generell ist ein Priester in Berlin auch nicht unbedingt die richtige Ansprechperson, um den Katholizismus von hinten aufzurollen. Denn die Schäfchen des Vatikans befinden sich hier schon seit Jahrhunderten in der Minderheit. Unsere Hauptstadt war eine der frühesten säkularen Städte, von manchen Schreibern wird sie sogar als „Hauptstadt des Atheismus“ bezeichnet. „Christ zu sein ist hier spannender als anderswo“, sagt Kaplan Weichlein. Dass der Priestermangel in Berlin weniger spürbar als in anderen Städten sei, läge nicht nur an dem herausfordernden Charme der Metropole, sondern vor allem an der großen „neokatechumenalen Szene“: Seit Anfang der 1990er Jahre ziehe das Priesterseminar „Redemptoris Mater“ junge Männer aus aller Welt nach Berlin, die sich diesem besonderen Glaubensweg besonders verpflichtet fühlten, der auf der ganzen Welt verbreitet ist.
Der „Neokatechumenale Weg“ entstand in Spanien zeitgleich zum Zweiten Vatikanischen Konzil und betrachtet sich als innerkirchliche Erneuerung. „Der Gründer, ein bekannter Kunstmaler, ließ sich in den Barackenvierteln von Madrid nieder, um in den armen Menschen Christus zu begegnen“, erzählt Kaplan Weichlein. Und er fährt fort: „Viele von uns wurden bereits als Baby oder Kleinkind getauft. Die neokatechumenalen Gemeinschaften bieten einen Glaubensweg an, der zu einer Bewusstwerdung und Erneuerung der eigenen Taufe führt – eine Art ‚Update‘ der eigenen Taufe für Erwachsene.“ In dieser jungen und dynamischen Gemeinschaft wird die Sehnsucht kommuniziert, Dimensionen der Wirklichkeit zu entdecken, die über das rein Profane hinausgehen. „Es gibt mehr als ‚business as usual'“, sagt Weichlein.
»Es ist wichtig, seine Zeit alleine mit Gott zu haben, aber manchmal braucht man auch den menschlichen Austausch.«
Doch natürlich gibt es auch für Gottesmänner einen Alltag. Im Pfarrhaus von St. Mauritius wohnt er mit dem Gemeindepfarrer unter einem gemeinsamen Dach, aber in seiner eigenen Wohnung. „Es wäre gefährlich, als Priester immer alleine zu leben und von morgens bis abends nur mit sich selbst beschäftigt zu sein. Es ist wichtig, seine Zeit alleine mit Gott zu haben, aber manchmal braucht man auch den menschlichen Austausch.“ Mittwoch- und Sonntagmittag essen die beiden Priester von St. Mauritius zusammen, manchmal schauen sie gemeinsam einen Film an – und zwar in den seltensten Fällen „fromme“ Filme. Im Kino war er zuletzt im Roadmovie „303“: „Tolle und interessante Dialoge, die wichtige Fragen unserer Generation gut wiedergeben!“, ist seine Meinung zu dem deutschen Liebesfilm.
Ansonsten halten Gemeindeveranstaltungen und Privateinladungen den Kaplan ausreichend auf Trab – er würde sich wünschen, in seiner Freizeit ein paar Mal öfter laufen zu gehen, am Ende fesselt ihn aber doch eher ein gutes Buch an die Couch. Momentan liest er ‚Christusmord‘ von Wilhelm Reich sowie ein Buch über den Priester und Evolutionswissenschaftler Teilhard de Chardin. Dass hinter der Amtsperson immer auch ein Normalsterblicher steht, stellt ihn und seine Kollegen manchmal vor Identitätskonflikte. „Es gibt einen Respekt vor dem Amt, der automatisch eine Distanz schafft. Trotzdem musst du dich als Priester auch darum kümmern, persönliche Kontakte zu pflegen. Wenn aus einem falschen Berufungsverständnis eine übergroße Vorsicht erwächst und man zu jedem auf Abstand geht, dann läuft man Gefahr, zum Eigenbrötler zu werden.“
Während ich mir unser Gespräch ein paar Wochen lang durch den Kopf gehen lasse, Weichleins Beitrag im Kunstband „Sein. Antlitz. Körper“ lese und mir seine Gedanken zum Osterfest im Podcast „Gott bewahre!“ anhöre, hat der junge Kaplan seine Zelte in Berlin wieder abgebrochen: Vorerst wird er in Innsbruck weitere Studien der Philosophie aufnehmen, um später vielleicht einmal als Dozent tätig zu sein.
Unerwarteterweise schreibt mir Kaplan Weichlein eine Mail, die eine kleine Überraschung enthält: Während des Fotoshootings im Kirchengebäude von St. Mauritius hatte ich ihm von „Narziß und Goldmund“, meinem liebsten Hesse-Werk, erzählt, das gerade mit Jannis Niewöhner und Sabin Tambrea in den Hauptrollen verfilmt wird. Ich fragte den Kaplan, wie sich das spirituelle Werk in seine Systematik von körperlicher und geistiger Intimität und Lebenslust einfügt. Er konnte sich an den Text nicht mehr erinnern, versprach aber, dies nachzuholen. Ich führe seit acht Jahren journalistische Interviews. Damit, dass er seine Floskel einlöst und mir die Frage später in einer Mail beantwortet, macht er sich zum Präzedenzfall. Weil die Art, wie er schreibt, viel über ihn aussagt, will ich ihm in diesem Text das letzte Wort geben:
»Ich möchte anderen Menschen einen Weg aufzeigen, dass es möglich ist, das Körperliche vom Spirituellen wirklich erfüllt werden zu lassen, ohne das eine gegen das andere auszuspielen.«
„Die Spannung zwischen dem Geistig-Religiösen und dem Sinnlich-Lusterfüllten, wofür Narziß und Goldmund ja exemplarisch stehen, ist in der Erzählung schön und plastisch beschrieben. Das eigentlich Interessante ist meines Erachtens jedoch, dass beide nach und nach voneinander lernen, dadurch welchselseitig die ‚blinden Flecken‘ der jeweils eigenen Seite aufdecken und in ihren Haltungen transformiert werden. ‚Ich habe auch das Glück gehabt zu erleben, dass die Sinnlichkeit beseelt werden kann‘, sagt Goldmund gegen Ende der Erzählung. Und Narziß erkennt durch Goldmund die Enge und Einseitigkeit seiner allzufromm-vergeistigten Weltsicht.
Ich denke, es ist lohnend, hierauf noch näher einzugehen. Vordergründig scheint in der Erzählung ja Narziß der Christ zu sein; doch ist seine Religiosität durch weite Strecken hindurch viel zu wenig geerdet. Im Durchdingen beider Pole, wozu es in Hesses Erzählung nach und nach kommt, liegt auch aus meiner Sicht der eigentliche Kern eines gelebten christlichen Glaubens: Gottes Sohn nimmt Fleisch an (Weihnachten), auf dass der Leib des Menschen geisterfüllt und transformiert wird (Ostern und Pfingsten).
Das Verhältnis von geistiger und körperliche Liebe (Agape und Eros) hat Papst Benedikt XVI. in einem Lehrschreiben einmal so formuliert: ‚Der zum Sex degradierte Eros wird zu Ware, zur bloßen Sache; man kann ihn kaufen und verkaufen, ja der Mensch wird dabei selbst zur Ware. […] Demgegenüber hat der christliche Glaube immer den Menschen als das zweieinige Wesen angesehen, in dem Geist und Materie ineinandergreifen und beide gerade so einen neuen Adel erfahren. Ja, der Eros will uns zum Göttlichen hinreißen, uns über uns selbst hinausführen, aber gerade darum verlangt er einen Weg des Aufstiegs, der Verzichte, der Reinigungen und Heilungen.‘
Dieser Text sowie auch die von Papst Johannes Paul II. inspirierte „Theologie des Leibes“ war und ist mir persönlich sehr wichtig geworden. Durch die zölibatäre Lebensform, zu der ich mich gerufen fühle, möchte ich anderen Menschen einen Weg aufzeigen, dass es möglich ist, das Körperliche vom Spirituellen wirklich erfüllt werden zu lassen, ohne das eine gegen das andere auszuspielen.“
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Mehr von und über die katholische Kirchengemeinde St. Mauritius in Berlin:
Text: Katharina Weiß
Fotografie: Maximilian König