Portrait — Byelian
Antikitsch, tief aus dem Westen
Mit »C’est L’Hiver« hat Julian Kleinert alias Byelian einen der berührendsten Songs des letzten Jahres geschrieben. Dabei war es dem 30-jährigen Multitalent aus dem Ruhrgebiet lange Zeit nicht möglich, sich in seiner Musik überhaupt emotional zu öffnen. Ein Portrait über einen Mann, der Island liebt, für Bon Iver schwärmt und seine Heimat wirklich niemals gegen Hamburg oder Berlin eintauschen würde.
2. Februar 2022 — Text: Jonas Meyer, Fotografie: Maximilian König
Tief im Westen, wo die Sonne verstaubt, ist es besser, viel besser, als man glaubt. Das jedenfalls singt Herbert Grönemeyer. Und der muss es wissen, schließlich ist Herbert im Ruhrgebiet großgeworden und hat seiner Heimatstadt Bochum nicht nur einen Song, sondern gleich ein ganzes Album gewidmet. 1984 war das. Seitdem zählt Deutschlands beliebtester Musiker zu den wichtigsten Botschaftern jener Gegend, die immer noch gerne unterschätzt wird. Und manchmal sogar belächelt. Bochum sei halt nicht Berlin, heißt es dann. Mülheim nicht München. Und Hattingen nicht Hamburg.
Dabei leben zwischen Rhein, Ruhr und Lippe gut fünf Millionen Menschen – Menschen, die das Herz auf der Zunge tragen und ihre Heimat nicht aufgeben, auch wenn der berühmte Pulsschlag aus Stahl schon lange nicht mehr laut in der Nacht zu hören ist. Bange machen gilt nicht, sagt man hier in schweren Lebenslagen. Und erfindet sich dann einfach neu. Wie etwa im Jahr 2010, als das totgesagte Ruhrgebiet Europäische Kulturhauptstadt wurde. Die Botschaft: Glück auf, wir leben noch. Und wir können was. Man muss nur mal vorbeikommen.
»Das Ruhrgebiet hat eine Relevanz – weil es da Menschen gibt, die die Dinge angehen.«
Einer dieser Menschen, die was können, ist Julian Kleinert. Geboren, aufgewachsen und immer noch wohnhaft ist er in Sprockhövel, einem unaufgeregten Städtchen 20 Kilometer südlich von Bochum. Der 30-Jährige ist so etwas wie ein künstlerisches Multitalent. Knapp zehn Jahre lang war er Frontmann der Gruppe I Am Jerry, aktuell spielt er in der Live-Combo der Künstlerin Amilli und ist, zusammen mit seinen jüngeren Geschwistern Timm und Josephine, Teil der Formation FINE. Daneben hat er mit engen Freunden das Label Mightkillya gegründet, das all die genannten Acts unter einem Dach versammelt und – man ahnt es bereits – diese auch produziert. Ach ja, und Filme dreht man bei Mightkillya auch noch.
Offizieller Sitz des Labels ist die Stadt Hattingen, von Sprockhövel aus sind das zehn Minuten mit dem Auto, zwanzig mit dem Bus. „Wir haben uns bewusst dagegen entschieden, nach Hamburg oder Berlin zu gehen“, erzählt uns Julian an einem grauen Samstagvormittag und erklärt: „Das hat damit zu tun, dass wir unsere Wurzeln nicht verkennen wollen. Es ist uns wichtig zu zeigen, dass das, was wir erschaffen und in die Welt hinaustragen, aus dem Ruhrgebiet kommt.“ Ihm und seinem Team ginge es darum, dass die Leute im Kunst- und Kulturbetrieb den tiefen Westen Deutschlands wieder stärker auf dem Zettel hätten. „Das Ruhrgebiet hat eine Relevanz – weil es da Menschen gibt, die die Dinge angehen.“
»Ohne den plötzlichen Stillstand wäre ich mit dieser Musik wesentlich später an die Öffentlichkeit gegangen.«
Den Beweis dafür lieferte er vor gut einem Jahr selbst: Als die Pandemie wie Blei über dem ganzen Land lag, nutzte er die Zeit und veröffentlichte am 4. Februar mit „C’est L’hiver“ die erste Single seines Soloprojekts Byelian. „Der plötzliche Stillstand kam wie gerufen“, beschreibt er die Situation Anfang 2021. „Ich konnte mich plötzlich um all die Ideen kümmern, für die ich vorher keine Muse hatte.“ Zwar sei Byelian kein reines Pandemie-Gewächs, betont er, aber ohne den plötzlichen Stillstand sei er mit dieser Musik wohl wesentlich später an die Öffentlichkeit gegangen.
Dass er damit nicht länger gewartet hat, dafür kann man ihm nur danken. Denn „C’est L’Hiver“ ist wahrscheinlich einer der berührendsten Songs, die das letzte Jahr hervorgebracht hat. Eingeleitet wird der Track von einer Pianomelodie, die so eindringlich ist und gleichzeitig so scheu und zurückhaltend wirkt, als wäre sie den „Living Room Songs“ von Ólafur Arnalds entsprungen. Kurz darauf legt sich Julians tiefe, nachdenkliche Gesangsstimme auf das mäandernde Piano und es entsteht eine emotionale Schwere, der man weder entkommen kann noch entkommen will – wer schon mal am Adagietto aus Mahlers Symphonie Nr. 5 hängengeblieben ist, kennt dieses Gefühl.
Doch die anfängliche Melancholie von „C’est L’Hiver“ bleibt kein Dauerzustand. Nach und nach addieren sich diverse elektronische Elemente, das Piano geht in einen treibenden Beat über, alles wird leichter, energetischer, heller und sogar tanzbar. So ist der Song nicht weniger als eine emotionale Achterbahnfahrt, bei der man auf der Melancholie-Ebene einsteigt, sich wenig später einen Schuss Ekstase gönnt und am Ende der Fahrt einfach sitzen bleibt, um zwei, drei Extrarunden zu drehen. Und dann geht’s zum nächsten Song.
Davon gibt es mittlerweile sieben, zusammengefasst sind sie auf der EP „Crawl Underneath My Blanket“. Die Platte ist ein ständiger Tanz zwischen Introvertiertheit und Extroversion, die sieben Tracks sind liebevoll komponiert und arrangiert, wirken verspielt und doch verbindlich. Musikalisch spielen sich traditionelle und moderne Elemente die Bälle hin und her: Klavier featuring Electronic Beats, Akustikgitarre meets Autotunes. Und doch zieht sich durch alles eine ganz eigene, gut leserliche Handschrift.
»Ich habe regelrecht dagegen gearbeitet, in meinen Liedern zu offenbaren, was ich wirklich fühle.«
Dass diese Platte so klingt, wie sie klingt, leitet sich direkt aus Julians persönlicher Gefühlswelt ab. „Für mich ist Musik ein Ventil, ein Mittel zur Selbstreflexion“, sagt er und fügt hinzu: „Wenn es mir nicht gut geht oder ich etwas zu verarbeiten habe, setze ich mich ans Klavier. Das ist mein Weg, um mit alldem umzugehen, was mir so im Leben widerfährt.“
Klar, welcher ernsthafte Musiker, der sich melancholischer Musik verschrieben hat, würde nicht so antworten. Doch für Julian ist das alles andere als selbstverständlich. Der zurückhaltende Mann hatte lange Zeit große Probleme, seine Gefühlslage zu beschreiben und damit an die Öffentlichkeit zu gehen. „Ich habe regelrecht dagegen gearbeitet, in meinen Liedern zu offenbaren, was ich wirklich fühle“, erklärt er. „Ich habe gedacht: Das, was ich da mache, ist viel zu kitschig, abgedroschen und alles andere als fresh.“ Immer wieder habe er sich in solchen Momenten mit anderen verglichen, habe sich gefragt, ob er gut genug sei, ob er ausreichend Talent habe, ob seine Musik besonders klinge. Und so dauerte es eine ganze Weile, bis Julian lernte, Musik aus der eigenen Intuition heraus zu machen und sich ohne Angst seinen eigenen Gefühlen zu nähern.
»Das Faszinierende an Bon Iver ist, dass seine Musik immer von der gleichen Emotionalität getragen wird.«
Sich dabei auch den ständigen Vergleichen zu entziehen, ist gar nicht so einfach, vor allem nicht, wenn sie von außen immer wieder an einen herangetragen werden. Julian Musik macht, suchen Fans wie Kritiker nach Parallelen zu erfolgreichen Musikern. Während seine damalige Band I Am Jerry etwa mit „die neuen Kraftklub“ oder „die nächsten Bilderbuch“ betitelt wurden, wird Byelian heute gerne mal als „der legitime Anwärter auf die Thronfolge von Künstlern wie Bon Iver, Sufjan Stevens und James Blake“ beschrieben.
„So etwas zu lesen“, sagt Julian, „ist natürlich schmeichelhaft. Aber wenn die Leute das zum Anlass nehmen, um sich nach einem Byelian-Konzert darüber zu beschweren, dass das ja gar nicht wie James Blake klingt, muss ich wirklich sagen: Dann geht halt zu einem James-Blake-Konzert!“ Davon abgesehen seien solche Vergleiche aber immer hilfreich, um eine grobe Stilrichtung zu beschreiben – vor allem, wenn es sich um Newcomer-Musik handele. Und bei seiner Debutsingle „C’est L’Hiver“, gibt Julian zu, finde er die musikalischen Parallelen zu den drei genannten Künstlern auch gar nicht so unpassend. Und es gibt tatsächlich Schlimmeres, als mit Bon Iver verglichen zu werden.
Dieser Musiker hat es Julian ohnehin angetan. „Bon Iver“, schwärmt er, „hat es geschafft, seinen ganz eigenen Sound zu erschaffen und sich trotzdem über die Jahre immer wieder zu verändern. Das Faszinierende daran ist, dass die Musik immer von der gleichen Emotionalität getragen wird – egal, ob es sich um einen Akustikgitarrensong oder eines dieser weird produzierten Stücke handelt. Das ist wirklich groß.“ Dabei gehöre „Blood Bank“ zu seinen absoluten Lieblingssongs, lässt uns Julian wissen. „Dieses Stück von ihm ist eines der emotionalsten überhaupt und ich verbinde es mit ganz bestimmten, wichtigen Momenten meines Lebens. Auf der einen Seite ist es der absolute Heulsong, weil er sich so tief in die Gefühlswelt gräbt, auf der anderen Seite wirkt das Lied im Vergleich zu den anderen Tracks von Bon Iver immer ein bisschen dahingerotzt. Diese Kombination liebe ich total.“
»Drei Wochen Island ist so ziemlich das Gegenteil von einem Strandurlaub auf Mallorca.«
Apropos Kombination: Seine Musik lässt Julian visuell in einer Landschaft stattfinden, auf die der Song „63° 56‘ N 21° 0‘ W“ hindeutet. Folgt man den Koordinaten, stößt man ziemlich genau auf ein kleines Haus in dem isländischen Städtchen Selfoss. In diesem Haus verbrachte Julian im Oktober 2020 insgesamt drei Wochen, um ein wenig Urlaub zu machen, Songs zu schreiben und in der näheren Umgebung einige Musikvideos zu drehen. „Von diesem Haus aus“, so berichtet Julian, „konnte man immer auf einen Berg blicken. Dieses Bild war so monumental, dass es mich jedes Mal tief berührt hat.“ Und so ziert heute ein Foto des Bergs das Cover der ersten Byelian-EP.
Sein Herz hatte der Musiker aus dem Ruhrgebiet bereits zwei Jahre vorher an Island verloren, als er die Singer-Songwriterin Lina Maly zu einem Videodreh auf die Insel begleitete. „Auf Island gibt es eine ganz andere Ruhe“, erzählt Julian sehnsüchtig, „das habe ich damals schon gespürt. Man ist der absoluten Natur ausgesetzt – und das erdet enorm.“ Er sei ohnehin ein großer Fan von skandinavischen Welten, da diese immer etwas Dunkles und Trauriges hätten, und das passe perfekt zu seinem Projekt Byelian. „Bei meiner Musik“, sagt er, „hatte ich von Anfang an Island-Assoziationen im Kopf.“ Die klavierbasierten, emotionsgeladenen und gleichzeitig reduzierten Songs seien vergleichbar mit dem Wesen der überwältigenden isländischen Natur. Drei Wochen auf Island abgekapselt in einer Hütte zu verbringen, witzelt Julian, sei so ziemlich das Gegenteil von einem Strandurlaub auf Mallorca.
Man könnte man es auch als antikitschig beschreiben. Oder, wenn man sich die Musikvideos zu „C’est L’Hiver“ oder „Thud“ anschaut, als hochdramatisch – denn beide Clips setzen sich dramaturgisch mit dem Thema Suizid auseinander. Während „C’est L’Hiver“ mit dem Bild eines Protagonisten startet, der sich eine Plastiktüte über den Kopf gezogen hat und kurz vorm Ersticken ist, erzählt „Thud“ die Geschichte eines jungen Paars, das mit einem Strick in der Hand um einen Baum tanzt und einen vermeintlich bevorstehenden Suizid zelebriert.
»Wenn man ihn rückwärts abspielt, wirkt der angedeutete Suizid wie eine Befreiung.«
Ihm sei die Sensibilität des Themas und die mögliche Wirkung der Bilder bewusst, versichert uns Julian. Was „C’est L’Hiver“ betrifft, das als Rückwärtsvideo angelegt sei, gehe es um den Akt der Befreiung statt um den des Selbstmords. Er erklärt: „Der Song geht verträumt los, der Protagonist ist anfangs noch sehr in sich gekehrt. Aber dann entsteht mehr und mehr dieses Momentum, mit dem er sich musikalisch freischwimmt. Ich fand es interessant, dass dieser angedeutete Suizid wie eine Befreiung wirkt, wenn man ihn rückwärts abspielt. Erst bekommt man keine Luft, ist vollkommen am Ende, aber dann läuft es aber Stück für Stück so, dass man es schafft, sich zu befreien. Das ist eine absolut absurde künstlerische Idee, aber ich fand, dass das irgendwie zu dem Song passt – vor allem in dieser Natur.“
Anders war es bei dem Video zu „Thud“ – das mit dem jungen Paar und dem Strick. Hier habe Julian etwas darstellen wollen, das das absolute Gegenteil des Songs verkörpere, der in seinem Wesen eher bekräftigend und lebensbejahend sei. „Ist das nicht ein geradezu absurdes Bild?“, fragt er und ergänzt: „Da sind zwei Menschen, die keine Angst vor dem Tod haben, sondern den todbringenden Strick regelrecht glorifizieren.“ Natürlich wisse er, dass er hier mit einem hochproblematischen Sujet hantiere. „Aber ich fand hier den Gedanken faszinierend“, sagt er, „mit diesem Video etwas abzubilden, das völlig untypisch ist. Ich mochte das Spiel mit den Extremen, dem Leben und dem Sterben. Und am Ende passiert ja auch nichts, sondern das Paar entscheidet sich gegen den Tod.“ Mit beiden Videos wolle er eine Geschichte erzählen, die inhaltlich und visuell tiefgreifend sei – etwas, das nicht sofort zu dechiffrieren sei und worüber man kurz nachdenken müsse.
»Bei Abschieden frage ich mich immer, ob ich die Person wirklich nochmal wiedersehe.«
Nicht sofort zu entschlüsseln, das gilt auch für den Begriff Byelian selbst. Julian verrät uns, dass es sich dabei um eine Zusammensetzung aus dem Wort Bye und seinem Vornamen handelt. „Ich habe nach etwas gesucht, das für mich eine gewisse Traurigkeit impliziert“, erklärt er. „Abschied nehmen ist ja meistens etwas Trauriges – egal, ob man jemanden zum Flughafen bringt oder einen geliebten Menschen verliert.“ Er persönlich frage sich bei Abschieden immer leise, ob er die betreffende Person wirklich nochmal wiedersehe. „Das war schon immer so und hat sich irgendwie manifestiert“, erzählt Julian. Er habe es als überaus passend empfunden, diesen pessimistischen und melancholischen Gedanken in einem Namen festzuhalten, der die Melancholie seiner Musik beschreibe. „Byelian klingt zwar im ersten Moment weird. Aber damit konnte ich meiner Musik einen Begriff geben, der sie ausmacht. Melancholisch und von mir.“
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Hinweis: Das Gespräch und die Fotoproduktion mit Julian Kleinert fanden am 13. November 2021 in Berlin statt. Alle Personen wurden zuvor negativ auf das Coronavirus getestet.
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Fotografie: Maximilian König
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