Opinion — Simon Sumbert
#FreeCarola – und der Rest?
Ausgehend von den Ereignissen rund um die »Sea-Watch 3« nimmt Simon Sumbert, 21 Jahre alt und Mitglied des Freiburger Stadtrats, zu den »dringlichsten politischen und moralischen Aspekte der Geflüchtetenpolitik der Europäischen Union« Stellung – und appelliert für mehr Engagement und Humanität in der Gesellschaft.
21. September 2019 — MYP N° 26 »Stil« — Text: Simon Sumbert, Fotos: Sea-Watch e.V.
Foto: Fabian Melber
»Ich will nicht auf Heldinnen und Helden hoffen müssen, damit ich mir sicher sein kann, dass die Europäische Union jedem Menschen sein Grundrecht auf Leben zugesteht.«
„Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“ [1]
„Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person.“ [2]
Carola Rackete war vor ein paar Wochen in aller Munde. Die deutsche Kapitänin der „SeaWatch 3“ wurde von der italienischen Polizei auf Lampedusa festgenommen. Der offizielle Vorwurf lautete „Beihilfe zur illegalen Einwanderung“. Dieser Vorwurf war rechtlich natürlich nicht zu halten, aber um all das geht es mir auch nicht. Vielmehr geht es mir darum, dass sich im Jahr 2019 in Deutschland, Europa und der sonstigen westlichen Welt Risse auftun, wo keine sein sollten, wo keine sein dürfen. Da, wo es um das elementarste Grundrecht eines jeden Einzelnen geht. Das Grundrecht auf Leben.
Foto: Chris Grodotzki / jib collective
Carola Rackete hat in einer konkreten Situation, als sie mit ihrer Crew und über vierzig aus dem Mittelmeer geretteten, erschöpften, teilweise suizidalen Geflüchteten unterwegs war, eine Entscheidung getroffen. Es war die Entscheidung, nicht länger zu akzeptieren, dass die Europäische Union mit ihren 500 Millionen Einwohner*innen und ihrem milliardenschweren Haushalt in 14 Tagen keine Lösung zur Aufnahme von 42 geflüchteten Menschen finden konnte. Eine Entscheidung, freiwillig ins Gefängnis zu gehen, weil sie ihre Crew und die Geretteten nicht weiter gefährden wollte. Carola Rackete ist zweifelsfrei eine Heldin. Für mich persönlich hat die Sache aber einen großen Haken:
Ich will nicht auf Heldinnen und Helden hoffen müssen, damit ich mir sicher sein kann, dass die Europäische Union jedem Menschen sein Grundrecht auf Leben zugesteht. Ich will Gesetze und Regeln und ich will, dass es nie wieder einen Riss in der europäischen Gesellschaft gibt, wenn es um die Frage geht, ob man Menschenleben retten soll oder auch nicht. [3]
Foto: Jon Stone
Das ist, glaube ich, nicht nur mein persönliches Ziel, sondern auch das von Carola Rackete und allen weiteren, vernünftigen Menschen, die etwas von den sogenannten europäischen Werten halten. Und dieses Ziel sollte auch verfolgt werden, wenn die Presse nicht voll von Berichten ist über eine deutsche, weiße Frau, die wegen ihres Engagements verhaftet wird.
Ich bin kein Held wie Frau Rackete, nicht einmal ansatzweise, aber ich weiß, dass der Weg zu diesem Ziel ein langer ist, der nur durch viel Bildungs- und Aufklärungsarbeit und klare Kante gegen menschenfeindliche Ideologien begehbar wird. Ich weiß auch, dass man das Erreichen dieses Ziels nicht nur an Fragen der Migrationspolitik messen kann.
Foto: Felix Weiss
Dennoch gibt es aktuell wohl kein besseres und gleichzeitig grausameres Beispiel für das, was passiert, wenn nicht zumindest mit allen Mitteln versucht wird, dieses Ziel zu erreichen: tausendfaches Sterben von Menschen im Mittelmeer in den letzten Jahren.
Tausendfaches, grausames, unvorstellbares Leid von Männern, Frauen und Kindern.
Als ich 13 Jahre alt war, habe ich das erste Mal passiv miterlebt, welche konkreten Auswirkungen politische Entscheidungen und der verallgemeinernde Umgang mit Geflüchteten für die Betroffenen haben. Seitdem engagiere ich mich ehrenamtlich und zeitweise auch hauptamtlich in verschiedenen Einrichtungen der Geflüchtetenhilfe in Freiburg. In dieser Zeit habe ich viele geflüchtete Menschen kennenlernen dürfen. Mit manchen habe ich mich überhaupt nicht verstanden. Mit manchen bin ich noch heute in Kontakt und befreundet. Manche zähle ich heute zu meiner Familie.
In jedem Fall habe ich in den letzten acht Jahren viele persönliche Erfahrungen gesammelt, zumindest sofern das aus meiner Perspektive möglich ist.
Foto: Fabian Melber
»Gerade beim Thema Geflüchtetenpolitik geht es vor allem um die Frage, ob wir wirklich nach den Werten leben und handeln wollen, auf die wir uns berufen und auf die wir stolz sind.«
Mit diesem Text will ich versuchen, jeden Menschen, der sich für eine humanere Geflüchtetenpolitik einsetzt, zu bestärken und zu unterstützen.
Gleichzeitig will ich auch versuchen, die Menschen, die sich bisher aus verschiedensten Gründen noch nicht an der Debatte beteiligen wollen oder können und keine Stellung beziehen, zu überzeugen, genau dies – mit einem faktenbasierten Grundwissen dazu – zu tun. Ich glaube nicht, dass es viele Zeitpunkte in der jüngeren Geschichte gab, in denen genau das wichtiger war.
Foto: Fabian Melber
Dafür möchte ich in folgendem Text meine Erfahrung, mein Wissen und meine Meinung zu den dringlichsten politischen und moralischen Aspekten der Geflüchtetenpolitik der Europäischen Union, ihren einzelnen Mitgliedsstaaten und ihren Konsequenzen erklären. Dazu gehören selbstverständlich sowohl die positiven als auch die negativen Seiten dieser Politik.
Gerade beim Thema Geflüchtetenpolitik geht es aber schlussendlich und vor allem um die Frage, ob wir wirklich nach den Werten leben und handeln wollen, auf die wir uns berufen und auf die wir stolz sind. Und das ist ultimativ immer eine moralische Frage.
Foto: Chris Grodotzki / jib collective
Foto: Sea-Watch e.V.
»Ein zentraler Bestandteil des Rechtsrucks in Europa in den letzten Jahren war das aktive, willentliche Verbreiten und das passive, naive Glauben von falschen Informationen im politischen Kontext.«
Die „Flüchtlingskrise“ – eine deutsche Geschichte
Deutschland ist heute ein tief gespaltenes Land. Die aktuelle Dekade wird als ein Jahrzehnt in die Geschichtsbücher eingehen, indem es Populisten, Nazis und Demagogen in Deutschland und europaweit geschafft haben, in Parlamente gewählt zu werden und zunehmend mehr Raum im gesellschaftlichen Diskurs einzunehmen.
Migrations- und Integrationspolitik ist definitiv nicht der alleinige Auslöser dieser traurigen Entwicklung. Sie ist viel mehr der Tropfen im berühmten übervollen Fass und gleichzeitig Katalysator dieser Entwicklungen. Ein zentraler Bestandteil des Rechtsrucks in Europa in den letzten Jahren war das aktive, willentliche Verbreiten und das passive, naive Glauben von falschen Informationen im politischen Kontext.
Ich denke, dass es essenziell wichtig ist, dass solchen „Fake News“ vehement entgegentreten wird. Der Trick an guten Lügen und „Fake News“ ist, dass oft nur ein kleiner Teil des Gesamtkontextes einer Situation ausgelassen oder geändert wird, sodass sich das wahrgenommene Bild einer Begebenheit komplett ändert, die Hintergrundgeschichte aber immer noch relativ plausibel erscheint. Um diese Lügen zu entkräften, muss man ebendiesen Gesamtkontext korrekt und anschaulich darstellen und klarmachen, wo genau entscheidende Details ausgelassen oder abgeändert wurden und das Gesamtbild verzerrt wird. Und auch, wo nicht.
Foto: Marcus Wiechmann
Die Geflüchtetenpolitik der letzten Jahre in Deutschland ist gescheitert, und zwar in den allermeisten Aspekten. Was bleibt, sind aktuell eine große Frustration und Resignation, sowohl bei vielen Menschen, die ihr Leben lang in Deutschland gelebt haben, als auch bei Geflüchteten. Ich halte es ganz grundsätzlich für falsch, nicht jeden Menschen als Individuum zu erachten und auch dementsprechend zu behandeln. Im Folgenden werde ich dennoch manches vereinfachen müssen und die äußerst heterogenen Gruppe von Menschen, die seit September 2015 nach Deutschland geflohen ist, ein Stück weit unter einen Hut stecken, um problematische und teilweise gefährliche Tendenzen ansprechen zu können, ohne dabei endlos auszuholen – und auch um jenen Menschen adäquat antworten zu können, die diese Verallgemeinerungen per se nutzen, um gegen Menschengruppen zu hetzen.
Foto: Marcus Wiechmann
»Die deutsche Verwaltung war mit der großen Anzahl an Geflüchteten komplett überfordert.«
In vielen exemplarisch genannten Politikbereichen entstehen Problematiken übrigens auch erst durch die konkrete Masse und nicht durch die einzelnen Individuen.
In Deutschland wurden seit Anfang des Jahres 2015 bis Mai 2019 1.704.837 Asylanträge gestellt, wovon 116.617 Asylfolgeanträge und 1.558.220 Asylerstanträge waren. Die damalige Entscheidung zur Aufnahme all dieser Geflüchteten hat Konsequenzen für quasi jeden einzelnen politischen und gesellschaftlichen Teilbereich der BRD.
Die deutsche Verwaltung war mit der großen Anzahl an Geflüchteten komplett überfordert. Dies lag – abgesehen von der schieren Anzahl an Menschen, die in Deutschland Asyl suchten – auch daran, dass vielerorts die Infrastruktur zur Aufnahme und Versorgung von geflüchteten Menschen, die in den 90er Jahren während der großen Konflikte in Osteuropa und der daraus resultierenden Fluchtmigration aufgebaut wurde, rund um die Jahrtausendwende nicht intakt gehalten oder sogar zurückgebaut wurde.
Foto: Chris Grodotzki / jib collective
Die bürokratische Überforderung führte indes nicht nur zu Schwierigkeiten im Bereich Verwaltung und Logistik, sondern auch zu sicherheitspolitischen Problemen und Risiken. Ab September 2015 bis September 2016 wurden jeden Monat mindestens 40.000 Asylanträge gestellt, die überwiegende Mehrheit davon Erstanträge. [4] Bei solch hohen Zahlen ist und war es den deutschen Sicherheitsbehörden nicht möglich, die Identität jedes einzelnen geflüchteten Menschen genau zu überprüfen. Das Resultat dieser Situation war wiederum, dass es durchaus eine ungewisse Anzahl an Menschen gab, die sich an deutschen und europäischen Grenzen als Geflüchtete und Schutzsuchende ausgegebene haben, in Wahrheit aber terroristische Anschläge planten und oft genug leider auch durchführten. [5] Diese Tatsache darf meiner Meinung nach niemals dazu führen, dass man in Deutschland Menschen mit berechtigtem Fluchtgrund nicht aufnimmt. Sie darf aber auch niemals verschwiegen werden.
In jedem Land, das Geflüchtete aufnimmt, werden die staatlichen Sozialsysteme dadurch beansprucht. In Deutschland erhält ein Mensch, dessen Asylantrag in Bearbeitung ist, aktuell das „Existenzminimum“ nach deutschen Standards. Dies bedeutet für einen alleinstehenden Menschen Regelleistungen zwischen 359 Euro im Monat nach dem AyslBLG, oder – nach Abschluss des Asylverfahrens oder dem Ende einer bestimmten Frist – eine monatliche Regelleistung im Rahmen des Hartz 4-Regelsatzes von 424 Euro pro Monat durch das zuständige Jobcenter. Zusätzlich wird zu beiden Regelleistungen natürlich noch die Unterkunft des Menschen bezahlt, solange sich die Kosten dafür nach den Standards der jeweiligen Kommune im angemessen Rahmen befinden. Außerdem werden für geflüchtete Menschen, deren Asylantrag anerkannt wird, auch sogenannte „Integrationskurse“ und diverse andere Bildungsangebote finanziert.
Foto: Erik Marquardt
»Die Aufnahme von geflüchteten Menschen darf in keinem Fall durch ein Kostenargument verhindert werden. Die Wahrung von Menschenrechten ist unbezahlbar.«
Nun kann man lang und breit und berechtigterweise über die Höhe und Angemessenheit dieses Existenzminimums und der Finanzierung der Integrationskurse etc. diskutieren. Dabei kann man dann zum Beispiel darauf hinweisen, dass aktuell immer mehr geflüchtete Menschen in Ausbildung und Arbeit finden und dass die daraus resultierenden Steuereinnahmen, wenn man diese Entwicklung stärker und effizienter politisch unterstützt, hoch genug sein können, um die aktuellen Ausgaben mittelfristig mindestens auszugleichen.
Ich persönlich möchte mich auf so eine Diskussion aber nicht einlassen, denn für mich steht fest:
Die Aufnahme von geflüchteten Menschen darf in keinem Fall durch ein Kostenargument verhindert werden. Die Wahrung von Menschenrechten ist unbezahlbar.
Die soziale Frage ist aber nicht auf die finanziellen Kosten beschränkt, denn es entstehen durch die Aufnahme von Geflüchteten auch zahlreiche andere gesellschaftliche Spannungsfelder. Der gefühlte Konsens, dass in Deutschland jeder Mensch Anrecht auf genügen Geld zum (Über-)Leben haben sollte, ist schwer zu vermitteln, wenn ein Mensch einen Großteil seines Lebens gearbeitet hat, in die Langzeitarbeitslosigkeit fällt und dann erfährt, dass er vom Staat dieselbe Unterstützung bekommen wird wie die geflüchteten Nachbarn, die seit einem Jahr in Deutschland sind.
Foto: Fabian Melber
Foto: Fabian Melber
»Die deutsche Wohnungs- und Bildungspolitik war in Teilen auch schon vor 2015 äußerst fragwürdig und steuerte geradewegs auf die aktuelle Situation zu.«
Ähnliche Situationen ergeben sich auch in der Wohnungs- und Bildungspolitik, denn natürlich hat der fluchtbedingte Zuzug von über 1,5 Millionen Menschen drastische Auswirkungen auf diese Bereiche und trägt zur aktuellen Lage, sprich Wohnungsnot und Lehrer*innenmangel bei. Auch hierbei ist es jedoch wichtig, immer wieder zu betonen, dass die Aufnahme von Geflüchteten diese Problematiken zwar verschärft, insbesondere wenn man die Demographie und durchschnittliche Geburtenrate der geflüchteten Menschen in Deutschland berücksichtigt. Sie ist aber auf keinen Fall die einzige Ursache oder auch nur der entscheidende Faktor dieser Probleme.
Menschen, die den Großteil ihres Lebens gearbeitet haben, verdienen meiner Meinung nach mehr als das nackte Existenzminimum, falls sie arbeitslos werden sollten. Die deutsche Wohnungs- und Bildungspolitik war in Teilen auch schon vor 2015 äußerst fragwürdig und steuerte geradewegs auf die aktuelle Situation zu. Geflüchtete werden in diesem Kontext zu oft als der alleinige Sündenbock gesehen.
Foto: Ruben Neugebauer
»Repressionen gegenüber Geflüchteten und im extremem Fall Abschiebungen gehen die Wurzel des Problems nicht wirklich an, sondern verlagern dieses bestenfalls.«
Abgesehen von der Nennung konkreter und schwieriger Sachverhalte durch die Aufnahme von so vielen geflüchteten Menschen, muss ich an dieser Stelle auch noch anmerken, dass es oftmals nicht nur politische und soziale Probleme sind, sondern auch kulturelle.
Zumindest persönlich habe ich erlebt, dass Antisemitismus, Rassismus, Frauenfeindlichkeit sowie Homophobie und Queerfeindlichkeit unter Geflüchteten weit verbreitet sind und auch aktiv weitervermittelt werden. Dies betrifft Geflüchtete untereinander, wenn sich beispielsweise in Geflüchteten-Wohnheimen Hierarchien nach der Herkunft der Menschen bilden, Frauen innerhalb der Familie häusliche Gewalt erleben, oder jüdische Spätaussiedler aus Russland vor der eigenen Zimmertür antisemitisch angefeindet werden. Vor allem aber richtet sich dieser Hass gegen jedes Mitglied unserer offenen Gesellschaft, insbesondere gegen Angehörige marginalisierter Gruppen. An dieser Tatsache gibt es nichts klein- oder schönzureden.
Repressionen gegenüber Geflüchteten und im extremem Fall Abschiebungen gehen die Wurzel des Problems aber auch nicht wirklich an, sondern verlagern dieses bestenfalls. Was wirklich hilft gegen Hass dieser Art, ist Aufklärungsarbeit und Bildung. Und zwar mit der Gießkanne. Und zwar schon ab der frühen Jugend, damit zumindest jedem Kind rassistischer, antisemitischer, sexistischer und homophober Eltern in Zukunft zumindest ansatzweise die Möglichkeit und das Wissen um Unterstützung vermittelt wird, das nötig ist, um sich von solchen Ressentiments und deren Umfeld loszusagen.
Foto: Marcus Wiechmann
»Schon der Weg nach Europa ist für die meisten Geflüchteten mit unzähligen, tödlichen Gefahren und Wagnissen gepflastert.«
„Flüchtlingskrise“ – eine Geschichte voller Ungerechtigkeit
Es gibt hunderte Probleme auf der Welt, die dadurch entstehen, dass Menschen nicht mehr in ihren Heimatländern leben wollen und können. Der aktuelle Umgang mit diesen Problemen verschlimmert diese aber mehr, als zu helfen. Im ersten Kapitel dieses Textes habe ich versucht, die Probleme der Aufnehmenden darzustellen. Aber zu jeder umfassenden Problemdarstellung gehören zwei Seiten und in der Politik eigentlich mindestens siebenundzwanzig.
Viele Geflüchtete in Freiburg sind beispielsweise aus Gambia geflohen. Ein Land, das laut der Einschätzung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge relativ sicher ist.
Ich habe einmal zu oft gehört, was Geflüchteten in Gambia, auf dem Weg durch Zentralafrika und die Sahara und in Europa passiert und wie mit ihnen überall auf der Welt umgegangen wird.
Foto: Marcus Wiechmann
Ich will versuchen, gemeinsame Punkte und Erlebnisse innerhalb dieser Biographien zu erzählen und zusammenzufassen. Denn genau durch diese Biographien habe ich gelernt, dass Migrationspolitik in Deutschland mindestens zwei Seiten hat und dass nicht nur die Aufnehmenden genug Gründe haben, sich zu beschweren.
Schon der Weg nach Europa ist für die meisten Geflüchteten mit unzähligen, tödlichen Gefahren und Wagnissen gepflastert. Gambier nennen den Weg über Zentralafrika und Libyen bis nach Italien und Deutschland gerne die „Backway-Route“.
Die Route führt durch Mali, Burkina Faso und Niger nach Libyen und von dort, wenn mensch viel Glück hat, nach Europa. Die Durchquerung und der Aufenthalt innerhalb dieser Länder als geflüchteter Mensch mit dunkler Hautfarbe sind eine Odyssee aus Misshandlungen, Korruption, Androhung von und durchgesetzte Gefangennahme und zahllosen weiteren Menschenrechtsverletzungen. Im schlimmsten Fall Folter, Vergewaltigung und Mord.
Foto: Chris Grodotzki / jib collective
»Die Menschen fliehen nicht, um sich zu bereichern. Sie fliehen, weil Armut und Elend ihre Existenz so sehr bedrohen, dass eine lebensgefährliche Flucht nach Europa für sie den einzigen Ausweg aus einer verzweifelten Situation darstellen.«
In Deutschland nennt man Geflüchtete aus Gambia oft „Wirtschaftsflüchtlinge“.
Die Bezeichnung suggeriert meiner Meinung nach, dass es den Geflüchteten um einen finanziellen Gewinn oder einen tollen Job geht, wenn sie ihre Heimatländer verlassen. In Gambia lebt die Hälfte der Bevölkerung in extremer Armut, viele Kinder sterben noch bevor sie das fünfte Lebensjahr erreichen. Ich habe für mich gelernt, dass der Begriff „Armuts-„ oder „Elendsgeflüchtete“ die Situation und die Gründe für Flucht aus Gambia deutlich besser beschreibt als „Wirtschaftsflüchtling“. Die Menschen fliehen nicht, um sich zu bereichern. Sie fliehen, weil Armut und Elend ihre Existenz so sehr bedrohen, dass eine lebensgefährliche Flucht nach Europa für sie den einzigen Ausweg aus einer verzweifelten Situation darstellen. [6] Ich glaube, auch Du würdest fliehen.
Foto: Nick Jaussi
Falls geflüchtete Menschen aus Gambia den ersten Teil ihrer Reise durch Zentralafrika, die Sahara, Libyen und die Fahrt auf dem Mittelmeer auf einem meist nicht wirklich seetauglichen Schlauchboot überleben (und sich die EU-Mitgliedsstaaten auf eine Verteilung der ankommenden Menschen geeinigt haben), erwartet sie eventuell der Aufenthalt in einer deutschen Landeserstaufnahmestelle, während über ihren Asylantrag verhandelt wird. Mitspracherecht über ihren neuen Wohnort haben die Geflüchteten dabei zumindest auf rechtlichem Wege nicht. Auch wenn ein geflüchteter Mensch in Paris Familie hat, die ihm eine Wohnung stellt und Stütze bei der Integration ist, spielt das keine Rolle, wenn in Bremen gerade ein Platz freigeworden ist und das BAMF meint, dass dort der richtige Platz für den Menschen sei. Aus Gründen.
Foto: Chris Grodotzki / jib collective
»Gerade beim Sicherheitsdienst habe ich den Missbrauch solcher Macht auch persönlich viel zu oft miterlebt und mitbekommen. Konsequenzen gab es quasi nie.«
In diesen sogenannten LEAs oder Ankerzentren gibt es nur zu bestimmten Zeiten am Tag Essen, eine finanzielle Versorgung unter dem, was in Deutschland als Existenzminimum gilt und kaum Privatsphäre, da sowohl Polizei als auch die zuständigen Sicherheitsdienste unangekündigt und verdachtsunabhängig Zimmer kontrollieren dürfen. Gerade beim Sicherheitsdienst habe ich den Missbrauch solcher Macht auch persönlich viel zu oft miterlebt und mitbekommen. Konsequenzen gab es quasi nie. [7] Aus Gründen.
Auch in einer Sammelunterkunft, in die Geflüchtete nach dem Ablauf einer Frist oder Beendigung des Asylverfahrens überwiesen werden, sind die Bedingungen nur begrenzt besser, denn auch hier gilt: Jeder Person stehen 7qm zu, oftmals in einem Container, in dem es im Sommer ruhig mal 40 Grad Celsius hat. Das Bad und die Küche werden mit den Zimmernachbarn geteilt und wer diese sind, entscheiden oftmals weder die Sozialarbeiter*innen vor Ort, die die (soziale) Situation kennen, noch die geflüchteten Menschen selbst. Das entscheidet das Amt. Aus Gründen.
Foto: Chris Grodotzki / jib collective
»Der durchschnittliche Prozess eines Asylverfahrens in Deutschland ist für Geflüchtete eine enorme bürokratische und emotionale Zumutung.«
Zu dieser Ausgangslage kommt noch hinzu, dass der durchschnittliche Prozess eines Asylverfahrens in Deutschland eine enorme bürokratische und emotionale Zumutung für Geflüchtete ist. Eine Zumutung in vier Akten.
Erstens: Die Basis für die Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, welcher Aufenthaltsstatus einer geflüchteten Person zugewiesen wird, bildet ein Interview. In diesem Interview werden zunächst einige standardisierte Fragen wie beispielsweise nach dem Herkunftsland, der Adresse, Familie, Geburtstag der Person etc. gestellt. Anschließend wird der Person die Möglichkeit gegeben, sich frei zum Asylantrag und seinen Gründen zu äußern. Dieser Termin kann über die gesamte weitere Existenz der geflüchteten Person entscheiden. Angesichts dieser Tatsache ist es für mich erschreckend, dass es bei den Interviewterminen oftmals an professionellen Dolmetscher*innen und psychologisch geschulten Personal fehlt.
Foto: Chris Grodotzki / jib collective
»Unter solchen Umständen wird kein 19-jähriger Junge aus Gambia davon erzählen, dass sein Vater ihn seit seiner Kindheit immer wieder vergewaltigt, geschlagen, zur Kinderarbeit gezwungen und schlussendlich aus ›Kostengründen‹ aus dem Haus geworfen hat.«
Manchmal müssen Geflüchtete sogar nahezu den ganzen Tag vor ihrem Interview in einem Warteraum ohne anständige Verpflegung verbringen, nachdem sie bereits früh morgens stundenlang zur Stadt gereist sind, in der das Interview stattfindet. Dies ist oft nämlich nicht die Stadt, in der sie leben – und ein konkreterer Termin als „ab 8.30 Uhr“ wird auch nicht genannt.
Unter solchen Umständen wird kein 19-jähriger Junge aus Gambia davon erzählen, dass sein Vater ihn seit seiner Kindheit immer wieder vergewaltigt, geschlagen, zur Kinderarbeit gezwungen und schlussendlich aus „Kostengründen“ aus dem Haus geworfen und auf den „Backway“ geschickt hat. Wahr sind solche Geschichten leider dennoch.
Foto: Chris Grodotzki / jib collective
»Der gesamte Asylprozess rund um das Interview ist ein Sumpf aus Papierkram – für die Ämter und Geflüchteten gleichermaßen.«
Zweitens: Der gesamte Asylprozess rund um das Interview ist ein Sumpf aus Papierkram – für die Ämter und Geflüchteten gleichermaßen. Auf Bürokratie schimpfen ist zwar manchmal berechtigt, aber oftmals ist eine schriftliche Festmachung solcher Prozesse unabdingbar und hilft beiden Seiten. Um durch diesen Sumpf durchwaten zu können, braucht es aber entweder sehr gute, deutsche Sprachkenntnisse, die logischerweise nicht vorhanden sind, oder eine gute und ausreichende Betreuung durch Sozialarbeiter*innen für geflüchtete Menschen. In meiner hauptamtlichen Zeit in der Geflüchtetenhilfe in Freiburg schwankte der Betreuungsschlüssel „Geflüchtete Person zu Sozialarbeiter*in“ zwischen 85:1 und 130:1. Das schadet nicht nur den Geflüchteten, sondern auch den Sozialarbeiter*innen enorm.
Foto: Chris Grodotzki / jib collective
»Die Zeit des Wartens und Hoffens bedeutet für geflüchtete Menschen Dauerstress und eine große emotionale Belastung.«
Drittens: Asylprozesse in Deutschland dauern zwischen wenigen Monaten und vielen Jahren. Das ist ein Problem, weil diese Zeit des Wartens und Hoffens für geflüchtete Menschen Dauerstress und eine große emotionale Belastung bedeutet – und weil sie auf diese Dauer nur schwer aushaltbar ist, besonders wenn gleichzeitig von den Menschen zurecht erwartet wird, sich gesellschaftlich zu integrieren. Ein viel größeres Problem ist die lange Dauer aber im Falle eines negativen Asylbescheids. Die Abschiebung einer Familie in den Kosovo, die zwei Wochen in Deutschland war, ist meiner Meinung nach an sich schon extrem grenzwertig, weil mit ihr fast immer menschliche Härten verbunden sind. Aber die Abschiebung einer Familie in den Kosovo, deren Kinder seit drei Jahren in den deutschen Kindergarten gehen, die Sprachen sprechen und in Fußballvereinen spielen, in denen sich ihre Eltern ehrenamtlich nach ihrer Arbeit engagieren, ist nicht nur komplett unlogisch. Es ist unmoralisch und grausam.
Foto: Fabian Melber
Viertens: Viele Asylprozesse in Deutschland führen teilweise zu falschen Ergebnissen. Es ist allgemein bekannt, dass es inoffizielle Leitlinie des BAMF ist, möglichst wenigen geflüchteten Menschen einen Aufenthaltsstatus zu gewähren. Rund ein Fünftel der ausgegebenen Asylbescheide, gegen die Einspruch erhoben wird, ignorieren das deutsche und das Menschenrecht und halten einer Klage der Geflüchteten nicht stand. [8] Das ist ein trauriger Höhepunkt deutscher „Abschreckungspolitik“.
Man muss dem BAMF lassen, dass sich die Situation in vielen Punkten, wie beispielsweise den Ort der Interviews und der Dauer der Asylprozesse in den letzten Jahren, sehr langsam, aber stetig auf den Weg der Besserung befand.
Foto: Fabian Melber
»Die bekannten Stigmata des ›Flüchtlings‹ und der strukturelle und gesellschaftlich inhärente Rassismus in Deutschland machen eine erfolgreiche Integration um einiges schwerer.«
Auch abseits des rechtlichen Asylprozesses trifft Geflüchtete in Europa oftmals im aufnehmenden Land die harte Realität, dass es zwar durchaus berufliche und gesellschaftliche Perspektiven gibt, diese aber mit vielen unheimlich frustrierenden „Abers“ und „Wenns“ verbunden sind.
Die Schulbildung der meisten ankommenden Geflüchteten reicht vergleichsweise selten aus, um eine echte Perspektive zu ermöglichen, die mehr als einen Vollzeit-Aushilfsjob beinhaltet. Und selbst wenn, ist nicht garantiert, dass das zuständige Amt die entsprechenden Zeugnisse und die damit verbundene Leistung zertifiziert und anerkennt.
Foto: Felix Weiss
Meine persönliche Erfahrung ist, dass die meisten Arbeitsmöglichkeiten für Geflüchtete dort entstehen und gefördert werden, wo entweder akuter Arbeitskräftemangel herrscht, oder in Arbeitsbereichen, für die sich kaum deutsche Staatsbürger*innen bewerben wollen.
Bevor ein C1-Sprachkurs gefördert wird, wird eine einjährige Ausbildung gefördert. Ich halte dieses Vorgehen für sehr kurzsichtig und ehrlich gesagt habe ich ein bisschen Angst, welche Dynamiken dies langfristig gesellschaftlich auslöst.
Foto: Chris Grodotzki / jib collective
Foto: Fabian Melber
»Ich bin mir sicher, dass der Anteil an Geflüchteten, die nicht den Stereotypen entsprechen, die immer wieder in Medien oder am Stammtisch repliziert werden, chronisch unterschätzt wird.«
Die bekannten Stigmata des „Flüchtlings“ und der strukturelle und gesellschaftlich inhärente Rassismus in Deutschland machen eine erfolgreiche soziale und wirtschaftliche Integration natürlich auch um einiges schwerer. Offensichtlich sind nicht alle Stereotypen und Stigmata per se ganz unbegründet. In Freiburg beispielsweise ist der Anteil an gambischen Drogendealern im Vergleich zum Durchschnitt sehr hoch – und für diese Erkenntnis braucht man wirklich kein*e ausgebildete*r Kriminolog*in sein. Der Punkt dabei ist aber, dass ein Stereotyp des „drogendealenden Gambiers“ in Freiburg entsteht, bei dem a) jegliche sozialen Faktoren außer Acht gelassen werden und sich nur auf die Nationalität/Hautfarbe konzentriert wird. und dass b) allen Gambiern und gambisch aussehenden Menschen in Freiburg dadurch geschadet wird. Insbesondere denen, die mit Drogenhandel überhaupt nichts zu tun haben. Ich persönlich bin mir sicher, dass der Anteil an Geflüchteten, die nicht den Stereotypen entsprechen, die immer wieder in Medien oder am Stammtisch repliziert werden, chronisch unterschätzt wird. Falls ich damit Recht habe, ist das tragisch. Und gefährlich.
Foto: Chris Grodotzki / jib collective
»Psychisch kranke und labile Menschen werden in Länder wie Afghanistan abgeschoben. Horst Seehofer konnte an seinem 69. Geburtstag darüber lachen.«
Die deutsche Regierung hat aufgrund von Stereotypen und der gesellschaftlichen Stimmung, die auf ihre Verbreitung folgt, einen Weg eingeschlagen, der dazu führt, dass viele komplett unschuldige geflüchtete Menschen kaum mehr eine Chance haben, ihre Familien aus Kriegsgebieten nach Deutschland nachzuholen. Ein Weg, der dazu führt, dass psychisch kranke und labile Menschen in Länder wie Afghanistan abgeschoben werden. Horst Seehofer konnte an seinem 69. Geburtstag darüber lachen. Jamal Nasser M. wird nie mehr lachen.
Foto: Chris Grodotzki / jib collective
Foto: Chris Grodotzki / jib collective
»Eine grundlegende Verbesserung der Lebensrealität von Geflüchteten fängt weder bei der Seenotrettung an noch hört sie dort auf.«
Die Geschichte von Dilemma und Dialog
Ich habe mir selbst einmal versprochen, dass ich als politischer Mensch keine einfachen, verkürzte Antworten auf komplizierte Fragestellungen geben will. Und die Frage, was sich an Migrationspolitik ändern muss, um jedem Menschen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, ist aktuell vielleicht die komplizierteste politische Frage, die man sich stellen kann.
Auf diese Frage gibt es nicht die eine kohärente, logische Antwort.
Foto: Erik Marquardt
Klar ist, dass eine grundlegende Verbesserung der Lebensrealität von Geflüchteten weder bei der Seenotrettung anfängt noch aufhört. Es muss es endlich vernünftige und angepasste Entwicklungshilfeprogramme ohne diplomatische Hintergedanken in den Herkunftsländern geben. Genauso müssen auch Menschenrechtsverletzungen innerhalb von Europa und die menschenunwürdigen Bedingungen in vielen Sammelunterkünften angegangen werden. Genauso muss jegliche Kooperation mit Fluchtverursachern gestoppt werden, auch wenn diese wirtschaftlich verlockende Waffendeals möglich machen. Die Liste könnte an dieser Stelle noch sehr viel länger weiter gehen.
Foto: Marcus Wiechmann
»Der gesellschaftliche Dialog ist an Unsachlichkeit und Hass erkrankt. Das wird im Netz besonders sichtbar.«
Ein Punkt, der unter all diesen Problemfeldern viel zu selten angesprochen wird, ist, wie sehr der gesellschaftliche Dialog an Unsachlichkeit und Hass erkrankt ist. Das wird im Netz besonders sichtbar.
Viel zu oft kann man dort, oftmals unwidersprochen, Thesen lesen wie:
„Wenn wir die Menschen im Mittelmeer retten, dann werden immer mehr Menschen versuchen, übers Mittelmeer zu fliehen.“ (Ganz abgesehen von der menschenverachtenden Logik dieses Arguments ist der sogenannte „Pull-Effekt“ eine populistische, unwissenschaftliche Erfindung. [9])
„Es kommen immer nur junge, afrikanische Männer hier nach Deutschland, die ihre Familien zuhause im Stich lassen.“ (Im Jahr 2019 wurden 43% aller Asylanträge von Frauen* und 45% von/für Kindern unter 16 Jahren gestellt. [10])
„Warum bringen sie die Geretteten nicht wieder zurück nach Nordafrika? Dort sind die wirklich nähergelegenen sicheren Häfen.“ (Die meisten Geflüchteten werden einige Seemeilen von Tripolis entfernt in internationalen Gewässern auf Rettungsschiffe aufgenommen. Die nächstgelegenen Häfen sind von dort aus fünf tunesische Häfen, die allesamt mitten in der Wüste liegen und weder über die rechtlichen Voraussetzungen noch über die Infrastruktur verfügen, um die Geretteten unter menschenwürdigen Umständen aufnehmen zu können. Danach kommen die Häfen in Lampedusa und Malta.)
Foto: Fabian Melber
»Niemand wird die ›Flüchtlingskrise‹ als Einzelperson lösen können. Zu widersprechen, wenn leise Rechtsradikale Gerüchte und Unwahrheiten über Menschen mit Fluchthintergrund und nicht-weißer Hautfarbe verbreiten, halte ich trotzdem für einen sehr guten Anfang.«
Auch an dieser Stelle könnte die Liste leider noch sehr lange weitergehen. Die Folgen dieses erkrankten Dialogs spüren übrigens nicht nur geflüchtete Menschen (weil offener, struktureller und auch leiser, verdeckter Rassismus immer salonfähiger in Deutschland wird), sondern auch all diejenigen, die sich für Sachlichkeit und Menschlichkeit diesbezüglich einsetzen. Zu diesen Menschen zähle ich auch Walter Lübcke.
Niemand wird die „Flüchtlingskrise“ als Einzelperson lösen können. Dazwischen zu gehen und zu widersprechen, wenn leise Rechtsradikale Gerüchte und Unwahrheiten über Menschen mit Fluchthintergrund und nicht-weißer Hautfarbe verbreiten, halte ich trotzdem für einen sehr guten Anfang. Und dabei kommt es auf jeden einzelnen Menschen an.
Foto: Marcus Wiechmann
»Es gab nicht viele Zeitpunkte in der jüngeren Geschichte, in denen es wichtiger war aufzustehen, politisch zu werden und sich zu wehren gegen jeden Versuch, menschenfeindliche Ideologien wieder gesellschaftsfähig zu machen.«
Die Moral von den Geschichten
Dieses ist das entscheidende Kapitel meines Textes. Ich habe in allen vorhergehenden Zeilen versucht, die aktuelle Situation aus Sicht einer einundzwanzigjährigen deutschen Kartoffel zu schildern, die vielleicht ein paar mehr ausländische Freunde mit Fluchthintergrund und Erfahrung im politischen Bereich hat als der Durchschnitt.
Doch warum das alles?
Zu Beginn dieses Textes habe ich geschrieben, dass ich glaube, dass es nicht viele Zeitpunkte in der jüngeren Geschichte gab, in denen es wichtiger war aufzustehen, politisch zu werden und sich zu wehren gegen jeden Versuch, menschenfeindliche Ideologien wieder gesellschaftsfähig zu machen.
In den letzten Jahren habe ich durch mein Engagement und meine persönliche Verbundenheit mit vielen geflüchteten Menschen einen Einblick bekommen, was passiert, wenn zu viele Menschen sich entschließen, Verstöße gegen die internationalen Menschenrechte zu ignorieren, zu rechtfertigen oder sogar zu unterstützen.
Foto: Marcus Wiechmann
»Die allermeisten deutschen Menschen haben das Glück, dass man in ihrem ganzen Leben wahrscheinlich niemals ihre Menschenrechte auch nur annähernd so grundlegend verletzen wird, wie das bei geflüchteten Menschen der Fall ist.«
Menschenrechtsverletzungen. Das ist ein Wort, dass man oft in den Nachrichten hört und das zu vielen Menschen zu locker über die Lippen geht.
Die allermeisten deutschen Menschen, inklusive mir, haben das Glück, dass man in ihrem ganzen Leben wahrscheinlich niemals ihre Menschenrechte auch nur annähernd so grundlegend verletzen wird, wie das bei geflüchteten Menschen der Fall ist.
Der Auslöser meines persönlichen und politischen Engagements in der Geflüchtetenhilfe war immer der direkte Kontakt.
Persönlich, weil ich durch mein Engagement mit die liebsten Menschen in meinem Leben kennengelernt habe und es mir einfach unglaublich viel Freude bereitet, Zeit mit ihnen zu verbringen.
Politisch, weil ich ihr Leid gesehen habe und sehe und nichts tun konnte, außer dumm daneben zu stehen und zu versuchen, ein bisschen Trost zu spenden.
Foto: Marcus Wiechmann
»Am Telefon erzählt ihm seine Frau, dass sie von einer Miliz gefangen genommen wurde und täglich gefoltert und vergewaltig wird.«
Was bedeuten Menschenrechtsverletzungen?
Menschenrechtsverletzungen bedeuten, dass ein guter Freund von mir aus Eritrea in einem deutschen Flüchtlingswohnheim von einer unbekannten Nummer angerufen wird. Am Telefon erzählt ihm seine Frau, dass sie von einer Miliz gefangen genommen wurde und täglich gefoltert und vergewaltig wird. Und dass alles nur aufhören wird, wenn ein Lösegeld gezahlt wird, das mein Freund nicht in kurzer Zeit zahlen kann.
Foto: Chris Grodotzki / jib collective
Menschenrechtsverletzungen bedeuten, dass ich diesen Freund verzweifelt weinen und innerlich zerbrechen sehe, weil er weiß, was das alles bedeutet, und sich selbst die Schuld daran gibt.
Menschenrechtsverletzungen bedeuten, dass man suizidale, an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidende Menschen zwingt, sich mit einem unbekannten Menschen ein 14qm großes Zimmer zu teilen, weil ihr Einzelzimmerantrag vom Amt abgelehnt wurde.
Menschenrechtsverletzungen bedeuten, dass der Vater eines Arbeitskollegen in seiner Wohnung in Syrien an Bombensplittern stirbt, weil sich der Familiennachzug trotz bestmöglichen Aufenthaltsstatus über Monate und Jahre hinzieht.
Foto: Chris Grodotzki / jib collective
»In Libyen werden Männer wie Frauen aufs Brutalste eingesperrt, wie Sklaven an den Höchstbietenden verkauft, gefoltert und vergewaltigt.«
Menschenrechtsverletzungen bedeuten, dass ehrenamtlich Engagierten von verzweifelten Menschen Geld angeboten wird, dass sie nicht besitzen, um Familienmitglieder legal oder illegal ins sichere Deutschland zu bringen.
Menschenrechtsverletzungen bedeuten, dass ungeborene Kinder in Libyen oder auf dem Mittelmeer wegen mangelnder medizinischer Versorgung sterben, dass Männer wie Frauen in Libyen aufs Brutalste eingesperrt, wie Sklaven an den Höchstbietenden verkauft, gefoltert und vergewaltigt werden.
Ich habe all diese Geschichten und die Gesichter dazu viel zu oft persönlich erzählt und bewiesen bekommen. Oder sie miterlebt. Mir reicht es.
Ich will keine einzige Narbe mehr aus Afghanistan, keine einzige Träne aus Gambia, keine einzige Sorgenfalte aus Syrien mehr sehen, ohne diesen Menschen sagen zu können, dass sie jetzt in Sicherheit sind und sie keine Angst mehr haben müssen – und dabei ehrlich zu sein. Ich will nie wieder hören, dass Menschen im Mittelmeer ertrinken, weil die EU nicht helfen will.
Foto: Marcus Wiechmann
»In einer funktionierenden Demokratie sind alle Menschen Politker*innen – wenn sie es wollen.«
Ich glaube, ich bin aktuell zum ersten Mal in meinem Leben in der Position, in der ich zumindest einen minimalen Beitrag dazu leisten kann, dass der Tag kommt, an dem ich mir selber diesen Wunsch erfüllen kann. Und ich habe hiermit versucht, genau das zu tun.
In einer funktionierenden Demokratie sind meiner Meinung nach alle Menschen Politker*innen – wenn sie es wollen.
Das solche Dinge auf unserer Welt passieren, im Mittelmeer, in Libyen und in Deutschland, das ist die Schuld all jener, die sich für eine Politik aussprechen, die nicht jedem Menschen ein Grundrecht auf ein Leben in Sicherheit und Freiheit zugesteht. Es ist aber auch die Schuld all jener, die sich nicht gegen diese Menschen stellen. Und die schweigen im Angesicht solcher Grausamkeit.
Bitte hör auf zu schweigen, wenn Fremdenfeindlichkeit und Rassismus in Deutschland wieder auf dem Vormarsch sind. Es geht um alles.
Dein Simon
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Quellenangabe zum Nachlesen:
[1] Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Artikel 2, Absatz 2
[2] Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Artikel 3
[3] https://www.zeit.de/2018/29/seenotrettung-fluechtlinge-privat-mittelmeer-pro-contra
[4] https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/Broschueren/bundesamt-in-zahlen-2016.pdf?__blob=publicationFile,
https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/Broschueren/bundesamt-in-zahlen-2015.pdf?__blob=publicationFile
[5] Ein Beispiel: https://www.faz.net/aktuell/politik/kampf-gegen-den-terror/aus-syrien-fluechtlinge-mit-paessen-aus-is-faelscherwerkstatt-in-deutschland-13980052.html
[7] Mehr Infos hierzu: https://www.aktionbleiberecht.de/?page_id=7058
[8] http://www.bamf.de/SharedDocs/Meldungen/DE/2019/20190328-gerichtsstatistik-2018.html