Interview — William Fitzsimmons

About Being Honest

Maxim rappt in seinem neuen Album gegen die Abstumpfung der Gesellschaft an. Wir sprechen mit ihm über die tröstende Kraft von Musik und seine Vorahnung, dass wir alle noch drastische gesellschaftliche Veränderungen erleben werden.

19. Januar 2014 — MYP No. 13 »Meine Sehnsucht« — Interview: Jonas Meyer, Fotos: Ole Westermann

Ach, was wäre die Schlesische Straße im Nordosten Kreuzbergs ohne das Lido! Jeden Abend, wenn die Dämmerung über die belebte Straße hereinbricht, weist das große, geschwungenes Logo vom Flachdach aus den Weg: Hell erleuchtet in Neonblau und flankiert von zwei blutroten Astra-Herzen leitet es wie der Polarstern alle Musikhungrigen zuverlässig zu seinen magischen Pforten.

Und was hat es nicht alles erlebt, das Lido! Als Kino präsentierte es in den 1950er und 60er Jahren die neuesten Westfilme und war eine beliebte Anlaufstelle für Cineasten aus allen Sektoren Berlins. Dann kam die Mauer und trennte räumlich, was gedanklich nicht zu trennen war: Der 13. August 1961 schnitt mit einem Mal das Haus direkt vor seiner Nase von seinem Ostberliner Publikum ab.

Die 70er kamen und man tanzte auf dem knarzenden Parkett des ehemaligen Kinos, was das Zeug hielt. Rock’n Roll hieß das Zauberwort und bescherte dem Gebäude mit der runden Ecke musikalische Freudenzeiten. In den 80ern fiel es in eine Art Schneewittchen-Schlaf und bemerkte gar nicht so recht, dass die Menschen auf der Ostseite ihr Herz und all’ ihren Mut in die Hand nahmen, um jene unsägliche Mauer einzustürzen – vollkommen friedlich und ohne einen einzigen Schuss.

Erst im Jahr 2006 wurde das Haus wieder zum Leben erweckt, startete eine musikalische Blitzkarriere und beherbergte innerhalb kurzer Zeit so einiges mit hohem Rang und großem Namen: Maximo Park, Cocorosie, Sportfreunde Stiller, die Beatsteaks – und heute Abend William Fitzsimmons.

Das Lido bezeichnet sich selbst als „Kreuzbergs Rock-Indie-Elektro-Pop-Wohnzimmercouch“. Und tatsächlich hat man das Gefühl, hier ein urgemütliches Wohnzimmer zu betreten – jedenfalls wenn man die Tür zum Backstage-Bereich öffnet. Kaum haben wir es uns auf der wenig hübschen, aber hoch komfortablen Couch bequem gemacht, sitzt plötzlich auch schon Fitzsimmons neben uns: „Na Jungs, wie geht’s Euch?“

Der 35jährige Singer/Songwriter strahlt uns mit seinen freundlichen kleinen Augen an und lässt unter seinem dichten Bart ein warmherziges Lächeln hervorblitzen. Dabei wirkt er ab der ersten Sekunde so offen und gastfreundlich, als hätte er uns in sein eigenes Wohnzimmer zuhause in Illinois eingeladen.

Jonas:
Im Vorwort zu deinem neuen Album „Lions“ erklärst du, dass in deinem Leben in den letzten Jahren unglaublich viel passiert ist…

William:
Oh ja, das ist es wirklich – Positives wie Negatives. Insgesamt waren die letzten Jahre äußerst lehrreich für mich: Ich habe das Gefühl, in zwei, drei Jahren mehr vom Leben gelernt zu haben als während meiner gesamten Schulzeit. Daher empfinde ich momentan einfach nur eine große Dankbarkeit und bin sehr glücklich.
Ich habe tolle Menschen kennengelernt und bin mit vielem in Berührung gekommen, das ich vorher nicht kannte. Ich musste harte Entscheidungen treffen und habe außerdem ein kleines Mädchen adoptiert – all’ diese einschneidenden Veränderungen haben mir eine wundervolle Zeit bereitet und mich an den Punkt gebracht, an dem ich jetzt stehe. Ich glaube, dadurch insgesamt für mich einen besseren Platz im Leben gefunden zu haben.

Irgendwann habe ich gemerkt, dass ich eine größere Distanz zwischen diesem Business-Part und meiner Musik schaffen muss, um im Kopf wieder frei zu sein.

Jonas:
Und vorher – so schreibst du – hattest du das Gefühl, auf dem falschen Weg zu sein?

William:
Ich will es mal so formulieren: Ich hatte einen etwas schlechten Geschmack im Mund. Die Business-Komponente rückte immer mehr in den Vordergrund und es gab vieles, um das ich mich neben meiner Musik kümmern bzw. für das ich Verantwortung übernehmen musste. Meine Kunst verlor dabei für mich selbst schleichend an Bedeutung – und so kam ich etwas vom Weg ab.
In meinem Umfeld gab es einfach zu viele Leute, die dauernd vom Geschäft gesprochen haben. Irgendwann habe ich gemerkt, dass ich eine größere Distanz zwischen diesem Business-Part und meiner Musik schaffen muss, um im Kopf wieder frei zu sein.
Natürlich ist mir bewusst, dass der finanzielle Aspekt bei Musik immer eine mehr oder weniger große Rolle spielt. Schließlich muss man ja auch von etwas leben – selbst Beethoven wurde dafür bezahlt, dass er Symphonien schreibt. Aber er hat die Qualität seiner Musik nicht darunter leiden lassen und einen nahezu perfekten Weg gefunden, auf der einen Seite kreativ und glaubwürdig zu sein und auf der anderen Seite mit dieser Geld-Komponente professionell umzugehen.
Für mich war es anfangs sehr schwierig, dieses Gleichgewicht zu finden. Dabei wusste ich, dass ich erst diese Balance erzeugen muss, bevor ich damit starten kann, ein neues Album zu schreiben. Das ist mir Gott sei Dank in den letzten Jahren gelungen – und das Resultat heißt „Lions“.

Jonas:
Ist es für dich als sehr gefühlsorientierten Menschen nicht nahezu unmöglich, einer anderen Person zu sagen, dass du nicht mehr mit ihr arbeiten willst?

William:
Das war extrem hart. Es gibt ja Leute, die lieben das Drama und suchen die Konfrontation. Aber ich bin davon das absolute Gegenteil und scheue solche Situationen. Ich hasse Ärger und Streit – bei so etwas mache ich mir viel zu viele Gedanken und kann nicht einschlafen. Dennoch wurde die Belastung irgendwann so groß, dass ich mich total erschöpft gefühlt habe und die Nase voll hatte. In dem Moment wusste ich: Jetzt muss ich eine Entscheidung treffen.

Jonas:
Es war also eine dieser berühmten „Follow your heart“-Entscheidungen?

William:
Ja, das trifft es exakt – wobei diese Entscheidung ebenso vernünftig war. Ich denke oft daran zurück, wie ich als fünfzehnjähriger Teenager noch Led Zeppelin-Songs auf der Gitarre nachgespielt habe und es in meinem Leben nur zwei Fragen gab: „Wie bekomme ich dieses Gitarrenriff hin?“ und „Wie finde ich eine Freundin?“. Gedanken über Rechnungen und Deadlines waren damals noch weit entfernt. Aber es gehört zum Erwachsenwerden einfach dazu, dass man lernen muss, dass diese Dinge Teil des normalen Lebens sind.
Die ausgeglichensten Menschen, die mir bisher begegnet sind, sind die, die aus ihrem alten Leben ausgebrochen und als Einsiedler in den Wald gezogen sind. Ihre Einstellung war: „Welt, du kannst mich mal!“. Ich finde diese Haltung zwar bemerkenswert, aber als Einsiedler in den Wald ziehen kam für mich nie in Frage – wie gut, dass ich trotzdem einen Weg gefunden habe, mit allem gelassener umzugehen. William lacht.

Jonas:
Gab es in deinem Leben vorher schon entscheidende Wendepunkte?

William:
Jeder Mensch erlebt im Laufe seines Lebens eine Vielzahl positiver wie negativer Wendepunkte – da schließe ich mich nicht aus. Und wie die meisten anderen Menschen lerne auch ich von Wendepunkt zu Wendepunkt, mit den Ereignissen besser umzugehen. Für mich persönlich habe ich dabei herausgefunden, dass es der absolut falsche Weg ist, diesen Wendepunkten kämpferisch und konfrontativ entgegenzutreten. Das kostet einfach zu viel Energie, die man anderswo besser einsetzen kann – etwa beim Schreiben neuer Songs. Daher habe ich für mich entschieden, allen Menschen und Lebenssituationen friedvoll zu begegnen.

Es gibt Persönlichkeiten, denen gelingt es, ihre Aussagen durch Mimik, Gestik und Stimmlage nahezu perfekt zu unterstreichen. William dagegen gehört zu jenem Schlag Menschen, bei denen man das Gefühl hat, dass sie eigentlich gar kein Wort sagen müssten, um sie zu verstehen. Und so wirken die wenigen Minuten mit dem Singer/Songwriter in dem kleinen Backstage-Wohnzimmer wie eine Entspannungskur für die Seele.

Leider ist die Zeit knapp bemessen, denn es gab heute schon acht Interviewtermine und bald fängt die Show an. Also unterbrechen wir für einige Minuten, verlassen den Backstage-Bereich und wechseln in die Haupthalle des Veranstaltungshauses.

Während sich William geduldig vor den ehrwürdigen Mauern und auf der Bühne ablichten lässt, nutzt er jede kleine Pause für einen lockeren Scherz – oder für einen kleinen Plausch über Musik. Und so entdecken wir eher zufällig unsere gemeinsame Passion für Gregory Alan Isakov, einen Singer/Songwriter-Kollegen aus Colorado: „Seine Musik sollten viel mehr Leute in Deutschland hören, sie ist einfach großartig! Gregory ist ein feiner Mensch, er hätte es verdient.“

Wir müssen einige Einstellungen verändern und so bleibt ein wenig Zeit, über Williams neue Platte „Lions“ zu sprechen, die im Februar erscheinen wird.

Wenn mich ein Fremder fragen würde, wer ich bin, könnte ich ihm die CD entgegenstrecken und sagen: Das bin ich, hör’ einfach zu!

Jonas:
Dein neues Album ist für dich das persönlichste, die du je gemacht hast. Was genau macht es dazu?

William:
Ohne meine früheren Platten jetzt zu nicht-persönlichen Alben degradieren zu wollen – aber „Lions“ handelt einfach komplett von mir selbst. Ich habe die intensiven Erfahrungen der letzten Jahre quasi direkt in Geschichten verpackt und zu Songs geformt. Daher fühle ich mich auf eine sehr intime Art und Weise mit dem neuen Album verbunden. Wenn mich ein Fremder fragen würde, wer ich bin, könnte ich ihm die CD entgegenstrecken und sagen: Das bin ich, hör’ einfach zu!

Jonas:
Das heißt, man lernt dich zu 100 Prozent kennen, wenn man sich die Songs auf dem neuen Album anhört?

William (lacht):
Nein, zu 100 Prozent lernt man mich erst kennen, wenn man eines meiner Konzerte besucht. Ich mag Lachen und Humor über alles – und ich liebe es, diesen Humor in meine Shows einzubauen. Ich finde es absolut wichtig, in den unterschiedlichsten Lebenssituationen auch mindestens einen Funken Humor zu finden. Das kann manchmal sehr hilfreich sein.
Ich würde aber jetzt keinen Song schreiben, der irgendwie witzig ist. Da ich innerhalb meiner Musik keinen Humor transportiere, ist mir das um die Musik herum umso wichtiger. Die Leute sollen sich bei meinen Shows einfach gut unterhalten fühlen und lachen können – ich mag diese Kombination aus meinen ruhigen, ernsteren Liedern und dem Spaß drumherum sehr.

Jonas:
Es gibt Menschen, die Leben nach der Maxime „Life’s about sharing“. Würdest Du diesem Satz zustimmen? Humor beispielsweise ist ja auch dann am schönsten, wenn man ihn mit einer anderen Person teilen kann.

William:
Das ist ein sehr großer Satz, der ohne Zweifel seine Existenzberechtigung hat. Für mich ist aber wesentlich wichtiger, dass ich mich darauf verlassen kann, dass andere Menschen ehrlich und aufrichtig mit mir umgehen – vor allem diejenigen, um die ich mich sorge und kümmere. Daher halte ich Aufrichtigkeit für einen noch bedeutsameren Wert als Teilen.

Jonas:
Mit deiner Musik sorgst und kümmerst du dich wahrscheinlich um viel mehr Menschen, als dir eigentlich bewusst ist. Für viele sind deine Songs wie eine Kuscheldecke, in die sie sich verkriechen können und in der sie sich sicher und geborgen fühlen. Gibt es für dich auch Musiker, die mit ihren Songs ähnliche Gefühle bei dir auslösen?

William:
Oh ja, absolut – allen voran Nick Drake. Bedauerlicherweise wurde seine Musik erst 30 Jahre nach seinem Tod richtig bekannt und populär. Seine Songs sind sehr emotional und ehrlich, stellenweise sogar tief traurig – wirklich großartig!
Ein weiterer Musiker, den ich sehr schätze, ist David Wilcox, ein hoch talentierter amerikanischer Singer/Songwriter. David macht seit vielen Jahrzehnten Musik, seine Songs waren die ersten, mit denen ich Gitarre gelernt habe. Die Texte von David Wilcox sind sehr klar und frei von irgendwelchen Geheimnissen. Wenn ich seine Musik höre, ist das für mich immer wie ein kleiner Ausstieg aus dem Alltag.

Jonas:
Kannst Du dich selbst in persönlichen Gesprächen genauso gut ausdrücken wie durch deine Musik?

William:
Nein, das geht über die Musik wesentlich besser. Dort ist es für mich viel einfacher zu sagen, was ich fühle. Und es nimmt mir die Angst. Ich glaube auch, dass meine Gitarre mir einen gewissen Halt gibt, wenn ich auf der Bühne stehe. Vielleicht liegt das daran, dass man im Leben etwas braucht, woran man sich festhalten kann.
Als beispielsweise der Kontakt zu meiner damaligen Ehefrau abgebrochen ist, eröffnete mir die Musik einen Weg, Dinge zu sagen, die ich sonst nicht hätte sagen können.

Jonas:
Du hast vor einiger Zeit ein kleines Mädchen adoptiert. Was möchtest du ihr mit auf ihren Lebensweg geben? Was ist dir wichtig im Leben?

William (lacht):
Sie soll sich vor den Jungs in Acht nehmen. Aber im Ernst: Ich würde Ihr sagen, dass sie immer ihre Mutter respektieren soll. Und wenn sie mich fragen würde, was das Wichtigste im Leben ist, würde ich ihr antworten: immer ehrlich und aufrichtig mit den Menschen umzugehen, die einen auf seinem Lebensweg begleiten. Das ist etwas, von dem ich hoffe, es ihr mitgeben zu können – aufrichtig sein gegenüber anderen und sich selbst: Life’s about being honest.

William zündet sich eine Zigarette an und inhaliert genüsslich den ersten Zug. Dann bläst er den Rauch in die Luft und lächelt.

Während der Musiker auf dem knarzenden Parkett des Lido steht, offenbart sich auf seltsame Art und Weise eine Parallele zwischen ihm und dem alten Veranstaltungshaus: Beide haben erst in den letzten Jahren wirklich zu sich selbst gefunden – das Lido hat dazu nur etwas länger gebraucht.

Während wir unser Equipment abbauen, leistet William uns noch für einige Minuten Gesellschaft, macht einige Späße und zieht sich dann in das Backstage-Wohnzimmer zurück, um sich auf seinen Auftritt vorzubereiten.

Bevor er die Tür hinter sich zuzieht, ruft er uns grinsend zu: „Ihr seid ja heute Abend dabei, oder? Sonst lernt ihr mich ja nie hundertprozentig kennen!“

Wir können uns das Grinsen ebenfalls nicht verkneifen und verabschieden uns herzlich von dem friedlichen Mann aus Pittsburgh.

Natürlich sind wir heute Abend dabei.

Aber das Wichtigste hat uns William ja schon mit auf den Lebensweg gegeben:

It’s about being honest.