Interview — Vladimir Burlakov

Der leere Raum

Wer Vladimir Burlakov in einem Film gesehen hat, der denkt vermutlich an Persönlichkeiten mit einem doppelten Boden, die andere Menschen manipulieren, ja sogar böse sind. Wir gehen den Rollenvorlieben des Schauspielstars auf den Grund.

27. Oktober 2013 — MYP N° 12 »Meine Stille« — Interview: Jonas Meyer, Fotos: David Paprocki

Es heißt, man könne aus jedem leeren Raum eine nackte Bühne machen. Nur zwei Personen brauche man und habe damit alles, was für eine Theaterhandlung notwendig sei – vorausgesetzt die eine Person sei Rezipient und die andere Akteur.

Nun ist das mit den leeren Räumen so eine Sache in Berlin. In Zeiten knappen Wohnraums und steigender Mieten scheinen sie zu einer aussterbenden Gattung zu gehören. Doch wer in der Hauptstadt genau sucht, der findet sie noch, jene kleinen Oasen des Glücks, die genügend leeren Raum zu bieten haben, um als nackte Bühne akzeptiert zu werden.

Die Hausnummer 79 in der Berliner Kastanienallee ist einer dieser exponierten Orte. Vor 118 Jahren entstand hier ein weitflächiger Fabrikkomplex, der bald Geburtsstätte war für industriell gefertigte Holzleisten. Unaufhörlich dröhnten die Maschinen, Stunde für Stunde, Tag für Tag, Jahr für Jahr.

Es kamen zwei Weltkriege, eine Mauer wurde gebaut und 28 Jahre später wieder eingerissen. Nummer 79 überlebte und ließ sich 1994 von der Kunst erobern. Seitdem hört sie auf den Namen „Dock 11“ und gehört zu den wohl spannendsten und charismatischsten Zentren für Tanz und Theater in Berlin, das zudem mit seinen 790 Quadratmetern genügend Fläche zur Entfaltung bietet.

Das Raumproblem scheint also gelöst, eine Bühne wird sich leicht erschaffen lassen. Die Rezipientenrolle übernehmen wir, somit fehlt nur noch ein Akteur.
Daher haben wir uns heute mit dem jungen Schauspieler Vladimir Burlakov verabredet, der uns bereits am Eingang von „Dock 11“ erwartet.

Gemeinsam betreten wir das ehemalige Fabrikgelände, spazieren vorbei am großen Theatersaal und erreichen über eine Treppe den großen, lichtdurchfluteten Probenraum im ersten Stock. Angenehm still ist es hier, kein einziges Geräusch dringt von der belebten Kastanienallee nach innen.

Vladimir lässt sich auf einem Stuhl in der Mitte des Saals nieder und lächelt. Instinktiv hat er gerade die Bühne eröffnet. Wir sind gespannt, was passiert.

Vorhang auf!

Jonas:
Schon als kleines Kind wolltest du unbedingt Schauspieler werden? Erinnerst du dich noch, wie dieser Traum entstanden ist?

Vladimir:
Ich glaube, dafür gab es gar keinen konkreten Anlass. Dieser unbedingte Wunsch war eigentlich schon immer irgendwie präsent in meinem Leben. Interessanterweise hat meine Mutter ebenfalls in jungen Jahren angefangen, Schauspiel zu studieren. Sie musste dann aber leider ihr Studium abbrechen, weil sie mit mir und meiner Zwillingsschwester schwanger wurde. Deshalb sagt sie auch manchmal, dass ich ihren eigenen Traum weiterlebe, den sie selbst nie verwirklichen konnte – das ist wunderschön zu hören und trotzdem total traurig.
Dabei hat meine Mutter nie in irgendeiner Form versucht, mich in diese Richtung zu schieben. Ganz im Gegenteil: Egal was ich für meine Schauspielkarriere unternommen habe, das geschah immer aus ureigenem Antrieb – und erzählt habe ich davon zuhause auch immer erst im Nachhinein. Seit ich denken kann war für mich immer absolut klar, dass Schauspielerei meine Kunstform ist.

Jonas:
Also hast du konsequent deine Kunst zum Beruf gemacht und bist professioneller Schauspieler geworden.

Vladimir:
Ja, allerdings scheue ich mich, diese Kunst profan als „Arbeit“ zu bezeichnen, das würde meiner Leidenschaft dafür einfach nicht gerecht werden – obwohl man natürlich auch in diesem Beruf sehr viel arbeiten muss.

Jonas:
Du bist im Alter von neun Jahren mit deiner Familie von Moskau nach München gezogen. Hat dieser Umzug deinen großen Wunsch, Schauspieler zu werden, in irgendeiner Form geschmälert? Plötzlich warst du ja mit einer großen Sprachbarriere konfrontiert.

Vladimir:
Ehrlich gesagt war ich damals noch zu jung, um mir diese auch tatsächlich wichtige Frage zu stellen. Der Umzug selbst war für mich nicht problematisch. Wir hatten innerhalb der Familie immer ein so gutes und vertrauensvolles Verhältnis, dass ich nicht auf die Idee gekommen wäre, diese Entscheidung in irgendeiner Art in Frage zu stellen.
Daher habe ich auch keine negativen Erinnerungen an die Anfangszeit in Deutschland, als man natürlich noch nichts hatte und sich erst einmal alles aufbauen und erarbeiten musste. Und ich weiß noch ganz genau, dass mein Traum von alldem unberührt blieb – selbst die große Sprachbarriere war innerhalb weniger Jahre überwunden.

Jonas:
Du hast einige Jahre später noch während deiner Schulzeit einen Theaterkurs bei den Münchener Kammerspielen belegt – dein erster Schritt in die Schauspielerei. Welche Erfahrungen hast du dort gesammelt?

Vladimir:
Dieser Theaterkurs war für mich essenziell, weil dort Fragen behandelt wurden wie „Was ist überhaupt Theater?“. Ich weiß noch, wie ich gleich am ersten Tag zur Übung einen imaginären Schmetterling fangen musste – vor Publikum!
Ich habe so viel geschwitzt wie noch nie zuvor in meinem Leben, weil ich damals zum allerersten Mal auf einer Bühne vor anderen Menschen spielen durfte. Das war ein unvergleichliches Gefühl.

Im Laufe der Zeit habe ich gemerkt, wie sehr man sich doch auf der Bühne öffnet und wie viel man von seiner eigenen Seele preisgeben kann.

Jonas:
Würdest du sagen, dass dir das Theater die Chance eröffnet hat, dich selbst besser kennenzulernen?

Vladimir:
Ja, absolut. Im Laufe der Zeit habe ich gemerkt, wie sehr man sich doch auf der Bühne öffnet und wie viel man von seiner eigenen Seele preisgeben kann – auch wenn die verschiedenen Rollen jede Möglichkeit bieten, sich dahinter zu verstecken.

Jonas:
Nach deinem Schulabschluss im Jahr 2006 hast du insgesamt vier Jahre an der Otto-Falckenberg-Schule in München Schauspiel studiert. Wie würdest du deine Erfahrungen dort im Vergleich zum Theaterkurs beschreiben?

Vladimir:
Die Erfahrungen im Studium waren natürlich ungleich intensiver: Man hat sich quasi vier Jahre lang nur mit sich selbst beschäftigt. Und man hat Rollen gespielt, die man wahrscheinlich so nie wieder spielen wird, weil sie so extrem weit von einem weg sind. Als Schauspieler strebt man ja immer nach dem Ideal, alles spielen zu können – aber dort kam man bei einigen Rollen wirklich an seine Grenzen.
Irgendwann hatte ich aber das Gefühl, dass ich mich schauspielerisch immer mehr von dem entfernte, was ich eigentlich sein wollte – auch wenn ich mich durch das Studium nochmals besser kennenlernen konnte. Irgendwo in meinem Kopf gab es diesen Typus Schauspieler, der ich in Wirklichkeit nicht war.
Erst als ich mehr Film gemacht habe und weniger Theater, habe ich wieder zu mir selbst gefunden. Und als ich nach zwei, drei Filmrollen erneut auf der Bühne stand, habe ich plötzlich gemerkt, dass ich dort ganz natürlich eine solche Kraft und Präsenz entwickelte, die ich vorher noch mühsam künstlich herstellen musste.
Was mich außerdem am Schauspielstudium so beeindruckt hat, war die Tatsache, dass man sich mit so grundlegenden Fragen auseinandergesetzt hat wie „Was ist überhaupt Theater?“. Der englische Theaterregisseur Peter Brook hat dazu mal folgende These aufgestellt: „Ich kann jeden leeren Raum nehmen und ihn eine nackte Bühne nennen. Ein Mann geht durch den Raum, während ihm ein anderer zusieht; das ist alles, was zur Theaterhandlung notwendig ist.“

Vladimirs Stimme klingt sanft und unaufdringlich, wirkt aber gleichzeitig präzise und entschlossen. Seine Worte beziehen ihre Kraft aus dem Moment und hinterlassen dabei Fußspuren tiefer Überzeugung.

Wir unterbrechen unser Gespräch für einige Augenblicke und lassen die Stille des großen Saals auf uns wirken. Kaum vorstellbar, dass hier einst lärmende Maschinen standen.

Mit geschlossenen Augen versuchen wir, in unseren Gedanken das Bild jener Stahlgiganten nachzuzeichnen, die hier unaufhörlich im dieselgefütterten Takt ihre Arbeit verrichteten und die starken Mauern vibrieren ließen – doch nichts: Es will uns nicht gelingen.

Vielleicht liegt es an der Präsenz des jungen Schauspielers, dass man einfach glauben mag, dieser Raum hätte noch nie eine andere Aufgabe gehabt als ein Ort des Theaters zu sein.

Ich liebe Charaktere mit einem doppelten Boden, die andere Menschen manipulieren, ja sogar böse sind.

Jonas:
Gibt es Rollen, die du besonders gerne spielst?

Vladimir:
Ja, ich liebe Charaktere mit einem doppelten Boden, die andere Menschen manipulieren, ja sogar böse sind. Wenn man eine echte Schauspielausbildung absolviert hat, verfügt man über einen großen Vorteil: Man besitzt das notwendige Handwerkszeug, mit dem man sich einen Zugang zu Emotionen und Stimmungen verschaffen kann, die man im normalen Leben nie erleben und empfinden würde.
Das hilft enorm, wenn man beispielsweise einen Mörder oder Vergewaltiger spielen muss. Hier kann man nicht so einfach auf vergleichbare eigene Erfahrungen und Emotionen zurückgreifen – man hat ja selbst weder gemordet noch vergewaltigt.
Da ist es gut, über das entsprechende Wissen zu verfügen, das einen dazu befähigt, sich solch einer Rolle zu nähern und einen emotionalen Zugang zu einem derartigen Charakter zu finden.

Jonas:
Stellst du manchmal an dir selbst fest, wie du abseits von Film und Theater auch in alltäglichen Lebenssituationen spielst?

Vladimir:
Ja, das passiert in der Tat manchmal. Ich spiele dann zwar nicht unbedingt eine Rolle, aber ich reagiere trotzdem schauspielerisch auf andere Menschen.
Es gibt einen Satz der Autorin Juli Zeh, der es auf den Punkt bringt: „Wir kommen mit einem anderen Menschen in Berührung und dieser Mensch schlägt in uns einen ganz bestimmten Ton an.“ Ihrer Meinung nach fällt je nach Ton auch die Reaktion auf den Menschen ganz unterschiedlich aus. Diese Funktion ist bei mir ziemlich stark ausgeprägt.

Jonas:
Du hast nach deinem Studium fast nur noch als Filmschauspieler gearbeitet. Fehlt dir manchmal die Bühne?

Vladimir:
Ja, total! Meiner Meinung nach ist der Beruf des Theaterschauspielers auch fast ein ganz anderer – und dieser fehlt mir sehr. Nachdem ich mein Studium abgeschlossen hatte, erhielt ich zwar viele Angebote für Theaterengagements – allerdings von eher kleineren, regionaleren Häusern. Und ehrlicherweise muss ich zugeben, dass ich ganz gerne nach den Sternen greife und die größeren Häuser im Blick habe.
Außerdem ist mir extrem wichtig, in welcher Stadt ich arbeite und lebe – und da ist Berlin im Moment unschlagbar. Ich merke direkt, wie sehr es mir fehlt, wenn ich mal für längere Zeit nicht da bin.

Jonas:
Wie ist es überhaupt dazu gekommen, dass du von München nach Berlin gezogen bist?

Vladimir:
Nachdem wir 2012 in Marokko die Dreharbeiten zu „Eine mörderische Entscheidung“ abgeschlossen hatten, flogen alle Kollegen zurück nach Berlin. Ich war der Einzige, der einen Flug nach München hatte – mit Zwischenstopp in Paris. Während alle anderen schon in der Luft waren, saß ich ganz alleine am überfüllten Flughafen von Casablanca und wartete scheinbar endlos darauf, dass endlich der Schalter der Air France geöffnet wurde. Da es keine freien Stühle und Bänke gab, saß ich auf dem Boden. Und als ich da so saß, fragte ich mich, warum ich hier auf dem Boden sitzen muss, wenn alle anderen schon fast in Berlin sind.
Das war irgendwie ein Zeichen. Als ich zurück in München war, habe ich meine Sachen gepackt, meine Wohnung gekündigt und bin innerhalb einer Woche nach Berlin gezogen.

Jonas:
Der Film „Eine mörderische Entscheidung“, von dem du gerade gesprochen hast, basiert auf den Ereignissen der Nacht zum 4. September 2009, als auf Befehl eines deutschen Oberst bei Kunduz zwei Tanklastzüge bombardiert wurden und über 140 Menschen starben. Vor kurzem wurde dieses Dokudrama auf Arte und in der ARD zum ersten Mal gezeigt. Glaubst du, dass die Zuschauer sich mit so einen Film überhaupt ausreichend befassen? Schließlich sind sie schon seit Jahren durch die Medien mit dem Dauerthema Afghanistan-Krieg konfrontiert.

Vladimir:
Man muss total unpolitisch und auf den Kopf gefallen sein, wenn eine solche Geschichte spurlos an einem vorübergeht. Es ist einfach wichtig, dass man sich mit solchen Themen befasst, egal ob es jetzt speziell um diesen Film geht oder ganz allgemein um andere Dinge, die um einen herum passieren.
Ich selbst habe an mir festgestellt, dass ich innerhalb der letzten Jahre viel politischer und politikinteressierter geworden bin. Auch wenn ich seit 2008 keinen Fernseher mehr habe, nutze ich im Internet die Mediatheken, um hauptsächlich Politiksendungen zu schauen.
Ich habe mich übrigens sehr gefreut, als die Anfrage zu „Eine mörderische Entscheidung“ kam. Das würde ich allerdings nicht auf den politischen Aspekt zurückführen – es ging mir vielmehr um die spannende Rolle eines jungen deutschen Soldaten im Afghanistan-Krieg, der nicht weiß, was ihn erwartet. Außerdem fand ich es spannend, mit so wundervollen Kollegen wie Axel Milberg, Matthias Brandt oder Ludwig Trepte zusammenarbeiten zu dürfen.

Jonas:
Verändert die intensive Beschäftigung mit solch einem Thema ganz allgemein den Blick auf die Dinge?

Vladimir:
Wenn man in der Rolle steckt, setzt man sich natürlich intensiv mit dem Thema auseinander. Das ist während der Dreharbeiten ja auch dauerpräsent. Ist der Dreh abgeschlossen, streift man die Rolle aber wieder ab. Gerade für Schauspieler ist das ein wichtiger Schutzmechanismus, um im Kopf wieder frei zu sein für die nächste Rolle.
Auch wenn es sich dabei um einen etwas ungleichen Vergleich handelt: Würde ein Arzt das persönliche Schicksal eines jeden Patienten zu sehr an sich heranlassen, würde er wahrscheinlich nach kurzer Zeit auch nicht mehr in der Lage sein, seine Arbeit ordentlich zu verrichten. Dazu kommt, dass die Tragödie für den Schauspieler im Gegensatz zum Arzt etwas Tolles ist, weil sie eine besondere Anforderung an sein Spiel darstellt. Das beste Beispiel hierfür ist das Drama „Marco W.“: Die Verfilmung des persönlichen Schicksals dieses jungen Mannes war für mich als Schauspieler eine interessante Herausforderung.

Jonas:
Was war für dich das Besondere an dieser Rolle?

Vladimir:
„Marco W.“ war eine absolute Hauptrolle, bei der ich schauspielerisch die gesamte Entwicklung der Figur darstellen durfte und von Hoffnung über Resignation bis Verzweiflung einen großen Bogen spannen konnte. Bei kleineren Rollen, bei denen die persönliche Drehzeit oft auf sechs, sieben Drehtage beschränkt ist, ist so eine ausführliche Darstellung der Figur natürlich nicht möglich.
Außerdem waren mir bei dieser Figur die persönliche Situation und Emotionalität so nah, dass ich manchmal das Gefühl hatte, gar nicht wirklich spielen zu müssen. Trotzdem war es physisch und psychisch mit das Intensivste, was ich bisher gemacht habe.
Dazu kommt, dass von Marco in den Medien nur ein einziges Foto existierte, weshalb ich in meiner Interpretation der Rolle relativ frei war und keine Verantwortung für Mimik, Gestik und Habitus übernehmen musste. Dies wäre beispielsweise der Fall, wenn man so jemanden wie Romy Schneider spielen würde. Dafür war aber die Verantwortung gegenüber dem realen Marco umso größer, der am Set natürlich anwesend war und sicherstellte, richtig dargestellt zu werden.

Generell ist mir auch wichtig, dass mir eine Rolle ermöglicht, etwas Neues für mein Leben zu lernen oder durch eine Situation zu gehen, die ich vorher so noch nicht kannte.

Jonas:
Was treibt dich als Schauspieler an?

Vladimir:
Wahrscheinlich genau dasselbe, das jeden Menschen antreibt, nur in einem etwas anderen Aggregatszustand. Mich inspirieren zum Beispiel einige Kollegen sehr, allen voran Lars Eidinger, der ein großartiger Schauspieler ist. Ich schätze seine direkte und klare Art.
Generell ist mir auch wichtig, dass mir eine Rolle ermöglicht, etwas Neues für mein Leben zu lernen oder durch eine Situation zu gehen, die ich vorher so noch nicht kannte.
Das ist ja auch das Tolle an diesem Beruf: Man kann viele Leben leben, die man sonst nicht leben könnte. Manchmal passt die Rolle auch so gut, dass sie fast wie eine Therapie wirkt, weil man in ihr etwas ausdrücken kann, das man so niemals rauslassen würde.
Darüber hinaus liebe ich es, neue Menschen kennenzulernen und sie beim ersten Aufeinandertreffen bis ins Detail zu analysieren. Dann schwirrt mir nur diese eine Frage durch den Kopf: „Wer genau bist du, der mir da gerade gegenübersteht?“ Ich muss dieses Röntgen auch gar nicht aktiv betreiben, meine Umwelt fließt quasi in mich hinein.

Jonas:
Du hast bereits mit den größten Namen gedreht, die die deutsche Schauspielerlandschaft so zu bieten hat: Hannelore Elsner, Veronica Ferres, Joachim Król, Katja Riemann, Armin Rohde – um nur einige zu nennen. Vor kurzem hast du außerdem mit Götz George die Schimanski-Episode „Loverboy“ abgedreht, die in wenigen Wochen ausgestrahlt wird. Was nimmst du aus der gemeinsamen Arbeit mit diesen Persönlichkeiten mit?

Vladimir:
Das Schöne ist, dass ich bei vielen Kollegen immer wieder positive Überraschungen erlebe, die mir natürlich in Erinnerung bleiben. Außerdem merke ich, dass ich mich vor allem mit jenen Schauspielern identifiziere, bei denen ich große Übereinstimmungen mit mir selbst feststelle – sei es jetzt charakterlich oder was die Art und Weise angeht, wie sie spielen. Das gibt mir sehr viel Kraft.

Jonas:
Gibt es eine Figur, die du gerne einmal spielen würdest?

Vladimir:
Wie ich bereits erwähnt habe, sind die bösen Charaktere ja generell die spannenderen: Paranoide, Schizophrene, Psychopathen – da hat man beim Spielen einfach mehr Fläche. Aber eigentlich ist es viel schwieriger, absolute Normalos zu spielen, weil man da gar nichts greifen kann. Das ist eine echte Herausforderung.
Ich spiele eine so ähnliche Figur übrigens bei meinem aktuellen Projekt „Nachthelle“, einem Mystery-Thriller von Florian Gottschick, den wir gerade in Brandenburg drehen. Meine Figur des Stefan ist ein ganz normaler Typ, der nicht wirklich über seine Gefühle redet und insgesamt mehr beobachtet als agiert. Diese Rolle ist weitaus schwieriger zu spielen als beispielsweise die des Autisten Philipp von Nordeck in „Verbrechen nach Ferdinand von Schirach“, in die ich im letzten Jahr geschlüpft bin. Es gibt da einfach nichts in der Figur, hinter dem man sich verstecken könnte.

Wenn du Gott zum Lachen bringen willst, erzähl’ ihm von deinen Plänen.

Jonas:
Bist du auf eine gewisse Art und Weise gläubig?

Vladimir:
Ja, wahrscheinlich schon. Daher weiß ich auch nicht, was mir noch alles mit auf den Weg gegeben ist und wie mein großer Lebensplan letztendlich aussieht.
Es gibt ja den schönen Satz: Wenn du Gott zum Lachen bringen willst, erzähl’ ihm von deinen Plänen.
Eigentlich bin ich total glücklich mit allem, wie es ist. Denn ich weiß ganz genau, dass ich auf der Welt bin, um Schauspieler zu sein und zu spielen. Das ist der einzige Grund, warum es mich gibt.

Aus dem Innenhof dringen einige Stimmen in den ersten Stock. Wir öffnen ein Fenster und schauen nach unten: Vor dem großen Theatersaal im Erdgeschoss wurde gerade die Abendkasse geöffnet. Die ersten Zuschauer der heutigen Vorstellung sind eingetroffen und sammeln sich vor dem Eingang des Theaters.

Auf unseren Gesichtern liegt ein Lächeln. Wer hätte vor 118 Jahren wohl damit gerechnet, als dieser Raum geschaffen wurde?

Wir verlassen den Probenraum und schlendern zum Ausgang. Für einen Moment scheint es, als hätten sich die alten Fabrikmauern von ihren Plätzen erhoben und würden munter Beifall klatschen.

Dabei wirken sie zufrieden und erleichtert. Es braucht hier keine dröhnenden Maschinen mehr, um den leeren Raum zu füllen.

Nur einen guten Schauspieler.