Interview — Thanh Binh Tran

Wohltätigkeit in digital

Mit Gründergeist gegen die Krisenstimmung: Thanh Binh Tran ist Mitbegründer des Wohltätigkeits-Start-ups »Moonshot Mission«, mit dem er die Spendenbranche revolutionieren will. Ein Gespräch über die persönliche Verantwortung in der Gesellschaft – und das tollkühne Ziel, das Elend der Welt zu beseitigen.

27. Februar 2021 — MYP N° 30 »Gemeinschaft« — Interview: Katharina Weiß, Fotografie: Frederike van der Straeten

Als letztes Jahr, so mitten in der Pandemie, das Start-up Caroobi dichtmachte, stand Thanh Binh Tran plötzlich auf der Straße. Etwas mehr als ein Jahr hatte er als Head of Business Development in dem anfangs hochgelobten Unternehmen gearbeitet – einer Firma, die sich vorgenommen hatte, mit Unterstützung millionenschwerer Investoren wie etwa BMW den Kfz-Service in Deutschland zu digitalisieren. Doch dann war Schluss. Und Thanh war – wie viele andere ambitionierte, junge Menschen – in einem neuen Leben gestrandet, das in erster Linie geprägt war von außerordentlich viel Freizeit. Corona sei Dank.

Doch da Thanh Binh Tran vor Gründergeist nur so sprüht und sich so etwas nicht einfach abschalten lässt, zumindest nicht bei ihm, nahm er sich vor, all seine Energie endlich einem Herzensprojekt zu widmen, das er seit Jahren aus Zeitmangel beharrlich aufgeschoben hatte. Sein Vorhaben könnte nicht ehrgeiziger sein: Mit einem kleinen Team aus insgesamt vier Personen hat er es sich zum Ziel gesetzt, das Wesen der Wohltätigkeit zu verändern: effizienter, moderner, transparenter. Und das auf der ganzen Welt.

Von seinem WG-Zimmer in Berlin-Kreuzberg aus bastelte er monatelang an der Webseite zu seinem Start-up Moonshot Mission. Die Plattform will eine Art Booking.com für Wohltätigkeitsorganisationen sein. Aber was heißt das konkret?

Laut Thanh Binh Trans Aussagen finden User*innen auf der Seite eine Auflistung der effektivsten NGOs der Welt, und zwar mit allen Einsatzgebieten und Projekten. Anstelle von Nutzerbewertungen oder Hotelsternen sieht man wissenschaftliche Studien, die ausschließlich dem Zweck dienen, die Effektivität der einzelnen Organisationen zu beweisen.

Entscheidet man sich zu einer Spende, wickelt Moonshot Mission die Zahlung ab. Da Thanh Binh Trans Firma kein Geld für diesen Prozess verlangt, ist das Ganze kostenlose Werbung für all die NGOs, die in die Liste von Moonshot Mission aufgenommen werden. Das hilft vor allem kleinen Organisationen mit geringem Marketingbudget.

Bisher war es auf dem heiß umkämpften Markt der Wohltätigkeitsprojekte eher so, dass diejenige NGO am meisten Spenden erhält, die über das beste Marketing-Team verfügt – egal, wie gut die Arbeit vor Ort ist. Mit diesem Muster möchte Thanh Binh Tran nun brechen. Im Gespräch mit Chefredakteurin Katharina Weiß gewährt er einen Einblick in die Tragweite seiner Vision. Und er vertritt dabei den Standpunkt, dass Wohltätigkeit nicht als Ehrenamt ausgeübt werden muss.

Katharina Weiß:
Trotz des Wohltätigkeits-Aspekts hast Du auch deine aktuellen Karriereziele an das Start-up Moonshot Mission geknüpft. Die sind allerdings im Moment noch recht verhalten: Ihr wollt es schaffen, dass die Arbeit aller jetzigen und künftigen Mitarbeiter*innen Eurer Firma durch regelmäßige Gehälter entlohnt wird. Wie genau verdient Ihr mit Eurer Plattform Geld?

Thanh Binh Tran:
Ganz einfach: Wir fragen unsere Nutzer*innen nach einer freiwilligen Spende an uns. Je mehr Zuwendungen wir erhalten, desto mehr können wir in Marketing investieren – und damit mehr Menschen davon überzeugen, an eine NGO ihrer Wahl zu spenden. Das heißt konkret: Wenn Du beispielsweise 50 Euro spendest, behalten wir von diesem Geld nichts ein, sondern fragen Dich, ob Du bereit bist, etwa mit weiteren fünf Euro uns zu unterstützen. Deine Gesamtspende beträgt dann natürlich 55 Euro.

Katharina Weiß:
Welchen Vorteil hat es für die Spender*innen, den Zahlungsvorgang in Eure Hände zu legen, anstatt auf den Websites der NGOs direkt selbst zu spenden?

Thanh Binh Tran:
Dies hat sich aus zwei Gründen als sinnvoll erwiesen: Erstens, weil einige NGOs in den Vereinigten Staaten ansässig sind und wir uns um darum kümmern, Deine Steuervorteile in Deutschland geltend zu machen. Und zweitens, damit Deine Daten bei uns geschützt bleiben. Darüber hinaus informieren wir Dich, falls eine NGO nach wissenschaftlichen Standards nicht mehr zur Weltspitze der effektiven Organisationen gehört. Die NGO selbst hat dabei keine Möglichkeit, Dich zu kontaktieren.

»Ohne Ausgaben könnten wir keines der Probleme lösen, an denen wir arbeiten.«

Katharina Weiß:
Das klingt dennoch stark nach Kapitalisierung von Wohltätigkeit. Warum bist Du so davon überzeugt, dass dieser Weg ein guter ist?

Thanh Binh Tran:
Klar, wir könnten das Projekt natürlich auch auf dem klassischen Weg – sprich nebenberuflich – aufbauen und auf Freund*innen und Familie als Spender*innen setzen. Dann hätten wir keine Ausgaben und würden rein ehrenamtlich arbeiten. Ohne Ausgaben könnten wir aber kein Marketing betreiben, keine skalierbaren Prozesse aufbauen und am Ende keines der Probleme lösen, an denen wir arbeiten.
Daher ist es uns ein Anliegen immer wieder zu erklären, warum Spendengeld, das in Marketing fließt, letztlich zu effektiveren und höheren Spendeneinnahmen durch NGOs führt und nicht einfach verpufft.
Für uns bedeutet gutes Marketing, dass wir aus einem Euro, den wir unmittelbar in Marketing investieren, acht bis zwölf Euro in zusätzlichen Spenden generieren können: durch Pressearbeit, Werbung und Verbesserungen an unserer Webseite. Wenn wir aber daran festhalten, dass Spenden mit möglichst wenig Ausgaben in Marketing und Verwaltung betrieben werden sollen, verfehlen wir meiner Meinung nach den Allerwichtigsten aller Punkte: genau jenen Menschen zu helfen, die Hilfe brauchen.

»Nahrung, Gesundheit und Bildung waren in meinem Leben immer selbstverständlich. Jetzt möchte ich anderen Menschen diese Chance geben.«

Katharina Weiß:
Warum ist Dir der gute Zweck überhaupt so wichtig?

Thanh Binh Tran:
Als Sohn vietnamesischer Geflüchteter war ich glücklich, ein Leben voller Möglichkeiten in Europa zu führen. Nahrung, Gesundheit und Bildung waren in meinem Leben immer selbstverständlich, obwohl ich diese Dinge nicht direkt beeinflussen konnte. Jetzt möchte ich anderen Menschen diese Chance geben.

Katharina Weiß:
Du hast zu Beginn der Corona-Pandemie Deinen Job verloren. Dadruch hattest Du plötzlich von morgens bis abends Zeit für Moonshot Mission. Bist Du mittlerweile an einem Punkt, an dem Du schon etwas mit der Website verdienst?

Thanh Binh Tran:
Wir arbeiten alle auf ehrenamtlicher Basis und investieren unsere Ersparnisse in das Projekt.

Katharina Weiß:
Wie lange kannst Du noch von diesem Idealismus leben?

Thanh Binh Tran:
Mitte des Jahres muss ich mir Gedanken machen, wie lange ich und das Team die Moonshot Mission noch betreiben können. Wenn genug Leute an unsere Idee glauben, sind auch erste Gehälter auszahlbar.

»Wir wollen bis 2030 weltweit extreme Armut beenden.«

Katharina Weiß:
Welche Motivationen haben die anderen Menschen, die mit Dir an Moonshot Mission arbeiten?

Thanh Binh Tran:
Das Moonshot-Team besteht neben mir aus weiteren drei Personen. Da ist zum Beispiel Guy, der das Start-up, in dem wir vor zwei Jahren gemeinsam gearbeitet hatten, ebenfalls verlassen hat und nach Tansania gezogen ist, um dort die Arbeit einer internationalen NGO zu koordinieren. Natürlich war er der erste, den ich angerufen habe. Sein klares Ziel: die NGO-Welt effizienter zu gestalten.
Als wir uns anschließend die Meinung von Marketing-Experten einholen wollten, habe ich Max und Patrick um Rat gebeten. Die beiden haben eine Marketingagentur und saßen damals mit mir im Management des Werkstatt-Portals Caroobi, das Mitte 2020 operativ eingestellt wurde. Ich wusste also, dass sich diese beiden kompetenten Köpfe auch noch orientieren müssen. Als Guy und ich ihnen erklärt haben, dass wir eine NGO nach dem Prinzip eines Start-ups aufbauen, waren sie direkt an Bord.

Katharina Weiß:
Warum überhaupt der Name Moonshot Mission? Eigentlich irreführend…

Thanh Binh Tran:
Im Einklang mit den Zielen der UN wollen wir bis 2030 weltweit extreme Armut beenden. Natürlich ist das fast unmöglich zu erreichen – in der Start-Up Welt nennt man so eine tollkühne Idee moonshot vision.

»Für 100 Euro können wir das Äquivalent von 14 Jahren an zusätzlichen Schultagen ermöglichen.«

Katharina Weiß:
Ihr sagt, dass Ihr nur die „effektivsten“ Organisationen der Welt auf Eurer Seite listet. Welche das sind, ermittelt Ihr auf Basis von Erkenntnissen des Wirtschaftsnobelpreises 2019. Diese stützen sich auf Ergebnisse, die mit der wissenschaftlichen Methode der sogenannten Rigorous Impact Evaluation gesammelt wurden. Ergänzt werden diese Daten durch Studien der Weltbank und der Vereinten Nationen. Zu welchen Ergebnissen kommen diese Erhebungen?

Thanh Binh Tran:
Rigorous Impact Evaluations sind vergleichbar mit Experimenten aus der Wissenschaft. Dank der Erkenntnisse können wir genau sagen, welche Effekte Spendengelder auf die Menschen vor Ort haben.
Nehmen wir an, Du möchtest Grundschulkindern in Kenia helfen: Für 100 Euro, die im Land ankommen, könnte man einem talentierten Kind durch ein Stipendium etwa 118 zusätzliche Tage Schule finanzieren. Dank Rigorous Impact Evaluations wissen wir aber, dass die Vergabe von Medikamenten, in diesem Fall Entwurmungspillen, die Abwesenheitsrate in der Schule senkt. Das heißt: Für dieselben 100 Euro, die wir in Kenia in Entwurmungspillen investieren, können wir nicht nur die Krankheit heilen, sondern auch das Äquivalent von 14 Jahren an zusätzlichen Schultagen ermöglichen.

»Wir fragen uns, wie Malaria heutzutage überhaupt noch ein Problem für Millionen von Menschen sein kann.«

Katharina Weiß:
Warum sind akute Krisen wie zum Beispiel die Explosion in Beirut weniger relevant für Euch?

Thanh Binh Tran:
Bei Katastrophen wie der im Libanon sind Spenden unbedingt unterstützenswert und wichtig, das muss an erster Stelle gesagt werden. Wir fokussieren uns jedoch auf Prävention und länderübergreifende Probleme, die wir als Gemeinschaft schon lange hätten lösen können. Millionen Menschen leiden noch heute unter Krankheiten wie etwa Malaria, obwohl präventive Medikamente rund um die Uhr sehr guten Schutz bieten. Zum Beispiel können wir für sechs Euro einem Menschen aus Ostafrika eine Saison lang Schutz vor Malaria geben. Da fragen wir uns natürlich, wie das heutzutage überhaupt noch ein Problem für Millionen von Menschen sein kann. Moonshot Mission wurde gegründet, um globale Probleme dieser Art zu lösen.

»Wenn wir nicht bereit sind, Teile unserer Spenden sinnvoll zu reinvestieren, leiden am Ende die Menschen.«

Katharina Weiß:
Auch wenn Du es nachvollziehbar erklärst, folgendes Problem sehe ich trotzdem: Intuitiv würde man doch als Spender*in von beispielsweise 100 Euro sein Geld eher an eine Organisation senden, die verspricht, dass hundert Prozent der Summe an den guten Zweck gehen. Geld, das für die Organisation und Administration benötigt wird, erscheint vielen Menschen wie verschwendet. Wie begegnet Ihr einem solchen Umstand?

Thanh Binh Tran:
Viele Menschen sind der Meinung, dass von einer 100-Euro-Spende im besten Fall 100 Euro im Land ankommen sollten. Wenn nichts bei der NGO übrigbleibt, können aber weder Verwaltung noch Marketing betrieben werden. Und ohne Marketing gibt es keine neuen Spender*innen. Erfolgreiche Fundraiser*innen holen aus einem Euro Investment acht Euro in neuen Spenden heraus. Wenn wir nicht bereit sind, Teile unserer Spenden sinnvoll zu reinvestieren, leiden am Ende die Menschen, denen wir ursprünglich helfen wollten. Da aber dieser Sachverhalt nicht so einfach zu vermitteln ist, leiten wir die Spenden unserer User*innen abzüglich der Transaktionsgebühren direkt weiter und finanzieren uns durch freiwillige Beiträge.

»Wichtiger als der Vertrag ist gegenseitiges Vertrauen.«

Katharina Weiß:
Da Ihr selbst kein Teil der NGOs seid, sondern diese nur online vertretet, sind Eure Möglichkeiten relativ gering, was die Überprüfung des tatsächlichen Einsatzes des gespendeten Geldes angeht. Wie wollt Ihr dem Missbrauch von Spendengeldern entgegenwirken?

Thanh Binh Tran:
Zum einen bestehen Verträge zwischen uns und den Organisationen, die eingrenzen, was mit Spendengeldern passieren darf. Wichtiger als der Vertrag ist aber gegenseitiges Vertrauen. In der Vergangenheit haben unsere NGOs herausragende Arbeit geleistet und ihre Gelder effektiver als jede andere Organisation verwendet. Zudem werden alle unsere Partner regelmäßig auf den Prüfstand gestellt. Falls der Test negativ ausfällt, wird die NGO von unserer Plattform genommen. Bestehende Spender*innen werden durch uns informiert – und da die Daten bei uns liegen, kann auch keine weitere Spende mehr fließen.

»Trotz allen Wohlstands leben weltweit 600 Millionen Menschen von weniger als 1,62 Euro am Tag.«

Katharina Weiß:
Du hast eben davon gesprochen, dass es auf unserer Welt nach wie vor große Probleme und Ungerechtigkeiten gibt, die noch nicht bewältigt wurden. Was sind Deiner Meinung nach die wichtigsten Punkte, mit denen sich unsere Gesellschaft stärker befassen sollte?

Thanh Binh Tran:
Ich glaube, dass wir als Gemeinschaft bei mindestens zwei Themen komplett versagen. Erstens: Trotz aller wissenschaftlicher Erkenntnisse zerstören wir weiterhin den Planeten, als gäbe es einen zweiten, auf den man ausweichen könnte. Zweitens: Trotz allen Wohlstands leben weltweit 600 Millionen Menschen von weniger als 1,62 Euro am Tag. Zur Einordnung der Größenverhältnisse: Die gesamte Europäische Union zählt etwa 450 Millionen Einwohner*innen.

»Entscheidend ist, ob man persönlich bereit ist, etwas zu opfern.«

Katharina Weiß:
Welche Verantwortung siehst Du speziell bei Deiner Generation?

Thanh Binh Tran:
Jedem ist bekannt, dass die gerade genannten Probleme existieren. Entscheidend ist, ob man persönlich bereit ist, etwas dafür zu opfern. Viele Menschen verzichten auf Fleisch, nehmen den Zug, statt zu fliegen, und gehen demonstrieren; vielen anderen ist das aber immer noch schlichtweg egal.
Beim Thema Spenden wird’s dann noch düsterer: Drei Prozent des eigenen Einkommens zu spenden, dieser Anteil erscheint einem im ersten Moment als eher wenig. Bei 2.500 Euro brutto entspricht das einer monatlichen 50-Euro-Spende – und das ist für viele Menschen unvorstellbar. Da frühere Generationen diese Themen vernachlässigt haben, liegt es jetzt in unserer Verantwortung, neue Lösungen zu finden und selbst Opfer zu erbringen. Initiativen für eine bessere Welt gibt es mehr als genug – man muss sich nur engagieren.