Interview — Sofi Paez

»Ich will den Menschen die Furcht vor den eigenen Dämonen nehmen«

»Silent Stories«, das Debütalbum von Pianistin und Komponistin Sofi Paez, ist ein wundervolles Stück Musik, in das man sich nur verlieben kann: einerseits, weil es so komplex und feinfühlig arrangiert ist. Und andererseits, weil es die Kraft hat, in eher schwierigeren Momenten des Lebens ein bisschen Trost zu spenden. Ein Gespräch über innere Dämonen, eine Familie, die sich zu schnell Sorgen macht, und kalte Wintermonate als idealer Nährboden für neue Songs.

2. November 2024 — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotografie: Maximilian König

Das Wort Trost ist ein sehr altes. Seine linguistische Wurzel, der indogermanische Begriff deru, bezeichnet das Kernholz eines Baumstammes, das den Baum während eines starken Sturms fest stehen lässt. Im Mittel- und Althochdeutschen wurde daraus trōst, belegt ist das Wort seit dem 8. Jahrhundert.

Wie genau sich die Menschen im frühen Mittelalter wohl Trost gespendet haben? Immerhin gab es damals weder riesige Schokoeisbecher, die man gemeinsam vertilgen konnte. Und lustige Memes, mit denen man seine Liebsten aufheitern konnte, gab es auch nicht. In den Arm genommen haben sich die Leute damals aber ganz sicher, denn diese Ausdrucksform menschlicher Nähe stammt bereits aus den Anfängen der Menschheitsgeschichte.

Doch was tun, wenn gerade niemand in der Nähe ist, der einen umarmen könnte? Und wenn – auf die Gegenwart bezogen – der Supermarkt bereits geschlossen hat und alle Memes der Welt nicht mehr helfen? In so einem Fall braucht es definitiv „Silent Stories“, das Debütalbum von Sofi Paez. Denn schon ab dem allerersten Track gelingt es der 28-jährigen Pianistin und Komponistin, ihre Hörer*innen in eine so dicke und flauschige Decke einzuwickeln, dass sie glauben könnten, sie wären Teil einer Lenor-Werbung aus den Neunzigern.

Dieser Vergleich ist natürlich rein sensorisch gemeint. Der musikalischen Qualität von „Silent Stories“ kann das Werbespotgedudel nicht im Entferntesten das Wasser reichen. Wie auch? Die insgesamt elf Stücke sind so komplex und feinfühlig arrangiert, dass sie einen nicht nur tief in Sofis Seele blicken lassen, sondern auch in die eigene. Vorausgesetzt, man ist bereit dazu.

Geboren und aufgewachsen ist Sofi Paez in Costa Rica, heute lebt sie in Berlin. Nachdem sie im Jahr 2023 ihre vielfach beachtete EP „Circles“ veröffentlicht hatte, wurde sie als allererste Künstlerin von OPIA unter Vertrag genommen, dem Label des renommierten Contemporary-Classic-Künstlers Ólafur Arnalds. Viele der Stücke, die Sofi im Laufe ihrer noch jungen Karriere geschrieben hat, sind von ihrem Alltag, aber auch der Natur inspiriert. So war es nur naheliegend, dass sie für das Cover ihres Debütalbums ein Foto wählte, das sie inmitten der üppigen Natur Costa Ricas zeigt.

Für unser Interview und Shooting haben wir die junge Frau im Frühsommer im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg getroffen – und dafür wirklich alles an Natur aufgeboten, was wir vorfinden konnten.

»Manchmal geht es mir nur darum, eine bestimmte Atmosphäre einzufangen – selbst, wenn sie vielleicht gar nicht real ist.«

MYP Magazine:
Sofi, wenn man sich durch Dein Debütalbum hört, hat man stellenweise das Gefühl, sich draußen in der Natur zu befinden. Ist es Teil Deines musikalischen Konzepts, die Grenzen zwischen Realität und Fiktion zu verwischen?

Sofi Paez:
Meine Musik dreht sich in erster Linie um das, was ich erlebe. Das muss aber nicht immer ein konkretes Ereignis sein. Manchmal geht es mir nur darum, eine bestimmte Atmosphäre einzufangen – selbst, wenn sie vielleicht gar nicht real ist, sondern eher so etwas wie ein fiktionales Gefühl.
Davon abgesehen war ich schon immer von der Natur fasziniert, die vor allem in Costa Rica absolut atemberaubend ist. Seit ich denken kann, habe ich den Drang, diese Faszination in meiner Musik abzubilden. Daher freue ich mich total, wenn Menschen in meinem Songs diese Verbindung spüren.

»Ich bin ein großer Fan von Musik, die nostalgische Gefühle in mir hervorruft. Die kalten Wintermonate können dafür der ideale Nährboden sein.«

MYP Magazine:
Gibt es etwas, das Du an Orten wie Berlin vermisst, wo die Natur nicht in der Hülle und Fülle existiert wie in Deiner Heimat?

Sofi Paez:
Am meisten vermisse ich die Insekten – und die feuchte Hitze. Der Sommer wird zwar auch hier immer heißer, ist aber mit dem in Costa Rica nicht vergleichbar.

MYP Magazine:
Ändert sich die Musik, die Du schreibst, mit den klimatischen Bedingungen, in denen Du dich bewegst?

Sofi Paez:
Definitiv. Im Winter bin ich viel kreativer als im Sommer. Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich ein großer Fan von Musik bin, die nostalgische Gefühle in mir hervorruft. Die kalten Wintermonate, in denen man sich eher in sein Nest zurückzieht, können dafür der ideale Nährboden sein.

»In der Natur wie auch in der Musik befindet man sich oft auf einer Entdeckungstour. Man überlegt mit jedem Schritt, in welche Richtung man sich als nächstes bewegen will.«

MYP Magazine:
Ist das Erforschen neuer Klangwelten für Dich vergleichbar mit dem Erkunden unbekannter Landschaften?

Sofi Paez:
Darüber habe ich mir nie Gedanken gemacht. Aber es stimmt schon: In der Natur wie auch in der Musik ist man eigentlich immer auf Entdeckungsreise. Man überlegt mit jedem Schritt, in welche Richtung man sich als nächstes bewegen will. Wenn ich einen Song schreibe, beginne ich normalerweise mit dem Klavier und erforsche die Melodie, die dabei entsteht. Und wenn sich die musikalische Basis gut genug anfühlt, entwickle ich das Stück weiter – vielleicht mit Gesang, vielleicht mit Synthesizern, vielleicht aber auch nur mit zusätzlichen instrumentalen Ebenen.

»Die Klimakatastrophe ist ein Thema, das mich sehr beschäftigt – nicht nur als Musikerin, sondern vor allem als Mensch.«

MYP Magazine:
Costa Rica zählt zu den Ländern, die besonders von den Folgen der Klimakatastrophe betroffen sind. Erst in diesem Sommer litt Costa Rica unter einer der schlimmsten Dürren seit Jahrzehnten. Kann man das Coverfoto Deines neuen Albums auch als eine vorzeitige Erinnerung verstehen – an eine Welt, die so in Zukunft nicht mehr existieren könnte?

Sofi Paez:
Ich hoffe natürlich, dass Fotos wie dieses in Zukunft nicht zu Erinnerungen werden, sondern weiterhin den Ist-Zustand der Natur beschreiben. Aber ich weiß, dass die Chancen dafür eher schlecht stehen. Zwar spürt man im Landesinneren von Costa Rica – dort, wo ich aufgewachsen bin – die Auswirkungen der Klimakatastrophe noch nicht so stark. Aber gerade an den Küstenregionen wird die Situation immer dramatischer. Das ist ein Thema, das mich sehr beschäftigt – nicht nur als Musikerin, sondern vor allem als Mensch.

»Ich wunderte mich immer, wenn andere Kinder keinen Papa hatten, der zu Hause Gitarre spielte.«

MYP Magazine:
Wann und wie ist die Musik in Dein Leben gekommen?

Sofi Paez:
Musik war in meinem Leben schon immer da. Mein Vater, der sich als junger Mann selbst Gitarre beigebracht hatte, spielte ständig bei uns zu Hause, und das gefühlt in jedem Raum. Für mich war das so normal, dass ich mich immer wunderte, wenn andere Kinder keinen Papa hatten, der zu Hause Gitarre spielte. Außerdem besaß mein Großvater eine riesige CD-Kollektion von Beethoven. Als er davon mal was auflegte, war ich sofort verliebt in diese Musik. Das war ein absolut verrücktes, umwerfendes Gefühl.

MYP Magazine:
Hattest Du in diesem Moment beschlossen, Musikerin zu werden?

Sofi Paez:
Nein, das passierte erst etwas später. Als ich 15 war, schauten sich meine Eltern mit mir eine Musikschule an, die den Ruf hatte, den besten Klavierunterricht in Costa Rica anzubieten. Ich weiß noch genau, wie wir das Gebäude betraten und aus allen Ecken das Spiel der Klavierschüler*innen zu hören war. Das hat mich völlig überrollt. Ich fragte mich nur: Zu so etwas Wundervollen sind Menschen in der Lage? In diesem Augenblick wusste ich: Das will ich auch können. Also habe ich mich zum Vorspielen angemeldet.

»Komm nach Hause, Kind! Was willst Du auch in diesem langen deutschen Winter?«

MYP Magazine:
Das ist jetzt 13 Jahre her. Seitdem hat sich Deine Musik zu etwas entwickelt, mit dem Du in der Lage bist, Deine Zuhörer*innen in ihrem tiefsten Inneren zu berühren. Dabei lässt sich gar nicht so genau sagen, welche konkreten Gefühle Du mit Deinen komplexen Stücken triggerst…

Sofi Paez:
… für mich selbst ist es ebenfalls schwer, die Emotionen zu beschreiben, die ich über meine Musik transportieren will. Das liegt wahrscheinlich daran, dass in meiner Familie nicht besonders oft über Gefühle gesprochen wurde.

MYP Magazine:
Du bist also in einer eher wortkargen Familie aufgewachsen?

Sofi Paez:
Ja, das kann man so sagen. Aus diesem Grund liegen mir auch meine rein instrumentalen Stücke so am Herzen. Damit kann ich ausdrücken, wie es mir geht, ohne meine Familie mit konkreten Textzeilen beunruhigen zu müssen. Wenn ich etwa darüber singen würde, dass ich traurig und einsam bin, würde sofort jemand aus Costa Rica anrufen und sagen: „Komm nach Hause, Kind! Was willst Du auch in diesem langen deutschen Winter?“ Die Musik ist für mich also nicht nur ein Werkzeug, um meine Emotionen zu regulieren, sondern auch ein Mittel der Emanzipation.

»Manchmal habe ich das Gefühl, ich habe nichts zu sagen – dann bleibt das Stück instrumental.«

MYP Magazine:
Wie Du bereits angedeutet hast, sind Deine Stücke teils rein instrumental, teils sind sie mit Gesangselementen versehen. Auf Basis welcher Faktoren entscheidest Du, wann Du nur das Klavier sprechen lässt und wann Du deine Stimme addierst?

Sofi Paez:
Das hängt von der Struktur des Songs ab. Manchmal habe ich das Gefühl, ich habe nichts zu sagen – dann bleibt das Stück instrumental und ich versuche lediglich, eine bestimmte musikalische Atmosphäre zu schaffen. Dann gibt es wiederum Situationen, in denen die Gedanken nur so aus mir heraussprudeln und ich den Drang habe, sie so schnell wie möglich in einem Songtext festzuhalten. In diesen Momenten fange ich oft an zu weinen – viel eher als bei den instrumentalen Tracks. Interessant ist auch, dass ich manchmal die Themen, die ich in einem Song behandle, noch gar nicht selbst verarbeitet habe. In solchen Fällen ist es sehr schwer für mich, das Ganze live vor Publikum zu spielen, weil ich die dabei alles erneut durchlebe.

»Ich habe versucht, mich an einen Ort zu denken, der von meiner Heimat maximal weit entfernt ist. So wurde dieses Lied geboren.«

MYP Magazine:
In einigen Deiner Songs addierst Du auch immer wieder mal elektronische Elemente zu den klassischen Instrumentalparts…

Sofi Paez:
… und auch hier gibt mir alleine der Song das Gefühl, ob und in welchem Umfang ich mit diesen Elementen experimentieren kann. Manche klassischen Stücke sind so, wie sie sind, bereits perfekt. Da brauche ich einfach keine Elektronik. Ganz anders zum Beispiel bei „Amsterdam“: Da habe ich einfach mal angefangen, ein bisschen mit Ableton herumzuspielen. Und am Ende dachte ich: Wow, was habe ich denn da geschaffen?

MYP Magazine:
Warum hast Du gerade der Stadt Amsterdam einen Song gewidmet?

Sofi Paez:
Ich war noch nie in Amsterdam und hatte dementsprechend auch keine Vorstellung von dieser Stadt. Als der Track entstanden ist, habe ich noch in Costa Rica gelebt, und ich wollte mich an einen Ort denken, der von meiner Heimat maximal weit entfernt ist. Mein Ziel war, mit dem Song das Gefühl zu beschreiben, das man empfindet, wenn man sich zum ersten Mal an einen völlig unbekannten Ort begibt.

»Ich wollte eine Antwort finden auf die Frage, wie man mit dem Wissen um die eigene Vergänglichkeit umgehen kann, ohne daran zu verzweifeln.«

MYP Magazine:
Ein anderer Song trägt den Titel „What Remains“. Ist es nicht belastend, sich so früh im Leben schon mit der Frage auseinanderzusetzen, was am Ende bleibt?

Sofi Paez:
Ich war schon immer ein sehr philosophischer Mensch – und ich befürchte, dass ich ein bisschen zu viel über meine eigene Sterblichkeit nachdenke. Ich habe leider schon als Kind die Erfahrung machen müssen, dass das Leben jederzeit abrupt enden kann. Wenn man klein ist, denkt man über so etwas wie den Tod in der Regel nicht nach. Man glaubt, dass Menschen erst sterben, wenn sie sehr, sehr alt sind. Leider habe ich in meinem Leben immer wieder das Gegenteil erlebt. Allein in den letzten vier Jahren habe ich viele geliebte Menschen verloren, die eigentlich noch viele Jahrzehnte vor sich gehabt hätten. Ich glaube, diese Erlebnisse sind letztendlich dafür verantwortlich, dass ich mich auf meinem Album so intensiv mit Themen wie Abschied, Tod und Trauer auseinandersetze. Ich wollte eine Antwort finden auf die Frage, wie man mit dem Wissen um die eigene Vergänglichkeit umgehen kann, ohne daran zu verzweifeln.

MYP Magazine:
Hast Du persönlich das Bedürfnis, der Welt etwas zu hinterlassen?

Sofi Paez:
Ich weiß nicht, ob es ein Bedürfnis ist. Aber es ist schön zu wissen, dass von meiner Musik etwas bleibt. Vielleicht findet in hundert Jahren irgendwer zufällig eine meiner Platten, nimmt sie mit nach Hause, legt sie auf und lernt dadurch meine Gefühlswelt kennen. Das ist doch eine schöne Vorstellung, oder nicht?

»Ein guter Weinkrampf kann reinigend sein.«

MYP Magazine:
Die Intimität und Ernsthaftigkeit, die Du auf Deinem Album erzeugst, erinnert ein wenig an ein Kammerspiel, in dem zwei Menschen die fundamentalsten Fragen miteinander verhandeln. Hattest Du beim Komponieren ähnliche Assoziationen?

Sofi Paez:
Ja, definitiv. In „Por qué“ zum Beispiel verarbeite ich den Tod meiner besten Freundin, die vor einigen Jahren plötzlich von uns gegangen ist. Die Auseinandersetzung damit war – und ist immer noch – sehr schwer für mich. Trauer bleibt immer bei einem und verändert einen, das Bild mit den beiden Personen, die etwas miteinander verhandeln, ist da absolut passend. Nur, dass ich in dem Fall ganz alleine war und anfangs auch keine Worte hatte für diese Tragödie. Gott sei Dank hatte ich aber das Klavier, das mir geholfen hat, meine Gefühle zu erkunden. Irgendwann gab es da einen Pianopart, den ich sehr mochte, und mit einigen Tagen Pause war ich auch in der Lage, meine Gefühle in Worte zu fassen und sie an die richtigen Stellen zu setzen.
Als der Song fertig war, hatte ich plötzlich das Gefühl, meine Freundin auch überall in der Natur zu erkennen: in den Bergen, in der Sonne, in den Wäldern. Sie liebte die Natur über alles, wir waren oft zusammen wandern, und wenn ich heute draußen unterwegs bin, ist sie immer irgendwie an meiner Seite. Ich habe sogar das Gefühl, dass sie gerade jetzt und hier mit uns am Tisch sitzt.

MYP Magazine:
Von Philosoph Friedrich Nietzsche stammt der Satz: „Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“ Hast Du so eine Erfahrung mal gemacht, etwa beim Komponieren?

Sofi Paez:
Nicht nur einmal. In solchen Momenten öffne ich die Tränenschleusen und lasse alles heraus, was sich dahinter angestaut hat. Aber das ist auch schön. Ein guter Weinkrampf kann reinigend sein.

»Ich will die Leute ermutigen, sich mit den weniger schönen Teilen ihrer Persönlichkeit auseinanderzusetzen – auch wenn ich aus eigener Erfahrung weiß, wie schwer das ist.«

MYP Magazine:
Lass uns über ein leichteres Thema sprechen: Dämonen. Dein Stück „Demons“ klingt überhaupt nicht so, als wären da irgendwelche dunklen Kreaturen am Werk. Ganz im Gegenteil: Der Song wirkt eher Assoziationen an gute Feen und verwunschene Wälder. Haben Dämonen einen zu schlechten Ruf?

Sofi Paez: (lächelt)
Vielleicht. Ich wollte hier aber bewusst einen Widerspruch herstellen zwischen der unbeschwerten, träumerischen Musik einerseits und dem ernsten Inhalt andererseits, in dem ich den Kampf mit meinen inneren Dämonen beschreibe. Damit will ich den Menschen, die den Song hören, ein bisschen Zuversicht geben und ihnen die Furcht vor den eigenen Dämonen nehmen. Ich will sie ermutigen, sich mit den weniger schönen Teilen ihrer Persönlichkeit auseinanderzusetzen – auch wenn ich aus eigener Erfahrung weiß, wie schwer das ist.