Interview — Sina Martens
»In Resignation zu versinken ist nicht die Art, wie ich leben möchte«
Im Berliner Ensemble steht Schauspielerin Sina Martens seit zwei Jahren als Britney Spears auf der Bühne, für Amazon Prime hat sie nun die Rolle einer Rucksacktouristin übernommen, die entführt und in einen Kofferraum gesperrt wurde: zwei ungleiche Formate, zwischen denen es mehr Parallelen gibt, als man im ersten Moment vermuten würde. Ein Gespräch über männliche Gewalt, weiblichen Überlebenswillen und das Prinzip Hoffnung in Momenten, die absolut aussichtslos erscheinen.
24. Januar 2024 — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotografie: Steven Lüdtke
„Der permanente Wunsch von Künstler*innen, bekannt zu sein, sowie der ebenso permanente Wunsch ihrer Fans, wirklich alles über sie zu wissen, ist ein geradezu vulgäres Zeichen unserer Zeit“, schrieb der Kulturjournalist Douglas Greenwood vor Kurzem in einem Artikel für das „i-D Magazine“. Und in der Tat: Spätestens seit Social Media scheint nichts mehr zu privat oder zu intim, um es mit der ganzen Welt zu teilen – oder zumindest mit der eigenen Followerschaft. Wer nicht liefert, muss mit Liebesentzug rechnen.
Doch nicht alle, die im Showgeschäft tätig sind, hegen diesen Wunsch. Vor allem nicht, wenn sie am eigenen Leib erlebt haben, wie es ist, nicht mehr als menschliches Wesen wahrgenommen zu werden, sondern nur noch als Ereignis. Wie zum Beispiel Britney Spears.
Bereits im Kindesalter wurde die heute 42-Jährige von ihrer Mutter zu diversen Castings und Talentshows geschleppt, ihre Jugend opferte sie einer TV-Sendung namens „Mickey Mouse Club“, vor den Augen eines Millionenpublikums. Doch das eigentliche Unglück ereignete sich erst Ende der Neunziger – als ihr Debütalbum „… Baby One More Time“ auf Platz 1 der US-Billboard-Charts schoss und sie ein Star wurde. Von nun an war Britney Spears als Privatperson passé und ihr Leben vollzog sich unter der ständigen Beobachtung – und Beurteilung – der Weltöffentlichkeit.
Vor allem das Jahr 2007 brannte sich dabei ins kollektive Gedächtnis. Nach dem Scheitern zweier Ehen rasierte sich die Künstlerin, von der viele gehofft hatten, dass sie auf immer und ewig das laszive Schulmädchen mit den blonden Zöpfe bliebe, die schönen Haare ab. Außerdem begab sie sich in eine Reha-Klinik für Suchtkranke. Und ihrem Exmann wurde das alleinige Sorgerecht für die gemeinsamen Kinder zugesprochen.
Spätestens nach diesem Jahr verfiel die Boulevard-Presse in Goldrausch. Angetrieben von einer schier unersättlichen Informationsgier der Weltöffentlichkeit, drehte sich das mediale Rad immer weiter – und wurde belohnt: Anfang 2008 wurde Britney Spears durch ein Gericht entmündigt und ihr Vater zum Vormund bestellt. Erst 13 Jahre später, nach einem fast biblischen Martyrium, wurde die Vormundschaft aufgehoben und Britney war wieder ein freier Mensch.
Doch wer ist dieser Mensch überhaupt?
Dieser Frage geht seit Januar 2022 das Theaterstück „It’s Britney, Bitch!“ am Berliner Ensemble nach. Entwickelt von Autorin Lena Brasch und Schauspielerin Sina Martens, wird dem Publikum hier eine Perspektive eröffnet, die so gar nichts mit dem Bild zu tun hat, das in der Presse – und damit in der Geschichte der Popkultur – über drei Jahrzehnte aufgebaut wurde. Es ist die Perspektive einer Frau, die nicht nur an ihrer Seele, sondern auch in ihrer Würde verletzt wurde. Und die nicht aufgegeben hat, sich zu behaupten – gegenüber der öffentlichen Meinung, den Gerichten und nicht zuletzt auch ihrer Familie.
Dargeboten wird das Solostück von Sina Martens, die auf der Bühne 75 Minuten lang nichts anderes tut, als diesem menschlichen Wesen namens Britney Spears ein kleines bisschen Würde zurückzugeben. Was für eine Leistung!
Die 35-Jährige, die in Leipzig Schauspiel studiert hat und seit der Spielzeit 2017/2018 Teil des Berliner Ensembles ist, liefert aber nicht nur auf der Theaterbühne ab. Seit vielen Jahren brilliert sie auch immer wieder vor der Kamera. Ab dem 26. Januar zum Beispiel ist sie in der Amazon-Produktion „Trunk – Locked In“ zu sehen, in der sie – ähnlich wie in „It’s Britney, Bitch!“ – fast 90 Minuten lang eine Solorolle übernimmt. In dem packenden Thriller verkörpert sie eine junge Rucksack-Touristin namens Malina, die entführt und in einem Kofferraum gesperrt wurde und nun versuchen muss, sich irgendwie aus dieser Misere zu befreien.
Wir treffen Sina Martens am Morgen nach einem Auftritt in der Kantine des Berliner Ensembles. Als wir das Gespräch beginnen, läuft im Hintergrund der Song „Rosa Luft“ von Das Paradies:
Du träumst nicht das, was wird
Du träumst nicht das, was war
Du träumst für uns
Von der Gegenwart
Besser hätte man die gestrige Vorstellung von „It’s Britney, Bitch!“ nicht zusammenfassen können.
»Das Thema Emanzipation ist keines, das ausschließlich der jungen Generation vorbehalten wäre.«
MYP Magazine:
Seit der Premiere Anfang 2022 hast Du auf der Bühne etliche Male den Popstar Britney Spears verkörpert. Welches Zwischenfazit ziehst Du nach knapp zwei Jahren „It’s Britney, Bitch“?
Sina Martens:
Schon als wir im Herbst 2021 mit den Proben begonnen haben, hatte ich die leise Hoffnung, dass es uns gelingen würde, mit unserer Geschichte den einen oder anderen Menschen zu berühren. Dabei meinte ich vor allem junge Frauen, immerhin geht es in dem Stück einerseits um eine schwierige Vater-Tochter-Beziehung und andererseits um den Umgang mit Frauen in der Öffentlichkeit. Aber bereits nach den ersten Vorstellungen wurde sichtbar, dass wir mit „It’s Britney, Bitch!“ ein Publikum über alle Geschlechter hinweg erreichen. Vor allem in der Eltern-Kind-Thematik finden sich auch viele Männer wieder. Und manche von ihnen hinterfragen sogar ihre eigene Position als Mann in der Gesellschaft, nachdem sie das Stück gesehen haben…
MYP Magazine:
… weil das Thema Emanzipation kein exklusiv weibliches ist?
Sina Martens:
Nicht nur das! Es ist auch keines, das ausschließlich der jungen Generation vorbehalten wäre. Klar, ich freue mich, dass vor allem junge und diverse Menschen in unser Stück kommen, immerhin ist das Publikum hier sonst eher ein älteres – und vor allem ein sehr weißes. Dennoch berührt es mich genauso sehr, wenn wir mit einem Theaterstück über Britney Spears auch die ältere Generation erreichen können. Erst gestern Abend hat mich nach der Vorstellung eine Dame um die 70 angesprochen, um mir zu sagen, wie wichtig sie es findet, dass wir auf der Bühne diese Themen behandeln.
»Es ist nach wie vor wichtig, diese besondere Geschichte zu erzählen.«
MYP Magazine:
Gibt es in Deinem Alltag – außerhalb des Theaters – Momente, in denen Du an den Mensch Britney Spears denken musst?
Sina Martens:
Die gibt es immer wieder. Zwar ist meine eigene Geschichte eine völlig andere als ihre, dennoch findet auch in mir eine ganz persönliche Auseinandersetzung mit diesen Themen statt. Da geht es mir nicht anders als den Menschen im Publikum. Ich denke da vor allem an das Ende des Stücks, wenn ich frage: „Wie soll man jemals lieben, wenn man so geliebt wurde?“ Hinter dieser Frage steht für mich eine grundsätzliche und universelle Auseinandersetzung mit dem eigenen Seelenleben, da ist Britney mir sehr nah.
Davon abgesehen muss ich an sie denken, wenn ich sehe, lese und erlebe, wie immer noch mit Frauen in der Öffentlichkeit umgegangen wird. Unser Stück bezieht sich zwar auf die Ereignisse von 2007 – und ein bisschen was hat sich seitdem auch verändert. Aber vieles auch nicht. Aus diesem Grund ist es nach wie vor wichtig, diese besondere Geschichte zu erzählen.
»Britney Spears war immer so etwas wie eine kollektive Erfahrung. Den Mensch dahinter hat so gut wie niemand gesehen.«
MYP Magazine:
In Eurem Stück geht es um die massenhaften Übergriffe auf das Leben, den Körper und die Seele eines einzelnen Menschen. Wie hast Du dir eine Figur erarbeitet, die in ihrem Leben ein so großes Maß an Unterdrückung erfahren hat? Eine Figur, die zwar entmündigt ist und handlungsunfähig scheint, aber gleichzeitig unermüdlich weiterarbeitet und riesige Konzerte spielt?
Sina Martens:
Für mich gab es hier zwei Ebenen der Erarbeitung. Auf der einen, der physischen, habe ich mich sehr intensiv mit Britneys Bühnenpräsenz und ihren Choreografien auseinandergesetzt. Sie ist nach wie vor eine fantastische Tänzerin und Sängerin, das hat mich ziemlich beeindruckt – und ich habe mit der Choreografin Brittany Young viele Stunden trainiert, um mir diesen besonderen Bewegungsstil anzueignen.
Daneben musste ich mir die Rolle aber auch emotional erarbeiten. Im Fall von Britney hieß das, sich mit der riesigen Einsamkeit einer Frau auseinanderzusetzen, von der fast alle glaubten, sie ganz genau zu kennen. Britney Spears war für die Leute immer so etwas wie eine kollektive Erfahrung. Den Mensch dahinter hat so gut wie niemand gesehen.
»Wir wollen uns mit dem Stück nicht anmaßen, diese Frau erklären zu wollen.«
MYP Magazine:
Zu Britney Spears schien um die Jahrtausendwende wirklich jede*r etwas zu sagen zu haben…
Sina Martens:
… und genau auf diesen Zug wollen wir nicht aufspringen! Wir wollen uns mit dem Stück nicht anmaßen, diese Frau erklären zu wollen. Wir können lediglich nach einzelnen Punkten in ihrer Biografie suchen, mit denen wir uns irgendwie verbinden können. Und das sind für uns die Themen Vater-Tochter-Beziehung, Frauen in der öffentlichen Wahrnehmung und emotionale Vereinsamung.
MYP Magazine:
In den ersten Minuten des Stücks hältst Du eine Kaffeetasse mit folgender Aufschrift in die Luft: „Britney survived 2007. You can handle today.“ („Britney hat 2007 überlebt, also schaffst du diesen Tag.“) Und tatsächlich: Diesen massenhaften seelischen Missbrauch zu überleben, ist eine Leistung.
Sina Martens:
Das sehe ich ganz genauso. Für mich ist es auch interessant zu beobachten, dass einige Popstars, die nach Britney Spears groß geworden sind, ihrem privaten Ich erst mal eine Kunstfigur vorangestellt haben. Lady Gaga zum Beispiel. Wer weiß, vielleicht kann so eine Kunstfigur einen besseren Schutz vor dem bieten, was Britney erleiden musste. Die war leider immer „nur“ die echte Britney Spears und keine Kunstfigur, dadurch konnte die ganze Welt ungefiltert an ihrem Privatleben partizipieren. Schon als Kind arbeitete sie hart im „Mickey Mouse Club“ – und bereits da gab es keinen Schutzraum für sie.
»Was, wenn 2007 ein Akt der Emanzipation war?«
MYP Magazine:
Weißt Du, wie es ihr heute geht?
Sina Martens:
In unserem Ankündigungstext zur Premiere haben wir vor zwei Jahren gefragt: „Was, wenn 2007 ein Akt der Emanzipation war?“ Denn uns war aufgefallen, dass es bei der Berichterstattung aus jener Zeit kein einziges Medium gab, das Britneys Handeln als einen emanzipatorischen, selbstermächtigen Akt gedeutet hatte. Überall ging es nur um den körperlichen und physischen Untergang eines Weltstars. Doch wenn man bei den Bildern von damals genau hinschaut, zum Beispiel in der Doku „Framing Britney Spears“, sieht Britney weder fertig noch völlig durch aus. Ganz im Gegenteil: Sie wirkt rebellisch und stark – übrigens auch durch die kurzen Haare, wofür die Presse sie damals für verrückt erklärt hatte.
In ihren Memoiren, die erst vor wenigen Monaten erschienen sind, beschreibt Britney Spears, dass sie sich zu jener Zeit von alten Rollenbildern befreien wollte. Ich weiß zwar nicht, wie es ihr heute geht, aber für mich ist dieses Buch zum allerersten Mal so etwas wie ihre eigene Stimme. Und das macht Mut.
»Eines der wichtigsten Leitmotive im Leben ist die Frage: Wie wird man zu Ende geliebt?«
MYP Magazine:
An einer Stelle des Stücks zitierst Du Goethe: „Und wenn ich dich liebe, was geht es dich an?“ Welche Bedeutung hat diese Frage im Britney-Spears-Kontext?
Sina Martens:
Ich mag dieses Zitat wahnsinnig gerne. Eines der wichtigsten Leitmotive im Leben ist doch die Frage: Wie wird man zu Ende geliebt? Dabei geht es um die große Hoffnung, dass die Person, der wir unsere Liebe gestehen, mit einem „Ich liebe dich auch“ antwortet. Tut sie das nicht, sind wir tief verletzt. Aus diesem Grund machen wir unsere Liebe oft gar nicht erst sichtbar, weil die Angst vor einer Abweisung viel zu groß und mit einer enormen Scham verbunden ist.
Goethe löst diese Abhängigkeit auf und gibt uns unsere Autonomie zurück. Er sagt nichts anderes als: Es kann sein, dass ich dich liebe. Aber das ist meine Sache und geht dich nichts an. Ob ich dir davon erzähle oder nicht, ist ganz allein meine Entscheidung.
In Bezug auf unser Stück verstehe ich das Zitat in einem erweiterten Kontext. Aus Sicht von Britney Spears meint es: Ich habe mich wund geliebt an der Welt. Ich habe ihr immer gesagt, dass ich sie liebhabe, und nie kam echte, aufrichtige Liebe zurück. Mit jedem Mal tat das ein bisschen mehr weh. Und irgendwann habe ich entschieden, meine Liebe für mich zu behalten. Sie geht die Welt da draußen nichts mehr an.
»Statt mit Würde abzutreten, fällt Thomas Gottschalk nichts anderes ein, als weiter eine Debatte um Cancel Culture anzuheizen und sich dabei ganz seltsam zum Opfer zu stilisieren.«
MYP Magazine:
In Euer Theaterstück habt ihr auch einige Audio-Ausschnitte von Interviews eingebunden, in denen Britney Spears die übergriffigsten Fragen gestellt werden – etwa zu Brustimplantaten oder ihrer Jungfräulichkeit. Dabei gibt es auch einen Ausschnitt aus einer „Wetten, dass..?“-Sendung von 2002, in dem es um Britneys Beziehungsstatus geht. 21 Jahre später scheint hier die Welt immer noch die Gleiche zu sein: Ende November begleitete Moderator Thomas Gottschalk in seiner letzten Sendung die Sängerin Cher mit den Worten von der Bühne: „I can still take you by the hand, because nowadays you‘re really afraid to touch a girl.“ („Ich kann dich immer noch an die Hand nehmen – heutzutage muss man ja richtig Angst haben, ein Mädchen zu berühren.“) Was machen solche Momente mit Dir?
Sina Martens:
Das macht mich erst mal fassungslos. (schweigt für einen Moment) In unserem Stück gibt es eine Stelle, an der ich über Journalismus spreche. Ich sage: „Journalismus ist niemals langweilig, dafür aber wahnsinnig anstrengend, unterliegt strengen Regeln und man gewinnt nie einen Beliebtheitswettbewerb.“ In der Sonntagsvorstellung nach der „Wetten, dass..?“-Sendung habe ich an dieser Stelle einen kleinen Gruß an Thomas Gottschalk eingebaut. Ich finde es unglaublich, wie sich dieser Mann verhält. Der Spruch gegenüber Cher war ja nicht der einzige. Zu der Rapperin Shirin David sagte er, sie sehe ja gar nicht aus wie eine Feministin oder Opernliebhaberin. Das ist doch irre! Ich hatte in dem Moment das Gefühl, ein fiktionales Format zu sehen, aber das war im besten Sinne Realsatire…
MYP Magazine:
… in gewisser Weise strombergig.
Sina Martens:
Ja, tatsächlich. Das Ende der Sendung hat mich aber noch fassungsloser gemacht. Thomas Gottschalk kann ja denken und reden, was er will. Was aber nicht geht: wenn sich so jemand an Millionen von Menschen richtet und es dabei nicht schafft, einen versöhnlichen Ton zu treffen. Denn statt mit Würde abzutreten, fällt ihm nichts anderes ein, als weiter eine Debatte um Cancel Culture anzuheizen und sich dabei ganz seltsam zum Opfer zu stilisieren.
Warum hat er diese besondere Gelegenheit nicht anders genutzt? Er hätte doch genauso gut Größe zeigen können, indem er sagt: Lasst uns mal wieder miteinander ins Gespräch kommen. Wir müssen ja nicht alle das Gleiche denken, aber wir können doch wieder anfangen, sachlich miteinander zu debattieren und uns auszutauschen. Dass er da aber so dagegen geht und die gesellschaftliche Spaltung noch mehr befördert, will mir einfach nicht in den Kopf. Und auch nicht, dass jemand, der seit Jahrzehnten eine Sendung zur besten Primetime mit Millionenpublikum moderiert, sich gleichzeitig über ein vermeintliches Rede- oder Meinungsverbot auslässt. Einfach unfassbar.
»Vielleicht reagieren viele Männer auch deshalb wie bissige Hunde, weil sie nicht bereit sind, eine gewisse Vorherrschaft aufzugeben und sich dem Offensichtlichen zu stellen.«
MYP Magazine:
Dass sich ältere Männer reflexartig in eine Opferrolle begeben, sobald ihnen Kritik entgegenschlägt, ist immer wieder zu beobachten – zuletzt etwa bei Hubert Aiwanger im Zuge der sogenannten Flugblattaffäre. Wie erklärst Du dir dieses Verhalten?
Sina Martens:
Ich kenne diese Menschen nicht persönlich, daher empfände ich es als anmaßend, für deren Verhalten eine Erklärung zu präsentieren. Ich kann nur sagen, wie es auf mich wirkt. Und bei Leuten wie Gottschalk und Aiwanger kommt mir das wie eine tiefe Kränkung vor. Im Fall von Gottschalk macht es zudem den Eindruck, dass er unfähig ist zu akzeptieren, dass eine jüngere Generation nachkommt, die die Dinge etwas anders sieht. Und dass Frauen keine Lust mehr haben, in diesen patriarchalen Strukturen zu leben und sich permanent mit überholten Rollenbildern zuschütten zu lassen.
Vielleicht reagieren viele Männer auch deshalb wie bissige Hunde, weil sie nicht bereit sind, eine gewisse Vorherrschaft aufzugeben und sich dem Offensichtlichen zu stellen. Denn wenn ich mich vor allem als weißer Cis-Mann ernsthaft mit dem Patriarchat auseinandersetzen will, werde ich sehr schnell begreifen, dass ich selbst ein Teil des Problems bin – und dass ich in den letzten Jahren, Jahrzehnten und Jahrhunderten allein deshalb die heftigsten Vorteile genossen habe, weil ich als Mann zur Welt gekommen bin. Wenn ich mich wirklich aufrichtig mit dem Thema beschäftige und zu dem Schluss komme, dass das alles ungerecht ist, werde ich feststellen, dass ich selbst deutliche Abstriche machen muss in meinem Leben. Denn nur dadurch kann ich das Leben für viele andere etwas besser und gerechter machen.
»Der Tonmann sagte mir, dass er es hören könne, wenn ich eine halbe Minute vor Dreh einer Szene sei – weil sich mein Herzschlag in dem Moment so heftig beschleunigt hat.«
MYP Magazine:
Ab dem 26. Januar bist Du im Film „Trunk – Locked In“ zu sehen. Dabei gibt es eine interessante Parallele zu Eurem Theaterstück: In beiden Fällen verkörperst Du in einer Solo-Rollo eine Frau, die Gewalt erfahren hat, dieser Gewalt über eine längere Zeit ausgesetzt ist und nun mit aller Kraft versucht, sich aus ihrem Gefängnis und einer scheinbar ausweglosen Situation zu befreien. Hattest Du ein Déjà-vue, als die Anfrage kam?
Sina Martens:
Ja, aber eher insofern, dass ich solche klaren Setzungen spannend finde. Und die Idee, einen Film nur in einem Kofferraum zu spielen, fand ich einfach unglaublich herausfordernd.
MYP Magazine:
Solche Filme mit starken Solo-Rollen gibt es verhältnismäßig selten. Man denkt zwar sofort and an „Cast Away“ mit Tom Hanks, „Der Marsianer“ mit Matt Damon, „Die Wand“ Martina Gedeck…
Sina Martens:
… oder „Buried“ mit Ryan Reynolds.
MYP Magazine:
Genau! Hier haben die Darsteller*innen aber immer sehr viel Raum zur Verfügung. In „Trunk“ spielst Du fast 90 Minuten lang im Liegen, und das in einem Kofferraum von knapp zwei Quadratmetern Fläche. Wie hast Du dich auf diese Rolle vorbereitet?
Sina Martens:
Ähnlich wie für „It’s Britney, Bitch!“: Einerseits musste ich körperlich fit sein, da ich in der Rolle sehr viel Kraft aufwenden musste. Andererseits habe ich auf viel mentales Training gesetzt, vor allem auf Meditation. Bei meiner Figur Malina ging es immer wieder darum, aus stressigen Situationen schnell in die Ruhe zu kommen und mich genauso schnell aus dieser Ruhe wieder hochzupushen. Das ist mir irgendwann so gut gelungen, dass mir der Tonmann sagte, dass er es hören könne, wenn ich eine halbe Minute vor Dreh einer Szene sei – weil sich mein Herzschlag in dem Moment so heftig beschleunigt hat.
»Uns war es wichtig, dass Malinas Stimmung am Ende kein Brei aus Todesangst wird.«
MYP Magazine:
Da der Film fast ausschließlich in einem Kofferraum spielt, muss er sich gehörig ins Zeug legen, um das Publikum 90 Minuten bei der Stange zu halten – ein besonderer Anspruch an Cast, Regie und Kamera. Wie habt Ihr euch dieser gemeinsamen Aufgabe genähert?
Sina Martens:
Regisseur Marc Schießer und mir war es wichtig, dass Malinas Stimmung am Ende kein Brei aus Todesangst wird, sondern die einzelnen emotionalen Stufen sichtbar werden, die sie durchlebt. Aus diesem Grund hatten wir vor den Dreharbeiten eine Art Psychogramm von ihr entwickelt und uns gefragt: In welchen Momenten ist sie hoffnungsvoll? Wo ist sie lethargisch? Wo wird sie wütend? Wo ist sie verzweifelt? Die Antworten darauf haben wir uns dann gemeinsam im Drehbuch erarbeitet und die entsprechenden Szenen an den jeweiligen Drehtagen auch ausführlich geprobt.
»Diese Sequenz war am Ende ein großes Ballett des ganzen Teams.«
MYP Magazine:
Und wie blickst Du auf die Zusammenarbeit mit Tobias Lohf und Daniel Ernst, die für die Kamera verantwortlich waren?
Sina Martens:
Die war genauso intensiv! Es gibt im Film zum Beispiel eine Sequenz, in der ich zehn Minuten am Stück im Kofferraum zu sehen bin und die Kamera immer wieder um mich herumfährt. Bei der Produktion standen uns drei oder vier verschiedene Kofferräume zur Verfügung, in dem wir die einzelnen Szenen gedreht haben. Einer war so präpariert, dass man jede Seite einzeln herausnehmen konnte, damit die Kamera von dort aus filmen konnte. Hat sich die Kamera aber bewegt, musste das Team nacheinander die einzelnen Seitenteile herausziehen oder zurückstecken – je nachdem, von wo und in welche Richtung gerade gefilmt wurde. Ich selbst musste dabei immer darauf achten, dass ich die Kamera, die ja permanent ihre Position verändert hat, nicht aus den Augen verliere. So war diese Sequenz am Ende ein großes Ballett des ganzen Teams.
»In existenziellen Notsituationen kommt man scheinbar an einen Punkt, an dem man einfach nur noch funktioniert und über sich hinauswächst.«
MYP Magazine:
Trotz ihrer entsetzlichen Situation gelingt es Malina, halbwegs ruhig, reflektiert und klar zu bleiben. War das emotionales Neuland für Dich? Oder konntest Du auf Erfahrungen aus eigenen Notsituationen zurückgreifen?
Sina Martens:
Nein, solche Extremsituationen gab es noch nicht in meinem Leben. Daher habe ich mich umso intensiver damit auseinandergesetzt, wie man einen so unbedingten Überlebenswillen entwickeln und schauspielerisch darstellen kann. Denn das will Malina ja am meisten: leben. Ich glaube, so ein Überlebenswille setzt in Menschen ungeahnte Kräfte frei. Es gibt die unglaublichsten Geschichten von Leuten, die irgendwie riesige Unglücke und Katastrophen überlebt haben. In existenziellen Notsituationen kommt man scheinbar an einen Punkt, an dem man einfach nur noch funktioniert und über sich hinauswächst. Über diesen Gedanken habe ich versucht, Malina möglichst nahezukommen.
»Es macht einfach etwas mit dem Körper und dem Geist, wenn man neun bis zehn Stunden pro Tag in so einem engen Kasten herumliegt.«
MYP Magazine:
In „Trunk“ geht es auch darum, dass sich ein sorgloses Leben innerhalb von Sekunden ändern kann und man plötzlich um sein Leben kämpfen muss. Gehst Du seit der Arbeit an dem Film anders durch den Alltag? Bist Du misstrauischer geworden?
Sina Martens:
Eigentlich nicht. Ich kann so etwas recht gut hinter mir lassen, das gehört schließlich zu meinem Beruf – auch wenn es bei diesem Film tatsächlich etwas länger gedauert hat. Immerhin habe ich während der Dreharbeiten sehr viel Zeit in diesem Kofferraum verbracht. Es macht einfach etwas mit dem Körper und dem Geist, wenn man neun bis zehn Stunden pro Tag in so einem engen Kasten herumliegt. Daher habe ich in den Wochen danach auch einige Osteopathie-Behandlungen gebraucht, um den einen oder anderen verkürzten Muskel wieder in die Länge zu ziehen. Außerdem habe ich bei Fahrstühlen gedacht, ich nehme lieber mal die Treppe – ich hätte jetzt absolut keine Lust, darin steckenzubleiben. (lacht)
»Für mich ist Gewalt im Film vor allem dann problematisch, wenn sie entweder inflationär stattfindet oder in einem eher unbedeutenden Nebenstrang erzählt wird.«
MYP Magazine:
Laut einer Studie kommt in rund einem Drittel der Sendungen, die in Deutschland ausgestrahlt werden, geschlechtsspezifische Gewalt vor. In den meisten Fällen handelt es sich dabei um explizite und schwere Gewalt gegen Frauen und Kinder – und nur in seltenen Fällen lässt man in den jeweiligen Sendungen die von Gewalt Betroffenen selbst zu Wort kommen. Wie ordnest Du euren Film in diesem Zusammenhang ein? Hattest Du im Vorfeld Sorge, mit Deinem Mitwirken an „Trunk“ diesen Umstand noch zu befördern?
Sina Martens: (überlegt kurz)
Für mich ist Gewalt im Film vor allem dann problematisch, wenn sie entweder inflationär stattfindet oder in einem eher unbedeutenden Nebenstrang erzählt wird – zum Beispiel, wenn irgendwo eine Frau entführt oder geschlagen wird und es am Ende doch nur um die männliche Hauptfigur geht. Daher hat mich übrigens auch Maria Schrader mit ihrem Film „She Said“ total beeindruckt. Sie verzichtet in ihrer Inszenierung komplett darauf, die Übergriffe zu zeigen, außerdem rückt die Kamera den Frauen nicht auf die Pelle. Das finde ich unglaublich interessant – und ist für mich eine ganz klare Setzung.
In unserem Film ist die Setzung genauso klar: Der Fokus liegt eindeutig auf einer starken Frauenfigur, die wir dabei verfolgen, auf engstem Raum zurechtzukommen und sich aktiv aus ihrem Gefängnis freizukämpfen. Das Drehbuch hat mich interessiert, weil sich hier eine starke Frau befreit; weil eine starke Frau hier Verantwortung übernimmt; weil diese starke Frau so viel mehr ist und macht als alle anderen in dem Film, die im Gegensatz zu ihr nicht in einem Kofferraum eingesperrt sind. Für mich ist das alles andere als eine Opfergeschichte. Es ist vielmehr die emanzipatorische Geschichte einer Frauenfigur, die sich gleich auf drei Ebenen befreien muss.
MYP Magazine:
Und welche Ebenen sind das?
Sina Martens: (grinst)
Das werde ich jetzt nicht spoilern! Wer das herausfinden will, muss sich den Film anschauen.
»Ich kann total verstehen, wenn eine Frau keine Lust mehr hat, Aufklärungsarbeit zu leisten.«
MYP Magazine:
Gewalt gegen Frauen ist – egal wo auf der Welt – in 99,9 Prozent der Fälle männliche Gewalt gegen Frauen. Und das wird sich nicht ändern, wenn sich nicht auf Seite der Männer etwas fundamental ändert. Die Autorin und Aktivistin Kristina Lunz sagte vor einigen Wochen in einer Gesprächsrunde zum Internationalen Tag zur Beseitigung der Gewalt gegen Frauen, sie habe den Versuch aufgegeben, irgendwelche Männer zu überzeugen. Bist Du an einem ähnlichen Punkt angelangt? Oder gibt es eine Botschaft, die Du diesbezüglich an Männer hast?
Sina Martens:
Ich kann total verstehen, wenn eine Frau keine Lust mehr hat, Aufklärungsarbeit zu leisten. Ich selbst bin aber noch nicht an diesem Punkt. Ich habe noch nicht aufgegeben, Männern unsere Perspektive zu erklären, und gehe immer wieder gerne in Diskussionen, in denen ich sage: Stopp mal! Aber habe ich eine konkrete Botschaft, die ich Männern mitgeben möchte? (überlegt einen Moment)
Ich würde Männer ermutigen, uns Fragen zu stellen: Fragt uns, wie sich etwas anfühlt oder wie etwas ist!
»Mit der Schauspielerei habe ich tatsächlich mehr gefunden als das, wonach ich nach dem Abi gesucht hatte.«
MYP Magazine:
Du wolltest nach dem Abitur eigentlich Psychologie studieren, bist dann aber Schauspielerin geworden. Ist die Aufgabe am Ende nicht eh dieselbe? Menschen in ihrem Innersten zu verstehen und zu versuchen, ihnen mit dem eigenen Wirken zu helfen?
Sina Martens:
Mit der Schauspielerei habe ich tatsächlich mehr gefunden als das, wonach ich nach dem Abi gesucht hatte, denn in meinem Beruf gibt es ja noch diesen schönen Zusatz der Kunst. Ich habe hier nicht nur die Möglichkeit, Figuren zu verstehen – oder besser gesagt: mich auf die Suche danach zu machen, sie verstehen zu wollen. Sondern auch, einen künstlerischen Umgang mit dieser Suche zu finden und im besten Fall andere Menschen damit zu erreichen, zu berühren und sie zum Nachdenken zu bringen.
»Das Berliner Ensemble ist ein Ort, an dem schon viel gedacht, versucht und gescheitert wurde.«
MYP Magazine:
Seit mittlerweile sechs Jahren bist Du ein Teil des Berliner Ensemble. Was bedeutet Dir dieser Ort hier?
Sina Martens: (lacht)
Dieser Ort hier? Da muss ich an einen Satz von Wolfram Lotz denken, einem deutschen Dramatiker: „Das Theater ist ein Ort.“
Für mich persönlich ist Theater ein sehr wichtiger Ort – und das Berliner Ensemble ist unter all den Theatern ein ganz besonders wichtiger Ort für mich. Ich würde ihn zwar nicht als mein Zuhause bezeichnen, das Wort wäre mir an der Stelle zu groß, aber dennoch hat mich dieses Haus ungemein geprägt. Ich durfte hier nicht nur sehr viel lernen, sondern habe hier auch etliche Menschen getroffen, die heute einen wichtigen Teil meines Lebens ausmachen.
Und zu all dem kommt ja noch das kleine Detail, dass das hier das Brecht-Theater ist – also ein Ort, an dem schon viel gedacht, versucht und gescheitert wurde; und an dem man in so einer Art Tradition steht, fleißig weiter zu denken, weiter zu versuchen und weiter zu scheitern.
»Ich möchte mit großer Hoffnung leben, auch wenn es oft Momente gibt, in denen ich denke, dass der Mensch hoffnungslos verloren ist.«
MYP Magazine:
Ich komme zum Schluss noch mal auf „It’s Britney, Bitch!“ zurück. An einer Stelle zitiert Ihr den Refrain des Lieds „Der letzte Song“ von Felix Kummer und Fred Rabe, der sich zwischen Hoffnung und Resignation bewegt:
Alles wird gut / Die Menschen sind schlecht und die Welt ist am Arsch
Aber alles wird gut / Das System ist defekt, die Gesellschaft versagt
Aber alles wird gut / Dein Leben liegt in Scherben und das Haus steht in Flammen
Aber alles wird gut / Fühlt sich nicht danach an, aber alles wird gut
Wie blickst Du selbst auf die Zukunft. Bist Du eher resignativ oder hoffnungsvoll?
Sina Martens:
In mir steckt definitiv mehr Hoffnung als Resignation, auch weil Hoffnung für mich ein Antrieb ist. Natürlich habe auch ich große Sorgen, wenn ich an die Zukunft unserer Gesellschaft und unserer Welt denke. Aber in Resignation zu versinken ist nicht die Art, wie ich leben möchte. Ich möchte mit großer Hoffnung leben, auch wenn es oft Momente gibt, in denen ich denke, dass der Mensch hoffnungslos verloren ist. Das ändert aber nichts daran, dass ich weiter an bestimmte Werte glaube. Ich glaube an die Liebe, ich glaube an die Freundschaft, ich glaube an den Dialog, ich glaube an die Verantwortung. Was kann mir mehr Hoffnung geben?
»It’s Britney, Bitch!« ist aktuell zu sehen im Berliner Ensemble.
»Trunk – Locked In« startet am 26. Januar auf Amazon Prime Video.
Mehr über Sina Martens:
Interview und Text: Jonas Meyer
Fotografie: Steven Lüdtke