Interview — Simon Morzé
»Dieser Film schafft es, dass man intensiv über seine eigene Familie nachdenkt«
Das Drama »Der Fuchs« erzählt die wahre Geschichte von Franz Streitberger, Jahrgang 1917, der als Kind an einen reichen Bauern verkauft wurde und sich als Soldat im Zweiten Weltkrieg rührend um einen verletzten Fuchswelpen kümmert. In der Hauptrolle des bewegenden Films ist der 27-jährige Simon Morzé zu sehen. Mit seinem einfühlsamen, nahbaren und mitreißenden Spiel hat er in Österreich bereits 120.000 Menschen ins Kino gelockt, nun ist der Film auch in Deutschland gestartet. Ein Interview über Füchse am Set, die Kraft von Vergebung und unzählige Kinderschicksale, die heute weitestgehend in Vergessenheit geraten sind.
15. April 2023 — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotografie: Steven Lüdtke
Kindersklaven mitten in Europa? Gibt’s nicht! Doch, gibt es – beziehungsweise gab es, etwa im Alpenraum und keine hundert Jahre her. War eine Familie in wirtschaftliche Not geraten, kam es immer wieder vor, dass sie eines oder mehrere ihrer Kinder weggeben musste, wenn sie diese nicht mehr ernähren konnte.
Die sogenannten Annehmkinder – auch Ziehkinder genannt – landeten meist bei reichen Bauern in der Umgebung. Diese konnten ihnen zwar eine warme Mahlzeit und ein Dach über dem Kopf bieten, aber sie ließen die Minderjährigen auch oft unter härtesten Bedingungen schuften. Dabei erlitten die Kinder nicht nur massiven körperlichen Missbrauch, sondern auch schwerste psychische Traumata.
Eines dieser Annehmkinder war Franz Streitberger, Jahrgang 1917, aus dem österreichischen Pinzgau, einer landwirtschaftlich geprägten Region im heutigen Bundesland Salzburg. Franz war das jüngste Kind einer 13-köpfigen, bitterarmen Bergbauernfamilie, die – zusätzlich zu ihrer ohnehin schon prekären Lage – mit der wirtschaftlichen Not in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg zu kämpfen hatte. Wie in vielen anderen Regionen Österreichs herrschten damals auch im Pinzgau Arbeitslosigkeit, Elend und Hunger – und die Streitberges wussten nicht mehr, wie sie ihre zehn Kinder durchbringen sollten. So wurde der kleine Franz im Alter von nur sieben Jahren weggegeben, seine Familie sah er nie wieder.
Die wahre Geschichte von Franz Streitberger hat sein Urenkel, Regisseur Adrian Goiginger, nun verfilmt. Im Drama „Der Fuchs“, das Mitte Januar in den österreichischen Kinos gestartet ist und seit dem 13. April auch in Deutschland läuft, zeichnet er das Leben seines Urgroßvaters nach:
Mitte der 1930er Jahre meldet sich Franz freiwillig beim Österreichischen Bundesheer und dient dort als Motorradkurier. Nach dem „Anschluss“ an das Deutsche Reich wird er in die Wehrmacht eingegliedert und zu Beginn des Zweiten Weltkriegs an der Westfront stationiert. Dort findet der introvertierte junge Soldat einen verwundeten Fuchswelpen, den er wie sein eigenes Kind versorgt und mit in das besetzte Frankreich nimmt. Durch diese sonderbare Freundschaft mit dem Tier holt ihn seine eigene Vergangenheit als verstoßener Bergbauernsohn langsam ein, vor der er fast sein ganzes Leben lang davongelaufen ist.
Verkörpert wird der fiktionale Franz Streitberger von Simon Morzé. Der vielfach ausgezeichnete Wiener Schauspieler hat sich monatelang auf die Rolle vorbereitet und beschreibt mit seiner einfühlsamen, nahbaren und mitreißenden Darstellung den vorläufigen Höhepunkt seiner noch jungen schauspielerischen Karriere. Wer den Film gesehen hat, weiß, dass das keine Übertreibung ist. Und gesehen haben ihn viele: 120.000 Menschen in den ersten zwölf Wochen, für die Kinolandschaft in Österreich eine beachtliche Zahl.
Doch nicht nur das. Der Film habe auch endlich eine Debatte über ein Thema in Gang gesetzt, das in der österreichischen Gesellschaft bisher kaum diskutiert worden sei: die tragische Geschichte der Annehmkinder, die zu Tausenden von ihren Familien getrennt wurden – oder vielleicht zu Zehntausenden, genaue Zahlen gebe es nicht. So jedenfalls berichtet es Historiker Rudolf Leo, der die Dreharbeiten wissenschaftlich begleitet hat. Er sagt, „Der Fuchs“ sorge aktuell in Österreich dafür, dass viele Menschen angefangen hätten, Ahnenforschung zu betreiben. Sie wollten herausfinden, ob es auch in ihrer Familie ein solches Schicksal gegeben habe. Eine Suche, die nicht selten zur Neubetrachtung der eigenen Identität führe.
Auch für Hauptdarsteller Simon Morzé hat der Film eine neue Perspektive auf die eigene Familiengeschichte eröffnet, wie er uns im folgenden Gespräch erzählen wird. Mitte Februar haben wir den 27-Jährigen in Berlin zum Interview und Fotoshooting getroffen.
»Für mich war es goldwert, den realen Franz auf diesem Wege kennenzulernen.«
MYP Magazine:
Simon, Du bist für den Film „Der Fuchs“ in die Rolle des Urgroßvaters von Regisseur Adrian Goiginger geschlüpft. Was weißt Du über das Leben des realen Franz Streitberger?
Simon Morzé:
Franz wurde am 2. April 1917 geboren und musste schon von klein auf – wie seine zehn Geschwister – auf dem Hof der Eltern mitarbeiten. Das war für die damalige Zeit zwar nichts Ungewöhnliches, aber für so einen kleinen Jungen dennoch ein überaus karges und brutales Umfeld, in dem er aufgewachsen ist. Da die Familie Franz kaum ernähren konnte, entschied sich sein Vater dazu, ihn im Alter von sieben Jahren an einen reichen Bauern abzugeben – er hat ihn regelrecht verkauft. Bei diesem Bauern hat er den Rest seiner Kindheit und Jugend verbringen und als Knecht arbeiten müssen. Auch das war damals kein seltenes Schicksal.
Mitte der 1930er Jahre meldete sich Franz freiwillig zur Armee und kämpfte dann als Soldat im Zweiten Weltkrieg. 1940, als er an der Grenze zu Belgien stationiert war, fand er im Wald einen verletzten Fuchswelpen, den er an sich genommen hat – und von dem er sich wieder trennen musste, als er ein Jahr später an die Ostfront versetzt wurde.
MYP Magazine:
Wie hast Du dich auf diese Rolle vorbereitet?
Simon Morzé:
Da Franz Streitberger tatsächlich existiert hat, gab es sehr viel Material über ihn – unzählige Fotos, aber auch O-Töne, denn Adrian hat schon als 14-Jähriger damit begonnen, mit seinem Urgroßvater über dessen Kindheit, Jugend und die Zeit im Krieg zu sprechen. Diese Gespräche hat er von Anfang an mit einem Diktiergerät aufgezeichnet. Für mich war es goldwert, den realen Franz auf diesem Wege kennenzulernen. Darüber hinaus habe ich viele Tagebücher aus der damaligen Zeit gelesen und mir diverse Dokumentationen angeschaut, um mich auch dem spezifischen historischen Kontext zu nähern.
»Ich finde, diese authentische Sprache ist für die Rolle essenziell.«
MYP Magazine:
Der Urgroßvater, der 2017 verstorben ist, hat einen sehr starken österreichischen Dialekt gesprochen…
Simon Morzé: (lacht)
Das ist Pinzgauerisch, ein alter, vor allem in der Region um Salzburg gesprochener Dialekt.
MYP Magazine:
Diesen Aspekt wollte Adrian Goiginger in seinem Film ebenfalls auf die fiktionale Figur Franz Streitberger übertragen. Wie hast Du dich mit dieser Sprache vertraut gemacht?
Simon Morzé:
Ich selbst komme aus Wien, daher war mir dieser Dialekt erst mal fremd. Aus diesem Grund habe ich viereinhalb Monate auf einem Bergbauernhof im Pinzgau verbracht, um mir diese Sprache anzueignen. Ich habe einfach dort im Betrieb mitgearbeitet und mich sehr viel mit den Menschen unterhalten, dadurch habe ich am Ende ganz gut in den Dialekt hineingefunden. Es war mir wichtig, das Pinzgauerisch so gut wie möglich zu beherrschen, denn ich finde, diese authentische Sprache ist für die Rolle essenziell.
»Ich portraitiere einen Menschen, der all das erlebt hat, was wir im Film zeigen.«
MYP Magazine:
Hast Du es als Bürde empfunden, dieser realen Person durch Dein Spiel gerecht zu werden?
Simon Morzé:
Nicht als Bürde, aber als eine gewisse Verantwortung, denn ich portraitiere einen Menschen, den es tatsächlich gegeben hat und der all das erlebt hat, was wir im Film zeigen. Adrian hat mir aber gleich zu Beginn des Projekts die Angst genommen und gesagt, er könne mir zwar viel vom echten Franz erzählen, aber es sei wichtig festzuhalten, dass es hier um einen fiktionalen Film gehe – und ein gemeinsames Projekt. Das hat mir sehr geholfen und mich bestärkt.
MYP Magazine:
Wie blickst Du insgesamt auf die Zusammenarbeit mit Regisseur Adrian Goiginger?
Simon Morzé:
Für mich war die Arbeit mit Adrian die beste, die ich je hatte. Ich habe bei diesem Projekt irrsinnig viel gelernt. Das Tolle an Adrian ist, dass er für seine Filme alles gibt. Das steckt das gesamte Team an und alle gehen an ihre Grenzen. Außerdem legt er sehr viel Wert auf Proben und auf eine intensive Vorbereitung – das ist weder in Österreich noch in Deutschland selbstverständlich. Für mich als Schauspieler war das ein Traum und eine enorm wichtige Erfahrung.
»Franz habe ich immer als eine Figur gesehen, die viel mit sich zu kämpfen hat.«
MYP Magazine:
Apropos Vorbereitung: Wie hast Du deinen Franz Streitberger angelegt? Was ist das für ein Charakter?
Simon Morzé:
Franz habe ich immer als eine Figur gesehen, die sehr in sich gekehrt ist und viel mit sich zu kämpfen hat. Immerhin stecken in ihm einige unverarbeitete Traumata, die immer wieder sein Handeln bestimmen. Daher habe ich ihn als einen Charakter angelegt, der keinen oder nur sehr beschränkten Zugang zu seinen Gefühlen hat. Mit Menschen tut sich Franz sehr schwer, er hält sie auf Abstand und vertraut ihnen nicht – wegen der vielen Verletzungen, die andere Menschen ihm im Laufe seines jungen Lebens zugefügt haben. Erst der kleine Fuchs bietet ihm eine Möglichkeit, wieder zu seinen Gefühlen zu finden. Durch die Fürsorge für das Tier entdeckt er, dass er überhaupt so etwas wie Zuneigung zeigen kann.
»In dem Moment, in dem er vom Vater weggegeben wird, wird Franz zutiefst an seiner Seele verletzt.«
MYP Magazine:
Die Figur macht über den gesamten Film eine enorme emotionale Entwicklung durch. Dabei scheint Franz vor allem eine große Wut in sich zu tragen.
Simon Morzé:
In der Tat! Am Anfang des Films ist Franz ein Kind, das mit positiven Gefühlen durch seine kleine Welt geht, auch wenn das Leben auf dem Bergbauernhof hart und karg ist. Doch in dem Moment, in dem er vom Vater weggegeben wird, bricht seine kleine Welt in sich zusammen und er wird zutiefst an seiner Seele verletzt. Durch die innere Verhärtung, die er daraus entwickelt, kommt ihm der Zugang zu seinen Gefühlen fast vollständig abhanden. Das, was in seiner Seele übrigbleibt, ist Wut. Und diese Wut ist die einzige Emotion, mit der er auf seine Umwelt reagieren kann, vor allem in Stresssituationen. Nur durch den kleinen Fuchs kann er letztendlich wieder sein Herz öffnen und zurück zu einer Gefühlswelt finden, die er nur aus frühen Kindertagen kennt, bevor er vom eigenen Vater weggegeben wurde.
»Sobald ein Fuchs am Set ist, ist es nicht leicht.«
MYP Magazine:
Der kleine Fuchs ist der heimliche Hauptdarsteller des Films. Wie hast Du den Dreh mit diesem Wildtier erlebt?
Simon Morzé: (lächelt)
Sobald ein Fuchs am Set ist, ist es nicht leicht. Füchse sind sehr scheu, daher war es immer besonders wichtig, das Set so klein wie möglich zu halten und vor allem laute Geräusche zu vermeiden. Beim Dreh hat sich so gut wie alles nach dem Fuchs gerichtet. Wenn er gerade gut drauf war, haben wir sofort die Kamera gepackt und losgelegt. Und wenn er eine Pause brauchte, haben auch wir pausiert. Man kann sagen, der Fuchs hat den Ton angegeben.
»Ich dachte mir: Die Szenen mit dem Fuchs muss man eigentlich animieren, anders geht das nicht.«
MYP Magazine:
Wie bereitet man sich als Schauspieler auf die Arbeit mit einem Fuchs vor?
Simon Morzé:
Als ich das Drehbuch zum ersten Mal gelesen habe, dachte ich mir: Die Szenen mit dem Fuchs muss man eigentlich animieren, anders geht das nicht. Das Tier muss im Film ja nicht nur die unterschiedlichsten Dinge tun, sondern wird auch noch in verschiedenen Altersstufen gezeigt. Aber Adrian ließ mich ganz trocken wissen: „Nein, das wird ein echter Fuchs sein.“ Oder besser gesagt Füchse, denn wir haben für diesen Film mit insgesamt sechs Tieren gearbeitet, mit vier Welpen und zwei großen Füchsen.
Um mit diesen scheuen Tieren von Anfang an eine enge Verbindung aufbauen zu können, habe ich sie bereits wenige Tage nach ihrer Geburt beim Tiertrainer besucht – zu einem Zeitpunkt, als ihre Augen noch geschlossen waren. Ich habe sehr viel Zeit mit ihnen verbracht, sie gefüttert, mit ihnen gespielt und bin sogar Motorrad mit ihnen gefahren. Nur so hat es für mich überhaupt funktionieren können, später am Set mit ihnen zu arbeiten und sie in mein Spiel mit einzubeziehen. Daher waren die schönsten Momente auch die Szenen mit dem jeweiligen Fuchs, denn allein für mich als Darsteller ist es ein absolutes Glücksgefühl, wenn eine komplexe Szene mit so einem Wildtier funktioniert – und man es schafft, das auch auf Kamera festzuhalten.
»Der kleine Fuchs ist vor laufender Kamera in meinen Armen eingeschlafen.«
MYP Magazine:
Apropos Glücksgefühl: Gab es andere besondere Momente, an die Du dich gerne zurückerinnerst?
Simon Morzé:
Ich muss gerade an eine Szene denken, in der Franz den verletzten Fuchs ins Sanitätszelt bringt, weil er seine Pfote verbinden lassen will. In diesem Moment ist der kleine Fuchs tatsächlich vor laufender Kamera in meinen Armen eingeschlafen. Das war ein wunderschönes Gefühl und hat so toll gepasst in dem Augenblick, daran erinnere ich mich sehr gerne zurück.
Eine weitere Szene, die mir in besonderer Erinnerung geblieben ist, ist der Moment, in dem Franz zum ersten Mal das Meer sieht. Diese Szene haben wir auf Amrum gedreht. An dem Tag hatte auch ich plötzlich das Gefühl, zum ersten Mal das Meer zu sehen, denn in den vielen Wochen davor haben wir uns fast permanent im Wald oder an der Location des besetzten Schlosses aufgehalten. Und auf einmal steht man am Strand und blickt aufs Meer. Das war ein ganz, ganz toller Moment für mich.
»Franz beschützt den Fuchs auf exakt die Art und Weise, wie er selbst als Kind hätte beschützt werden müssen.«
MYP Magazine:
Die Szene am Meer ist auch deshalb eine besondere, weil Franz dort wieder auf seinen Kameraden Anton Dillinger trifft. Ihn hatte er Tage vorher im Stich gelassen, weil er lieber den kleinen Fuchs in Sicherheit bringen wollte. Welche Bedeutung hat diese menschliche Freundschaft für den fiktionalen Franz Streitberger?
Simon Morzé:
Die Tatsache, dass Franz und Anton eine Freundschaft verbindet, ist insofern ungewöhnlich, dass Franz ja sonst keine Freundschaften zu Kameraden pflegt. Diese freundschaftliche Beziehung zu Dillinger ist nur möglich, weil Franz von ihm als der akzeptiert wird, der er ist. Er fordert von ihm weder, sich zu verändern, noch sich in irgendeiner anderen Weise zu verstellen. Dillinger lässt Franz einfach Franz sein. Ich glaube, das ist für die beiden Männer die einzige Möglichkeit, miteinander auszukommen.
Dennoch wirft Franz die Freundschaft weg – für den Fuchs. Dieses Verhalten gegenüber seinen Mitmenschen zieht sich durch den ganzen Film. Er verlässt all jene, die ihm die Hand reichen. Das Wohl des Fuchses geht für ihn immer vor – als wäre das Tier sein eigenes Kind. Er beschützt sein „Fichsei“, wie er den Fuchs liebevoll auf Pinzgauerisch nennt, auf exakt die Art und Weise, wie er selbst als Kind hätte beschützt werden müssen. Diese inhaltliche Analogie hat mir wahnsinnig geholfen, meine Figur zu formen.
»Ich werde es glücklicherweise nie wirklich verstehen können, wie es sich anfühlt, einen Krieg zu erleben.«
MYP Magazine:
Das Schicksal von Anton Dillinger und all den anderen Kameraden lässt der Film am Ende offen – und macht damit auf eine besonders stille Art und Weise deutlich, dass auch das zu den Schrecken des Krieges gehört: die unzähligen jungen Männer, die nicht mehr nach Hause zurückkehren, weil sie als Soldaten auf dem Schlachtfeld gestorben oder in den Kriegswirren verschollen sind. Wie bist Du emotional damit umgegangen, eine Figur zu spielen, die in ihrem realen Leben mit all diesen Schrecken konfrontiert war – und das sogar in dem gleichen Alter, in dem Du heute bist?
Simon Morzé:
Mein Gedanke dazu war: Egal, wie sehr ich mich vorbereite, wie viele Zeitzeugenberichte ich lese, wie viele Dokumentationen ich schaue und wie sehr ich versuche, mich in diese Situation hineinzuversetzen – ich werde es glücklicherweise nie wirklich verstehen können, wie es sich anfühlt, einen Krieg zu erleben. Und ich hoffe, das muss ich auch nie. Aus diesem Grund habe ich einen riesengroßen Respekt vor einem Menschen wie Franz Streitberger, der in solchen schlimmen Zeiten – und nach den in der Kindheit erlebten Traumata – nicht die Hoffnung verloren hat.
»Ich wollte, dass man diesen schrecklichen Krieg in seinem Gesicht sieht.«
MYP Magazine:
Nicht mal ein Jahr nach Abschluss Eurer Dreharbeiten hat Russland die Ukraine überfallen und mitten in Europa einen brutalen Angriffskrieg entfacht. Wie hast Du den Kriegsausbruch emotional erlebt? Was macht diese Situation mit Dir ganz persönlich?
Simon Morzé:
Diese Ereignisse haben mich extrem aufgewühlt – und tun es immer noch. Und das nicht nur, weil ich mich für diesen Film so lange mit dem Thema Krieg beschäftigt habe. Es ist so unfassbar traurig, dass die Menschen nicht aus den grausamen Erfahrungen der Vergangenheit lernen und so etwas wie Krieg sich immer wieder ereignet.
MYP Magazine:
In einer der letzten Szenen des Films kehrt Franz von der Kriegsgefangenschaft zurück zu seinem Elternhaus – jenem Bergbauernhof, den er seit seiner Kindheit nicht mehr gesehen hat…
Simon Morzé:
Hier war es mir enorm wichtig zu zeigen, wie desillusioniert und niedergekämpft Franz ist. Ich wollte, dass man diesen schrecklichen Krieg in seinem Gesicht sieht; dass alles Leben in seinen Augen mehr oder weniger erloschen ist; dass er allein ist und man sich als Zuschauer unweigerlich fragt: Wo sind all die anderen? Was ist mit Dillinger und den Kameraden? Verschwunden sind sie, denn das macht Krieg mit den Menschen. Und dann betritt Franz das verlassene Haus, findet den Brief und auf einmal passiert wieder etwas in diesem so geschundenen Körper…
»In diesem Moment spürt Franz die Liebe, von der er gar nicht vermutet hatte, sie empfinden zu können.«
MYP Magazine:
Ein Brief, den der mittlerweile verstorbene Vater an ihn gerichtet, aber nie abgeschickt hat.
Simon Morzé:
Genau. Franz hatte seinem Vater während des Krieges selbst einen Brief geschrieben. Und als er da in der Hütte steht und einige Schriftstücke in der Kommode findet, begreift er, dass sein Vater mit bestimmten Lautsymbolen lesen gelernt hat, um den erhalten Brief entziffern zu können. Im nächsten Moment entdeckt er einen Antwortbrief, den der Vater an ihn gerichtet, aber nie abgesendet hat. Obwohl der Vater nicht mehr lebt, spürt Franz in diesem Moment die Liebe, von der er gar nicht vermutet hatte, sie empfinden zu können. Nachdem er den Brief an ihn gelesen hat, versteht er, warum ihn sein Vater damals weggegeben hat. Er hatte keine andere Wahl und tat es letztendlich aus Liebe, weil er wusste, dass der kleine Junge in der bitterarmen Bergbauernfamilie nicht überleben würde. Diesen Umstand kann er nur verstehen, weil er bei dem kleinen Fuchs gezwungen war, genauso zu handeln: Er hat ihn aus Liebe im Wald zurückgelassen, weil er wusste, dass er in Russland nicht überleben würde. So schließt sich der Kreis für ihn – ich persönlich sehe das als ein sehr hoffnungsvolles Ende.
»Das Einzige, was ich hatte, war dieser Brief.«
MYP Magazine:
Diese Szene ist emotional sehr aufgeladen, man kann auf Deinem Gesicht geradezu mitverfolgen, was Franz in dem Moment durch den Kopf schießt und was der Brief des Vaters mit ihm macht. Wie blickst Du auf den Dreh dieser Schlüsselszene zurück?
Simon Morzé:
Diese Szene zu spielen, war nicht leicht, weil ich kein Gegenüber hatte, keinen Anspielpartner. Das Einzige, was ich hatte, war dieser Brief. In dem Moment hat sich die intensive Vorbereitung ausgezahlt, denn ich hatte über viele Monate aus Franz‘ Perspektive Tagebuch geschrieben, um die Erlebnisse seiner Kindheit so konkret wie möglich fassen zu können. Dadurch habe ich es in der betreffenden Szene geschafft, eine spezifische und emotional greifbare Situation zu kreieren, auf die ich in meinem Spiel zurückgreifen konnte.
»Unser Film zeigt, wie wichtig es ist, sich in andere Menschen hineinversetzen zu können.«
MYP Magazine:
Regisseur Adrian Goiginger sagt, der „Der Fuchs“ sei auch ein Film über Vergebung. Siehst Du das ähnlich?
Simon Morzé:
Absolut! Dadurch, dass Franz ein Lebewesen weggeben muss, das er liebt, versteht er seinen Vater und kann ihm verzeihen. So können die Wunden, die ihm in seiner Kindheit zugefügt wurden, endlich heilen. Doch „Der Fuchs“ ist nicht nur ein Film über Vergebung, sondern auch über Empathie, denn er zeigt, wie wichtig es ist, sich in andere Menschen und ihre Lebenssituation hineinversetzen zu können.
Ohnehin kann man sehr viel mitnehmen aus diesem Film, auch weil er sich mit einem historischen Zeitabschnitt Österreichs beschäftigt, in dem arme Bergbauernfamilien fast massenhaft Kinder weggegeben und verkauft haben, wenn sie sie nicht mehr ernähren konnten. Das ist ein Thema, das vielen Menschen gar nicht so bekannt ist.
Darüber hinaus schafft es dieser Film – zumindest ist es mir persönlich so ergangen –, dass man als Zuschauer intensiv über seine eigene Familie nachdenkt: über all die unnötigen Streitigkeiten und Verwerfungen, die es so gibt, aber auch über den Mangel an Empathie, vielleicht sogar bei sich selbst. Mir jedenfalls hat „Der Fuchs“ noch mal ganz neue Perspektiven auf meine eigene Familiengeschichte ermöglicht und die Begriffe Vergebung und Liebe in gewisser Weise neu definiert, möchte ich sagen. Und ich glaube, da bin ich nicht der Einzige. Nach dem Kinostart in Österreich sind etliche Menschen auf mich zugekommen, die mir erzählt haben, dass ihnen unser Film einen anderen Blick auf ihre eigene Familiengeschichte verschafft hat, wodurch sie die Ereignisse der Vergangenheit reflektieren und wieder in Kontakt zu ihren Vätern und Müttern kommen konnten. Ich wünsche mir, dass „Der Fuchs“ das auch bei dem deutschen Publikum schafft.
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Interview und Text: Jonas Meyer
Fotografie: Steven Lüdtke
Historische Beratung: Rudolf Leo