Interview — Samuel Schneider

Nachtsonne

In seinem neuen Film spielt Samuel Schneider einen Jungen, der sich meist von seiner Krankheit eingeengt fühlt, aber plötzlich inmitten einer überfüllten Großstadt seine Freiheit beansprucht. Ein Interview über das Vergessen der Zeit und wie es ist, an der Seite von Ulrich Tukur zu spielen.

14. April 2013 — MYP N° 10 »Meine Nacht« — Interview: Jonas Meyer, Fotos: Lukas Leister

Der Hackesche Markt an einem Sonntagnachmittag im März. Alles könnte sein wie immer, wenn es Frühling wird in Berlin: Mit singenden Vögeln und flanierenden Menschen, die mit einem Lächeln im Gesicht die ersten warmen Sonnenstrahlen inhalieren.

Es könnte so sein. Ist es aber nicht, nicht diesmal.

Denn es gibt weder Vögel noch Sonnenstrahlen noch Wärme noch Frühling. Nur Schnee, Eis und zornigen Wind, der ein lebloses Grau in alle Ecken drückt.

Aus wissenschaftlicher Perspektive mag es sicher spannend sein, diesen kältesten März seit 130 Jahren live zu erleben – am Hackeschen Markt scheint sich allerdings gerade niemand aufzuhalten, der diesen Enthusiasmus teilen würde. Die wenigen Menschen, die auf dem sonst so lebendigen Flecken Berlins unterwegs sind, huschen dick verpackt in überfüllte Cafés oder nähern sich mit strammen Schritten der S-Bahn, um jenen unwirtlichen Ort so schnell wie möglich zu verlassen.

Hier stehen wir also, mitten auf dem Marktplatz. Und frieren. Wir warten hier auf Samuel Schneider, mit dem wir in wenigen Minuten zum Interview verabredet sind. Der junge Schauspieler hat vor kurzem den Film „Exit Marrakech“ abgedreht, für den er drei Monate in Marokko unterwegs war.

Marokko… was würde man nur geben für einen einzigen Sonnenstrahl in diesem leblosen Berliner Grau!

Plötzlich nähert sich ein junger Mann, der fragend seine Zeigefinger auf uns richtet. Zwischen Winterjacke und Wollmütze breitet sich ein freundliches Lächeln aus, das von klaren blauen Augen flankiert wird.

Da ist er also, pünktlich auf die Minute. Eine ausgedehnte Begrüßung muss auf gleich verschoben werden, denn jede weitere Minute in der Kälte wirkt wie eine Bestrafung. Also packen wir das Equipment unter den Arm und laufen zum Restaurant Pan Asia, das uns nur wenige Meter entfernt seine wohl temperierten Arme entgegenstreckt.

Hinter der Eingangstür erwartet uns auch schon das Gegenmittel zum gnadenlosen Winter: Sanftes Licht, freundliche Farben und der frische Duft asiatischer Köstlichkeiten lassen in Sekundenbruchteilen das Grau vergessen, das uns eben noch so gnadenlos im Nacken saß.

Wir legen unsere Jacken ab, lassen uns an einem Tisch am Fenster nieder und atmen entspannt durch. Viermal heiße Minze, bitte!

Jonas:
Du hast im Jahr 2005 zum ersten Mal auf der Bühne gestanden. Wie bist Du so früh zur Schauspielerei gekommen?

Samuel:
Eher durch Zufall! Als ich etwa acht Jahre alt war, hatte ich einen guten Freund, der regelmäßig an einem Schauspiel-Coaching teilnahm. Dieses Coaching wurde von einer Schauspielagentur hier in Berlin angeboten und richtete sich speziell an Kinder und Jugendliche. Da der Kurs immer samstags stattfand und ich irgendwann mal von Freitag auf Samstag bei meinem Kumpel geschlafen hatte, bin ich einfach am nächsten Tag mit ihm mitgekommen.
Das Schauspiel-Coaching hat mir sofort total viel Spaß gemacht. Allerdings hat mich am Anfang weniger die Schauspielerei fasziniert, sondern vielmehr die Tatsache, dass ich einfach mal zwei Stunden lang rumschreien und rumspringen konnte, wie ich wollte. Noch bevor ich meine Mutter fragen konnte, hat mich der Agent für den Kurs eingeschrieben – den ich dann insgesamt acht Jahre lang besucht habe.

Jonas:
Und plötzlich hast du dein erstes Theaterstück gespielt…

Samuel:
Genau! Im Jahr 2005 gab es ein großes Casting auf der Bühne des Berliner Ensembles. Robert Wilson, ein großartiger Regisseur, war damals auf der Suche nach Schauspielern für sein Stück „Wintermärchen“. Irgendwie hat es geklappt – und dann habe ich zwei Jahre lang dort gespielt!

Jonas:
Danach hast du allerdings der Bühne den Rücken gekehrt und bist zum Film gewechselt. Vermisst du das Theater?

Samuel:
Ich würde es schon ganz gerne mal wieder ausprobieren – nach dem Engagement am Berliner Ensemble habe ich ja nur noch Film gemacht. Während dieser zwei Bühnenjahre hing ich jedes Wochenende bis spät abends am Theater rum und hatte viele tolle Schauspieler in meiner Nähe. Das war wie eine große Familie!
Damals hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben das Gefühl, gemeinsam mit anderen wirklich etwas zu arbeiten, für das ich auch noch Applaus bekam – das hat mich sehr beeindruckt.
Zur Zeit überlege ich übrigens, ob ich Schauspiel studieren soll oder nicht. Leider redet gerade irgendwie jeder zu dem Thema auf mich ein und hat eine andere Meinung. Ich möchte und werde das aber ganz alleine entscheiden – und zwar so, wie es sich am besten für mich anfühlt.

Jonas:
Was hält dich davon ab, dich ins Schauspielstudium zu stürzen?

Samuel:
Es soll ja den einen oder anderen Regisseur geben, der bei Schauspielern erkennen kann, von welcher Schauspielschule sie kommen – weil scheinbar jede Schule ihren eigenen Stil verfolgt und den Schauspielern mitgibt. Das hat mich etwas eingeschüchtert.
Es kann sein, dass es für jemanden, der in seinem Leben schauspielerisch noch nicht so viel gemacht hat, leichter ist, eine solche Schule zu absolvieren. Für Leute wie mich, die bereits einiges gedreht haben und in der Zeit ihren eigenen Stil und Rhythmus entwickeln konnten, ist es wahrscheinlich schwieriger.
Andererseits glaube ich, dass man an einer Schauspielschule total viel lernen kann. Mal sehen, wie ich mich entscheide…

Ich sehe allem sehr gelassen entgegen und schaue einfach, was passiert.

Jonas:
Nervt dich diese Situation?

Samuel:
Nö, eigentlich gar nicht. Im Moment bin ich relativ entspannt. Ich habe gerade meinen Film abgedreht und bin jetzt dabei, mein Abi zu machen. Ich sehe allem sehr gelassen entgegen und schaue einfach, was passiert.

Wir legen eine kurze Pause ein, denn uns allen knurrt der Magen: Seit wir das Restaurant betreten haben, streicht uns der verführerische Duft exotischer Speisen um die Nase.

Also knüpfen wir uns die Speisekarte vor. Zahllose Köstlichkeiten buhlen um unsere Gunst und malen in unseren Köpfen Bilder von fernen Ländern. Ach, wie schön wäre es, wenn man jetzt irgendwo ganz anders wäre – weit weg, in der Sonne…

Jonas:
Vor ziemlich genau einem Jahr bist du für Dreharbeiten nach Marokko aufgebrochen. Hast du Fernweh?

Samuel:
Für Fernweh wäre es noch etwas früh: Ich bin ja vor nicht allzu langer Zeit wieder aus Marokko zurückgekommen. Insgesamt war ich drei Monate dort und hatte eine ziemlich intensive Zeit in dem Land.
Dieses Jahr werde ich aber wegen eines Filmfestivals wieder für einige Tage nach Marrakech fliegen und ganz viele Menschen wiedersehen, die ich während der Dreharbeiten ins Herz geschlossen habe. Darauf freue ich mich total!

Jonas:
Du hast insgesamt drei Monate in Marokko verbracht. Wie hast du die Tatsache erlebt, plötzlich in eine ganz andere Kultur und Mentalität geworfen zu sein?

Samuel:
Eigentlich war mir diese Kultur gar nicht so unbekannt. Ich selbst bin Halbtürke und kenne die islamische Welt, weil ich jedes Jahr mindestens einmal in der Türkei bin und dort eine riesige Familie habe. Marokko ist im Prinzip der Türkei sehr ähnlich, nur einen Tick orientalischer und intensiver.

Jonas:
Man ist ja immer wieder erstaunt von dem kreativen Potenzial des Landes…

Samuel:
Ja, ich war extrem überrascht, als ich erfahren habe, wie viele Kinofilme dort gedreht werden. Die abwechslungsreiche Landschaft ist auch wie geschaffen dafür und bietet Drehorte, die die verschiedensten Länder imitieren können. Es gibt da zum Beispiel die Stadt Ouarzazate, da hat sich ganz Hollywood getummelt. Das hätte ich nicht gedacht.

Wir unterbrechen unser Gespräch erneut, denn das Essen wird serviert. Wie wundervoll!

Während wir still vor unseren Tellern sitzen und die exotischen Leckereien genießen, drückt der graue Winter draußen seine Nase gegen die Fensterscheibe und sieht uns eifersüchtig zu.

Samuel scheint den eisigen Beobachter nicht zu bemerken. Zufrieden sitzt er auf seinem Stuhl und verzehrt die Köstlichkeiten, die ihm serviert wurden. Ab und zu blitzt dabei sein goldener Anhänger auf, der an einer filigranen Halskette hängt. Es wirkt fast, als würde dieser Anhänger dem grauen Winter Sonnenstrahlen entgegenschleudern, um ihn zu vertreiben.

Jonas:
Stammt der goldene Anhänger an deiner Halskette auch aus Marokko?

Samuel:
Nein, der wurde mir von meiner Familie geschenkt, als ich geboren wurde. Der Anhänger zeigt Atatürk und wird in der Türkei zu besonderen Lebensereignissen wie Geburt oder Hochzeit überreicht. Er ist ein Talisman für’s Leben und soll Glück bringen – ich habe ihn immer an.

Jonas:
Er scheint seine Aufgabe bisher gut gemeistert zu haben: Letztes Jahr wurdest du für die Hauptrolle in dem Caroline Link Film „Exit Marrakech“ besetzt und durftest drei Monate an der Seite von Ulrich Tukur drehen. Erinnerst du dich noch an den Moment, als du davon erfahren hast?

Samuel:
Ja, klar! Ich habe mich total gefreut. Erst wenige Monate vorher hatte ich überhaupt registriert, dass Caroline den Oscar gewonnen hatte und eine großartige Regisseurin ist. Damals hatte ich noch gedacht: Was wäre das für eine große Ehre, mal mit ihr drehen zu dürfen. Ich hätte nie gedacht, dass ich ein halbes Jahr später zum Casting für ihren Film nach Hamburg fahre und dann noch die Rolle bekomme.
Und sowieso: Was für eine Rolle! 55 Drehtage mit Fokus mehr oder weniger nur auf mir und Uli, das war ein riesiges Geschenk.

Das Besondere an Ulrich Tukur ist, dass er sich für so vieles begeistern kann.

Jonas:
Dein junger Kollege Patrick Mölleken hat uns vor wenigen Monaten erzählt, wie viel er während der Dreharbeiten zu „Rommel“ von Ulrich Tukur gelernt hat. Ging es dir genauso?

Samuel (lacht):
Von Uli habe ich gelernt, gut zu essen und welche Weinsorten es gibt. Er ist ein absoluter Genussmensch!
Aber im Ernst: Das Besondere an ihm ist, dass er sich für so vieles begeistern kann. Es ist toll, diesen Spirit zu erleben. Menschlich hat er mich total beeindruckt – und schauspielerisch nicht weniger: Uli spielt ja oft die großen Charaktere der Zeitgeschichte wie etwa Rommel. Bei „Exit Marrakech“ hat er allerdings etwas gemacht, was eher neu für ihn war: Hier sollte er extrem klein und zärtlich sein, sollte sich öffnen. Für mich war es faszinierend zu sehen, wie Uli dieser Rolle genau so viel Tiefe und Intensität gegeben hat wie all’ den großen Figuren, die er bisher gespielt hat.

Jonas:
Worum dreht sich denn die Handlung in dem Film?

Samuel:
Ganz einfach gesagt: um eine Vater-Sohn-Geschichte. Caroline Link thematisiert ja klassischerweise sämtliche Problematiken innerhalb der Familie. Und so erzählt auch „Exit Marrakech“ einen Konflikt, den die meisten Menschen aus ihrem eigenen Leben kennen: Der Sohn fühlt sich vom eigenen Vater vernachlässigt.
Im Film heißt die Vaterfigur Heinrich und wird gespielt von Ulrich Tukur. Heinrich ist ein erfolgreicher Regisseur, der in Marokko ein Stück im Rahmen eines Theaterfestivals vorstellt. Ich spiele seinen 17jährigen Sohn Ben, der sich entschließt, seinem Vater nach Marokko nachzureisen, um ihn dort besser kennenzulernen und wieder einen Bezug zu ihm herzustellen.
In dem fremden Land merken aber beide, dass dieses Vorhaben nicht wirklich funktioniert: Auf der einen Seite will Ben zwar, dass Heinrich mehr Papa ist, gleichzeitig weigert er sich aber, sich der väterlichen Authorität zu unterwerfen. Dieser Konflikt spitzt sich im Laufe des Films zu: Ben haut ab, verliert sich in der marokkanischen Nacht und brennt mit einer jungen Hure durch – und Heinrich macht sich auf die Suche nach seinem Sohn.

Jonas:
Etwas provokant gefragt: Muss man sich überhaupt auf solch eine Rolle vorbereiten, wenn es eh um einen Konflikt geht, den jeder mehr oder weniger aus dem eigenen Leben kennt?

Samuel:
Ben ist Diabetiker – alleine deshalb musste ich mich intensiv vorbereiten. Ich wusste zwar ungefähr, was Diabetes ist, hatte aber wie die meisten Menschen keine Ahnung, welche Probleme dadurch für die Betroffenen im Alltag entstehen können und wie sie damit umgehen.
Daher habe ich mich mit vielen Diabetikern unterhalten und ganz praktisch versucht, mich selbst in deren Lage zu versetzen: Ich habe mir eine Woche lang in alltäglichen Situationen wie zum Beispiel der Fahrt in der U-Bahn Kochsalzlösung gespritzt, um die Insulininjektion zu imitieren. Ich wollte mir einfach ein eigenes Bild davon machen, wie die Leute reagieren und wie man sich selbst in einer solchen Situation fühlt. Viele dachten wirklich, dass ich mir in aller Öffentlichkeit einen Schuss setze – sie hatten absolut keine Ahnung.
Was mir ganz allgemein bei der Rollenvorbereitung hilft ist die Tatsache, dass ich seit zwei Jahren Schauspielcoach für Kinder und Jugendliche bin – an dem Ort, wo ich vor zehn Jahren selbst damit angefangen habe. Ich finde es total interessant, das Ganze mal von der anderen Seite zu sehen. Wenn ich mal ein Casting oder einen Dreh hatte, nehme ich die Szenen, gebe sie den Kursteilnehmern und beobachte, wie sie die Rollen interpretieren. Das ist für mich ein wichtiger Input.
Zu der Rolle des Ben in „Exit Marrakech“ durfte ich selbst übrigens ein wenig Input geben: In der Urfassung war die Figur ein unsportlicher 14jähriger mit Zahnspange, der nicht wirklich viel mit mir persönlich zu tun hatte. Als Caroline Link und ich uns trafen, um die Rolle zu besprechen, fiel ihr auf, dass es viel interessanter wäre, dem Vater keinen Jungen an die Seite zu stellen, sondern einen jungen Mann. Das versprach viel mehr Reibung. Also hat sie die Rolle ziemlich verändert und eher an mir orientiert – und am Ende war sie total auf meine Person geschrieben! So steckt in dem Film auch irgendwo sehr viel von mir selbst.

Jonas:
Ist Ben eigentlich Samuel?

Samuel (lacht):
Nein, so extrem ist es nicht, aber die Figur hat schon sehr viel von mir. Diesen Vater-Sohn-Konflikt kenne ich ja auch selbst ein Stück weit. Mein Papa und ich waren jahrelang etwas weit voneinander weg und nähern uns gerade erst wieder an – und lernen uns besser kennen. Daher verstehe ich es nur zu gut, wenn man sich auf der einen Seite wünscht, dass der Vater seine Vaterrolle stärker übernimmt, sich aber auf der anderen Seite nichts mehr von ihm sagen lassen will.

Ich weiß gar nicht, wie es sich ohne Schauspielerei anfühlen würde.

Jonas:
Gab es in deinem Leben eigentlich diesen berühmten Klick-Moment – den Punkt, an dem du gemerkt hast, dass Schauspielerei genau das ist, was du machen willst?

Samuel:
Ne, das hat sich einfach so entwickelt und ist in mein Leben reingewachsen. Ich weiß gar nicht, wie es sich ohne anfühlen würde. Ich merke bloß immer wieder, dass ich wirklich schon einiges gemacht habe in den letzten zehn Jahren.
Und ich spüre auch, dass es so langsam ernst wird. Vor kurzem habe ich auch meine Schauspielagentur gewechselt und stehe jetzt bei Players unter Vertrag. Das hat sich sehr richtig angefühlt und gut gepasst.

Jonas:
Inwiefern?

Samuel:
Ich wollte ohnehin zu einer Erwachsenen-Agentur wechseln. Von Players wurde ich vor einigen Jahren bereits angesprochen, nachdem ich „Boxhagener Platz“ gedreht hatte. Damals war ich aber noch zu jung – ich hätte volljährig sein müssen.
Letztes Jahr gab es dann im Vorfeld zu den Dreharbeiten von „Exit Marrakech“ einen Empfang, auf dem erneut eine Players-Agentin auf mich zukam. Wir haben vereinbart, dass ich mit meiner Entscheidung warte, bis ich den Film abgedreht habe – ich wollte mir einfach ganz sicher sein, dass ich diesen Beruf wirklich will und ihn längerfristig ausüben möchte.
Und so kam es dann auch: Nach „Exit Marrakech“ war mir tatsächlich relativ schnell klar, dass Schauspielerei genau das ist, was ich machen will. Ich wusste ganz genau, dass es etliche junge Schauspieler gibt, die sich ein Bein dafür ausreißen würden, bei Players aufgenommen zu werden. Ich wäre doof gewesen, wenn ich nicht ja gesagt hätte.

Ich muss bei der Rolle direkt das Gefühl haben: Das will ich machen!

Jonas:
Ist es dir generell wichtig, dass deine Filme ein familiäres oder gesellschaftliches Thema aufgreifen, oder kannst du dir vorstellen, auch mal etwas ganz anderes wie zum Beispiel eine Komödie zu drehen?

Samuel:
Es stimmt schon, dass die Filme, in denen ich bisher gespielt habe, überwiegend in einem familiären oder gesellschaftlichen Kontext standen. Vor „Exit Marrakech“ hatte ich eine Hauptrolle in dem Kurzfilm „Schautag“, der vielfach ausgezeichnet wurde und von jugendlichen Steinewerfern auf Autobahnbrücken erzählt.
Ganz allgemein ist es aber so, dass ich immer das drehe, womit ich mich wohlfühle. Ich muss bei der Rolle direkt das Gefühl haben: Das will ich machen! Ich hatte bei allen Produktionen das Glück, auf sehr professioneller Ebene arbeiten zu können und in Filmen mitwirken zu dürfen, die etwas vermitteln.
Thematisch bin ich aber nicht festgelegt. Bisher habe ich zwar noch keine Komödie gemacht, aber vielleicht probiere ich es irgendwann mal aus und schaue, wie es ist. Ich bin in meiner Entscheidung ja absolut frei.

Jonas:
Im Film taucht die Figur Ben in die rohe Nacht Marrakechs ab, lässt sich treiben und verliert sich – ebenfalls eine Parallele zu deinem Leben?

Samuel:
Ich mag ja die Erfindung „Zeit“ nicht so wirklich. Ich liebe es, wenn ich losziehen und die Zeit vergessen kann. Daher suche ich schon ab und zu nach diesen Räumen, in denen Zeit nicht existiert.
Wenn man sich treiben lässt, lässt man generell auch zu, dass Gedanken entstehen, die sich nicht um den reinen Alltag drehen. Das ist immer wieder eine sehr schöne Erfahrung.

Jonas:
Du bist also eher ein Nachtmensch?

Samuel:
Eigentlich nur im Winter, weil da die Nacht allgegenwärtig ist. Die Sonne fehlt in dieser Jahreszeit einfach, es wird nie so richtig hell. Aber wenn ich die Wahl habe, bin ich ein absoluter Tagmensch. Dafür liebe ich die Sonne viel zu sehr!

Samuel strahlt. Seine hellen Augen scheinen immer noch das marokkanische Licht in sich zu tragen – so klar und zuversichtlich wirken sie.

Wir trinken den letzten Rest der heißen Minze aus, legen die Jacken an und schlendern schweigend Richtung Ausgang. Und kaum haben wir den ersten Schritt nach draußen getan, steht auch der Berliner Winter wieder vor uns, dessen Leblosigkeit noch lebloser geworden ist in den letzten Stunden.

Aber etwas ist diesmal anders: Das Grau hat irgendwie seinen Schrecken verloren. Auch wenn die Kälte in den letzten 130 Jahren noch nie so viel Macht über den März hatte wie in diesem Jahr, sind ihre Tage letztlich doch gezählt.

Während wir noch ein paar Meter in dieselbe Richtung laufen, blitzt unter Samuels Jacke immer wieder der goldene Talisman hervor und blendet den Winter.

Er wirkt wie eine Sonne in der Nacht.

Da hat das Grau keine Chance.