Interview — Robert Stadlober

»Goebbels ist sich permanent selbst auf den Leim gegangen«

Es war eine Qual für ihn, sagt Robert Stadlober über seine Rolle als Joseph Goebbels im Kinofilm »Führer und Verführer«. Kein Wunder, denn der Schauspieler ist selbst ein feuriger Redner – allerdings mit antifaschistischer Leidenschaft: ein Gespräch über mächtige Manipulatoren, einbahnstraßenhafte Diskurse, den Berliner Buddhismus und die Kraft von Kurt Tucholsky, mit dessen Werk er sich reinwaschen konnte von all dem Nazi-Wahnsinn.

11. Juli 2024 — Text: Katharina Viktoria Weiß, Fotografie: Frederike van der Straeten

Privat tourt Robert Stadlober (41) gerade mit den Gedichten von Pazifist und Antimilitarist Kurt Tucholsky durch Deutschland, im Kino dagegen sieht man ihn zurzeit als einen der – im negativen Sinne – berühmtesten Hetzer der Welt: Joseph Goebbels. Eine reizvolle Casting-Entscheidung, denn Stadlober galt lange Jahre als Punk des deutschen Kinos. Nun motiviert der charismatische Darsteller das deutsche Volk als Hitlers Propagandaminister zum „totalen Krieg“.

Der Film selbst ist vielleicht der wichtigste des Jahres: Er nimmt seine Chronistenpflicht ernst und erzählt faktenreich die Hintergrundgeschichte der Propaganda des Dritten Reichs. Teilweise durchbrechen dokumentarische Elemente die vierte Wand, wie zum Beispiel Kommentare der 102-jährigen Holocaust-Überlebenden Margot Friedländer.

Um das beispiellose Grauen der Nazidiktatur zu zeigen, benutzt der Film echtes Bildmaterial von Erschießungskommandos oder aus Konzentrationslagern. Lediglich den Szenen, die sich mit den Handlungen der Parteiobrigkeit befassen und die in der Regel hinter verschlossenen Türen stattfanden, werden von Fritz Karl als Adolf Hitler und Robert Stadlober in der Rolle des Joseph Goebbels cineastisch illustriert.

Dass der „Führer“ einst von der Kunstakademie in Wien abgelehnt wurde, ist bekannt. Aber auch Goebbels bemühte sich darum, ein klassischer Weimarer Schöngeist zu werden: Aufgrund seines Klumpfußes durfte er nicht zum Militär und studierte stattdessen Germanistik, und das bis zum Doktortitel. Allerdings wurde seine Bewerbung unter anderem von der damals überregionalen Tageszeitung „Berliner Tageblatt“ abgelehnt. Stattdessen nahm ihn das Parteiorgan der NSDAP als Schreiberling.

»Wenn Hitler und Goebbels irgendwo künstlerisch untergekommen wären, dann sicher nur bei Leuten, die ihres eigenen Geistes Kind gewesen wären.«

MYP Magazine:
Wie viel Künstler steckt in Deinem Goebbels?

Robert Stadlober:
Natürlich steckt in ihm eine gewisse Kreativität, das ist aus moralischer Sicht erst mal nicht bewertbar. Dennoch wären sowohl Hitler als auch Goebbels sicher nicht zu Feingeistern der Weimarer Republik geworden. Von Hitler kennt man nur biedere Landschaftsmalereien. Und den Goebbels-Text sieht man an, dass er versucht hat, eine Welt zu verhindern, die bereits in der Weimarer Republik begonnen hat. Nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs sahen viele Menschen eine unglaubliche Chance darin, ein neues gesellschaftliches Zusammenleben zu erfinden – und ich glaube, jegliche Arbeit von Goebbels, auch die kreative, stand dem entgegen.
Wenn beide daher irgendwo künstlerisch untergekommen wären, dann sicher nur bei Leuten, die ihres eigenen Geistes Kind gewesen wären. Und da sie das nicht geschafft haben, versuchten sie es schließlich über die Sphäre der Politik und trampelten alles kaputt, was an der Weimarer Republik frei und öffnend war. In dem Staat, den die beiden dann geschaffen haben, herrschte eine „Kultur“, die in ihren ästhetischen Überzeugungen dem Talent der beiden entsprach.

»Der italienische Futurismus hatte durchaus progressivere Ansätze als dieser Bierkeller-Nationalismus von Hitler.«

MYP Magazine:
Goebbels inszenierte sich als Liebhaber der schönen Künste – oder zumindest der schönen Künstlerinnen. Gerade mit der Filmbranche war er eng verbandelt. Welche Details und Anekdoten aus diesem Teil seiner Biografie haben Dich besonders überrascht oder berührt?

Robert Stadlober:
Im Vergleich zu vielen anderen Figuren der späteren NS-Führungsriege war Goebbels tatsächlich vom italienischen Futurismus beeinflusst. Der führte zwar später auch in den Faschismus, hatte aber durchaus progressivere Ansätze als dieser Bierkeller-Nationalismus von Hitler. Ich fand es spannend, dass Goebbels es geschafft hat, Hitler davon zu überzeugen, dass man einen Unterhaltungsfilm braucht, der näher an dem tatsächlichen Leben der Menschen ist. Hitler hat ihn an diesem Punkt oft wieder eingefangen. Aber letztlich war Goebbels schon ein „moderner Mensch“. Das erklärt auch sein Interesse am Film, der damals die modernste Kulturform war. Und eben auch sein Interesse an den Machern und Macherinnen des Films – wie etwa den Schauspielerinnen.

»Goebbels war der Erste, der verstanden hat, dass man die Politik in den Unterhaltungsfilm hineinschreiben kann.«

MYP Magazine:
War Goebbels’ Nähe zum Kunst- und Kulturbetrieb entscheidend für die Art und Weise, wie Ihr euch die Rollen erarbeitet habt?

Robert Stadlober:
Ganz entscheidend für ihn ist, dass er zwei Sphären zusammengebracht hat, die bis dahin nichts miteinander zu tun hatten: Zum einen die Politik und zum anderen die Ästhetik, die Kunst, die Kultur. Vor seiner Ära stand auf dem Marktplatz eine Kiste herum. Da hat sich einer draufgestellt und eine politische Rede gehalten. Das hat man sich vielleicht kurz angehört und ist danach ins Theater gegangen. Goebbels war dann der Erste, der verstanden hat, dass man die Politik in den Unterhaltungsfilm hineinschreiben kann. Und dass die Leute, die bei einem amourösen Tête-à-Tête ins Kino gehen, nach ihrem letzten Kuss aus dem Film rauskommen und auf einmal die NSDAP wählen wollen. Heute sind solche Suggestiv-Techniken ganz normal. Das fängt schon bei der Shampoo-Werbung an, da werden einem Sache untergejubelt, von denen man am Ende glaubt, man wäre selbst darauf gekommen.

»Wir versuchen das zu zeigen, von dem Goebbels verhindern wollte, dass es gezeigt wird.«

MYP Magazine:
Euer Film „Führer und Verführer“ versucht jedoch, hinter die Manipulation zu blicken…

Robert Stadlober:
Exakt. Wir stellen Momente nach, die zu diesem Grauen geführt haben und die Menschen dazu verleitet haben, bei dem ganzen Wahnsinn mitzumachen. Die Grundprämisse unseres Films ist, dass wir versuchen das zu zeigen, von dem Goebbels verhindern wollte, dass es gezeigt wird. Sein gesamtes Schaffen und auch sein privates Leben waren eine einzige Inszenierung. Das merkt man an seinen Tagebüchern. Die hat er für einen sehr hohen Vorschuss verkauft, bevor sie überhaupt geschrieben waren. Man merkt den Texten an: Er schreibt in seinem privaten Tagebuch klar für ein Publikum.

»Gegenüber Leuten, die sie als Kollaborateure, Mittäter oder Großfinanziers gewinnen wollten, haben Sie andere Töne angeschlagen.«

MYP Magazine:
Hitler wurde bereits in etlichen Filmen gespielt und ist bei den Zuschauenden mit sehr spezifischen Vorstellungen bezüglich Auftritt, Stimme oder Körperhaltung verbunden. In Eurem Film wirkt er anders.

Robert Stadlober:
Da gibt es eine schöne Anekdote: Einige Monate vor unserem Film hatte Fritz Karl, der Hitler spielt, ein anderes Angebot, bei dem er ebenfalls den „Führer“ verkörpern sollte. Zur Vorlage hatte er sich die einzige Tonaufnahme von Hitler genommen, die ohne dessen Wissen und ohne Inszenierung aufgenommen wurde, und zwar auf einer Zugreise durch Finnland. Nachdem der Regisseur ihn beim Casting gehört hatte, sagte er zu Fritz Karl: „Sie haben ja überhaupt gar nichts verstanden.“
Aber eigentlich hatte er es sehr genau verstanden. Denn die Tonaufnahmen, die wir von Adolf Hitler kennen, sind immer Inszenierung in der Kraft. Privat hat er so nicht gesprochen. Seine Sprache ist eine Bühnensprache, wie sie damals übrigens von den meisten Politikerinnen und Politikern verwendet wurde. Wir empfinden das heute als Nazi-Deutsch, aber so haben auch Leute aus der SPD oder Kommunisten gesprochen – auch wenn es bei Hitler und Goebbels natürlich wieder in etwas Wahnhafteres gekippt ist.
Es ist aber wichtig zu wissen: Die haben sich nicht die ganze Zeit angeschrien. Gegenüber Leuten, die sie als Kollaborateure, Mittäter oder Großfinanziers gewinnen wollten, haben Sie andere Töne angeschlagen.

»Das Interessante ist, dass Goebbels keine gefestigte politische Meinung hatte.«

MYP Magazine:
Du scheinst „Deinen“ Goebbels auch mit viel Lebensfreude zu spielen, die Figur hat oft etwas unternehmerisches – wie jemand, der in einer Werbeagentur arbeitet. War das Absicht?

Robert Stadlober:
Goebbels war ein Charmeur. Lída Baarová, die Frau, mit der er ein langes Verhältnis hatte und in die er wirklich wahnsinnig verliebt war, sagte später über ihn: Sie habe diesen Menschen gar nicht richtig gekannt, sie war stattdessen verliebt in seine Liebe. Sie war verliebt in die Art und Weise, wie er um sie geworben hatte.

MYP Magazine:
Fängt man irgendwann an, die Geniestreiche dieses Massenmörders zu bewundern?

Robert Stadlober:
Nein, bewundern ist das falsche Wort. Das Interessante ist, dass Goebbels keine gefestigte politische Meinung hatte. Er war am Anfang nicht der glühende Antisemit, der Hitler immer war. Goebbels diente sich verschiedensten politischen Strömungen an und landete dann irgendwann bei dem sozialrevolutionären Flügel der NSDAP im Rheinland, der mit der Hitler-Bewegung in Bayern eigentlich nichts zu tun hatte. Irgendwann in den 1920er-Jahren hat er dann Hitler sprechen gesehen – und war sofort tief beeindruckt von diesem Mann, was er auch in seinen Tagebüchern schreibt. Danach konzentrierte er alle seine Anstrengungen darauf, Anerkennung von seinem neuen Vorbild zu erhalten, und richtete dementsprechend auch seine Politik auf ihn aus.

»Das zeugt von einer möglicherweise dissoziativen Persönlichkeitsstörung.«

MYP Magazine:
Gab es auch mal Uneinigkeiten zwischen „Führer“ und „Verführer“?

Robert Stadlober:
Später, während es Krieges, beobachten Historiker, dass es viele Entscheidungen Hitlers gab, die Goebbels zunächst abgelehnt hatte. Den Angriff auf die Sowjetunion zum Beispiel fand er absurd. Doch dann gab es eine längere Unterredung mit dem „Führer“, und am nächsten Tag schrieb Goebbels in sein Tagebuch, dass dies der genialste Schachzug der Außenpolitik in der gesamten Menschheitsgeschichte gewesen sei. Goebbels ist sich also permanent selbst auf den Leim gegangen. Nach der berühmten Sportpalast-Rede schrieb er auf, wie sehr er sich über das gute Presseecho seiner Rede gefreut hätte. Dabei hatte er die guten Pressekritiken im Prinzip selbst geschrieben, da er den Journalisten entsprechende Anweisungen gegeben hatte, was sie am nächsten Tag in ihren Zeitungen schreiben sollten.

»Ich bin da durchgerast in einer absoluten Manie, das hatte mit Spaß überhaupt nichts zu tun.«

MYP Magazine:
Hat es auf eine perfide Art auch Spaß gemacht, das zu spielen?

Robert Stadlober:
Es war eine absolute Qual, eine wirkliche Tortur. Wir hatten nur 24 Drehtage, was sehr wenig ist. Ich habe jeden Tag seitenweise Text geredet. Ich bin da durchgerast in einer absoluten Manie, das hatte mit Spaß überhaupt nichts zu tun. Ich habe es keine Sekunde genossen, das zu machen. Aber ich hatte das Gefühl, dass ich meine Instrumente nutzen kann, um wichtige Sachverhalte und Fragen aufzuwerfen – etwa die, wie man das Manipulationspotenzial von Film durch das Medium Film aufdecken kann: Das hat mich daran interessiert, deshalb war ich bereit, mich darauf einzulassen.

»Die AfD-Trolle finden alles, was sie von dem Film gesehen haben, scheiße – das ist der beste Beweis dafür, dass der Film sehr gut ist.«

MYP Magazine:
Gab es bereits Reaktionen aus der rechtsextremen Blase zu Eurem Film?

Robert Stadlober:
Man muss natürlich heutzutage Trailer und anderes Material auf Social Media ausspielen. Aber leider merkt man sehr schnell, dass das so Honigtöpfe sind, in denen sofort alle AfD-Trolle drinhängen – und die in den Kommentarspalten vom Grün-Rot-faschistischen Regime in Berlin sprechen. Die finden alles, was sie von dem Film gesehen haben, scheiße – und das ist, glaube ich, der beste Beweis dafür, dass der Film sehr gut ist. Denn er ist dafür gedacht, dass ihn solche Leute richtig scheiße finden.

MYP Magazine:
Weil es nichts Verherrlichendes gibt?

Robert Stadlober:
Genau. Ich finde niemanden in diesem Film, den ich verstehe. Da gab es überhaupt keinen Moment, in dem ich dachte: Jetzt wird es für mich menschlich nachvollziehbar, wie man so grausam sein kann. Ich möchte Goebbels auch nicht psychologisch verstehen. Ich möchte nichts von dem, was er getan hat, mit irgendeinem Leid, das er in seiner Kindheit erlitten hat, entschuldigen. Mit dem Film ging es uns um geschichtliche Tatsachen, die wir bebildern müssen, da es die Originalbilder dafür nicht gibt – weil er sie verhindert hat.

»Es ist schockierend, wie einbahnstraßenhaft Diskurse mittlerweile funktionieren.«

MYP Magazine:
Propaganda und Desinformation gehören zu den wichtigsten gesellschaftspolitischen Themen unserer Zeit. Gab es in Deinem privaten Leben auch schon Situationen, in denen Du mit Mechanismen der Medienmanipulation und -kontrolle konfrontiert warst?

Robert Stadlober:
Goebbels hatte mit der Nutzung des Massenmediums Radio einer ganzen Nation das Gefühl gegeben, nah am vermeintlichen Zeitgeschehen zu sein. Das tragen wir jetzt permanent in unserer Hosentasche. Und wir bilden uns auch noch ein, dass wir selbst bestimmen, wer dieses Radio spielt. Die Manipulation durch Algorithmen und Echokammern ist so extrem, dass ich nicht glaube, dass man heute schon die gesellschaftlichen Auswirkungen dieser Entwicklung überblicken kann. Es ist schockierend, wie einbahnstraßenhaft Diskurse mittlerweile funktionieren – durch jene Medienformen, die uns ständig suggerieren: Es ist etwas ganz Schlimmes passiert und du darfst hautnah mit dabei sein.

»Es waren schon immer viele Dinge schlecht auf der Welt. Wir wissen heute nur mehr darüber.«

MYP Magazine:
Endzeitstimmung also?

Robert Stadlober:
Es sind viele Dinge schlecht auf der Welt, mit Sicherheit. Aber es waren auch schon immer viele Dinge schlecht auf der Welt. Wir wissen heute nur mehr darüber. Und die große Gefahr ist, dass man sich in diesen Strudel der Negativität hineinziehen lässt. Das einzige Instrument dagegen ist aus meiner Sicht, gemeinsam ins Gespräch zu kommen, aus seiner Echokammer herauszutreten und mal in der U-Bahn nach links oder rechts zu gucken.

»Was ist eure Einladung an die Menschen? Die Einladung muss doch sein, dass wir das schönere Leben bauen.«

MYP Magazine:
Wie nimmst Du aktuelle politische Diskurse wahr?

Robert Stadlober:
Ich erlebe eine unglaubliche Verengung – und das nicht nur in rechter Politik, sondern auch in den vermeintlich progressiveren Lagern: Einmal das falsche Wort gesagt, sofort bist du draußen. Es wird permanent auf alle eingeschrieben. Es gab Wahlkampfplakate zur Europawahl, auf denen stand: „Gegen Hass, gegen Hetze“. Da frage ich mich: Das ist euer politisches Programm? Das sollte doch die Grundvoraussetzung sein! Aber wo wollt ihr denn hin? Was ist eure Einladung an die Menschen?
Die Einladung muss doch sein, dass wir das schönere Leben bauen. Und dass wir wollen, dass die Menschen da mitgehen. Unsere Party ist doch ganz klar die schönere, weil wir keinen Jägerzaun darum herumgezogen haben. Sondern weil es eine Welt ist, in der verschiedenste Meinungen und Hintergründe nebeneinander existieren können.

»Das System der Kultur im 21. Jahrhundert ist ein zutiefst ungerechtes.«

MYP Magazine:
Auf der einen Seite gibt es politische Propaganda und investigative Berichterstattung. Auf der anderen Seite gibt es den Kino- und Kulturbetrieb, der andere Regeln hat. Schaust Du nach dem Dreh dieses Films anders auf selbstverständliche Praktiken Deiner Branche?

Robert Stadlober:
Ich schaue schon immer anders auf selbstverständliche Praktiken in meiner Branche – und da gibt es wahnsinnig viel Hinterfragenswertes. Das System der Kultur im 21. Jahrhundert – und auch in den 20, 30 Jahren davor, die ich persönlich überblicken kann – ist ein zutiefst ungerechtes. Zum demokratischen Diskurs gehört immer dazu, die Sprecherposition in Frage zu stellen und zu beleuchten: Warum hast du jetzt gerade die Hoheit über mich?

»Geschichten kann man am besten erzählen, wenn man bei sich selbst anfängt.«

MYP Magazine:
Was ist mit dem Thema Schönfärberei? Wie stark muss man sich in Deiner Branche verstellen, um einen gewissen Marktwert zu erlangen?

Robert Stadlober:
Klar, auch ich kenne Leute, die vorne das eine erzählen und privat etwas ganz anderes leben. Das finde ich persönlich schwierig. Aber vielleicht bin ich auch einfach zu naiv in der Art und Weise, wie ich Kultur mache. Das kommt bei mir aus einem anderen Antrieb. Mir geht’s nicht um den Karrieregedanken, sondern tatsächlich darum, Geschichten zu erzählen. Und die kann man am besten erzählen, wenn man bei sich selbst anfängt – aber dafür muss man mit sich und seinem Publikum ehrlich sein.

»Dieses sich selbst darstellen – das ist ein ungemütlicher Teil der ganzen Geschichte.«

MYP Magazine:
Du hattest bereits als Teenager Deinen Kino-Durchbruch. Wie hat sich in den letzten Jahrzehnten Dein Verhältnis dazu, Dich selbst darstellen zu müssen, verändert?

Robert Stadlober:
Dieses sich selbst darstellen – das ist ein ungemütlicher Teil der ganzen Geschichte. Eigentlich geht es in meinem Beruf darum, andere darzustellen. Mich selbst stelle ich nur dar, um die Sachen zu verkaufen, in denen ich andere dargestellt habe. Mein Verhältnis dazu ist unverkrampfter geworden.
Ich hatte früher viel mehr Angst davor, was die Leute von mir denken. Aber wenn man lange genug etwas macht – oder vielleicht, wenn man lange genug gelebt hat – merkt man irgendwann, dass viele meistens eh nur irgendeinen Scheiß denken. (reimt)

Sie reden und reden,
über alle und über jeden,
die ganz besonders Blöden,
die reden über dich.

»Ich fand schon immer all jene faszinierender, die genau das gemacht haben, was man nicht erwartet hat.«

MYP Magazine:
Vom Leistungsgedanken bist Du also eher genervt?

Robert Stadlober:
Ja, ich habe darauf schon immer keinen Wert gelegt und fand all jene faszinierender, die genau das gemacht haben, was man nicht erwartet hat. Dabei ist es übrigens ein Irrtum, dass man immer irgendetwas Neues für sich oder andere erschaffen und entdecken muss.
In „Es gibt keinen Neuschnee“ erklärt Tucholsky: Egal, wie weit du nach oben kletterst, irgendjemand war schon vor dir auf dem Berg. Aber für dich ist es neu – und das reicht doch vollkommen! Er sagt: Klettere, steige, steige! Aber es gibt keine Spitze. Und es gibt keinen Neuschnee.
Das ist Berliner Buddhismus. Wenn die Leute das ein bisschen mehr verinnerlichen würden, würden sie sich auch nicht permanent gegenseitig auf die Nerven gehen. Lasst die Leute das machen, was sie gerne machen – und gebt ihnen den Raum, dass daraus etwas Gemeinsames entstehen kann, das viel schöner ist als die Sage von dem Einen, der es erreicht hat. Ich will, dass alle zusammen Schönes erleben.

MYP Magazine:
Man sollte über die Wanderungen reden, nicht über das Ziel?

Robert Stadlober:
Das ganze Leben ist so – weil das Ziel schlussendlich der Sarg ist.

MYP Magazine:
Hast Du diese Gelassenheit, weil Du bereits als Teenager das erreicht hattest, worauf andere viele Jahre warten?

Robert Stadlober:
Mit 20 habe ich mir ein ganz anderes Leben vorgestellt oder möglicherweise auch erträumt. Aber ich bin extrem froh und zufrieden mit dem Leben, jetzt mit 41. Ich möchte all das gar nicht haben, was ich mir mit 20 Jahren erträumt habe.

»Tucholsky hat mich reingewaschen von diesem Nazi-Wahnsinn.«

MYP Magazine:
„Wenn wir einmal nicht grausam sind, dann glauben wir gleich, wir seien gut“ – so heißt Dein neues Herzensprojekt, bei dem Du Gedichte von Kurt Tucholsky vertont hast. Was ist mit Deinen Gedankengängen passiert, als du diese beiden Männer, mit denen Du dich aktuell so viel beschäftigt hast, zusammen gedacht hast?

Robert Stadlober:
Tucholsky hat mich reingewaschen von diesem Nazi-Wahnsinn. Die Beschäftigung mit seinem Werk war eine direkte Folge aus dem Arbeiten an Goebbels. Tucholsky hat sich schon 1938 wegen dem umgebracht, was in Europa durch die Nazis passiert ist. Er hatte immer eine unglaubliche Liebe zu den Unterschieden im Menschsein und hat das auch total gefeiert. Das gibt mir eine enorme Kraft und auch den Mut zu wissen: Ich kann jetzt diese Platte machen und werde dafür nicht verhaftet und geschlagen. Und der Grund dafür ist, dass Goebbels nicht gewonnen hat. Er hat unvorstellbares Leid über Europa gebracht, aber schlussendlich haben wir gewonnen. Wir sind die Sieger. Wir können frei hier sitzen, vor dem „Diener Tattersall“, Bierchen trinken und Zeugs labern – das ist doch wirklich wunderbar.

»Führer und Verführer« (135 min., Regie: Joachim A. Lang) ab dem 11. Juli 2024 im Kino.