Portrait — Pınar Karabulut
»Man kann Kunst mit Freundlichkeit und Liebe machen«
Pınar Karabulut zählt aktuell zu den prägendsten Stimmen des deutschsprachigen Theaters. Die Regisseurin revolutioniert die Bühne mit neuen Perspektiven weiblicher Solidarität, politischer Relevanz und außergewöhnlicher Ästhetik. Ihr Ziel: ein radikales Theater, das berührt, herausfordert und neue Wege geht. Aktuell inszeniert sie am Deutschen Theater in Berlin.
12. Januar 2015 — Text: Katharina Viktoria Weiß, Fotografie: Frederike van der Straeten
Mit ihrer beeindruckenden Vita und klaren Haltung ist Pınar Karabulut eine der herausragendsten Stimmen des deutschsprachigen Theaters. Als Regisseurin bringt sie feministische Themen, politische Konflikte und innovative Inszenierungen auf die Bühne.
Aktuell stellt sie mit »Der Zähmung Widerspenstigkeit« am Deutschen Theater Berlin altbekannte Shakespeare-Klassiker auf den Kopf: in einem sprachmächtigen Sturmlauf gegen populäre Männerfantasien, romantische Liebeslügen und Gewalt gegen Frauen. Ab der Spielzeit 2024/2025 wird sie zudem als Co-Intendantin gemeinsam mit Rafael Sanchez das Schauspielhaus Zürich leiten – ein Meilenstein in ihrer Karriere und in der Geschichte des Hauses.
Wir treffen Pınar Karabulut im Berliner Studio of Wonders, das mit seiner knallbunten Ästhetik auch gut als Kulisse für eines ihrer Stücke herhalten könnte, und tauchen mit ihr in das Universum der kontemporären Opern- und Theaterkunst ein.
»Ich mache Theater, um Menschen eine Stimme zu geben, die sonst nicht gehört werden.«
Mehr Inszenierungen als Lebensjahre: Mit nur 37 Jahren ist Pina Karabulut bereits eine feste Größe auf den deutschsprachigen Bühnen, seit 2014 hat sie über 40 Stücke geleitet. Ihre Produktionen brennen förmlich vor Rebellion, Sensibilität und einem unbändigen Wunsch nach Chancengleichheit: »Ich mache Theater, um Menschen eine Stimme zu geben, die sonst nicht gehört werden. Es geht darum, Räume zu schaffen, die Ungesehenes sichtbar machen.«
»So möchte ich nicht leben und schon gar nicht andere arbeiten lassen.«
Karabulut studierte zunächst Theaterwissenschaft, bevor sie sich dem Regiefach zuwandte, und inszenierte später an den verschiedensten europäischen Häusern in Deutschland, Österreich, Schweiz und Frankreich – darunter etwa das Deutsche Theater Berlin, das Schauspiel Köln, die Münchner Kammerspielen oder die Opéra national de Lorraine.
»Ich glaube daran, dass man mit Freundlichkeit und Liebe Kunst machen kann,« sagt sie, »und das heißt auch, Strukturen zu verändern.« Ihre Überzeugung entspringt nicht nur ihrer künstlerischen Vision, sondern auch ihrer persönlichen Geschichte. Karabulut hat selbst erfahren, was es bedeutet, in vergifteten Arbeitsumfeldern zu agieren. »Als ich noch assistiert habe, wurde ich angeschrien, war überarbeitet und musste auf vieles verzichten – von Hochzeiten meiner Freund*innen bis zu Familienfeiern oder sogar Beerdigungen. So möchte ich nicht leben und schon gar nicht andere arbeiten lassen.«
»Ich habe immer gesagt: Wenn jemand nicht mehr kann, hören wir auf.«
Karabuluts Probenräume folgen klaren Prinzipien: »Wenn jemand sagt, ich kann diesen Satz nicht sprechen, wird er gestrichen – ohne Diskussion.« Auch in ihrem Theaterstück »Like Lovers Do«, das für seine intensive Darstellung von Machtverhältnissen und Übergriffigkeit gelobt wurde und einigen Zuschauenden minutenlanges Unwohlsein bescherte, zeigt sich Karabuluts Ansatz: »Ich habe bewusst alle Schauspielerinnen des zur Verfügung stehenden Ensembles gefragt, ob sie die Rollen übernehmen möchten. Nichts wurde erzwungen.«
Für sie sei es zentral, dass sich ihre Mitwirkenden sicher fühlten, selbst bei der Auseinandersetzung mit schwierigen Themen. »Die Arbeit war retraumatisierend, das war uns allen klar. Deshalb habe ich immer gesagt: Wenn jemand nicht mehr kann, hören wir auf. Das war keine Verhandlungssache.«
»Es geht darum, etwas im Bauch des Publikums auszulösen.«
Ihre Art, mit ihrem Team zu arbeiten, unterscheidet sich radikal vom gängigen Bild des Regisseurs als unnahbarem Macher. Sie selbst macht vor, was sie von anderen verlangt, und sieht sich als Teil des Ensembles. »Wenn ich von einer Schauspielerin erwarte, dass sie sich auf den Boden rollt, dann tue ich das auch. Wir arbeiten gemeinsam und niemand macht etwas, was ich nicht selbst tun würde.«
Obwohl sie sich mit feministischen Themen und gesellschaftlichen Machtstrukturen auseinandersetzt, sind Karabuluts Werke nie didaktisch. »Es geht darum, etwas im Bauch des Publikums auszulösen: dieses Unwohlsein, aber auch die Erkenntnis, dass wir anders miteinander umgehen können.« Ihr Ziel ist es, emotionale Verbindungen herzustellen, die über das Theater hinaus wirken.
»Für mich war klar, dass wir eine neue Perspektive brauchen.«
Die Resonanz gibt ihr recht: Karabuluts Inszenierungen werden von Kritik und Publikum gleichermaßen gefeiert. So wurde etwa ihre Version von »Il Trittico« von einigen Presseartikeln als »der größte Erfolg der letzten 30 Jahre Operngeschichte« gefeiert. Doch die Regisseurin bleibt bescheiden: »Ich kann nicht genau sagen, was daran so besonders war. Vielleicht war es einfach der Mut, neue Wege zu gehen.«
Anstatt die bekannten Klischees der Oper zu reproduzieren, stellte sie die weibliche Beziehungen und neue Themen in den Vordergrund: »Für mich war klar, dass wir eine neue Perspektive brauchen – eine, die von Female Solidarity geprägt ist.«
»Ich wollte einen Raum zeigen, den Frauen freiwillig gewählt haben – einen Ort ohne Männer.«
Pınar Karabuluts Inszenierung des berühmten Librettos »Suor Angelica« – dem zweiten Akt von »Il Trittico«, der traditionell in einem Nonnenkloster spielt – überraschte mit einer matriarchalen Gemeinschaft, die sich liebevoll gegenseitig unterstützt. Während Klöster traditionell eher als Orte gezeigt wurden, in denen promiskuitive Frauen unter anderem als Strafe für uneheliche Schwangerschaften eingesperrt wurden, wollte Karabulut stattdessen »einen Raum zeigen, den Frauen freiwillig gewählt haben – einen Ort ohne Männer, wo sie füreinander da sind.«
»Die Oper erzählt von Verlust, Schmerz und Befreiung. Wir haben uns darauf konzentriert, diese Emotionen fühlbar zu machen.«
Auch ihre experimentelle Ästhetik wurde gefeiert. In Zusammenarbeit mit Bühnenbildnerin Michaela Flück erschuf Pınar Karabulut zur Puccini-Musik einen Raum, der klassische Opernkonventionen aufbrach. Keine Schiffe, keine Kruzifixe – stattdessen ein minimalistisches Setting, das den Blick auf die inneren Konflikte der Figuren lenkt. »Die Oper erzählt von Verlust, Schmerz und Befreiung. Wir haben uns darauf konzentriert, diese Emotionen fühlbar zu machen, anstatt visuelle Klischees zu bedienen.«
»Theater ist politisch – immer.«
Karabuluts Arbeit ist geprägt von einer klaren politischen Agenda. »Theater ist politisch – immer«, betont sie. Dabei bewegt sie sich zwischen klassischen Stoffen und zeitgenössischen Texten: Besonders in der Zusammenarbeit mit lebenden Autor*innen wie Katja Brunner sieht sie eine große Chance, auf gesellschaftliche Missstände direkt einzugehen.
Ihre Inszenierung von »Der Zähmung Widerspenstigkeit« nach Motiven von William Shakespeare ist ein Paradebeispiel für ihre Herangehensweise. Statt eine bloße Komödie zu inszenieren, hat die Autorin Brunner die Geschichte um Gewalt, Zwang und Misogynie radikal weitergedacht. »Es ist keine Komödie mehr, sondern eine feministische Kampfansage. Wir fragen: Worüber lachen wir eigentlich? Was relativieren wir in unserer Gesellschaft?«
»Wir spielen mit den Erwartungen an Frauen und dekonstruierten sie, um neue Perspektiven zu schaffen.«
Für Karabulut ist das Bühnenbild ein essenzieller Bestandteil ihrer Inszenierungen. In »Der Zähmung Widerspenstigkeit« schafft ihre Bühnenbildnerin Flück eine weiße Bühne mit einem Überwachungsturm, der zugleich an ein Märchen und an Gefängnisstrukturen erinnert. »Der Turm ist ein Symbol für die vielen Rollen, die Frauen in der Literatur- und Kunstgeschichte zugeschrieben wurden: das Eingesperrtsein, die Isolation sowie die Annahme, dass sie gerettet werden wollen.«
Zusätzlich gibt es abstrakte Räume wie einen Teich, der an die Selbstmordthematik in der Kunst erinnert, außerdem ein Schlafzimmer und einen Bankettsaal, der das gesellschaftliche Ziel der Ehe symbolisiert. »Wir spielen mit den Erwartungen an Frauen und dekonstruierten sie, um neue Perspektiven zu schaffen.«
»Kultur ist kein Luxus, sondern essenziell für die Demokratie.«
Dass die Premiere ihres Stückes ausgerechnet in Berlin stattfand, hat sie vor allem für die aktuell viel diskutierten Herausforderungen der dortigen Kulturbranche sensibilisiert. »Kultur ist kein Luxus, sondern essenziell für die Demokratie. Es schmerzt, wenn Opernhäuser geschlossen oder Theaterbudgets gekürzt werden«, sagt sie und betont als geschichtliche Anspielung, wie sehr es ihr und ihren Kolleg*innen Angst mache, dass die Zahl der Rechtspopulisten immer lauter werde, während Kulturhäuser schließen müssten.
Dabei geht es ihr nicht um sich selbst. Was ihr allerdings während der kunstlosen Corona-Zeit zu schaffen machte: »Ich fand es teilweise bedenklich, dass ich die Verrohung der Gesellschaft oft richtig gespürt habe.«
»Wir wollen ein Theater schaffen, das die Vergangenheit und die Zukunft denkt, um die Gegenwart zu verändern.«
Mit ihrer neuen Aufgabe am Schauspielhaus Zürich will Pınar Karabulut das Theater als Raum für Debatten stärken und neue Formen der Zusammenarbeit entwickeln. Sie wird dort nun die erste weibliche PoC-Intendantin und gehört zu den jüngsten Personen, die je eine solche Position innehatten. »Der Spagat zwischen der kulturellen Heritage des Schauspielhauses und einem zeitgenössischen Blick in die Zukunft ist für Rafael und mich zentral«, sagt Karabulut über die gemeinsamen Pläne mit ihren Co-Intendanten Sanchez.
»Wir brauchen Theater, das sowohl intellektuell fordert als auch emotional berührt.«
Das Schauspielhaus Zürich war während des Zweiten Weltkriegs ein Zufluchtsort für Exil-Theaterkünstler*innen wie Bertolt Brecht. Dieser historische Kontext inspiriert sie: »Wir wollen ein Theater schaffen, das die Vergangenheit und die Zukunft denkt, um die Gegenwart zu verändern.« Besonders wichtig ist ihr, ein Theater für alle zu schaffen: einen Ort, der politisch, relevant und zugänglich ist: »Wir brauchen Theater, das sowohl intellektuell fordert als auch emotional berührt.«
Die ersten Inszenierungen ihres Programms werden im Mai 2025 vorgestellt – und die Erwartungen sind hoch. Bis dahin können sich die Zuschauer*innen darauf verlassen, dass Pınar Karabulut, die nicht nur die Bühne neu denkt, sondern auch die Strukturen dahinter, das Schauspielhaus Zürich und die Theaterlandschaft insgesamt nachhaltig prägen wird.
»Der Zähmung Widerspenstigkeit« (110 min., Regie: Pınar Karabulut) aktuell am Deutschen Theater Berlin.
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Interview & Text: Katharina Viktoria Weiß
Fotografie: Frederike van der Straeten