Interview — Philipp Oehmke

»Literatur kann da helfen, wo Journalismus nicht mehr weiterkommt«

Als Kulturressort-Leiter beim SPIEGEL analysierte Philipp Oehmke das Verschwinden von Kate Middleton, fasste die Row-Zero-Kontroverse um Rammstein zusammen oder ging mit Pete Doherty in der Normandie im Meer schwimmen. In seinem Debütroman »Schönwald« seziert er eine deutsche Familie und geht der Frage nach, wie unsere demokratische Gesellschaft zwischen Widersprüchlichkeiten und Wahrheitsfindung überleben kann.

13. August 2024 — Interview & Text: Katharina Viktoria Weiß, Fotografie: Roberto Brundo

Als Familie Schönwald die Eröffnung ihres Buchladens feiern will, wird sie von einer Farbbombe überrascht – und dem Vorwurf, „Menschen mit Nazihintergrund“ zu sein. Philipp Oehmkes Buch „Schönwald“, erschienenen im vergangenen Herbst, beginnt mit einer Szene, die von der Realität abgekupfert ist: 2021 hatten Aktivisten der Betreiberin der queerfeministischen Buchhandlung „She said“ in Berlin-Neukölln vorgeworfen, ihren Laden mit dem Erbe eines zu Zeiten des Nationalsozialismus erwirtschafteten Vermögens finanziert zu haben.

Von diesem Ereignis aus entspannt sich ein mächtiger Familienroman, der es aufgrund seines pointierten Humors schafft, die verschiedenen Generationen, politischen Haltungen und Lebensstile der Figuren elegant aufeinanderprallen zu lassen, ohne sie gegeneinander auszuspielen. Dabei gelingt es Philipp Oehmke immer wieder, in seinen Lesern ein mächtiges Gefühl der Identifikation herauszukitzeln.

Doch nicht nur in seinem Buch, auch in seinen journalistischen Artikeln geht es dem Leiter des SPIEGEL-Kulturressorts zumeist um das Gruppengefühl: Er schreibt darüber, warum wir aus Prinzessin Dianas Tod nicht gelernt haben, wie mit dem Blick auf die BRD-Erfahrungen mit der RAF seltsam verklärte Gefühle entwickeln oder befasst sich mit Phänomenen wie Ex-Skandalmusiker Pete Doherty, Pop-Guru Rick Rubin oder Hochstaplerin Anna Sorokin.

Der 1974 geborene Autor wirkt dabei in seinem Schreibstil seltsam alterslos. Nur ein Detail in „Schönwald“ liefert einen Hinweis auf die Generation, aus der er stammt: Chris, der älteste Schönwald-Sohn. Er ist im selben Alter wie Philipp Oehmke und Professor für Literaturwissenschaft in New York. Auch Oehmke lebte und studierte viele Jahre ebendort – und hat sich doch für einen anderen Berufsweg entschieden. Zwar sind seine ausformulierten Meinungsartikel manchmal streitbar, aber er bemüht sich, die Welt stets in ihrer Komplexität zu betrachten. Der fiktionale Chris hingegen ist bei den Wilden, den Rechten, den Make-America-Great-Again-Djangos mit ihren simplen Populismus-Thesen gelandet.

»Die Bösen verkörpern das, was Punk mal war: provokant und im ständigen No-Go-Bereich.«

Katharina Viktoria Weiß:
Der Charakter Chris Schönwald ist nicht nur in Deinem Alter, sondern hat genau wie Du auch in New York gelebt. Was hat Dich gereizt, diese Figur zu zeichnen, die so ähnlich zu Deiner eigenen Biografie scheint?

Philipp Oehmke:
Chris sieht mir von außen vielleicht ähnlich – ist er aber nicht. Allerdings könnte man sagen, dass ich manche meiner schlechten Eigenschaften bei ihm abgeladen habe, zum Beispiel einige guilty pleasures. Jeder in der Romanfamilie hat allerdings irgendeinen Scheiß von mir. Sie sind ja alle fehlerhaft. Chris hat vielleicht am meisten abbekommen.

Katharina Viktoria Weiß:
Hattest Du bei Chris das Gefühl, dass Du dich selbst einfach mal von der dunklen Seite der Macht verführen lassen konntest?

Philipp Oehmke:
Absolut. Sein Verführer ist ja vage inspiriert von einer Figur, die es wirklich gibt: Gavin McInnes, Gründer des VICE-Magazins und mittlerweile ein Trump-Verfechter, den ich in New York kennengelernt habe. Er wohnte dort durch Zufall eine Ecke weiter, wir begegneten uns öfter und irgendwann schrieb ich auch über ihn. Auf einer persönlichen Ebene, am Tisch mit ein paar Drinks, haben wir uns gut verstanden. Der ist so, wie VICE Mitte der 90er auch war: anarchisch, schnell im Kopf, lustig. Mit ihm hatte ich eine gute Zeit, aber er war gleichzeitig auch ein MAGA-Aktivist und hat es immer genossen, mich zu provozieren. Und da war es manchmal schwer, mit einer langweiligen Mainstream-Meinung dagegenzuhalten: Donald Trump ist böse, Angela Merkel ist eigentlich ganz ok und so weiter. Kurz fühlt man die Ohnmacht und denkt, die Bösen seien einfach cooler, frischer, hätten die interessanteren Argumente, auch wenn sie natürlich falsch sind. Aber sie verkörpern das, was Punk mal war: provokant und im ständigen No-Go-Bereich. Und man selbst ist inzwischen der Vernünftige. Das habe ich Chris auch mal erleben lassen und das Gedankenspiel verfolgt, was geschieht, wenn man sich von dieser Attitüde wirklich verführen und überzeugen ließe.

Katharina Viktoria Weiß:
Bleiben wir beim Gedankenspiel: Wenn wir die Schönwalds noch länger begleiten dürften, wie würden sie zum Beispiel angesichts der Nachrichtenlage aus Gaza denken, diskutieren und vielleicht auf Social Media agieren?

Philipp Oehmke:
Dieser Frage gehe ich auch gerade nach, denn ich schreibe aktuell am zweiten Teil des Buches. Ich bin noch dabei herauszufinden, wie die Kriege in der Ukraine und in Gaza sowie die US-Wahl im Herbst 2024 eine Familie möglicherweise belasten, die ohnehin schon pessimistisch auf die Welt schaut. Wie funktionieren ihre erprobten und gleichzeitig schwachen Verdrängungsmechanismen in einer noch komplizierteren Welt?

»Ihr müsst eure Eltern schon mal fragen, worauf euer ganzer Wohlstand basiert und was eure Großeltern im Krieg gemacht haben.«

Katharina Viktoria Weiß:
Gewisse Dinge runterzuschlucken, um das ganze Konstrukt am Laufen zu halten, hat mich auch an meine Familie in Bayern erinnert: Mit etwa 30 Jahren kommt meine Generation so langsam zu dem späten Eingeständnis, dass dieser vorgelebte Pragmatismus streckenweise auch seine effektiven Seiten hatte, auch wenn er bestimmt schmerzhaft für die Persönlichkeitsentwicklung einzelner Familienmitglieder war.

Philipp Oehmke:
In „Schönwald“ kämpfen drei Generationsmodelle gegeneinander. Erstens die Nachkriegsgeneration, mit ihrer absoluten Verdrängungsstrategie, die keine Gefühle zulässt. Dann deren Kinder, die jetzt um die 40 sind und im Grunde alles ironisch sehen: Aus allem wird ein Witz gemacht, schließlich ist man aufgewachsenen im Wohlstand der 1980er und 90er Jahre. Sie lieben Quentin Tarantino und Bret Easton Ellis und nehmen nichts wirklich ernst, weil wir von allem wahnsinnig gelangweilt sind. Nazivergangenheit? Die war zu weit weg, das spielt keine Rolle mehr. Und dann melden sich die Millennials oder sogar die Altersstufe darunter, die Kids der Gen Z, die im Buch vor allem durch zwei Instagram-Aktivisten verkörpert werden. Diese Generation fordert nun doch wieder Moral ein und sagt: Sorry, so einfach könnt ihr es euch nicht machen. Ihr müsst eure Eltern schon mal fragen, worauf euer ganzer Wohlstand basiert und was eure Großeltern im Krieg gemacht haben.

»Ich habe gehört, sie hätte es als anmaßend empfunden, dass dass ich ihre Geschichte und die Vorwürfe gegen sie fiktional aufgegriffen habe.«

Katharina Viktoria Weiß:
Die Instagram-Aktivisten, die eine etwa gleich alte Buchladen-Besitzerin mit ihrem familiär weit zurückreichenden Nazihintergrund konfrontiert haben, gibt es wirklich. Eine der Personen kenne ich entfernt aus dem persönlichen Bekanntenkreis, ich war total überrascht, sie auf diese Weise literarisch verfremdet im Buch zu entdecken. Wurde dieser Umstand von den Aktivisten als künstlerische Verarbeitung des Ganzen akzeptiert? Oder gab es an dieser Stelle Reibungsmomente, weil sie so leicht identifizierbar waren?

Philipp Oehmke:
Damit hatte ich eigentlich gerechnet, doch hier blieben Reaktionen aus. Womit ich nicht gerechnet hatte, ist, dass die Besitzerin des Buchladens nicht happy war mit meinem Roman.

Katharina Viktoria Weiß:
Faszinierend – und schade, denn als Leserin hatte ich im Buch eigentlich viel Empathie für ihr Dilemma aufgebracht. Was ist passiert?

Ich habe gehört, sie hätte es als anmaßend empfunden, dass dass ich ihre Geschichte und die Vorwürfe gegen sie fiktional aufgegriffen habe. Tatsächlich aber liegt der Fall bei ihr ganz anders, und meine Romanfigur hat ja auch sonst überhaupt nichts mit ihr zu tun.

»Eine Familie ist der kleinste gemeinsame Nenner, in dem verhandelt wird, wie wir miteinander umgehen.«

Katharina Viktoria Weiß:
Wie wirkt das Motiv der Ambiguitätstoleranz, also die Fähigkeit, mit Mehrdeutigkeiten leben zu können, auf Deine schriftstellerische Linse ein?

Philipp Oehmke:
Das war das Grundmotiv von „Schönwald“. Eine Familie ist der kleinste gemeinsame Nenner, in dem verhandelt wird, wie wir miteinander umgehen. Das lässt sich übertragen auf gesellschaftliche Konstellationen. Ich bemerkte: Da war ich mit meinem journalistischen Darstellungsmöglichkeiten am Ende. In einem SPIEGEL-Artikel muss man sich nachvollziehbar positionieren und eine Sachlage sehr klar durchdeklinieren.

Katharina Viktoria Weiß:
Und die Literatur hat Dir andere Möglichkeiten geschenkt?

Philipp Oehmke:
Ein Roman kann Dinge durchspielen oder nur anreißen. Er ist nicht gezwungen, auch immer gleich die Lösung mitzuliefern. Ich hatte die Hoffnung: Literatur kann da helfen, wo Journalismus nicht mehr weiterkommt. Und das hat besser funktioniert, als ich mir das vorgestellt hatte.

»Man glaubt gar nicht, wie viele Menschen bereit sind, anderen zu verzeihen, wenn sie darum gebeten werden.«

Katharina Viktoria Weiß:
Um was geht es am Ende bei „Schönwald“?

Philipp Oehmke:
Ums Verzeihen. Die Figuren lavieren sich in schwierige Situationen, weil sie Dinge verleugnen oder verschweigen. Und dann kommen Geheimnisse ans Tageslicht und sie bemerken: Es ist an sich alles okay, ich werde trotzdem geliebt. Das ist eine wahnsinnig schöne Erkenntnis. Die Schönwalds und vermutlich auch ich haben zwar lange dafür gebraucht. Aber beim Schreiben ist mir plötzlich klar geworden: Am Ende geht es um Vergebung. Man glaubt gar nicht, wie viele Menschen bereit sind, anderen zu verzeihen, wenn sie darum gebeten werden. Ob die Schönwalds sich wirklich verziehen haben, muss sich allerdings erst noch herausstellen.

»Ich habe für mich nie einen Weg in den sozialen Netzwerken gefunden, den ich nicht peinlich, eitel oder selbstdarstellerisch gefunden hätte.«

Katharina Viktoria Weiß:
Um das Buch zu schreiben, hast Du dir neun Monate frei genommen und bist zum Schreiben vorübergehend in die USA gezogen. Warum postest Du dazu nicht toll und viel auf Social Media?

Philipp Oehmke:
Ich habe es in über zehn Jahren nicht geschafft, mir eine sinnvolle, glaubhafte und nicht peinliche Social-Media-Personality zuzulegen. Zum einen hatte ich immer einen zu hohen Anspruch an Texte jeder Art – egal, ob es sich um einen Romantext, einen journalistischen Text oder auch nur einen Kurztext handelt, den ich meinen Freunden schreibe. Deshalb habe ich über die Jahre verschiedene Sachen ausprobiert. Aber ich habe für mich nie einen Weg in den sozialen Netzwerken gefunden, den ich nicht peinlich, eitel oder selbstdarstellerisch gefunden hätte. Dabei sagt meine Frau immer, dass ich eigentlich genug Bildmaterial hätte – wenn ich berufsbedingt im Wohnzimmer mit Jonathan Franzen sitze oder bei Pete Doherty im Garten.

»Die BRD war ein interessantes Projekt mit vielen Abgründen.«

Katharina Viktoria Weiß:
Du bist 1974 in Bonn geboren, damals die Hauptstadt des geteilten Deutschlands. In Teilen Deines Werks, zum Beispiel im Artikel „Der Trost der RAF“, der sich mit der Festnahme von Terroristin Daniela Klette im März 2024 befasst, schimmert eine besondere Erinnerungskultur an die BRD durch, die Du nur bis zum Teenageralter erlebt hast. Was löst der Begriff BRD in Dir aus?

Philipp Oehmke:
Peinlicherweise tatsächlich ein bisschen Nostalgie. Aber es war schon ein interessanter und kurzlebiger Staat, von 1949 bis 1989. Die alte Bundesrepublik war ein lohnenswertes Projekt mit vielen Abgründen. Damit beschäftigt sich auch der Gesprächsband „BRD Noir“ von Frank Witzel und Philipp Felsch. Das war übrigens auch ein Grundmotiv meiner Toten-Hosen-Biographie, denn es gibt ja nichts Bundesrepublikanischeres als diese Band. Die Achtundsechziger hatten einen echten Grund, gegen ihre Nazi-Eltern zu rebellieren. Die Punk-Generation der 70er- und 80er-Jahre hingegen eigentlich überhaupt nicht: Deren Eltern hatten mit dem Nationalsozialismus altersmäßig gar nichts mehr zu tun. Ich habe die Mitglieder der Toten Hosen gefragt: Was hat euch eigentlich so aufgeregt, dass ihr Punks geworden seid und so rebelliert habt? Und es war eben dieses Miefige, dieses Kleingeistige, dieses „Vorgartige“ der Bundesrepublik. Die war so ängstlich und leise, man wollte bloß nicht auffallen. Es hat fast schon etwas Rührendes.

»Mittlerweile kann jeder seine eigene Wahrheit an ein riesiges Publikum verbreiten.«

Katharina Viktoria Weiß:
„Es gibt schon länger Zweifel, ob die Demokratie im Social-Media-Zeitalter überleben kann. Sie ist auf so etwas wie eine gemeinsame öffentliche Wahrheit angewiesen, die zunehmend im Netz versickert“, schreibst Du – ausgerechnet in einem Artikel über Kate Middleton. An welchen weiteren Anhaltspunkten machst Du deine Sorgen um unsere demokratischen Freiheiten fest?

Philipp Oehmke:
Als dieses möglicherweise großartige Prinzip Demokratie erfunden wurde, hat niemand mit Twitter oder Tiktok gerechnet. Ich glaube, in dem Moment, wo man sich nicht mehr kollektiv auf Wahrheiten einigen kann, wird eine politische Meinungsbildung, die in einer Demokratie unerlässlich ist, fast unmöglich. Mittlerweile kann jeder seine eigene Wahrheit an ein riesiges Publikum verbreiten. Filtersysteme wie klassische Medien – zum Beispiel der SPIEGEL, die Süddeutsche oder die New York Times – haben immer damit operiert, dass jemand Fachkundiges einen Überblick über die Sachlage und die Fakten erstellt. Ob die immer stimmte, ist eine andere Frage, aber zu 90 Prozent kam sie einer Richtigkeit zumindest nahe. Als Trump das erste Mal als Präsident kandidierte, war ich gerade wieder in die USA gezogen und musste begreifen: Es gibt jetzt offenbar die Möglichkeit, mit 70 Millionen Twitter-Followern auf die klassischen Medien zu scheißen und einfach eine eigene Wahrheit zu verbreiten.

»Ich kenne Menschen, die daran zerbrechen, dass nichts mehr klar zu sein scheint.«

Katharina Viktoria Weiß:
Ist das der neue Status quo?

Philipp Oehmke:
Ja, in unserer Lebenswelt konkurrieren inzwischen alle möglichen Wahrheiten miteinander. Jeder kennt mittlerweile Leute im seinem Umkreis, die ein absurdes Weltbild haben und einem Zeugs zu Covid, der Ukraine oder Gaza erzählen, bei dem man nur den Kopf schütteln kann. Wenn man sensibel ist und über keine Ambiguitätstoleranz verfügt, dann wird es echt schwer. Ich kenne Menschen, die daran zerbrechen, dass nichts mehr klar zu sein scheint.

Katharina Viktoria Weiß:
Wie hat sich der Wahrheitsbegriff in Deinem Arbeitsalltag als Journalist über die Jahre verändert?

Philipp Oehmke:
Als ich in den Beruf eingestiegen bin, hatten klassische Medien wie der SPIEGEL immer noch das Verständnis: Wir sind die Checker und erklären die Welt – und wir machen dabei nicht transparent, wie wir das machen oder aus welcher Position wir sprechen. Mittlerweile werden die subjektiven, biografischen, individuellen – heute würde man sagen identitätspolitischen – Aspekte, die unsere Meinung mitformen, viel deutlicher gekennzeichnet. Denn man hat begriffen: Wahrheit entsteht auch immer im Empfänger, das heißt: Wer die Botschaft verbreitet, bringt auch einiges seiner eigenen Perspektive, Biografie oder Identität mit ein.

»Die meisten von uns wähnen sich in der Situation, dass sie damals auf der Seite der Achtundsechziger gestanden hätten.«

Katharina Viktoria Weiß:
Aktuell ringen wir vor allem im Gaza-Krieg um Wahrheiten. Wie blickt man auf die Debatte, wenn man wie Du eine breite Expertise im Bereich Popkultur hat?

Philipp Oehmke:
Als jemand, der sich immer irgendwie als links und progressiv begriffen hat, denke ich aktuell oft an die 68er-Bewegung. Die meisten von uns wähnen sich in der Situation, dass sie damals auf der Seite der Achtundsechziger gestanden hätten, an der Seite der Studentenbewegung und gegen den Vietnamkrieg. Weil es Pop war, weil da die jungen Leute waren und weil es aus heutiger Sicht richtig scheint. Achtundsechzig hat gewonnen und ist heute mehrheitsfähig. Nun, wie werden wir in ein paar Jahren auf die Pro-Palästina-Versammlungen und die Demonstrationen gegen Israel schauen? Aktuell kommen mir diese häufig überzogen vor. Aber für nachfolgende Generationen scheint Pro-Palästina das, was mit Pop und Coolness verbunden ist und was viele junge Menschen gut finden…

Katharina Viktoria Weiß:
… und Megastar Macklemore schrieb kürzlich eine Protestsong für die Pro-Palästina-Studentenbewegung.

Philipp Oehmke:
Zum Beispiel. Wenn ich es von allen popkulturellen Aspekten weghalte, neige ich persönlich auch dazu, eher Israel zu verstehen und zu sagen: Die sind angegriffen worden – und ihnen jetzt die ganze Schuld zu geben, ist schwierig. Aber wenn ich die popkulturellen Aspekte mit in die Perspektive aufnehme, ist festzustellen: Die pro-palästinische Protest, so übertrieben und teilweise falsch ich ihn politisch finde, nimmt für sich in Anspruch, die coole, progressive Seite zu sein. Insofern frage ich mich: Wäre ich dann 1968 vielleicht auch auf der Seite der Konservativen gewesen, die von den Hippies verachtet wurden und ständig mahnten: „Die Studenten übertreiben total, das können die doch so nicht sagen!“ Für mich ist der Prozess nicht abgeschlossen und ich bin immer noch dabei, mich hier zu hinterfragen.

»Mein Anspruch als Ressortleiter ist es, eher pubertär als abgehangen zu agieren.«

Katharina Viktoria Weiß:
Seit Ende 2023 bist Du Leiter des Kulturressorts beim SPIEGEL. Ein Job, der aus Sicht jüngerer Pop-Rebellen immer jene innehaben, die nicht verstehen, wie gut ein Nischen-Künstler sei oder warum jener Independent-Film unbedingt eine Rezension im Blatt verdient habe. Wie hat diese leitende Rolle Deine Sicht auf die Branche geprägt?

Philipp Oehmke:
Ich versuche eher, mein 22-jähriges Ich darin zu verwirklichen und riskanter zu agieren. Mein Anspruch als Ressortleiter ist es, eher pubertär als abgehangen zu agieren. Und auch Themen abseits des Mainstreams aufzugreifen. Natürlich kommt man nicht immer mit allen Ideen durch, aber ich wurde nicht in eine Rolle gedrängt, in der ich plötzlich nur noch seriöse Hochkultur machen kann.

»Diese Opas erzählen nicht nur ihren Ehefrauen und Enkelkindern, was sie so von der Welt halten. Sondern sie posten es auf Social Media.«

Katharina Viktoria Weiß:
Es gibt viele Beispiele bekannter Journalisten, die als junge Reporter sehr links oder progressiv waren, um dann im Alter zu rechten Galionsfiguren zu werden. Wie etwa Matthias Matussek, einer Deiner Vorgänger als Ressortleiter beim SPIEGEL. Wie erklärst Du dir eine solche Entwicklung?

Philipp Oehmke:
Der Aspekt von ehemals Linken oder „Counter Culture“-Leuten wie Matthias Matussek oder Gavin McInnes, die sich immer weiter in die rechte und auch affirmative rechte Richtung radikalisieren, ist ein Phänomen, das es immer gegeben hat. Früher waren diese Personen einfach nicht mehr sichtbar, nachdem sie aus dem Berufsleben ausgeschieden waren. Heute dagegen fallen sie mehr auf, denn diese Opas erzählen nicht nur ihren Ehefrauen und Enkelkindern, was sie so von der Welt halten, sondern sie posten es auf Social Media. Das ist tragisch. Matussek war es, der mich damals zum SPIEGEL geholt hatte. Wir kannten uns gut. Aber schon lange bevor er sich radikalisiert hat, hatten wir uns über inhaltliche und stilistische Fragen entzweit.

»Ich bin auf der Suche nach Leuten, die etwas Besonderes mitbringen.«

Katharina Viktoria Weiß:
So schön der Beruf Journalist auch ist: Er ist kein einfacher, denn die Branche hat ein Image- und auch Finanzierungsproblem. Dennoch gibt es viele Menschen, die sich für diesen Job begeistern. Welchen Wegweiser würdest Du jungen Autoren mitgeben, die gerade am Berufsanfang stehen?

Philipp Oehmke:
Ich bin auf der Suche nach Leuten, die etwas Besonderes mitbringen: weil sie eine ungewöhnliche Stimme haben und sich was trauen. Die aktuelle Krise der Medien macht es Leuten viel schwerer. „Der klingt ganz lustig, den stellen wir mal ein und schauen, was dabei herauskommt“ – dieses Prinzip gibt es so nicht mehr. Heute stehen die Medien extrem unter Druck und gute, originelle Stimmen haben es schwer. Aber eigentlich sollten wir genau auf diese Menschen setzen. Denn die menschlichen Nachrichtenmaschinen brauchen wir bald nicht mehr, das kann dann die KI. Meine Hoffnung dabei ist, dass der individuelle, fein geschliffene Blick immer wertvoller wird.
Lange Rede, kurzer Sinn – mein Tipp: Baut Eure Stärken aus, vergesst Eure Schwächen, spezialisiert Euch – und traut Euch vor allem, Eurem eigenen Gefühl zu vertrauen!