Interview — Milos Miskovic
»Es ist keine langfristige Lösung, seine Gefühle zu verstecken«
Er gilt als der Udo Walz von Budapest: Milos Miskovic wuchs als schwuler Junge in Serbien auf, überlebte den Balkankrieg und avancierte in Ungarn zu einem berühmten Damenfriseur. Eine beeindruckende Biografie aus einer Generation, die bei uns in Westeuropa gleich mehrfach um Sichtbarkeit ringt.
8. Januar 2024 — Interview & Text: Katharina Viktoria Weiß, Fotografie: David Ajkai
Mitte der Achtziger im serbischen Dorf Ostojićevo. Wenige Tage vor einem Handballturnier wird Teenager Milos Miskovic von seinem Trainer aufgefordert, sich einen anständigen Haarschnitt zuzulegen. Also schaut er im einzigen Friseurladen der kleinen Gemeinde vorbei und verhandelt: Wenn er Friseurmeisterin Éva bei der Arbeit zur Hand geht, erhält er einen Last-Minute-Termin für sein wildes Haupthaar.
Als Milos aus nächster Nähe erlebt, wie Éva ihre Kund*innen verwandelt, findet er prompt seine Berufung – und verärgert ebenso prompt seine Eltern. Denn die sind ganz und gar nicht erfreut, dass der Filius plötzlich Damenfriseur werden will. Und nicht Anwalt, wie ursprünglich geplant und erhofft. Denn in einem serbischen Dorf wie Ostojićevo gilt es für einen Mann damals als peinlich, diesen Beruf auszuüben. Doch Milos setzt sich durch und eröffnet 1989, da ist er gerade mal 17 Jahre alt, seinen ersten Salon im Erdgeschoss des Elternhauses.
Heute, gut drei Dekaden später, lebt er in Ungarn und ist einer der bekanntesten Hair-Stylisten des Landes. Manche seiner Kundinnen fliegen sogar aus ganz Europa ein, einige kommen von noch weiter. Sein exklusives Studio, das den Namen „MMhair“ trägt, liegt im Zentrum Budapests und ist nur wenige Gehminuten von der berühmten St.-Stephans-Basilika entfernt. Eine edle Adresse. Dennoch ist Milos Miskovic in all den Jahren ein bodenständiger Handwerker der Schönheit geblieben: ein kerniger Typ, dessen Gestik wie eine einzige Umarmung an die Welt anmutet.
Seine große Empathie ist dabei auch ein Resultat seiner ganz eigenen Geschichte, die er in seiner kürzlich erschienenen Biografie niedergeschrieben hat. „Fear of myself“ erzählt von einem jungen, schwulen Mann in Jugoslawien und im späteren Serbien, der im politischen Chaos der neunziger Jahre in eine ungewöhnliche Karriere stürzt. Eine Karriere, die ihm hilft, der großen Einsamkeit zu entkommen, die mit dem Anderssein einhergeht.
In dem Buch erzählt Milos auch, wie der Umgang mit dem Tod seines Vaters und die Krankheit seiner Mutter ihren Tribut forderten. Aber er beschreibt auch, wie er bei einem Urlaub in Spanien seine erste Begegnung mit der Liebe machte: Es ist nur eine flüchtige Romanze, die ihm aber die Tür zu einer Welt öffnet, von der er wusste, dass er zu ihr gehört – obwohl er sie nie zuvor betreten hatte.
Milos, der heute mit seinem langjährigen Partner Simon zusammenlebt, schafft mit seinem Buch ein wichtiges Dokument queeren Lebens in Mittel- und Osteuropa und zeichnet darin Lebenswege einer LGBTQIA*-Generation nach, die bisher kaum sichtbar war. Eine Generation, die schon wieder in großer Sorge lebt angesichts des politischen Rechtsrucks vieler europäischer Staaten – und die, uns alle mahnend, den Zeigefinger hebt.
»Wenn jemand mit einem bestimmten Stil auftrat, fiel er sofort auf.«
MYP Magazine:
Nimm uns mit auf eine Zeitreise: Wie fühlte sich in Deiner Jugend das Leben in Jugoslawien an – einem Staat, den es heute nicht mehr gibt?
Milos Miskovic:
Die Region Vojvodina, in der ich aufgewachsen bin, lag damals im landwirtschaftlichen Teil Jugoslawiens, nahe der ungarischen und rumänischen Grenze. Die Bevölkerung war multikulturell: Serben, Ungarn, Tschechen, Polen und andere. Fast jede Familie besaß ein Stück Land. Fast alle Häuser hatten das gleiche Format – mit einem kleinen Garten neben dem Haus und dahinter ein oder zwei größere Flächen, um Hühner und andere Kleintiere zu halten, sowie einen Gemüsegarten. Jede Familie besaß Obstbäume: Pflaumen, Aprikosen, Äpfel und Birnen. Nut etwa 30 Prozent der Frauen arbeiteten, meistens in Fabriken, die anderen waren Hausfrauen. Modische Kleidung war keine Priorität. Wenn jemand mit einem bestimmten Stil auftrat, fiel er sofort auf. Nur einige hochgebildete Leute sowie ein paar Teenager tanzten modisch aus der Reihe.
»Gleichheit und Brüderlichkeit waren das Motto in Jugoslawien – dennoch waren wir nicht gleichgestellt.«
MYP Magazine:
Welche Erinnerungen hast Du allgemein an die späten Achtziger im heutigen Serbien?
Milos Miskovic:
Die achtziger Jahre waren echt schön. Jugoslawien war zu dieser Zeit ein reiches Land. Die Menschen hatten normale Gehälter und konnten von dem, was sie verdienten, etwas sparen. Auf dem Land produzierten wir alles zu Hause, so dass unsere Gemeinde ein schönes Leben und genug Geld für einen komfortablen Lebensstil hatten. Gleichheit und Brüderlichkeit waren das Motto in Jugoslawien – dennoch waren wir nicht gleichgestellt mit anderen Familien, denen es besser ging. Und so wurde mir klar, dass ich mich anstrengen muss, um etwas aus meinem Leben zu machen. In der Schule hatte ich manchmal Probleme, weil es in meiner Familie orthodoxe Priester gab. Andererseits: Das Bildungssystem war sehr gut und bot viele Möglichkeiten für kluge Kinder, unabhängig von ihrem familiären Hintergrund.
MYP Magazine:
„Ich hoffe, dass er aus diesem Wahnsinn herauswächst“, zitierst Du deinen Vater und seine Sicht auf Deinen Berufswunsch. War das eher seine persönliche Meinung? Oder spiegelt der Satz eher die generelle kulturelle Sichtweise auf Männlichkeit zu dieser Zeit wider?
Milos Miskovic:
Ich denke, das war beides gleichermaßen. Ich war ein ungewöhnliches Kind: sehr kultiviert, sensibel, aber auch schlau. Mein Vater sagte mir, dass ich meine guten Noten im Gymnasium beibehalten müsse, sonst würde er mir nicht erlauben, in einem Haarstudio zu lernen. Meine Noten waren immer sehr gut, also konnte er sich nicht beschweren.
»Mein Highlight war es zu versuchen, bis zum nächsten Tag zu überleben.«
MYP Magazine:
Bereits 1989 hast Du deinen ersten Salon eröffnen – das hatte auch mit einer Inflation von unglaublichen 2.700 Prozent zu tun. Was ist da passiert?
Milos Miskovic:
Zu dieser Zeit dachte niemand daran, dass es in Jugoslawien eine Hyperinflation geben würde. Für mich war das ein echtes Glück, denn ich nahm davor einen Kredit bei der Bank in Dinar auf – und als die Hyperinflation einsetzte, wurde die monatliche Rate zu einem Witz. So konnte ich den Kredit ganz einfach zurückzahlen.
MYP Magazine:
In den folgenden Jahren hast Du unter anderem in einem renommierten Spa in Belgrad gearbeitet und bist gelegentlich nach London oder nach Paris gefahren, zum ersten Mal im Jahr 1997. Dennoch schreibst Du in Deinem Buch: „Nach meinem Arbeitstag ging ich zurück in meinen goldenen Käfig. Allein, um mich auszuruhen und Energie und Kraft für einen neuen Tag zu sammeln.“ Du warst damals ein junger Mann. Wie war das mit dem Ausgehen und Daten in dieser Phase Deines Lebens?
Milos Miskovic:
Ich habe zu jener Zeit auch eine Weile im Friseursalon eines Rehabilitations-Zentrums in Kanjiza gearbeitet, in der Nähe meiner Heimatstadt. Ich konnte nicht daten, weil ich wusste, dass ich schwul bin. Und wenn man mich in einer Stadt oder sogar weiter weg mit einem Mann gesehen hätte, hätten es alle herausgefunden. Also ging ich nach der Arbeit nach Hause. Mein Highlight war es, ein schönes Abendessen zu kochen und zu versuchen, bis zum nächsten Tag zu überleben. In dieser Zeit fühlte ich mich nur im Studio gut aufgehoben.
»Wir wussten nicht, wo die Bomben als nächstes fallen.«
MYP Magazine:
1999 begann die Bombardierung Deiner Heimat. Wie erinnerst Du dich an den Krieg?
Milos Miskovic:
Ich hätte nie gedacht, dass unser Land bombardiert werden würde. Für mich war das irgendwie absurd: Das ganze Volk sollte wegen der Entscheidung der Regierung bestraft werden. Zu diesem Zeitpunkt war das Land bereits von Milošević übernommen worden und die Bevölkerung hatte so gut wie keine Kontrolle über das, was die Regierung tat. Es war eine schreckliche Zeit. Wir alle hatten Angst, denn wir wussten nicht, was morgen passieren wird – und wo die Bomben als nächstes fallen.
MYP Magazine:
Wenn du heute über Kriege in der Ukraine oder im Nahen Osten liest: Hast Du einen besonderen Bezug zu den Betroffenen?
Milos Miskovic:
Wenn ich heute etwas über einen Krieg lese, tun mir die Opfer wirklich leid. Die Menschen, die keinen Krieg erlebt haben, können nicht verstehen, was für ein Druck das ist – und was für eine furchtbare Erfahrung. Sie können es sich einfach nicht vorstellen.
»Er brauchte seine Freiheit – aber ich brauchte jemanden wie ihn, der mich in das schwule Leben einführte.«
MYP Magazine:
„In dem Moment, in dem ich den Garten betrat, sah ich einen atemberaubend schönen jungen Mann an einem Pool liegen. Ein Blick auf seinen perfekten Körper ließ meinen Magen verkrampfen. Ich schaute schnell weg.“ Im Jahr 2000 hast Du auf Ibiza einen besonderen Mann kennen gelernt. Er hat Dir die Frage gestellt: „Bist du schwul?“ War das das erste Mal in Deinem Leben, dass Dich jemand nach Deiner Sexualität hat?
Milos Miskovic:
Ja, das allererste Mal. Ich war schockiert, dass er den Mut hatte, mich so etwas zu fragen. Gleichzeitig war ich auch von seiner enormen Schönheit schockiert – eine doppelte Verwirrung.
MYP Magazine:
Wie hast Du reagiert?
Milos Miskovic:
Ich habe erkannt, dass er tief im schwulen Lifestyle steckte. Außerdem war er in einer Lebensphase, in der er sich fragte: „Wo will ich hin und was will ich vom Leben?“ Und ich war da, um ihm zuzuhören. Ich hatte damals keine Ahnung von schwulen Communitys. Er leitete mich und versuchte, mich über alles aufzuklären, worauf ich achten musste. Wir beide waren zwei starke Menschen, die sich zur richtigen Zeit gefunden hatten. Dennoch wusste ich früh, dass er nicht in der Lage war, einer Person gegenüber loyal zu sein. Er brauchte seine Freiheit – aber ich brauchte jemanden wie ihn, der mich in das schwule Leben einführte.
»Wenn man seinen Beruf ernst nimmt, kann man nicht jeden Monat den Partner wechseln, das ist nicht seriös.«
MYP Magazine:
Dein Coming-out-Prozess hat sich über mehrere Jahre hingezogen. Wie hat Budapest Dein Leben als schwuler Mann verändert?
Milos Miskovic:
Das Beste war, dass ich dort frei war. Dennoch wurde mir schnell klar, dass die jungen Männer in Budapest keine ernsthafte Beziehung wollen und eher auf Sex aus sind – aber ich wollte unbedingt etwas Festes. Es war nicht leicht, jemanden zu finden, der es ernst meint mit mir; jemanden, der mich versteht und mit dem ich mein Leben gestalten will. Ich fing an zu erkennen, welche Art von Person die richtige für mich ist, und habe mich auf die Suche nach einem Partner gemacht…
MYP Magazine:
… und hast schließlich das Glück gefunden. Mit Deinem Partner Simon bist Du seit mittlerweile 17 Jahren liiert. Wie hat die ungarische Gesellschaft in den fast zwei Jahrzehnten auf Eure öffentlichen Auftritte reagiert?
Milos Miskovic:
Für mich ist es sehr wichtig, dass ich eine stabile Beziehung habe. Wenn man seinen Beruf ernst nimmt, kann man nicht jeden Monat den Partner wechseln, das ist nicht seriös. Die Gesellschaft in Serbien und auch in Ungarn betrachtet uns als normales, erfolgreiches Paar, das sich liebt. Als wir in Serbien das erste Mal zusammen gesehen wurden, wurden dort garantiert ein paar Augenbrauen hochgezogen. Aber da ich schon damals recht berühmt war und einige Leute meine Sexualität sicherlich schon länger in Frage gestellt hatten, war es keine große Überraschung, als ich eines Tages mit einem Mann aufgetaucht bin. Und dass wir von Menschen mit einer gewissen gesellschaftlichen Bedeutung akzeptiert wurden, die uns als Paar zu Partys und Hochzeiten einluden, hat uns ebenfalls den Weg geebnet.
»Es ist sehr besorgniserregend, welche repressiven Maßnahmen aktuell in Ungarn gegen die Queer- und Transgender-Community ergriffen werden.«
MYP Magazine:
Heute ist das queere Leben in Ungarn wieder bedroht: Was beunruhigt Dich, wenn Du auf die junge Generation blickst?
Milos Miskovic:
Man muss verstehen, dass Budapest mehr oder weniger eine Bubble ist und man das schwule Leben hier nicht mit dem im Rest des Landes vergleichen kann. Gleichzeitig ist es sehr besorgniserregend, welche repressiven Maßnahmen aktuell in Ungarn gegen die Queer- und Transgender-Community ergriffen werden – Maßnahmen, von denen wir alle wissen, dass sie aus rein politischen Gründen erfolgen. Das ist absolut nicht gut für das Selbstwertgefühl sowie das Selbstvertrauen junger queerer Menschen.
»Mein Leben wäre weniger einsam gewesen, wenn ich in der Lage gewesen wäre, mit einigen ausgewählten Vertrauten etwas offener zu sein.«
MYP Magazine:
Vor allem älteren Queers wird immer wieder folgende Frage gestellt: „Was würdest du deinem jüngeren Ich mit auf den Weg geben, wenn du es heute treffen würdest?“ Was würdest Du deinem sagen?
Milos Miskovic:
Meinem jüngeren Ich würde ich raten, Gruppen und Orte aufzusuchen, an denen sich aufgeschlossenere Menschen versammeln – einfach, um ein soziales Sicherheitsnetz um sich herum aufzubauen. Außerdem würde ich ihm sagen, dass es keine langfristige Lösung ist, seine Gefühle zu verstecken und zu unterdrücken. Die Rechnung kommt immer am Ende. Und ich würde meinem jüngeren Ich empfehlen, vor allem seinen engsten Freunden mehr zu vertrauen und mit ihnen offen über seine Gefühle zu sprechen. So sehr wir alle versuchen, unsere wahre Natur zu verbergen, am Ende kommt sie doch zum Vorschein.
Das Interessante dabei ist, dass es den meisten intelligenten und emotional entwickelten Menschen egal ist, wer wie fühlt und wer wen liebt. Ich selbst durfte das leider erst relativ spät lernen. Ich bin ziemlich sicher: Mein Leben wäre einfacher und weniger einsam gewesen, wenn ich in der Lage gewesen wäre, mit einigen ausgewählten Vertrauten etwas offener zu sein.
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Interview & Text: Katharina Viktoria Weiß
Fotografie: David Ajkai