Interview — Lamin Leroy Gibba

»Das Spezifische ist universell«

Lamin Leroy Gibba ist Schauspieler, Autor und Produzent und mit seiner aktuellen ARD-Serie »Schwarze Früchte« überall im Gespräch. Im Interview erzählt er uns, wie ihn sein Studium in den USA geprägt hat, warum die Arbeit an »Schwarze Früchte« so eine besondere und intensive Erfahrung war und wie er die deutsche Filmindustrie wahrnimmt und verändern will.

10. November 2024 — Interview & Text: Samuel Benke, Fotografie: Moritz Högemann

Wir treffen Lamin in den leeren Hallen des ehemaligen Café Kranzler und seiner anliegenden Shoppingcenter. Mitten im Zentrum der Hauptstadt steht hier ein gigantischer Raum leer. Die breiten Fenster schauen auf die rauschenden Straßen, an denen sich Autos und Passanten entlangschieben, die Flure sind durchgetreten von den vielen Sohlen einer Stadt, die sich in ständiger Bewegung befindet. Zwischendrin stehen noch Überreste einer Ausstellung, die hier letzte Woche stattfand, man hört die Vögel auf dem Dach flattern und den Wind, der in die berühmten rot-weißen Markisen fährt.

Das Kranzler X ist einer der vielen Orte, die den momentanen Wandel Berlins gut beschreiben. Hier ist Platz für neue Geschichten, aktuell finden in dem ehemaligen Café – als Hommage an den früheren Begegnungsort – kulturelle Events, Lesungen, Dinner und Performances statt, die die Räume mit neuem Leben füllen. Bis auch dieser Ort irgendwann abgerissen oder wieder neu geformt wird.

Die perfekte Location also, um über die Zukunft zu sprechen. Genauer gesagt: darüber, welche Geschichten wir brauchen in einer Zeit, in der sich alles zu verändern scheint, in der Gelder für die Kultur gekürzt werden und rechte Rhetorik unsere Bildschirme flutet.

Lamin Leroy Gibba schreibt diese Geschichten: Serien und Filme, die mit gängigen Sehmustern brechen, die Schwarze, queere Charakter in den Mittelpunkt stellen und einen sowohl zum Lachen als auch zum Nachdenken bringen. Mit seiner Arbeit verändert der 30-jährige Schauspieler, Autor und Produzent nicht nur, wie erzählt wird. Sondern auch, wer hinter der Kamera steht oder wer die Entscheidungen trifft. Damit rüttelt Lamin an vielem, was in der Filmbranche lange als selbstverständlich vorausgesetzt wurde.

„Schwarze Früchte“, sein jüngstes Werk, ist dafür das beste Beispiel. Mit der achtteiligen Serie, die vor Kurzem in der ARD-Mediathek veröffentlicht wurde, wirft er einen Blick in das Leben von Lalo: Der junge Mann ist Schwarz, queer und steckt im Chaos. Nachdem er vom unerwarteten Tod seines Vaters aus der Bahn geworfen wird, kompensiert er seinen Verlust mit überstürztem Tatendrang und trifft dabei so schnell Entscheidungen, dass alles in seinem Leben aus den Fugen gerät.

Im Interview mit Redakteur Samuel Benke spricht Lamin Leroy Gibba über den kulturellen Wandel, seine Hoffnungen und Geschichten und die Frage, was wir als Publikum von den Kämpfen seiner vielschichtigen Charaktere mitnehmen können.

»Die unabhängige Arbeit in New York hat geprägt, wie ich nach dem Studium weitergemacht habe.«

MYP Magazine:
Du hast in New York Schauspiel und Film studiert, obwohl Du zuvor bereits viel Schauspielerfahrung hattest. Warum?

Lamin Leroy Gibba:
Ich habe zwar seit meiner Kindheit bei Theatergruppen und später an Schauspielschulen gespielt, aber es war mir wichtig, das Handwerk noch einmal richtig zu lernen. Die Jahre in New York waren eine intensive Ausbildung. Ich habe dort so viel gelernt – für mich und für den Job, den ich jetzt mache. Da es ein interdisziplinäres Studium war, habe ich nicht nur gespielt, sondern musste auch schreiben. Es war also ein Ort, an dem ich viele Sachen ausprobiert habe. Ich habe mit meinem Mitstudierenden Projekte gestartet, Theaterstücke und Kurzfilme gemacht und die dann auch aufgeführt und gescreent. Diese unabhängige Arbeit hat geprägt, wie ich nach dem Studium weitergemacht habe. Ich warte eigentlich nie darauf, dass mir ein Projekt angeboten wird, sondern denke hauptsächlich darüber nach, welche Projekte ich machen will und wie ich sie umsetzen kann.

»Wir haben immer noch wenig Chancen, Geschichten zu erzählen, in denen Schwarze Protagonist*innen und erst recht Schwarze queere Protagonist*innen im Zentrum stehen.«

MYP Magazine:
Der amerikanische Markt ist größer, vielleicht auch vielfältiger als der in Deutschland. Warum hast Du die Entscheidung getroffen, wieder zurückzukommen und hier zu arbeiten?

Lamin Leroy Gibba:
Ich habe in den USA viele unterschiedliche Stoffe entwickelt und geschrieben. Und natürlich hat mich ein halbes Jahrzehnt dort auch stark geprägt. Aber es war und ist trotzdem nicht wirklich meine Perspektive. Ich war immer noch eine deutsche Person, die in New York lebt. Ich habe dort angefangen darüber nachzudenken, welche Storys in Deutschland gerne sehen würde. Mir war auch aus der Ferne bewusst, dass wir immer noch wenig Chancen haben, Geschichten zu erzählen, in denen Schwarze Protagonist*innen und erst recht Schwarze queere Protagonist*innen im Zentrum stehen. Also habe ich begonnen, einen Langfilm und eine Serie zu entwickeln. Ich bin mit dem Gedanken zurückgekommen, mir ein Jahr zu geben, um es in Deutschland noch einmal zu probieren. Sollte das nicht klappen, hätte ich mein Visum neu beantragt und wäre zurückgegangen. Aber jetzt bin ich hier und das fühlt sich genau richtig an.

»Es muss sich viel verändern in Deutschland, damit wir nachhaltig eine Vielfalt an Perspektiven abbilden können.«

MYP Magazine:
Dein Plan ist aufgegangen, Deine Serie „Schwarze Früchte“ ist sehr erfolgreich. Wie war es nach Deiner Zeit in den USA, sich in der deutschen Filmlandschaft wiederzufinden und auch durchzusetzen?

Lamin Leroy Gibba:
Ich glaube, dass ich in den letzten Jahren eine Art Community innerhalb der Filmbranche gefunden habe. Das liegt sicher auch daran, dass ich Teil von Schwarze Filmschaffende e.V. und der BIPoC Film-Society bin sowie mit vielen anderen Vereinen und Filmschaffenden verbunden bin, die alle sehr viel Tolles machen und bewegen. Aber wenn man die Branche im Allgemeinen betrachtet und sieht, welche Projekte gerade finanziert oder gedreht werden, sind wir immer noch an einem Punkt, an dem viele Perspektiven gar nicht vorkommen. Projekte wie „Schwarze Früchte“ sind immer noch Ausnahmen. Es muss sich viel verändern in Deutschland, damit wir nachhaltig eine Vielfalt an Perspektiven abbilden können.

»Diese Preise oder Nennungen verstärken für mich die Hoffnung, dass Projekte wie unseres auch in Zukunft umgesetzt werden.«

MYP Magazine:
Du hast für deine Arbeit schon viele Preise gewonnen und bist unter anderem auf der „Forbes 30 unter 30“-Liste gelandet. Was bedeuten diese Auszeichnungen für Dich?

Lamin Leroy Gibba:
Es ist toll, mit diesen Arbeiten gesehen zu werden. Diese Preise oder Nennungen verstärken für mich die Hoffnung, dass Projekte wie unseres auch in Zukunft umgesetzt werden – und dass meine und auch unsere Arbeit ein Stück einfacher wird in der Realisation, insbesondere hinsichtlich Ressourcen und Zugängen.

»Unsere Serie existiert schlussendlich auch nur wegen der aktivistischen Arbeit, die so viele Menschen über all die Jahre geleistet haben.«

MYP Magazine:
Die deutsche Kulturlandschaft und besonders die Förderstrukturen stehen gerade von vielen Seiten unter Druck, etwa weil Gelder gekürzt werden. Was ist Dein Blick darauf?

Lamin Leroy Gibba:
Meine Perspektive ist stark von meiner Zeit in Amerika geprägt, wo alles stark privatisiert ist und diese Art von Filmförderung wie hier in Deutschland überhaupt nicht existiert. Daher ist es erst mal toll, so etwas zu haben. Gleichzeitig sind die Streichungen absolut besorgniserregend. Es ist so wichtig, dass es Filmförderung gibt, die aus öffentlichen Mitteln finanziert wird. Natürlich ist in diesem Zusammenhang auch die Novellierung des Filmfördergesetzes erwähnenswert, die dafür sorgen sollte, dass im Film und seiner Förderung die Vielfalt unserer Gesellschaft abgebildet wird. Das ist auch etwas, wofür sich Schwarze Filmschaffende e.V. immer wieder einsetzt. Unsere Serie existiert schlussendlich auch nur wegen der aktivistischen Arbeit, die so viele Menschen über all die Jahre geleistet haben. Es geht darum, Politiker*innen und Entscheidungsträger*innen immer wieder darauf aufmerksam zu machen, wie wichtig Kultur für unsere Gesellschaft ist – und dass sie gefördert werden muss.

»Es geht darum, auf strukturelle Diskriminierung aufmerksam zu machen.«

MYP Magazine:
Wie sieht die Arbeit von Schwarze Filmschaffende e.V. aus?

Lamin Leroy Gibba:
Wir sind ein Zusammenschluss von Schwarzen Filmschaffenden im deutschsprachigen Raum, also in Österreich, Deutschland und der Schweiz. Das Ganze gab es auch schon einmal in den frühen 2000er Jahren. 2014 hat es als eine Facebook-Gruppe neu angefangen. Mittlerweile ist es auch ein eingetragener Verein und wir haben über 600 Mitglieder. Unsere Tätigkeit liegt im Austausch, aber auch in der aktivistischen Arbeit. Es geht darum, auf strukturelle Diskriminierung aufmerksam zu machen und immer wieder daran zu erinnern, wie wichtig die Repräsentation vielfältiger Perspektiven und Geschichten für die Kultur und unsere Gesellschaft ist. Das ist harte, aber wichtige Arbeit – umso schöner zu sehen, dass sie immer wieder Früchte trägt. (lacht)

»Es geht darum, welche Gespräche man führt und welche nicht, woran man sich abarbeiten muss und woran nicht.«

MYP Magazine:
Du hast das Community Building innerhalb der Branche angesprochen. Bei „Schwarze Früchte“ war das nicht nur im Entstehungsprozess wichtig, sondern auch vor und hinter der Kamera sichtbar. Ein Großteil der Mitarbeitenden war zum Beispiel Schwarz, Queer, BIPoC. Warum war das für die Arbeit wichtig?

Lamin Leroy Gibba:
Es war für unsere Arbeit essenziell. Es geht darum, welche Gespräche man führt und welche nicht, woran man sich abarbeiten muss und woran nicht. Natürlich waren auch bei uns nicht alle Perspektiven gleich präsent. Auch waren nicht immer alle einer Meinung. Trotzdem hat sich eine ganz besondere Leidenschaft entwickelt, weil alle einen gewissen Bezug zum Stoff hatten. Vom Maskenbild über das Kostümbild, Szenenbild, die Autor*innen, Regie, Kamera bis zur Requisite: Alle haben an einem Strang gezogen – weil sie wussten, wie besonders es ist, den Raum dafür zu haben, diese Geschichte so zu erzählen.

»Was, wenn diese und diese Person zusammen die Maske machen, was könnte daraus entstehen?«

MYP Magazine:
Du hast viele Rollen gleichzeitig übernommen: Headautor, Showrunner, Hauptdarsteller. War das nicht anstrengend?

Lamin Leroy Gibba:
Für mich war die Arbeit in gewisser Weise ein Masterstudium in Fernsehproduktion. Ich habe jetzt jeden Schritt miterlebt, jedes logistische Detail erfahren. Es war für mich ein riesiges Geschenk, ein Projekt vom Anfang bis zum Ende so intensiv zu begleiten. Allein die Teamzusammenstellung hat wahnsinnig viel Spaß gemacht. Fragen wie: Was, wenn diese und diese Person zusammen die Maske machen, was könnte daraus entstehen? Die Regisseur*innen David Uzochukwu und Elisha Smith-Leverock sind auch komplett unterschiedlich, stehen für unterschiedliche Ästhetiken und haben trotzdem zusammen etwas Wundervolles und Neues kreiert. Ich würde es genauso wieder machen.

»Wenn man sichtbar queer und Schwarz ist, ist die Auswahl an Rollen sehr beschränkt.«

MYP Magazine:
Wie war es für Dich, dir als Hauptdarsteller Deine eigene Rolle zu schreiben?

Lamin Leroy Gibba:
Es ist ein großes Ding, nach dem Studium zu checken: Okay, es gibt extrem wenige Rollen, bei denen an mich gedacht wird. Wenn man sichtbar queer und Schwarz ist, ist die Auswahl an Rollen einfach sehr beschränkt. Selbst in Amerika. Und die Rollen, die einem dann angeboten werden, sind oft einfach nicht komplex. Für mich war es daher um so wichtiger, diese Rolle zu schreiben. Mir war klar, ich wollte eine Rolle, die mich wirklich herausfordert – eine komplexe und komplizierte Rolle. Das ist Lalo geworden, darüber bin ich sehr froh.

»Lalo stülpt andere Gefühle über seine eigenen – in der Hoffnung, akzeptiert zu werden.«

MYP Magazine:
Was sind Lalos größte Herausforderungen?

Lamin Leroy Gibba:
Eine große Sache war, dass er seine Emotionen nicht benennen kann und oft gar nicht wirklich weiß, was er gerade fühlt. Er weiß nur, was gut und was nicht gut ankommt. Er stülpt dann andere Gefühle über seine eigenen – in der Hoffnung, akzeptiert zu werden. Ich glaube, das ist eines seiner größten Themen im Verlauf der Staffel: Masken. Ähnlich wie für seine beiden Freund*innen, Bijan und Karla.

»Was passiert, wenn man auf die eigenen Bedürfnisse nicht achtet, sich die eigenen Emotionen nicht erlaubt?«

MYP Magazine:
Karla und Bijan sind Lalos engste Vertraute, sie alle kämpfen mal subtil, mal sehr offensichtlich mit sich und ihrer Welt. Mit welcher Intention hast Du die beiden Figuren entworfen?

Lamin Leroy Gibba:
Bei Karla ist sehr viel los. Eins ihrer Themen ist, Verantwortung für andere zu übernehmen – für Lalo, aber auch für ihre Schwester: immer wieder Stärke zeigen zu müssen, die ihr von der Gesellschaft aufgezwungen wird. Auf der Arbeit und im Alltag trägt sie eine Vielzahl an Masken, die ihr helfen, alles zu navigieren. Was macht das mit einem auf lange Zeit? Was passiert, wenn man auf die eigenen Bedürfnisse nicht achtet, sich die eigenen Emotionen nicht erlaubt?
Auch Bijan kämpft mit seinen Masken. Bei ihm sind sie aber luxuriös. Sie lassen es wirken, als wäre bei ihm alles in Ordnung. Anders als bei Karla vergleichen sich Bijan und Lalo viel, zum Beispiel in Bezug darauf, wer mehr geliebt wird. Ich sehe viele Möglichkeiten darin, dass die beiden an ihrer Freundschaft arbeiten und aneinander wachsen. Dafür müssten sie aber aussprechen können, was ihre Ängste und Sorgen sind.

»Wir haben so viele berührende Nachrichten von Menschen erhalten, die beschreiben, was die Serie für sie bedeutet.«

MYP Magazine:
„Schwarze Früchte“ ist sehr erfolgreich angelaufen. Ist eine zweite Staffel in Planung?

Lamin Leroy Gibba:
Es gab schon im Writers‘ Room immer wieder die Einigkeit: Ja, das schreiben wir dann in die zweite Staffel. Die Lust ist da – aber diese Frage ist eine, die erst später entschieden wird. Die Reaktionen sind aber schon jetzt wirklich überwältigend. Wir haben so viele berührende Nachrichten von Menschen erhalten, die beschreiben, was die Serie für sie bedeutet. Und auch, dass sie sich in den unterschiedlichsten Charakteren wiederfinden. Das zeigt etwas, das ich immer wiederhole: Das Spezifische ist universell. Menschen mit den unterschiedlichsten Backgrounds erkennen sich in unserer Geschichte wieder. Was für ein tolles Gefühl, davon ein Teil zu sein – und zu sehen, dass sich diese ganze Arbeit mit all den Entscheidungen und der Energie, die wir alle da reingesteckt haben, gelohnt hat. Und dass sie gesehen wird. Das ist ein großer Erfolg für mich.

„Schwarze Früchte“ ist in der ARD-Mediathek verfügbar.