Interview — Kilian Kerner

Der Ruf der großen Stadt

Comeback des Berliner Modeschöpfers: Kilian Kerner erklärt, warum er jetzt ein besserer Mensch ist und was ihn an der Datingkultur der Hauptstadt so traurig stimmt.

22. Januar 2019 — MYP N° 24 »Morgen« — Interview: Katharina Weiß, Fotos: Robin Kater

Als vor genau einer Woche die Mercedes-Benz Fashion Week im Berliner E-Werk gastierte, hallten überraschte Jubelrufe durch den historischen Backsteinbau. Der Grund für die ungewöhnlich lebhafte Reaktion des Publikums war ein Kleidungsstück, genauer gesagt ein Sweater. „I’m gay and my parents love me“ war darauf zu lesen – eine Botschaft, die den vielen queeren Modeblogger*innen im Publikum besonders gut gefiel.

Zu sehen war der Sweater auf der Show des Modedesigners Kilian Kerner – und dieses Kleidungsstück war bei weitem nicht das Einzige, was die Mundwinkel der geladenen Gäste nach oben wachsen ließ: Das Publikum feierte neben Kerners neuer Kollektion vor allem die Tatsache, dass der Berliner Designer hier im E-Werk sein Comeback feierte. Nach dem Ende seines Labels im Jahr 2016 mussten die Catwalks der Hauptstadt eine ganze Weile auf sein Talent verzichten, jetzt ist er wieder da.

In ein paar Wochen wird Kilian Kerner 40 Jahre alt. Man könnte also sagen, dass er seinen runden Geburtstag schon mal vorfeiert, indem er sich eine Reise zurück zu seinen Wurzeln schenkt, zur Berliner Fashion Week. Viel wichtiger aber ist zu erwähnen, dass der Modeschöpfer mit seiner neuen Kollektion auch ein neues Verkaufskonzept mitgebracht hat, das so ziemlich mit allen Regeln der Branche bricht: Müssen interessierte Kunden normalerweise mindestens eine Saison warten, bis sie die auf dem Laufsteg gezeigten Stücke auch tatsächlich kaufen können, ist Kerners „watch and buy“-Kollektion bereits jetzt in seinem Onlineshop verfügbar – nur eine Woche nach der Show. „KXXK“ nennt er das Ganze – und die Arbeit daran ist wahrscheinlich nicht nur das größte Geburtstagsgeschenk, das man sich selbst machen kann, sondern auch das anstrengendste.

Umrahmt wird Kilian Kerners Comeback von einem Film, dem er den Titel „Großstadtleben“ gegeben hat. Der Schwarzweiß-Streifen erzählt davon, wie es sich anfühlt, wenn man dem unbändigen Ruf einer Metropole wie Berlin erliegt – mit all ihren Möglichkeiten und Verlockungen, mit all ihren Tücken und Enttäuschungen. Wir haben den Modedesigner im Vorfeld der Dreharbeiten am Set zum Interview getroffen.

Katharina:
Warum ist die Berliner Konkurrenz noch nicht auf die Idee gekommen, so eine progressive „watch and buy“-Systematik zu etablieren?

Kilian:
Als Designer bringt man, wie ich es früher auch gemacht habe, eigentlich jedes Jahr zwei Kollektionen heraus. Das ist viel Arbeit. Diesem Fluss kann man sich auch nur schwer entziehen, weil man von vielen Leuten abhängig ist, die sich diesem Rhythmus angepasst haben: Stoffproduzenten, Presse und so weiter. Da ich ohne die Verantwortung für ein Label keiner Norm mehr hinterherlaufen muss, kann ich dieses Experiment wagen und etwas zeigen, das sofort verkaufbar ist. In den letzten Jahren habe ich vor allem mit Kooperationspartnern gearbeitet und zum Beispiel eine Tennis-Kollektion sowie Business-Handtaschen für Samsonite entworfen. Das Projekt KXXK dagegen sehe ich als Kooperation mit mir selbst.

Katharina:
Du bist seit über 16 Jahren in der Branche und hast viele Aufs und Abs mitgemacht. Wie hat sich die Szene in deinen Augen verändert?

Kilian:
Da ist viel passiert. Es gab Tiefpunkte wie etwa die weltweite Finanzkrise, aber um das Jahr 2012 herum auch einen Boom für deutsche Labels. Auch ich habe damals einen Riesensprung gemacht: 2010 war ich in elf Läden vertreten, knapp zwei Jahre später in über 120 weltweit. Zur aktuellen Lage kann ich wenig sagen, da ich mich in letzter Zeit wenig damit beschäftigt habe.

»Ohne den ganzen Stress und Druck viel netter und freundlicher geworden.«

Katharina:
Wie wirkt sich deine aktuelle Lebensphase auf das Design von KXXK aus?

Kilian:
Die wirkt sich extrem darauf aus! Ich war in den Jahren als Labelchef eine sehr gestresste, sehr angespannte Person. Das hat sich verändert. Ich bin jetzt ein ganz anderer Mensch.

Katharina:
Ein besserer?

Kilian:
Ja, definitiv. Ich bin ohne den ganzen Stress und Druck viel netter und freundlicher geworden. Und ich empfinde mich als entspannter. Das sieht man auch an der Kollektion, die ist sehr lässig. Vieles ist sehr oversized. Der Stil ist zwar immer noch eher hochgeschlossen, aber die Strenge ist verloren gegangen, was ich sehr gut finde.

Katharina:
Stimmt es, dass du erst vor zwei Monaten auf die Idee kamst, eine Kollektion zu kreiern? Das wäre ja in der Kürze der Zeit ein Mammutprojekt…

Kilian:
Ja, es ist wahr. Ende Oktober hatte ich plötzlich Lust darauf. Ganz spontan rief ich dann meine Managerin und die Kooperationspartner an, die natürlich erst mal sehr erstaunt waren. Für mich ist das ein Geschenk, dass ich mir selbst zu meinem 40. Geburtstag mache. Viele fanden das ein bisschen irre und es war auch ein wilder Ritt, aber für mich geht es damit zurück zum Ursprung: Mode machen, und zwar aus reiner Lust an der Freude.

Katharina:
Welches Stück aus deiner neuen Kollektion macht dich besonders stolz, weil es zum Beispiel besonders vielseitig ist?

Kilian:
Das kann ich jetzt noch nicht sagen, so etwas kristallisiert sich immer erst im Nachhinein heraus. Es sind 34 Looks, also um die 70 Einzelteile, alle in einem schicken, modernen Street Style. Meine ausladenden Roben und die bestickten Kleider sind für diesen Moment erst mal Vergangenheit. Ich hoffe, da war keiner enttäuscht. Es ist keine Showeffekt-Kollektion, sondern eine komplett im Alltag tragbare Kleidung für Menschen, die Mode mögen.

»Wenn man in der heutigen Zeit die Chance bekommt, den Mund aufzumachen, muss man das auch tun.«

Katharina:
Warum hast du dich bemüßigt gefühlt, politische Statements auf deine Hoodies zu drucken?

Kilian:
Weil ich finde: Wenn man in der heutigen Zeit die Chance bekommt, den Mund aufzumachen, muss man das auch tun. Die Statements sind sehr ernst gemeint, haben aber einen selbstironischen Unterton. Der Spruch „Ich bin kein Rassist und dafür muss ich nicht mal schlau sein“ drückt aus, dass es das einfachste Ding der Welt ist, kein Idiot zu sein. Wie kann man einen Menschen hassen, nur weil er nicht aus dem gleichen Land kommt? Ich verstehe das ganze Konzept von Rassismus einfach nicht. In den fünf Kleidungsstücken mit Statement-Druck geht es einfach darum, Menschlichkeit zu zeigen.

Katharina:
Und die vermisst du wann am meisten?

Kilian:
Es fängt schon in der Kindheit an – mit Mobbing. Das habe ich selbst erlebt. Kinder können das Gemeinste auf der Erde sein. Ich war auch Mobbingopfer und finde, dass wir uns selbst und unsere Kinder immer wieder für Menschlichkeit sensibilisieren müssen. Wenn dann eine Frau wie Annegret Kramp-Karrenbauer zur CDU-Chefin gewählt wird, die die Homo-Ehe mit Inzest verglichen hat, dann finde ich das schlichtweg zum Kotzen. Da will ich nicht schweigen.

Katharina:
Wie kamst du auf die Idee zu deinem neuen Fashionfilm, in dem Gizem Emre aus „Fack ju Göhte“ die Hauptrolle übernommen hat?

Kilian:
Die Kollektion thematisiert das Hauptstadtleben, der Film setzt das in den Kontext zur schwierigen Datingkultur Berlins. Man weiß: Hier gibt es immer Nachschub an potenziellen Partnern. Und als ich Anfang 20 war, habe ich da auch mitgemacht. Aber irgendwann nervt das. Erst nur ein wenig, dann ganz massiv. Hier legt sich einfach niemand fest. Man muss nicht nur mit anderen Anwesenden in einem Club konkurrieren, sondern auch mit der Auswahl auf Tinder, Grindr und Co. Diese Konflikte werden im Film von einer jungen Frau verkörpert, die sich kompromisslos alles nimmt, was sie will – aber dabei eigentlich unglücklich ist.

Katharina:
Du hast im Vorfeld verlauten lassen, dass vor allem die Band Rakede dein neues Design maßgeblich beeinflusst hat. Das wirkte insofern etwas überraschend, da die Deutschpop-Band mit Reggae und Hiphop-Elementen eher nach Kiffen am Baggersee klingt als nach Champagner auf dem Catwalk. Was genau konntest du für dich aus der Musik herausziehen?

Kilian:
Ich habe eh keine Champagner-Kollektion gemacht, deshalb ist das total in Ordnung. Ich mag diese Band schon sehr lange und als ich kürzlich im Flugzeug saß und mal wieder ihre Musik hörte, wurde mir erneut deutlich bewusst: Die halten auch nicht den Mund, sondern sagen, was sie denken. Das hat mich zu den politischen Statements der Kollektion inspiriert. Wenn ich das Lied „Hurensöhnlein Brilliant“ höre, muss ich etwa sofort an Trump und andere denken. Deshalb lief das Lied auch während meiner Show auf der Fashion Week.

»Ich konnte mir erst auch nicht ganz vorstellen, wie Crocs zu meinen Sachen aussehen würden.«

Katharina:
Ebenso ungewöhnlich wie die Musik war die Wahl deines Schuhwerk-Kooperationspartners…

Kilian:
Stimmt. Als die Anfrage kam, konnte ich mir erst auch nicht ganz vorstellen, wie Crocs zu meinen Sachen aussehen würden. Aber ich finde, es passt wie die Faust aufs Auge und gab dem ganzen Look nochmal einen großen Kick. Bei all dem neuen Wind bin ich aber auch dankbar für die Treue meiner langjährigen Kooperationspartner, dem Premium-Wasser Staatl. Fachingen sowie Samsonite, die wirklich immer hinter mir stehen und mit im Boot sitzen. NYX Professional Makeup dagegen ist ein ganz neuer Partner, auf den ich sehr stolz bin.

Katharina:
Viel Persönliches erfährt man von dir in den sozialen Netzwerken nicht, du drückst dich eher durch deine Kunst aus. Was allerdings bekannt ist: Du bist großer Tennis-Fan. Vielleicht kannst du noch das eine oder andere Geheimnis mehr für uns lüften. Wie wohnst du zum Beispiel?

Kilian:
In meiner Freizeit geht tatsächlich viel Zeit für Tennis drauf. Das spiele ich nicht nur selbst, sondern schaue es mir auch an und reise zu Turnieren. Zu meinem Zuhause: Ich wohne in Pankow, in einer Loft-artigen Wohnung mit dicken Steinwänden. Es gibt ein Schlafzimmer und einen sehr großen Hauptraum, der verschiedene Ebenen hat, die man über kleine Stufen erreichen kann. Die Einrichtung ist eher minimalistisch, mit gedeckten Farben. Ich habe viel Kunst an den Wänden, Modefotografien oder ähnliches sind aber nicht dabei. Momentan sieht es allerdings bei mir zuhause aus, weil überall Stoffe und Schnitte herumliegen. So sehr ich die Zeit der Fashion Week auch genieße – ich freue mich, endlich mal aufräumen zu können, wenn das Ganze vorbei ist.

»Als ich noch jung und unschuldig war, kannte ich kein Halten.«

Katharina:
Wie verbringst du einen idealen Tag mit deinem Partner?

Kilian:
Ich habe ja gerade keinen, aber wenn ich einen Freund hätte, dann wäre das vielleicht so: Ich wache zuerst auf und bringe ihm Frühstück ans Bett. Dann würden wir ein bisschen Händchen halten und vielleicht was auf Netflix gucken. Und gegen zwölf Uhr könnten wir dann langsam aufstehen und spazieren gehen. Einfach miteinander Quality Time verbringen. Wenn ich mich jetzt verlieben würde, dann würde ich versuchen, so viel Zeit wie möglich alleine mit dieser Person zu verbringen. Ich würde mich auch freuen, wenn ich meinem Freund die Liebe fürs Tennisspielen näherbringen könnte. Außerdem reise ich gerne. Irland finde ich besonders schön, da bin ich schon mehrfach gewesen, das würde ich ihm zeigen. Ein Clubgänger bin ich allerdings überhaupt nicht mehr – da habe ich mich exzessiv ausgelebt, als ich nach Berlin gezogen bin.

Katharina:
Das hat für ein Leben gereicht…

Kilian:
Das hat für zwei Leben gereicht! Als ich noch jung und unschuldig war, kannte ich kein Halten.

»Als es mit meinem Label vorbei war, war es für meine Freunde teilweise schlimmer als für mich.«

Katharina:
In jeder Karriere läuft es mal besser, mal schlechter: Hast du das Gefühl, von Freunden umgeben zu sein, die dich in jeder Lebenslage unterstützen? Oder wurdest du in der Vergangenheit auch oft von Menschen enttäuscht?

Kilian:
Ohne meine Freunde hätte diese Spontanaktion mit der Kollektion nicht funktioniert. Viele von ihnen arbeiten in verwandten Bereichen, zum Beispiel als Grafiker, Schnittmacher oder Fotografen – die konnte ich sofort einspannen, die sind immer für mich da. Als es damals mit meinem Label vorbei war, war es für meine Freunde teilweise schlimmer als für mich. Dass ihnen das so nah gegangen ist, hat mich sehr berührt. Aber natürlich gibt es auch viele Beziehungen, die unschön auseinander gegangen sind. Wenn du diesen Job 16 Jahre lang machst, dann wird man oft enttäuscht, verarscht und betrogen – und auch ich habe mit Sicherheit einige Leute enttäuscht. Über das Thema könnte ich Bücher schreiben.

Katharina:
Mit welchen Strategien überkommst du solche Rückschläge?

Kilian:
Ich bin schon als Kämpfer auf die Welt gekommen. Als Kind hatte ich mit Asthma zu tun, bin einmal fast erstickt, das war prägend. Ich boxe mich immer durch. Und wenn ich etwas wirklich will, dann räume ich jedes Hindernis zur Seite.