Interview — Jugend gegen AIDS

Mit Liebe, Respekt und Kondomen

Jugend gegen AIDS engagiert sich nicht nur im Kampf gegen eine immer noch unheilbare Krankheit, sondern auch für einen offeneren Umgang mit Sexualität in der Gesellschaft. Roman Malessa ist einer der vielen Ehrenamtlichen, die sich bei JGA für eine bessere Welt einsetzen.

10. August 2018 — MYP N° 23 »Instinkt« — Interview: Jonas Meyer, Fotos: Franz Grünewald

Als das britische News-Portal Metro Ende Mai einige Motive aus Gideon Mendels Fotoserie „The Ward“ veröffentlichte, wirkten diese wie von einem anderen Stern: Der südafrikanische Fotograf verbrachte 1993 mehrere Wochen auf der „Charles Bell Krankenstation“ im Londoner Middlesex Hospital, wo er vier AIDS-Patienten und deren Besucher fotografieren durfte. Alle vier Patienten starben kurz nach Aufnahme der Bilder – mit dem Wissen, dass es keine Heilung oder wirksame Therapie für die tödliche Krankheit gab. Sogenannte antiretrovirale Medikamente, die die Vermehrung des HI-Virus im Körper verhindern, waren im Jahr 1993 noch nicht entwickelt.

Die Fotos von Gideon Mendel erscheinen deshalb so ungewohnt, weil solche Bilder heute einfach nicht mehr vorkommen – zumindest nicht in unseren Breitengraden. Knapp 40 Jahre HIV- und AIDS-Forschung haben es ermöglicht, dass Infizierte mittlerweile ein fast normales Leben mit einer fast normalen Lebenserwartung führen können. Jedenfalls wenn sie in den modernen und reichen Teilen dieser Erde leben, in denen es einen bezahlbaren Zugang zu den entsprechenden Medikamenten gibt.

Eine Institution, die sich seit Jahrzehnten in der HIV- und AIDS-Forschung engagiert, ist die Berliner Charité. Mit über 3.000 Betten ist sie nicht nur eine der größten Universitätskliniken Europas, sondern auch das ältestes Krankenhaus der Stadt. 1710 als Pesthaus gegründet, wurde die Einrichtung ein Jahrhundert später – mit Aufnahme des Lehrbetriebs der Berliner Universität – zu einer bedeutenden Lehr- und Forschungsstätte, deren Geist man auch heute noch an vielen Ecken sehen und spüren kann.

Im Kampf gegen HIV und AIDS geht es aber nicht nur um medizinischen Fortschritt. Es geht auch um Aufklärung – um sexuelle wie gesellschaftliche. Und es geht um Entstigmatisierung. Gideon Mendel sagt, dass die Patienten damals auf der Krankenstation unglaubliche Tapferkeit zeigten, indem sie ihm erlaubten, sie zu fotografieren – vor allem in Anbetracht der hohen Stigmatisierung und Angst vor AIDS, die zu jener Zeit existierten.

Jugend gegen AIDS ist dabei eine der vielen Organisationen, die sich mit aller Kraft um sexuelle wie gesellschaftliche Aufklärung bemühen. Im Jahr 2009 aus einer Schüleraktion in Hamburg entstanden, zählt sie heute zu den erfolgreichsten Aufklärungsinitiativen der Welt. Rund um den Globus engagieren sich für JGA über 500 ehrenamtliche Mitglieder und Tausende Unterstützer im Kampf gegen HIV und AIDS. Außerdem ist es das erklärte Ziel der Initiative, für einen offeneren Umgang mit Sexualität einzutreten, insbesondere bei jungen Menschen. Die knackige Botschaft dabei lautet: „#dowhatyouwant – aber mach es mit Liebe, Respekt und Kondomen!“

In ihrem Engagement versteht sich Jugend gegen AIDS immer als Gemeinschaft – und so werden die Mitglieder nicht müde zu betonen, dass es hier um nichts anderes geht als das gemeinsame Ziel. Und nicht um die einzelne Person, die sich für dieses Ziel engagiert.

Dass aber jede Organisation, jede Bewegung nur lebensfähig ist, wenn es Individuen gibt, die sich mit ihren ganz persönlichen Lebensgeschichten und Motiven einbringen, um dann mit anderen Individuen für ein gemeinsames Ziel zu kämpfen, dafür steht Roman Malessa, Kommunikationsvorstand von Jugend gegen AIDS. Wir haben den 24-Jährigen zu einem Gespräch im historischen und denkmalgeschützten Oskar-Hertwig-Hörsaal der Berliner Charité getroffen – als Stellvertreter einer jungen Generation, die die Welt zu einem besseren Ort machen will.

Jonas:
Ende April hast du auf Instagram ein Foto aus Brasilien gepostet, das du mit folgender Textzeile kommentiert hast: „After four years I am coming back to the place where my worldview changed and my social engagement started.” Was genau ist dort passiert, das die Kraft hatte, deine Sicht auf die Welt zu verändern?

Roman:
Im Sommer 2014 bin ich für drei Monate nach Brasilien gegangen, um dort ein Auslandspraktikum zu absolvieren. In dieser Zeit habe ich vor allem in einem Kinder- und Jugendzentrum in einem Dorf in Alagoas gearbeitet, einem ziemlich armen Bundesstaat im Nordosten des Landes. Diese drei Monate waren eine äußerst prägende Phase für mich. Ich war gerade erst 20 geworden und hatte die klassische Weltsicht eines jungen Menschen aus Zentraleuropa, der – weltweit gesehen – unter sehr privilegierten Umständen aufwächst. Wenn man als ein solcher privilegierter Zentraleuropäer nicht nur für eine Woche Urlaub, sondern für ganze drei Monate in ein Land geht, in dem Elektrizität oder Trinkwasser Luxusgüter sind, in dem unzählige Kinder auf der Straße leben und in dem Suchtprobleme, Kriminalität und Korruption an der Tagesordnung sind, ist das ein fundamentaler Einschnitt – so etwas kannte ich aus Europa einfach nicht.

»Was ist ein Problem für die Leute in Deutschland? Und was ist ein Problem für die Menschen auf der anderen Seite der Welt?«

Jonas:
Wie genau hat sich dein Weltbild in Brasilien verändert?

Roman:
Ich würde sagen, dass sich meine Sicht auf Probleme kolossal verändert hat. Nach drei Monaten Alagoas fragt man sich: Was ist überhaupt ein Problem? Was ist ein Problem für mich selbst beziehungsweise für die Leute in Deutschland? Und was ist ein Problem für die Menschen auf der anderen Seite der Welt? Was ist eine Herausforderung bei uns? Und was ist eine Herausforderung in Alagoas? Diese Fragen stellt man sich in Bezug auf die unterschiedlichsten Bereiche des Lebens. Das fängt an mit der Herausforderung, den Alltag zu meistern, wenn man einfach mal keinen Strom hat, und das für drei, vier oder fünf Tage. Und es geht weiter mit der Herausforderung, nicht genügend Geld zu haben, um sich etwas zu essen zu kaufen – in einem Land, in dem es diese sozialen Sicherungssysteme, wie wir sie aus Deutschland kennen, einfach nicht gibt. Durch all diese Erfahrungen hat sich meine Sicht auf die Welt wirklich grundsätzlich verändert.

Jonas:
Und diese Veränderung des Weltbilds war auch der Grund, warum du dich entschieden hast, dich für Jugend gegen AIDS zu engagieren?

Roman:
Nicht unmittelbar. Als ich aus Brasilien zurückkam, war ich unglaublich froh, wieder in Deutschland zu sein – weil ich die krassen Privilegien hier zum ersten Mal wirklich zu schätzen wusste. Vor meiner Zeit in Alagoas hätte ich wahrscheinlich auch behauptet, dass ich meine Privilegien in Deutschland zu schätzen weiß. So etwas sagt sich ja wirklich unglaublich leicht. Aber erst durch meine Zeit in Brasilien wusste ich plötzlich tatsächlich, was es bedeutet, privilegiert zu sein. Nach meiner Rückkehr habe ich angefangen, mich in verschiedenen Bereichen zu engagieren, hauptsächlich in der internationalen Jugendpolitik. So bin ich letztendlich auch zu Jugend gegen AIDS gekommen – denn ein guter Freund, der ein wenig verfolgte, was ich so tat, sagte eines Tages zu mir: „Roman, du machst so viel neben deinem Studium – ich glaube, ich hätte da noch eine andere Organisation für dich, die dir gefallen könnte: Jugend gegen AIDS. Hättest du nicht Lust, dir das mal anzuschauen?“ Und da ich schon immer sehr neugierig war und alles Mögliche wissen wollte, habe ich mich mit Jugend gegen AIDS befasst und mal vorbeigeschaut – und es hat gleich für mich gepasst. Die Organisation war damals schon in Deutschland sehr erfolgreich und die vielen kreativen Projekte haben mich total begeistert – aber ich habe mir gleichzeitig auch die Frage gestellt, warum die Organisation trotz der zahlreichen Anfragen aus dem Ausland nur hier in Deutschland aktiv war. So wurde es zu meiner ersten Aufgabe, gemeinsam mit unserem Vorsitzenden Daniel Nagel eine Strategie zu entwickeln, wie wir auch Jugendliche in anderen Ländern mit unseren verschiedenen Aufklärungsangeboten erreichen können.

Jonas:
Was wäre passiert, wenn dir dein guter Freund damals nicht empfohlen hätte, bei Jugend gegen AIDS vorbeizuschauen? Wärst du bei einer anderen NGO gelandet, zum Beispiel Amnesty International?

Roman:
Ich glaube ehrlicherweise nicht, dass ich damals auf der dringenden Suche nach einer neuen Erfüllung war. Allerdings habe ich mit Jugend gegen AIDS eine Organisation gefunden, die zu mir passt und bei der ich mich zuhause fühle. Und bei der ich – und das ist etwas sehr Besonderes – alle Dinge, die wir tun, zu einhundert Prozent unterschreiben und dahinterstehen kann. Bei anderen Organisationen gab es immer die Herausforderung, dass ich nicht mit jeder Position konform gegangen bin. Aber bei Jugend gegen AIDS stoße ich selten auf Aussagen oder Bewertungen, bei denen ich das Gefühl hätte, dass sie nicht mit meiner Weltsicht übereinstimmen würden oder damit unvereinbar wären. Das liegt aber auch daran, dass wir generell sehr liberal sind und unsere Leute selber denken lassen – und dass wir ihnen konkret sagen: „Mach was du willst, aber mach es mit Liebe, Respekt und Kondomen!“

»Menschen sind verschieden, aber nicht verschieden viel wert.«

Jonas:
Sich irgendwo zuhause fühlen ist ein großer, starker Begriff. Warum genau fühlst du dich bei Jugend gegen AIDS so gut aufgehoben?

Roman:
Ich habe durch mein Elternhaus bereits sehr früh gelernt, dass es wichtig ist, alle Menschen so zu respektieren, wie sie sind: Menschen sind verschieden, aber nicht verschieden viel wert. Mit Jugend gegen AIDS habe ich eine Organisation kennengelernt, die unglaublich weltoffen und vielfältig ist und die versucht, die Welt mit vielen konkreten Projekten besser zu machen – und das an einer ganz bestimmten Stelle: beim Kampf gegen HIV und AIDS. Jugend gegen AIDS tut dies zum Beispiel über Aufklärungsprojekte, sprich über Bildung. Und diese Kombination aus Bildung und Vermittlung von Werten, mit denen ich mich absolut identifizieren kann, macht Jugend gegen AIDS für mich zu etwas ganz Besonderem.

Jonas:
Glaubst du, du wärst ohne deine Brasilien-Erfahrung auch bei Jugend gegen AIDS gelandet?

Roman (lächelt):
Das ist eine schwierige Frage. Ich möchte nicht sagen: Nein, auf keinen Fall! Denn ich weiß nicht, wie ich mich ohne meine Zeit in Brasilien entwickelt hätte. Vielleicht hätte ich in meinem Leben andere wichtige Erfahrungen gemacht, die mich letztendlich auch zu Jugend gegen AIDS gebracht hätten, wer weiß?

»Ich finde, an einem Badesee oder auf einem Festival Kondome zu verteilen, ist ein sehr authentischer Beitrag.«

Jonas:
An welchem Punkt stand Jugend gegen AIDS, als du dort 2016 angefangen hast?

Roman:
Jugend gegen AIDS ist 2009 aus einer Schülerinitiative entstanden, im Jahr 2010 wurde daraus ein eingetragener Verein – das war sozusagen die offizielle Grundsteinlegung. 2016 war die Organisation also bereits gute sechs Jahre alt und recht erfolgreich. Als ich dazugekommen bin, waren wir gerade auf unserer alljährlichen Sommertour. Sommertour heißt, wir fahren immer genau dorthin, wo sich junge Leute im Sommer so aufhalten: auf Festivals, an Badeseen und so weiter. Dort verteilen wir Kondome und versuchen, für eine aufgeklärte, vielfältige Gesellschaft zu werben – daher sind wir immer auch auf Prides oder CSDs vertreten. Ich finde, an einem Badesee oder auf einem Festival Kondome zu verteilen, ist ein sehr authentischer Beitrag. Denn es wird mir auf einem Festival zwar kaum gelingen, jemanden bis ins Detail aufzuklären, aber wenn ich ihm oder ihr sage: „Pass auf: Egal, was du heute machst, mach es mit Liebe und Respekt, und hier hast du auch noch ein Kondom dazu!“, da macht man alles richtig. Oder zumindest nichts falsch. Ich finde, das ist eine gute Message. So habe ich im Sommer 2016 ganz konkret bei Jugend gegen AIDS angefangen, das war die Situation. Und wie ich bereits erzählt habe, waren wir damals nur in Deutschland tätig. Allerdings haben wir immer wieder Nachrichten aus Österreich erhalten, in denen wir gefragt wurden, warum wir nicht auch dort aktiv seien. Nachdem wir immer wieder gefragt wurden, ob wir nicht mal einige Postkarten und Plakate rüberschicken könnten, haben wir entschieden, unsere Initiative auch in anderen Ländern zu starten. Mehr als scheitern konnten wir ja nicht. So ist unsere Kampagne im Laufe der letzten Jahre immer weitergewachsen – und damit auch unsere Organisation.

Jonas:
Mittlerweile werdet ihr weltweit von zahlreichen Prominenten, Politikern und Unternehmen unterstützt. Was braucht es, um eine Idee wie Jugend gegen AIDS in weniger als zehn Jahren so erfolgreich zu machen?

Roman:
Ich glaube nicht, dass es eine Universalerklärung dafür gibt, warum gerade unsere Initiative so erfolgreich geworden ist. Da kamen im Laufe der Jahre viele verschiedene Faktoren zusammen. Grundsätzlich haben wir aber immer das Ziel, gemeinsam mit unseren Partnern zu wachsen. Die Lochis sind dafür ein gutes Beispiel – Roman und Heiko haben uns bereits vor vier Jahren unterstützt, da waren sie zwar schon bekannt, aber standen noch nicht so im Rampenlicht wie heute. Darüber hinaus ist es wichtig, gerade in der Anfangszeit den Leuten zu erklären, was man machen möchte und wohin man damit will. Dazu muss die Idee, die man hat, in sich wirklich rund sein – und man muss sie authentisch kommunizieren: Wir sind junge Leute, die andere junge Leute auf Augenhöhe aufklären und die sich dabei nicht verkaufen.

Jonas:
Welche Beweggründe hat ein Unternehmen wie Levi’s, euch so medienwirksam zu unterstützen?

Roman:
Levi’s engagiert sich bereits seit vielen Jahren gegen HIV und AIDS, auch über eine eigene Stiftung. Die Levi Strauss Foundation fördert dazu Projekte auf der ganzen Welt, außerdem hat das Unternehmen seinen Hauptsitz in San Francisco und hat sich alleine deshalb schon sehr früh mit der Thematik auseinandersetzt. Für die Marke ist es etwas ganz Natürliches, mit einer Organisation wie uns zusammenzuarbeiten. Und davon abgesehen ist Levi’s eine Firma, die schon immer für Vielfalt stand und als eine der ersten überhaupt auf Prides vertreten war.

»Sehr viele Jugendliche hier in Europa behaupten, dass sie sehr gut aufgeklärt seien – dabei sind sie es gar nicht.«

Jonas:
Wenn ihr selbst die zahlreichen Prides auf der ganzen Welt besucht, seid ihr nicht nur dort, um die gesellschaftliche Vielfalt zu feiern, sondern vor allem, um aufzuklären. Wie groß war dein eigenes Wissen oder Unwissen in Bezug auf HIV und AIDS, als du angefangen hast, dich bei Jugend gegen AIDS zu engagieren?

Roman:
Ich glaube, ich war recht gut aufgeklärt. Witzigerweise behaupten auch sehr viele Jugendliche hier in Europa, dass sie sehr gut aufgeklärt seien – dabei sind sie es gar nicht. Das hat unsere letzte Umfrage ergeben, die wir mit Unterstützung der WHO durchgeführt haben.

Jonas:
Was genau wissen Jugendliche in Europa nicht oder nur unzureichend? Worin sind sie am wenigsten aufgeklärt in Bezug auf HIV und AIDS?

Roman:
Das ist sehr vielschichtig und lässt sich nicht pauschal beantworten. Punkt eins: Jugendliche wissen relativ wenig über sexuell übertragbare Krankheiten. Viele wissen nichts über die Symptome. Sie wissen nicht, wie sie sich schützen können. Sie wissen nicht, welche Konsequenzen es haben kann, wenn man beispielsweise Chlamydien nicht behandeln lässt. Und was HIV und AIDS angeht, haben wir es ebenfalls mit einem unglaublich großen Unwissen zu tun. Gerade hier gibt es riesengroße Fragen, auf die viele junge Menschen keine Antwort haben: Wie überträgt sich das eigentlich? Kann ich mich beim Küssen anstecken? Ist AIDS heilbar? Wenn wir diese Fragen einer Schulklasse stellen, gibt es immer wieder Leute, die sich melden und sagen: „Ja, AIDS ist heilbar. Ich habe mal gelesen, dass es da irgendeine Pille gibt. Die nimmt man und dann ist es weg.“ Aber das ist eben nicht so. Es ist nicht heilbar, es geht nicht weg. Es ist etwas, das einen zumindest das ganze Leben begleiten wird.

»Ist es ok, dass ich so bin, wie ich bin? Kann es mir auch gutgehen, wenn ich nicht so einen Körper habe wie die Leute in meinem Instagram Feed?«

Punkt zwei: Wir erleben immer wieder – und das darf man nicht unterschätzen –, dass sich Jugendliche sehr gut aufgeklärt fühlen, nur weil heutzutage jede Toastbrotpackung mit einer halbnackten Frau bedruckt ist und Sex in der Werbung allgegenwärtig ist. Dadurch hat man das Gefühl, dass die Jugend gut informiert ist, weil sie sich im Alltag ja permanent mit Sexualität auseinandersetzt. Aber das heißt noch lange nicht, dass sie wirklich aufgeklärt ist. Wir haben bei unserer letzten Umfrage herausgefunden, dass viele junge Menschen angegeben, dass ihre Hauptquelle, wie sie sich aufklären oder welches Bild sie sich von Sexualität machen, Pornos sind. Für mein Empfinden ist das aber eher der falsche Weg, vor allem wenn es um Verhütung geht. In den meisten Fällen bleiben die Jugendlichen mit großen Unsicherheiten zurück, etwa bei der Frage: Wie rede ich mit meinem Partner über Kondome? Wann ist dafür der richtige Zeitpunkt? Pornos geben darauf einfach keine Antwort, genauso wenig wie auf die Frage: Wann oute ich mich? Oder: Ist es ok, dass ich so bin, wie ich bin? Alleine das ist ein riesiges Thema. Wenn ich mir die Frauen und Männer in den Social Channels anschaue, sind diese immer extrem gut gebaut, denen geht es immer gut, die haben immer gute Laune und befinden sind immer in einem super Setting. Aber kann es mir selbst auch gutgehen, wenn ich nicht so einen Körper habe wie die Leute in meinem Instagram Feed? Ist es nicht vielleicht auch völlig in Ordnung, wie ich bin? Ist das nicht genauso schön?

»Wir versuchen nie, den Leuten Angst zu machen. Sie sollen selbstbestimmt genau das machen, was sie wollen – gemäß unserer drei Werte Liebe, Respekt und Kondome.«

Jonas:
Ende Mai hat das News-Portal Metro die berührende Fotoserie “The Ward” des Fotografen Gideon Mendel aus den 1990er Jahren veröffentlicht. Diese zeigt verschiedene Menschen, die jeweils an den Krankenhausbetten ihrer an AIDS erkrankten Liebsten sitzen – mit der traurigen Gewissheit, dass diese die Krankheit nicht überleben werden. Die Fotoserie trägt den Titel „Memories from the heart of the AIDS crisis shows true love in a time of terrible tragedy” und wirkt fast befremdlich, weil diese Bilder in unserer heutigen Zeit – nach all den Fortschritten in Forschung und Medizin – so nicht mehr stattfinden…

Roman:
…weil sie hier bei uns so nicht mehr stattfinden.

Jonas:
Exakt, weil etwa in der Werbung HIV-Positive als kerngesunde, vor Kraft strotzende Menschen dargestellt werden. So hat man das Gefühl, es gäbe eigentlich kein Problem mehr. Laufen wir als Gesellschaft Gefahr, den Schrecken zu vergessen, den die Krankheit AIDS mit sich bringt?

Roman:
Ich glaube, dass es an dieser Stelle äußerst wichtig ist zu betonen, welche wahnsinnigen Fortschritte wir bei der Behandlung von HIV und AIDS gemacht haben. Das ist wirklich unglaublich. Wir wissen aber auch, und das sage ich ganz ehrlich, dass es nur einen sehr schmalen Grat gibt zwischen der Entstigmatisierung des Themas – im Sinne von „Ein Leben mit HIV ist kein Problem!“ – und der Verharmlosung von HIV und AIDS in der breiten Masse der Gesellschaft. Da muss man sehr, sehr vorsichtig sein. Allerdings ist unsere eigene Kampagne eine Präventionskampagne, bei uns steht Aufklärung im Mittelpunkt. Wir versuchen nie, den Leuten Angst zu machen, sondern vermitteln ein positives Lebensbild. Die Leute sollen selbstbestimmt genau das machen, was sie wollen – gemäß unserer drei Werte Liebe, Respekt und Kondome.
Was deine Beobachtung angeht, dass Bilder wie die aus der Fotoserie bei uns immer weniger stattfinden, hängt vielleicht auch damit zusammen, dass wir in Deutschland keine explodierenden Zahlen an HIV-Infizierungen haben. Das ist in anderen Ländern anders, auch in europäischen. Dort haben wir es leider mit steigenden bis stark steigenden Zahlen zu tun. Und wenn ich nach Brasilien oder Südafrika schaue, könnte man solche Bilder auch heute noch in den Krankenhäusern machen.

Jonas:
1987 startete die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ihre Präventionskampagne „Gib AIDS keine Chance“, die sie fast 30 Jahre lang ausspielte. Im Gegensatz zu dieser Kampagne, die sich fast ausschließlich auf den Schutz gegen HIV und AIDS konzentrierte, verfolgt ihr einen differenzierteren Ansatz: In euren Kampagnen geht es nicht nur um sexuell übertragbare Krankheiten im Allgemeinen, es geht auch um Themen wie sexuelle Selbstbestimmtheit, sexuelle Orientierung oder Masturbation. Warum ist es im Jahr 2018 so wichtig, aus dieser Perspektive über HIV und AIDS zu sprechen?

Roman:
Um die Frage zu beantworten, muss ich ein paar Jahre zurückspringen. Unsere Organisation ist 2009 aus einer Hamburger Schülerinitiative heraus entstanden. Damals haben sich Schüler von etwa 30 Schulen zusammengeschlossen, um im Rahmen einer Charity-Aktion zum Welt-AIDS-Tag eine Woche lang rote AIDS-Schleifen zu verkaufen. Dadurch kamen 20.000 Euro zusammen – was für eine Schülerinitiative richtig viel Geld ist. Ursprünglich sollten die Erlöse der Michael-Stich-Stiftung zugutekommen, die sich für HIV-Infizierte und Betroffene sowie für an AIDS erkrankte Kinder engagiert. Aber Michael sagte: „Ihr habt so viel für das Geld getan, ihr sollt auch entscheiden, was damit passiert.“

»Max Müller denkt sich: ›HIV und AIDS sind eigentlich nur relevant für genau drei Personengruppen: Schwule, Afrikaner, Drogenabhängige. Also nicht für mich.‹«

Nun hatten die Schüler also einen Scheck von 20.000 Euro auf dem Tisch – und sie haben sich dafür entschieden, das Geld dafür zu nutzen, um an ihren Schulen Workshops zum Thema HIV und AIDS zu veranstalten. Daraufhin haben sie sich etwas Wissen auf Wikipedia angelesen und ihren Mitschülern erklärt, was überhaupt der Unterschied ist zwischen HIV und AIDS, wie man sich infizieren kann, welche Symptome die Krankheit hat und welche Behandlungsmöglichkeiten es gibt. Dadurch haben sie ihre Mitschüler erstmal grundsätzlich aufgeklärt. Aber was ist dabei passiert? Max Müller, der irgendwo in der zweiten Reihe sitzt, denkt sich: „HIV und AIDS sind eigentlich nur relevant für genau drei Personengruppen: Schwule, Afrikaner, Drogenabhängige. Also nicht für mich.“ Deswegen haben wir uns in der Folge überlegt – und das tun wir bis heute –, wie wir das ganze Thema für junge Menschen überhaupt relevant machen können, da eine Relevanz scheinbar immer noch nicht gegeben ist. Wir kamen zu dem Schluss, dass es nicht nur wichtig ist, über HIV und AIDS zu sprechen, sondern auch über andere sexuell übertragbare Krankheiten sowie über Well-being, Body Images oder Pornographiekonsum – und das niemals verurteilend. In unserer letzten Kampagne haben wir beispielsweise gefragt: „Kennt die ganze Schule deinen Schwanz?“ Subline: „Nacktbilder sind etwas Persönliches, überleg dir, mit wem du sie teilst.“ Wir würden niemals sagen: „Bitte versende keine Nacktbilder, denn so etwas tut man nicht.“ Beim Thema Sexualität werden viele Leute ganz schnell moralisch. Aber wenn jemand genau weiß, welche Konsequenzen es haben kann, Nacktfotos zu verschicken, und wenn jemand außerdem weiß, mit wem er oder sie diese teilt und genau das auch tun möchte, steht es mir oder uns nicht zu zu sagen: „Mach’s nicht!“ Deswegen versuchen wir, die Jugendlichen mit einem sehr offenen Ansatz für bestimmte Bereiche zu sensibilisieren – auch weil wir merken, dass wir sie über verschiedene andere Themen letztendlich auch zum Thema HIV und AIDS hinführen können.

Jonas:
Seit einigen Jahren gibt es eine Prophylaxe-Therapie namens PrEP: Dabei nehmen gesunde Menschen ein Medikament ein, das die Vermehrung von HIV im Körper verhindert. Diese Prophylaxe soll eine HIV-Infektion beim Sex so zuverlässig verhindern wie Kondome. Wie geht ihr mit diesem Thema um? Macht das Wissen um die Existenz einer solchen „Pille davor“ die Jugendlichen sorgloser?

Roman:
Unsere Hauptzielgruppe ist eine sehr, sehr junge: Wir veranstalten unsere Workshops hauptsächlich in achten und neunten Klassen, das heißt, die Schüler, mit denen wir arbeiten, sind zwischen 13 und 15 Jahre alt. Für diese Altersgruppe ist PrEP normalerweise noch kein Thema, das Kondom ist hier das Verhütungsmittel Nummer eins als klassischer Schutz vor sexuell übertragbaren Krankheiten – und genau das legen wir ihnen auch nahe, vor allen anderen Verhütungsmöglichkeiten. Aber wenn jemand gezielt Fragen zu PrEP stellt, beantworten wir die natürlich auch. Aber ehrlicherweise wird dazu in dieser Altersgruppe recht wenig gefragt.

Jonas:
Vielleicht ändert sich das, wenn ihr mit eurer Initiative in die USA expandiert, wo PrEP viel stärker verbreitet ist als in Deutschland.

Roman:
Mag sein, aber in den USA gibt es für uns ganz andere Herausforderungen – wie etwa das Thema Glaube. Wenn man in einem System lebt, in dem Sex vor der Ehe als ein riesiges Tabu angesehen wird, dann ist PrEP etwas, was wirklich sehr weit unten steht auf der Liste. Da sind wir mit ganz anderen Dingen konfrontiert. Davon abgesehen ist ja mit PrEP auch nicht alles gut, denn es schützt nicht vor den vielen anderen sexuell übertragbaren Krankheiten, die es so gibt. Jetzt könnte man natürlich argumentieren, dass sich diese Krankheiten recht gut mit Antibiotika behandeln lassen. Aber auch das ist nicht so unproblematisch, da es immer mehr Antibiotika-Resistenzen gibt. Daher sind wir nicht der Überzeugung, dass PrEP das Allheilmittel ist. Wir glauben eher, dass das Kondom für die breite Masse und gerade für junge Menschen der beste Schutz vor sexuell übertragbaren Krankheiten und insbesondere HIV und AIDS ist.

»Wenn man zuhause ankommt und zusammen im Bett liegt, gibt es häufig die Situation, dass niemand den Satz aussprechen möchte: ›Ich würde jetzt aber gerne ein Kondom benutzen.‹«

Jonas:
Auf eurer Website schreibt ihr, dass es euch darum geht, dass junge Menschen einen offeneren Umgang mit Sexualität lernen sollen. Gehst du selbst offener oder anders mit dem Thema Sex um, seit du dich bei Jugend gegen AIDS engagierst?

Roman:
Ich glaube, dass wir bei Jugend gegen AIDS eine sehr, sehr offene Art haben, über Sex und Prävention zu sprechen. Das liegt daran, dass wir in unseren Aussagen recht explizit sind – und das wiederum spiegelt sich in der Tonalität unserer Kampagnen wider. Wir versuchen darin immer, die Sprache der Jugend zu treffen, ohne dabei aber zu verrohen oder obszön zu werden. Ich glaube, dass diese offene Sprache wichtig ist, weil sie einen offenen Austausch ermöglicht.

Ein Beispiel: Nehmen wir eine typische 15-Jährige oder einen typischen 15-Jährigen. Der Grund, warum sie oder er kein Kondom benutzt, ist selten der, dass sie oder er noch nie etwas davon gehört haben. Es ist auch nicht so, dass sie oder er absolut kein Kondom benutzen will. Es geht viel eher darum, dass sie oder er einfach nicht darüber sprechen will. Angenommen, man lernt am Wochenende im Club jemanden kennen und geht mit der Person nachhause. Da fragt man unterwegs nicht einfach so: „Ach übrigens, wie verhüten wir eigentlich gleich?“ Und wenn man dann zuhause ankommt und zusammen im Bett liegt, gibt es häufig die Situation, dass niemand den Satz aussprechen möchte: „Ich würde jetzt aber gerne ein Kondom benutzen.“ Denn welche Reaktion könnte das hervorrufen? Vielleicht sagt das Gegenüber: „Findest du, ich sehe krank aus?“ Oder es sagt: „Ich möchte Dir aber ganz nahe sein, daher will ich nicht, dass wir ein Kondom benutzen.“ Gerade dieser Punkt ist in Beziehungen häufig ein Thema. Aber wenn wir es schaffen, einen offenen Austausch sowohl über Sexualität als auch über Prävention herzustellen, dann trägt das ganz konkret zu einer höheren Präventionsquote bei jungen Menschen bei.

»Natürlich würde ich mich manchmal auch lieber abends auf die Couch werfen, um mir ›Let’s dance!‹ mit den Lochis anzuschauen.«

Jonas:
Aber Hand aufs Herz: Warst du selbst immer safe in deinem Leben? Hast du immer ein Kondom benutzt?

Roman:
Ja. Ich war da schon immer so eingestellt und habe darauf sehr geachtet, weil ich es superwichtig finde. Ich schütze damit ja nicht nur mich, sondern auch mein Gegenüber.

Jonas:
A propos Gegenüber: Du bist sehr viel unterwegs und scheinst jede freie Minute in Jugend gegen AIDS zu stecken. Wenn man permanent arbeitet und um die Welt reist, ist es sehr schwer, Zeit für sich selbst oder für eine Beziehung zu haben. Bei unserem Shooting eben hast du erwähnt, dass das Engagement für Jugend gegen AIDS einen gewissen persönlichen Preis hat. Glaubst du, du kannst und willst diesen Preis immer bezahlen?

Roman:
Ich würde niemals sagen, dass ich für mein ganzes Leben und für immer das machen werde, was ich gerade tue. Ich glaube aber, dass diese Zeit gerade eine ganz besondere Phase in meinem Leben ist, und zwar aufgrund von vielen verschiedenen Aspekten. Erstens sind die Dinge, die ich erlebe, viel positiver, als dass sie negativ sind. Zweitens habe ich permanent die Möglichkeit, meinen Horizont zu erweitern. Und drittens treffe ich viele junge, interessante Menschen, mit denen wir immer neue Projekte umsetzen. Ich glaube, solange das Verhältnis für mich und die Organisation positiv ist, werde ich es auch weiter tun. Natürlich – und da bin ich ganz ehrlich – würde ich manchmal auch lieber am Wochenende mit meinen Freunden auf dem Fußballplatz stehen oder mich abends auf die Couch werfen, um mir „Let’s dance!“ mit den Lochis anzuschauen. (Roman grinst)
Aber am Ende des Tages ist es immer ein unglaublich befriedigendes Gefühl, wenn ich die direkte Wertschöpfung von dem erkenne, wofür wir als Team lange und mühevoll gearbeitet haben – beispielsweise, wenn ich am Alexanderplatz vorbeifahre und ein riesiges Plakat unserer neuen Kampagne sehe. Klar gibt es auch bei meiner Arbeit für Jugend gegen AIDS immer wieder Durststrecken, keine Frage. Aber solange ich dieses Gefühl verspüre, möchte ich mit niemandem in der Welt tauschen.