Interview — Joshua Seelenbinder
»Das Feuer flackert im Kamin – und dann passiert ein Mord«
Was wäre Weihnachten ohne einen schönen Mord, zumindest im TV? Mit »Mord unter Misteln« beschenkt uns der Tatort am 26. Dezember mit einer ganz besonderen Festtagsfolge. Aufzuklären ist das Ableben eines Butlers, der am Heiligen Abend des Jahres 1922 plötzlich tot in einem englischen Herrenhaus liegt. Unter den Verdächtigen: ein junger, nicht ganz so frommer Geistlicher, gespielt von Joshua Seelenbinder. An seiner alten Schauspielschule haben wir den Film- und Theaterschauspieler zum Interview getroffen. Ein Gespräch über das Kulturgut Tatort, zwei Jahre #ActOut sowie den Aufholbedarf der deutschen Fernseh- und Theaterlandschaft in Sachen Diversität und Gleichbehandlung. Und natürlich über das Giftige an Weihnachten.
22. Dezember 2022 — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotografie: Maximilian König
Heiligabend in einem englischen Herrenhaus, wir schreiben das Jahr 1922. Im vornehmen Beckford Hall hat die resolute Lady Bantam zum weihnachtlichen Dinner geladen und eine Handvoll Gäste um sich geschart. Doch wirklich genießen kann die illustre Runde den Abend nicht, denn auf einmal liegt Butler Arthur mausetot auf dem Orientteppich.
Der Weihnachts-Tatort „Mord unter Misteln“ ist ein ganz besonderer Fall. Nicht nur, weil es der 90. Einsatz von Miroslav Nemec und Udo Wachtveitl ist, die seit 1991 als Hauptkommissare Ivo Batic und Franz Leitmayr im Münchener Tatort ermitteln. Sondern auch, weil diese Episode, die am zweiten Weihnachtstag in der ARD ausgestrahlt wird, eine Geschichte innerhalb der Geschichte erzählt.
Batic und Leitmayr sind in der Wohnung ihres Kollegen Kalli zum Krimidinner eingeladen. Nach kurzem Gemurre lassen sich die beiden auf das Spiel ein. Und so kommt es, dass sie schließlich als Constable Ivor Partridge und als Chief Inspector Francis Lightmyer am 24. Dezember 1922 nach Beckford Hall beordert werden, um das verdächtige Ableben von Butler Arthur aufzuklären. Dort stoßen sie auf eine Runde merkwürdiger Gäste, von denen jede und jeder einen guten Grund gehabt hätte, den Butler zu ermorden.
Mittendrin in diesem Ensemble von Verdächtigen ist der auf den ersten Blick prüde Reverend Edgar Teal, der von Joshua Seelenbinder dargestellt wird. Für den 32-jährigen Schauspieler ist sein Tatort-Debüt der krönende Abschluss eines sehr erfolgreichen Jahres. Bei den Streamern Sky und Netflix ist er seit Mai respektive November in den Serien „Das Boot“ und „1899“ zu sehen, bei den Wormser Nibelungen-Festspielen stand er im Juli in der Rolle des Giselher auf der Bühne, und aktuell dreht er für die ARD-Miniserie „Herrhausen“ sowie die Paramount-Serie „Phantom Jäger“. Darüber hinaus wird er im nächsten Jahr als Passfälscher Cioma Schönhaus im Kinofilm „Last Song for Stella“ zu erleben sein sowie als Polizist Malte Niebecker in der norddeutschen ARD-Komödie „Der Lux“.
In Joshuas Leben läuft es also, könnte man sagen. Doch der Weg hierhin war für den feinsinnigen und eher zurückhaltenden jungen Mann alles andere als gut befahrbar. Aufgewachsen ist er in einem kleinen Ort im Norden Niedersachsens, um ihn herum war nichts als plattes Land. Für einen Jugendlichen, in dem nicht nur ein künstlerisches, sondern auch ein queeres Herz schlägt, kann das eine doppelte Enge bedeuten, auch heute noch.
Nach ersten Gehversuchen am Hamburger Monsun-Theater studierte er von 2013 bis 2017 an der renommierten Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin. Danach war er festes Ensemblemitglied am Staatstheater Braunschweig, seitdem arbeitet er als freier Schauspieler.
Frei, das ist ein Wort, das für Joshua spätestens seit dem 5. Februar 2021 eine ganz besondere Bedeutung hat. Damals outete er sich gemeinsam mit 184 weiteren Schauspieler:innen in der Süddeutschen Zeitung, die sich als lesbisch, schwul, bisexuell, transgender, queer, intergeschlechtlich oder nichtbinär bezeichnen. Unter dem Titel #ActOut haben sie sich zum Ziel gesetzt, mehr Akzeptanz und Anerkennung von queeren Menschen zu erreichen – sowohl in der Gesellschaft sowie innerhalb der deutschsprachigen Film-, Fernseh- und Theaterbranche.
Auf dem 2018 neu eröffneten Campus der HfS Ernst Busch unweit des Berliner Nordbahnhofs haben wir Joshua Seelenbinder Anfang Dezember zum Interview und Photoshoot getroffen.
»Der Reverend spielt ständig mit dem Feuer, immerhin hat er sich dem Zölibat verschrieben.«
MYP Magazine:
In „Mord unter Misteln“ bist Du als Reverend Edgar Teal aus dem Jahr 1922 zu sehen. Wie würdest Du diesen Charakter beschreiben? Was treibt ihn an?
Joshua Seelenbinder:
Der Reverend brennt für seine Sache – und damit meine ich nicht das Geistliche, denn er ist weder fromm noch makellos. Ganz im Gegenteil: Für seine heimliche Liebe, das Hausmädchen Heather, tut er alles. So spielt er ständig mit dem Feuer, immerhin hat er sich dem Zölibat verschrieben. Doch seine Leidenschaft ist stärker und treibt ihn immer wieder aufs Neue an. Das macht den Charakter für mich so spannend und liebenswert.
»Cluedo ist hier auch meine inhaltliche Schnittstelle.«
MYP Magazine:
Euer Tatort erinnert mit seinem Setting und den Figuren ein bisschen an den Brettspiel-Klassiker Cluedo sowie an alte Maigret- oder Poirot-Krimis. Das wird bei vielen Zuschauer:innen die eine oder andere Kindheitserinnerung auslösen. Bei Dir auch?
Joshua Seelenbinder:
Total! Cluedo ist hier auch meine inhaltliche Schnittstelle – und natürlich diese extreme Weihnachtsstimmung, die über der gesamten Szenerie liegt. Es ist Heiligabend, alle kommen in einem urgemütlichen und festlich geschmückten Herrenhaus zusammen, das Feuer flackert im Kamin – und dann passiert ein Mord…
MYP Magazine:
… der allerdings kein echter Mord ist, sondern im Tatort im Rahmen eines Krimidinners aufgedeckt werden muss. Hast Du selbst auch schon mal bei so einem Spiel mitgemacht?
Joshua Seelenbinder:
Ja, allerdings erst nach den Dreharbeiten. Vorher hatte ich darauf nie so Lust. Aber da mir unser Dreh so viel Spaß gemacht hat, habe ich mich im Privaten auch darauf eingelassen. Da ging es um den Mord an einer Schauspielerin in der Silvesternacht.
»Der Tatort ist das deutsche Kulturgut in der Fernsehlandschaft.«
MYP Magazine:
Der Tatort prägt seit über 50 Jahren die deutsche Fernsehlandschaft, für viele Menschen hat das Format eine ganz besondere Bedeutung: Sie sind mit dem Tatort aufgewachsen und beschließen damit regelmäßig ihr Wochenende. Wie bist Du im Vorfeld mit dieser Strahlkraft umgegangen?
Joshua Seelenbinder:
Diese Bedeutung kann man tatsächlich nicht so leicht in den Hintergrund schieben. Der Tatort ist das deutsche Kulturgut in der Fernsehlandschaft, eine echte TV-Institution. Allein deshalb war es für mich ein großes Ding, da mitwirken zu dürfen. Allerdings bin ich privat nicht so stark Tatort-geprägt wie andere – vielleicht auch, weil es in meiner Familie immer schon zwei Lager gab: Für meinen Opa zum Beispiel ist der Tatort ein fester Bestandteil seines Sonntagabends, meine Mutter dagegen interessiert sich kaum dafür. Ich selbst schaue immer wieder mal rein, vor allem, wenn Kolleg:innen mitspielen, die ich kenne. Oder wenn es um Teams geht, die ich mag.
MYP Magazine:
Welche sind das?
Joshua Seelenbinder:
Das neue, junge Team aus Bremen finde ich echt gut. Dresden auch. Und spätestens jetzt auch München. (lächelt)
»Bei dieser speziellen Weihnachtsfolge spalten sich die Meinungen schon jetzt.«
MYP Magazine:
Kann es für so ein TV-Format nicht auch zum Problem werden, wenn es von seinem Publikum permanent mit Erwartungen und Emotionen überladen wird?
Joshua Seelenbinder:
Das kann durchaus ein Nachteil sein, klar. Auch, was unseren Tatort betrifft, haben wir noch überhaupt keine Ahnung, wie er am Ende bei den Leuten ankommen wird. Schließlich ist er kein klassischer München-Fall, sondern eine spezielle Weihnachtsfolge, die vor hundert Jahren spielt und einen fiktiven Mord behandelt. Da spalten sich die Meinungen schon jetzt: Die einen sagen, die Geschichte passe total gut zu Weihnachten, die anderen sind enttäuscht, weil sie sich auch für die Feiertage einen normalen Batic-Leitmayr-Fall gewünscht hätten. Und das ist unser Tatort natürlich nicht, sondern eher eine Art Gimmick.
MYP Magazine:
Und dann gibt es sicher eine dritte Gruppe, die lediglich Angst davor hat, dass Hauptkommissar Ivo Batic in Rente geht.
Joshua Seelenbinder: (lacht)
Oh ja, die darf man nicht vergessen!
»So kammerspielartig, wie die Geschichte aufgezogen ist, haben wir auch gedreht.«
MYP Magazine:
Wie hast Du die Produktion erlebt?
Joshua Seelenbinder:
So kammerspielartig, wie die Geschichte aufgezogen ist, haben wir auch gedreht. Das war eine echte Ensemble-Arbeit – wie bei einem Theaterstück. Wir alle haben fast drei Wochen am Stück an diesem Ort in der Bayerischen Provinz aufeinander gehockt und viele tolle Tage miteinander erlebt. Das war wirklich schön und besonders, denn normalerweise reist man nur für ein paar Tage an, spielt seine Rolle und geht dann wieder.
MYP Magazine:
Wie war die Zusammenarbeit mit den beiden alten Ermittlerhasen Miroslav Nemec und Udo Wachtveitl alias Ivo Batic und Franz Leitmayr?
Joshua Seelenbinder:
Ich muss zugeben, dass ich am Anfang etwas skeptisch war, weil die beiden das schon wirklich, wirklich lange machen und es gewohnt sind, dass bei jeder neuen Folge immer wieder neue Gesichter rein- und rausgespült werden. Daher war ich mir nicht sicher, ob ich in der kurzen Zeit eine Verbindung mit Miro und Udo herstellen kann. Aber die beiden hatten total Lust auf diesen besonderen Tatort. Sie hatten Lust, etwas Neues auszuprobieren, und hingen mit uns auch sehr viel an diesem Ort ab. Wir hatten am Ende sehr viel Spaß zusammen, das hat mich positiv überrascht.
»Im Film wie am Theater überwiegt immer noch die Vorstellung, dass Frauenrollen jung, schön und begehrenswert zu besetzen sind.«
MYP Magazine:
An einer Stelle sagt Inspector Lightmyer zu Lady Bantam: „Ich bin ein alter Mann, Milady.“ Und diese antwortet: „Für Ihr Geschlecht gelten andere Regeln.“ Dieser Satz ist aktueller denn je, noch immer werden Frauen in vielen Berufen systematisch benachteiligt. Wie ist die Situation diesbezüglich in der Schauspielbranche?
Joshua Seelenbinder:
Ich kann dazu nur aus Gesprächen mit Kolleginnen berichten, für die etwa die ungleiche Bezahlung zwischen Männern und Frauen immer noch ein großes Thema ist – obwohl sich zumindest an dieser Front gerade einiges zu tun scheint.
Was aber eine noch viel größere Benachteiligung ist, ist die Tatsache, dass es nach wie vor nur sehr beschränkte Frauenrollen gibt. Klar, das wird hier und da mal aufgeweicht. Aber im Film wie am Theater überwiegt immer noch die Vorstellung, dass Frauenrollen jung, schön und begehrenswert zu besetzen sind. Danach, etwa ab einem Alter von 30 Jahren, kommt lange nichts. Und irgendwann dürfen die Frauen dann wieder – vereinfacht gesagt – die schrulligen Mütter oder Großmütter spielen.
Bei Männern ist das ganz anders. Da gibt es nicht nur viel mehr Rollen, sondern vor allem auch in diversen Formen und Altersklassen. Und diese männlichen Rollen werden auch heute noch viel häufiger geschrieben als vergleichbare weibliche. Das ist auf jeden Fall ein Ungleichgewicht.
»Der männliche Körper ist auf der Bühne wie im Film viel weniger Beurteilungen ausgesetzt als der weibliche.«
MYP Magazine:
Welche Privilegien nimmst Du für Dich als männlicher Schauspieler wahr?
Joshua Seelenbinder:
Für Männer ist es viel leichter, Rollen in einem jüngeren Spielalter zu übernehmen – einfach, weil das Publikum da mehr Abweichung vom eigenen Alter verzeiht. Da bin ich keine Ausnahme. Bei Frauen wird viel kritischer hingeschaut. Der männliche Körper ist auf der Bühne wie im Film viel weniger Beurteilungen ausgesetzt als der weibliche. Ich zum Beispiel bin recht schmal. Das bringt zwar auch die eine oder andere schauspielerische Einschränkung mit sich, weil nach wie vor gerne nach Klischee besetzt wird. Trotzdem werde ich als Mann lange nicht so auf das Körperliche reduziert wie weibliche Personen, und das gilt nicht nur für den Schauspielbetrieb.
»#ActOut hat dazu geführt, dass ich in meiner Arbeit offener und selbstbewusster auftreten kann.«
MYP Magazine:
Vor knapp zwei Jahren bist Du im Rahmen der #ActOut-Initiative gemeinsam mit 184 anderen Schauspieler:innen an die Öffentlichkeit gegangen. Euer Ziel ist es unter anderem, mehr Akzeptanz und Anerkennung von queeren Menschen sowohl in der Gesellschaft sowie innerhalb der deutschsprachigen Film-, Fernseh- und Theaterbranche zu erreichen. Welche Bedeutung hat es für Dich persönlich, Teil dieser Initiative zu sein?
Joshua Seelenbinder:
Für mich ist #ActOut immer noch eine riesige Befreiung. Und die Tatsache, Teil einer so großen, ausdrucksstarken Gruppe zu sein, gibt mir nach wie vor ein beflügelndes und beruhigendes Gefühl von Sicherheit. Das hat in meinem Leben unter anderem dazu geführt, dass ich in meiner Arbeit offener und selbstbewusster auftreten kann. Etwa, wenn am Set über Familie oder Partner:innen gesprochen wird, rede ich inzwischen – ohne groß darüber nachzudenken – auch über meinen Freund.
Trotzdem kamen mir damals auch einige Zweifel, nachdem ich meine Zusage für #ActOut gegeben hatte. Nicht wegen der Initiative an sich, sondern weil in mir plötzlich Fragen aufkamen wie: Ändert sich dadurch der Blick auf mich als Schauspieler? Was bedeutet das für meine Karriere? Was macht das mit zukünftigen Rollen? Ich hatte ja gerade erst angefangen, frei zu arbeiten, und war daher ziemlich verunsichert. Letztendlich bin ich aber sehr dankbar und froh, bei dieser großartigen Initiative mitgemacht zu haben. Und wenn sich aus diesem Grund tatsächlich jemand entscheiden sollte, mich nicht mehr zu besetzen, muss ich sagen: Mit solchen Leuten möchte ich auch nicht mehr zusammenarbeiten.
MYP Magazine:
Welche Reaktionen sind Dir in besonderer Erinnerung geblieben?
Joshua Seelenbinder:
Es gab einige Intellektuelle, die #ActOut hart angegriffen haben – etwa die Feuilletonistin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Auch wenn sich diese Angriffe nicht auf Einzelpersonen bezogen, fühlten sie sich doch sehr persönlich und verletzend an, daran erinnere ich mich noch. Insgesamt überwiegen aber bis heute die vielen positiven Nachrichten und Reaktionen. Außerdem sind in meinem Leben viele neue Bekanntschaften und sogar Freundschaften entstanden, die es ohne #ActOut nicht geben würde.
»Bildet das, was man im Kino oder im TV sieht, nur die weiße Mittelschicht ab? Oder entspricht das dem tatsächlichen Straßenbild in Deutschland?«
MYP Magazine:
Was habt Ihr mit #ActOut in den knapp zwei Jahren bewegt und erreicht?
Joshua Seelenbinder:
Ich finde, es gibt eine neue Leichtigkeit in der Branche. Nicht nur, weil viele Schauspieler:innen nicht mehr das Gefühl haben, sich verstecken zu müssen. Sondern auch, weil queere Rollen in der deutschen Film- und Fernsehlandschaft langsam präsenter werden – in sehr kleinen Schritten zwar, aber es tut sich etwas. Außerdem hat es Aktionen von anderen Berufsgruppen gegeben, die von #ActOut inspiriert wurden, etwa die Initiativen #TeachOut oder #ChurchOut.
MYP Magazine:
Im #ActOut-Manifest heißt es: „Die Erfahrungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass sich die bestehenden Film- und Serien-Sehgewohnheiten erweitern und verändern. Es gibt weitaus mehr Geschichten und Perspektiven als nur die des heterosexuellen weißen Mittelstands, die angeschaut und gefeiert werden. Diversität ist in Deutschland längst gesellschaftlich gelebte Realität. Dieser Fakt spiegelt sich aber noch zu wenig in unseren kulturellen Narrativen wider.“ Wie blickst Du heute auf die deutsche Film- und Fernsehlandschaft?
Joshua Seelenbinder:
Ich bemerke zwar, dass es Veränderungen gibt, etwa was die Diversität von Casts angeht. Aber diese Veränderungen reichen noch lange nicht aus und passieren auch nicht schnell genug. Die Frage ist doch: Bildet das, was man im Kino oder im TV sieht, nur die weiße Mittelschicht ab? Oder entspricht das dem tatsächlichen Straßenbild in Deutschland? Da nehme ich das Theater übrigens in keiner Weise aus. Es heißt ja, das Theater sei wie ein alter Dampfer, bei dem es eine Ewigkeit dauere, ihn in eine andere Richtung zu steuern. Aus eigener Erfahrung kann ich das zu hundert Prozent unterschreiben.
»In meinem Leben gab es immer ein ein unterbewusstes Wahrnehmen von Enge in einer überaus heterosexuell geprägten Gesellschaft.«
MYP Magazine:
Du selbst bist im ländlichen Niedersachsen der 1990er und 2000er Jahre aufgewachsen, einem eher wenig diversen Umfeld. Welche Erinnerungen hast Du an Dein jüngeres Ich, an den queeren Teenager, der Schauspieler werden wollte?
Joshua Seelenbinder:
Es ist nicht so, dass ich schon immer das feste Ziel hatte, Schauspieler zu werden, und aus diesem Grund vom platten Land wegwollte. Das war eher die Entwicklung einiger Jahre. Dennoch gab es in meinem Leben immer ein leises, unterschwelliges Brummen, ein unterbewusstes Wahrnehmen von Enge in einer überaus heterosexuell geprägten Gesellschaft, das mich da mehr und mehr herauszog. Und auch wenn der Umgang meiner Familie und Freund:innen mit meiner Sexualität immer sehr unkompliziert und offen war, reden wir hier dennoch über das provinzielle Niedersachsen – und da passiert einfach nicht so viel.
»Wir bekommen es in Deutschland nach wie vor nicht hin, woke Themen humorvoll, intelligent, aber auch ästhetisch sexy zu erzählen.«
MYP Magazine:
Welche Formate, die Du heute kennst, hätten Dir damals gutgetan?
Joshua Seelenbinder:
Da würde ich fast alle queeren Serien nennen, die mir im Laufe der letzten Jahre begegnet sind. Etwa „Queer Eye“, „Pose“ oder auch „Queer As Folk“, was aber zu meinen Teenager-Zeiten eher noch ein Nischending war, davon hatte ich damals kaum was mitbekommen. Irgendwann kam „Brokeback Mountain“ ins Kino, das war für mich ein Meilenstein.
MYP Magazine:
Auffallend wenige deutsche Produktionen, die Du da aufzählst.
Joshua Seelenbinder:
Ich weiß nicht, warum wir es in Deutschland nach wie vor nicht hinbekommen, woke Themen humorvoll, intelligent, aber auch ästhetisch sexy zu erzählen. Das wird einem immer wieder deutlich, wenn man sich beispielsweise Formate wie die Netflix-Serien „Sex Education“ oder „Heartstopper” anschaut. Da wird einerseits leicht und unverkrampft erzählt und gleichzeitig ist der Stoff dramaturgisch wie inhaltlich wirklich gut. So etwas fehlt mir hier. Vielleicht liegt es daran, dass die deutsche Fernsehlandschaft von so unendlich vielen Krimis besetzt ist, das scheint die Zuschauer:innen wirklich anzuziehen.
»Über die Busch gab es damals viele Geschichten und Gerüchte.«
MYP Magazine:
Von 2013 bis 2017 hast Du an der HfS Ernst Busch studiert. Wie blickst Du auf diese Zeit zurück?
Joshua Seelenbinder:
Über die Busch gab es damals viele Geschichten und Gerüchte. Die Schule wurde immer angepriesen als Kaderschmiede und war für uns junge Schauspiel-Anwärter:innen eine absolute Legende. Dementsprechend konnte ich es auch zuerst nicht glauben, als ich angenommen wurde.
Meine Erinnerungen an die Zeit dort sind sehr gemischt. Das Studium war sehr intensiv, ich habe viel gelernt und wurde gut ausgebildet. In diesen Jahren gab es aber auch wenig Privatleben – ich war jeden Tag gefühlt von früh morgens bis spät abends in der Schauspielschule. Das war einerseits schön, andererseits aber auch schade, denn ich bekam kaum etwas von Berlin mit.
Darüber hinaus fehlte mir ein gewisser Grad an künstlerischer Freiheit. Der Stundenplan war so vollgepackt, dass man sich abseits davon kaum ausprobieren konnte. Inzwischen hat sich das aber geändert, in den Jahrgängen unter uns gibt es einen Zyklus, in dem sie eine freie Arbeit gemeinsam machen können.
»Dadurch, dass alles im Studium so festgezurrt war, war anschließend das Bedürfnis nach Freiheit und Loslassen umso präsenter.«
MYP Magazine:
Wie hat Dich das Studium auf Dein späteres Berufsleben vorbereitet?
Joshua Seelenbinder:
Durch diese vier Jahre habe ich gelernt, viel auszuhalten im Theateralltag. Ich wurde gestählt für vieles in der Branche – für lange Tage, parallele Proben und kräftezehrende Vorstellungen. Und mit der Zeit habe ich gelernt herauszufinden, was ich in Bezug auf künstlerisches Arbeiten möchte – und was nicht. Dadurch, dass alles im Studium so festgezurrt war, war anschließend das Bedürfnis nach Freiheit und Loslassen umso präsenter, auch während meiner ersten Engagements an Theatern. Der Dampfer muss schließlich fahren, jeden Abend geht der Vorhang hoch. Aber auch das hat sich irgendwann sein Ventil gesucht. Und ich habe das Gefühl, dass mein Beruf jetzt endlich anfängt zu atmen.
MYP Magazine:
Von Charlie Hübner, der ebenfalls an der HfS studiert hat, stammt der Satz: „Schauspielerei war für mich eher eine Identitätshilfe, weil ich nicht wusste, was ich will und wer ich bin.“ Ist das bei Dir ähnlich?
Joshua Seelenbinder: (lächelt)
Charlie Hübner, ein toller Schauspieler! Ich würde den Satz für mich zwar nicht unbedingt unterschreiben, aber ich glaube zu wissen, was er meint. Denn natürlich helfen einem bestimmte Rollen oder Stoffe, sich anders auszudrücken – in einer Form, in der man es als Privatperson vielleicht nicht tun würde, etwa weil man privat eher Schwierigkeiten hätte, in eine bestimmte Emotion zu kommen oder eine andere Seite von sich zu zeigen. Für diese Situationen bietet die Schauspielerei eine spannende Alternativwelt, in der man sich ausprobieren kann. Auf der Bühne ist grundsätzlich sehr viel möglich.
»Die Achtziger waren alles andere als eine gute Zeit für queere Personen.«
MYP Magazine:
In Deinem Beruf musst Du dich nicht nur immer wieder in neue Charaktere hineinversetzen, sondern auch in unterschiedlichsten Zeiten und Epochen zurechtfinden. Welche Rolle aus Deiner bisherigen Karriere hat Dich am meisten geprägt?
Joshua Seelenbinder:
Am spannendsten fand ich bisher meine Rolle im Film „Last Song for Stella“, der 2023 ins Kino kommt. Da spiele ich den Passfälscher Cioma Schönhaus, der in der NS-Zeit für Jüdinnen und Juden Dokumente gefälscht hat, mit denen sie ins Ausland fliehen konnten. Eine mutige und außergewöhnlich hoffnungsvolle Rolle, die im dunkelsten Teil deutscher Geschichte spielt.
MYP Magazine:
Gibt es eine Epoche, die Du gerne persönlich erlebt hättest – vom Jahr 1899 bis heute?
Joshua Seelenbinder:
Ich hätte wahnsinnig gerne die Zeit der ballroom culture in New York erlebt, die in den 1960er Jahren in Harlem aus der afro- und lateinamerikanischen Community heraus entstand und in den Siebzigern und Achtzigern immer populärer wurde. Diese nicht-weiß geprägten ballrooms gelten heute als die ersten safe spaces für junge People of Color, das finde ich persönlich sehr spannend und faszinierend. Gleichzeitig frage mich, ob ich da ohne Weiteres hätte eindringen wollen. Schließlich will ich als privilegierte weiße Person nicht einfach einen Raum besetzen, den nicht-weiße Menschen für sich geschaffen haben.
Darüber hinaus waren die Achtziger mit der aufkommenden Aids-Krise auch alles andere als eine gute Zeit für queere Personen – nicht nur, weil fast eine ganze Generation innerhalb der LGBTQIA+-Community wegstarb, sondern die Leute auch von der Gesellschaft wie Aussätzige behandelt und damit zusätzlich stigmatisiert wurden.
»An Weihnachten kommen alle mit der Familie zusammen – die einen freiwillig, die anderen widerwillig.«
MYP Magazine:
Kommen wir zum Schluss nochmal auf Euren Tatort zurück. Dort fällt mehrmals der Satz: „Alles an Weihnachten ist giftig.“ Würdest Du das privat auch unterschreiben? Was bedeutet Dir Weihnachten?
Joshua Seelenbinder:
Weihnachten ist einer der emotional am stärksten aufgeladenen Termine im Jahr. Alle kommen mit der Familie zusammen – die einen freiwillig, die anderen widerwillig. Und dann passiert da etwas, das gleichzeitig wahnsinnig schön und wahnsinnig anstrengend sein kann. Giftig daran ist vielleicht am ehesten der Druck, sich gegenseitig beschenken zu müssen. Dazu kommen die unverrückbaren Erwartungen unserer Gesellschaft, wie Weihnachten zu sein hat: perfekt, besinnlich und harmonisch. Und gerade das ist vielleicht am giftigsten.
Mehr von und über Joshua Seelenbinder:
Fotografie: Maximilian König
Interview und Text: Jonas Meyer
Mit besonderem Dank
an die Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin