Interview — Joa Herrenknecht

Entdeckungsreise

Wir lieben Menschen mit Visionen, vor allem wenn sie die kleinen Gegenstände unseres täglichen Lebens verschönern. Deshalb wollen wir euch die Produkt- und Grafikdesignerin Joa Herrenknecht vorstellen.

14. Januar 2013 — MYP No. 11 »Mein Souvenir« — Interview: Jonas Meyer, Fotos: Maximilian König

Wer offen ist für fremde Städte, Länder und Kulturen, der weiß, dass die wahren Schätze meist abseits allgemeiner Trampelpfade liegen. Es bedarf nur etwas Mut und Neugier, um die gewohnten Wege zu verlassen und einzutauchen in die unbekannte Welt der Seitenstraßen und Hinterhöfe. Hier verstecken sich die spannendsten Geschichten, die nur darauf warten, gefunden und gehört zu werden.

Doch um wirklich Neues zu entdecken, muss man gar nicht in die Ferne reisen: Oft genügt bereits ein kurzer Abstecher in die Nachbarschaft. Oder in den Berliner Stadtteil Friedrichshain.

Hier, wo sich die Frankfurter Allee wie eine pulsierende Hauptschlagader durch die Häuserreihen gräbt, scheint die Geburtsstätte aller geheimnishütenden Hinterhöfe zu sein. Nur wenige Schritte braucht es von der U-Bahnstation Samariterstraße, um den Lärm der großen Straße abzuschütteln und eine Oase der Ruhe zu betreten.

In dieser Hinterhofoase hat sich vor einem Jahr Joa Herrenknecht eingerichtet. Ihr Studio für Grafik- und Produktdesign liegt im ersten Stock eines stimmungsvollen Backsteinbaus. Hohe Decken und große Fenster schaffen hier großzügig Platz und Licht, um Gedanken fliegen und Ideen wachsen zu lassen.

Mit einem freundlichen Lächeln empfängt uns die junge Designerin an der Tür und gewährt uns Einlass in ihr Reich. Wie kleine Kinder in einem Süßwarenladen wissen wir gar nicht, wo wir zuerst hinschauen sollen: In jeder Ecke des hellen und großzügigen Studios türmen sich Kleinode aus Entwürfen, Mustern, Skizzen, Prototypen und Produkten. Man könnte hier Stunden verbringen und Tage – und hätte immer noch nicht alle Schätze entdeckt.

Auf einem Tisch in der Mitte des Raums ist gerade ein überdimensionaler Berliner Stadtplan ausgebreitet – eine Tischdecke, die Joa entworfen und gemeinsam mit ihrem Praktikanten Sep umgesetzt hat, um sie beim beBerlin Design-Souvenir Award einzureichen. Es wird ein neues Andenken für Berlin gesucht, das mehr Charakter hat als die üblichen Kitschprodukte der zahllosen Souvenirläden der Stadt. Die junge Designerin gehört zu den 20 Nominierten, die es mit ihren Ideen in die letzte Wettbewerbsrunde geschafft haben.

Jonas:
Du bist in Kanada geboren und hast bereits in Städten wie Mailand, New York oder Sydney gelebt – deine Vita liest sich wie eine kleine Weltreise.

Joa (lächelt):
Ja, das stimmt. Schon als Kind durfte ich viele verschiedene Ecken der Welt kennenlernen, weil meine Eltern oft und gerne gereist sind. Dieses Gen habe ich wohl geerbt. Die meiste Zeit meines Lebens habe ich aber tatsächlich in Süddeutschland verbracht: Ich bin in unmittelbarer Nähe zur französischen und schweizer Grenze aufgewachsen und habe später dann an der HfG in Karlsruhe Produktdesign studiert.

Jonas:
Erinnerst du dich noch, warum du dich gerade für Produktdesign entschieden hast?

Joa:
Eigentlich wollte ich zuerst Architektur studieren und habe deshalb auch vor dem Studium ein Praktikum bei einem Architekten gemacht. Der hat mir aber dringend davon abgeraten, weil man als selbständiger Architekt nicht wirklich viel bauen kann, und meinte, dass Design viel interessanter und kreativer wäre.
Ich wollte immer etwas erschaffen, daher habe ich mich für Produktdesign entschieden. Im Endeffekt war diese Entscheidung auch super, weil mir das Studium total Spaß gemacht hat und es an der HfG auch viele Freiheiten, eine tolle Werkstatt und gute Profs gab. Nur bleibt nach dem Studium natürlich fast niemand dort, die meisten ziehen weg in größere Städte.

Jonas:
Dich selbst hat es ja auch nicht in Karlsruhe gehalten: Nach deinem Abschluss bist du direkt in die USA gegangen.

Joa:
Ich wollte einfach ins Ausland und bin daher für einige Zeit nach New York gezogen. Von dort ging es dann weiter nach Sydney, wo ich noch ein Grafikstudium drangehängt habe – und wo ich eigentlich auch bleiben wollte.

Jonas:
Aber?

Joa:
Ein Freund von mir wollte sich gemeinsam mit mir in Berlin selbständig machen, also bin ich letztes Jahr zurück nach Deutschland gekommen. Die Idee mit der Selbständigkeit war immer da: Mit 30 ist man für so einen Schritt im besten Alter. Und so langsam sollte man eh mal in die Puschen kommen, wenn man später eine eigene Family will.
Aber aus unserem gemeinsamen Plan wurde nichts. Und ich habe mir gedacht: Wenn ich ja eh schon hier bin, kann ich das auch einfach alleine machen.

Jonas:
Das hört sich alles sehr nach „easy going“ an.

Joa (lacht):
Ist ja auch alles nicht so schwer: Man besorgt sich ein Ticket und fliegt einfach.
Aber im Ernst: So „easy going“ ist der Schritt in die Selbständigkeit natürlich nicht, ganz im Gegenteil: Das ist eine wirklich große und wichtige Entscheidung im Leben. Letztendlich bin ich diesen Weg gegangen, weil ich nach wie vor etwas erschaffen wollte und es dazu für mich keine bessere Möglichkeit gab. Nach meinem ersten Jahr in der Selbständigkeit kann ich guten Gewissens sagen: richtige Entscheidung, super Job!

Jonas:
Zu deinem Team gehören mittlerweile zwei Praktikanten und ein Freelancer. War es schwierig, für dein Studio gute Leute zu finden?

Joa:
Nein, ganz im Gegenteil. Ich erhalte richtig viele Anfragen für Praktika. Und so blöd es sich auch anhören mag: Die momentane Wirtschaftskrise in vielen europäischen Ländern treibt die talentiertesten und motiviertesten jungen Leute nach Berlin. Die Stadt zieht einfach magisch an – wäre ich in Karlsruhe ansässig, wären die Anfragen wohl nicht so zahlreich.

Jonas:
Dieser Berlin-Faktor ist also für dein Studio ein Bonus?

Joa:
Absolut. Das Gute an Berlin ist, dass es einem eine so immense Freiheit lässt – alleine durch die Tatsache, dass das Leben hier günstig ist und man nicht im Verkehrschaos versinkt. Das wäre in New York oder London so nicht denkbar. Ich kann hier entspannt arbeiten und dabei trotzdem den internationalen Markt bedienen, meine Kunden kommen aus aller Welt.
In Berlin findet man diese besondere Kombination aus neu-deutscher Lässigkeit und urdeutscher Verlässlichkeit, das funktioniert ziemlich gut. Insgesamt steckt eine unglaubliche Kraft und Energie in der Stadt, das ist echt toll.

Ich versuche schöne Dinge zu erschaffen, an denen sich andere Menschen erfreuen oder etwas damit anfangen können.

Jonas:
Wer sich selbständig macht, sieht ja irgendwo einen Bedarf, auf den er mit seinem Angebot reagieren will. Wie sieht das bei dir aus?

Joa:
Es ist nicht so, dass die Welt unbedingt noch einen weiteren Stuhl bräuchte – das ist mir durchaus bewusst. Aber darum geht es mir auch gar nicht. Meinen Beruf verstehe ich mehr als ein Geben und weniger als ein Nehmen. Ich versuche schöne Dinge zu erschaffen, an denen sich andere Menschen erfreuen oder etwas damit anfangen können. Meine Leuchten sind dafür ein gutes Beispiel, so etwas mache ich echt gerne – und bisher klappt es.

Wir unterbrechen für einen Moment, denn Joa hat vorgeschlagen, unser Gespräch im Freien fortzusetzen. Wir greifen unser Equipment und begleiten die Designerin durch eine Tür zu einer Treppe, die in die oberen Etagen des Backsteinbaus führt. Joas Kollegen fahren ihre Rechner runter und folgen uns mit Gläsern und Getränken. Es ist 18:00 Uhr, sozusagen Feierabend.

Oben angekommen öffnet man uns die Pforte ins Freie: Wir betreten eine kleine Dachterrasse, die uns einen wundervollen Blick über die Hauptstadt schenkt.

Jonas:
Du warst schon an so vielen Orten auf der Welt. Wie beeinflussen diese Reisen dein Design?

Joa:
Alles, was du gestern, heute oder morgen erlebst, geht in irgendeiner Art und Weise in deine Entwürfe ein. Denn überall, wo du auf der Welt unterwegs bist, siehst du Dinge, die du richtig gut findest und bei denen du dich fragst, wie du sie am besten in einer neuen Idee verarbeiten kannst.
Das Problem ist eigentlich nur, dass die ganzen Eindrücke und Erlebnisse eine riesige Bildersammlung in deinem Kopf erzeugen, die du erst einmal ordnen musst. Am Anfang eines neuen Projekts steht nämlich immer ein großes Fragezeichen – und du brauchst das passende Bild aus deiner Erinnerung, um dich inspirieren zu lassen das Fragezeichen aufzulösen.

Jonas:
Deine Kreativität wird also aus einer Vielzahl von Erinnerungen befeuert…

Joa:
Ja, in gewisser Weise schon. Deshalb mag ich auch unsere Idee mit dem Berliner Stadtplan in Form einer Tischdecke so, mit dem wir uns beim Design-Souvenir Award beworben haben. Es ist einfach eine schöne Vorstellung, gemeinsam am Küchentisch zu sitzen und sich gegenseitig die vielen Orte der Stadt zu zeigen, an die man ganz bestimmte Erinnerungen und Erlebnisse knüpft – das ist wie eine kleine Entdeckungsreise!
Wir haben die Tischdecke übrigens ganz bewusst von Hand gezeichnet und sie nicht klinisch rein gehalten, damit man darauf rumkritzeln oder eine Stelle einkringeln kann. In Berlin wird ja auch an jeder Ecke getagged und gesprüht.

Denn wenn draußen auf der Straße so viel los ist, braucht man einfach einen Rückzugsort, an dem man sich wohlfühlt.

Jonas:
Du hast die Stadt in den letzten Monaten sicher auch ausführlich erkundet. Stößt du hier auf viele Orte oder Dinge, bei denen du das Gefühl hast, dass sie dringend verbessert oder verschönert werden müssten?

Joa:
Ja, das passiert tatsächlich öfter. Man glaubt ja nicht, wie sehr ein Charakter von seiner Form beeinflusst wird – und welche Stimmungen diese Form erzeugen kann.
Man muss sich nur folgende drei Situationen vorstellen: Man steht in einer Bruchbude, im Supermarkt oder in einem Spa. Wenn man sich jetzt zu allen drei Orten eine Stimmung überlegen müsste, wäre dies bei jedem Ort total verschieden. Die Stimmung lässt sich variieren, indem man die Atmosphäre eines Raums verändert. Und das passiert im Wesentlichen über Formen, Farben und Licht.
Das ist übrigens dasselbe wie bei Kleidung, im Prinzip ist es alles eins. Man muss dabei nur aufpassen, dass man selbst nicht zu oberflächlich wird und beispielsweise darüber richtet, wie gut oder schlecht jemand zu Hause eingerichtet oder gekleidet ist, denn der Mensch dahinter ist natürlich immer wichtiger als die Fassade. Schönheit schützt nicht vor einem schlechten Charakter, aber das ist ja klar.
Bei meiner Arbeit geht es mir auch nicht darum, unbedingt die teuersten Gegenstände in einem Raum zusammenbringen zu müssen. Mir ist einfach wichtig, das Umfeld positiv zu beeinflussen: Wenn ich jemandem dabei helfen kann, seine Wohnung ein Stückchen schöner zu machen, freue ich mich total.
Denn wenn draußen auf der Straße so viel los ist, braucht man einfach einen Rückzugsort, an dem man sich wohlfühlt. Ästhetik kann man auch mit geringen finanziellen Mitteln schaffen – aber das Interesse dafür ist wichtig.

Jonas:
Hast du eine Vision, in welche Richtung sich dein Studio entwickeln soll?

Joa:
Ich will in Zukunft auf jeden Fall mehr selbst produzieren. Oft stehen wir vor dem Problem, dass wir einen Prototypen haben, der erfolgreich in der Presse ist, aber den wir nicht schnell genug als Endprodukt raushauen können, weil entweder ein vernünftiger Produzent fehlt oder die Einzelproduktion zu teuer ist.
Daher will ich in Zukunft mehr mit Produktionspartnern und an Wegen zur direkten Vermarktung arbeiten. Wenn jemand mich anruft und sagt, das und das will ich haben, dann will ich in der Lage sein zu sagen ‘Ja, hier gibt es das… und der Preis ist auch okay’ – Außerdem will ich gerne ein Café oder Restaurant einrichten, überhaupt wird Inneneinrichtung immer wichtiger.

Jonas:
Hast du selbst eigentlich ein Lieblingsstück?

Joa:
Als Kind hatte ich immer eine Decke, die ich so geliebt habe, dass ich mir sicher war, später mal mit ihr begraben zu werden. Und wer weiß, vielleicht interpretiere ich irgendwann mal diese Decke neu und produziere sie – es wäre überhaupt ein sehr schönes Ziel, ein Lieblingsstück für jemanden zu entwerfen.

Wir stoppen das Aufnahmegerät. Für einige Minuten lassen wir unseren Blick über die zahllosen Dächer Berlins wandern.

Wie viele Seitenstraßen und Hinterhöfe mag es noch geben in dieser Stadt? Und wie viele Schätze mögen dort wohl darauf warten, endlich entdeckt und gehoben zu werden?

Joa dreht ihr Gesicht in die Abendsonne und lächelt zufrieden. Ihre Entdeckungsreise hat gerade erst begonnen.

Dazu braucht sie keinen Stadtplan.

Aber vielleicht eine Tischdecke.