Interview — JEREMIAS

»Songschreiben ist eine ziemlich egozentrische Sache«

Mit ihrem zweiten Album, liebevoll »Von Wind und Anonymität« genannt, ermöglichen uns JEREMIAS einen tiefen Einblick in ihr Seelenleben. Dabei ist es der Hannoveraner Band gelungen, eine musikalische Grundsätzlichkeit zu schaffen, mit der sie das Gesagte millimetergenau auf den Punkt bringt. Kurz gesagt: ein Album mit Geist und Groove – chapeau! Wir treffen Frontmann Jeremias Heimbach zu einem sehr persönlichen Interview: ein Gespräch über die Vorzüge der Anonymität, die Anziehungskraft von Hermann Hesse, doofe Memes und eine windige Insel, auf der man hin und wieder auf die Fresse fällt.

27. Oktober 2023 — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotografie: Maximilian König

Man stelle sich kurz folgende Situation vor: Man sitzt abends allein in einer kleinen Bar, sinniert so vor sich hin und plötzlich fragt ein Unbekannter, ob er sich dazusetzen dürfe. In einer Mischung aus Höflichkeit und Neugier bietet man ihm einen Platz an und lässt sich auf ein Glas Vino Bianco einladen.

Kaum hat man sich zugeprostet, fängt der Unbekannte an, aus seinem Leben zu erzählen. Mal berichtet er vom Tod eines geliebten Menschen, mal vom Umzug in eine neue Stadt, mal von der Sorge um einen engen Freund. Ohne Berührungsängste und mit beeindruckender Eloquenz teilt seine tiefsten Gefühle und privateste Gedanken. Dabei wirkt er überraschend unverzagt und ganz bei sich. Mehr noch: Seine Gier nach Leben ist geradezu ansteckend.

Nach einer knappen Dreiviertelstunde steht der Unbekannte auf und verabschiedet sich mit einer herzlichen Umarmung. Plötzlich ist da nichts als Stille – und das Gefühl, gerade eine Form emotionaler Verbundenheit erlebt zu haben, mit der man zu Beginn des Abends nicht gerechnet hätte.

So oder so ähnlich fühlt es sich an, wenn man zum ersten Mal „Von Wind und Anonymität“ hört, das neue Album von JEREMIAS. Die vierköpfige Band, die sich 2018 in Hannover gründete und drei Jahre später mit „Golden Hour“ ihr erstes Studioalbum präsentierte, hat nun mit ihrer zweiten Platte ein Werk geschaffen, das einen auf vielfältige Art und Weise berührt. Ein Album mit Geist und Groove, das von Anfang bis Ende großen Spaß macht – auch wenn Ben Hoffmann, Jeremias Heimbach, Jonas Hermann und Oliver Sparkuhle damit ihre Hörer*innen tief in ihr Seelenleben blicken lassen. Oder gerade deshalb.

Hatte sich der 23-jährige Sänger und Bandgründer Jeremias vor einiger Zeit noch unbekleidet auf einem EP-Cover abbilden lassen, macht sich auf dem zweiten Album nun die gesamte Band nackt – allerdings aus rein emotionaler Perspektive. Und wenn man ehrlich ist, ist das bei Menschen auch der deutlich interessantere Aspekt.

Verpackt sind diese überaus persönlichen Gefühle und Gedanken in eine textliche Poesie, die sich erfrischend klar und wortgewandt von eingetretenen Deutschpop-Pfaden absetzt. Und in einen Sound, der das Gesagte musikalisch auf den Punkt bringt, und zwar millimetergenau. Der Sound des neuen Albums kommt im Vergleich zu „Golden Hour“ zwar weniger fulminant daher, wirkt dafür aber wesentlich grundsätzlicher und selbstbewusster. Man könnte auch erwachsener sagen, aber mit diesem Begriff, so wird uns Frontmann Jeremias im Interview erzählen, hat er so seine Probleme.

Alles in allem ist „Von Wind und Anonymität“ ein Plädoyer dafür, dass die Welt der Musik eine schlechtere wäre, wenn sie nur noch aus hastig veröffentlichten Singles bestünde – ohne reichhaltige, sorgfältig kuratierte Alben wie dieses, deren Reiz gerade darin besteht, dass man sich einfach mal 45 Minuten auf sie einlassen muss. Wie auf einen Unbekannten, der sich abends in einer kleinen Bar zu einem an den Tisch setzt und von seinem Leben erzählt.

Im Moabiter Studio von Fotograf Maximilian König treffen wir Jeremias Heimbach zu einem sehr persönlichen Gespräch.

»Wir freuen uns, dass mit diesem Album wirklich alles einmal gesagt wurde.«

MYP Magazine:
Mit Eurem neuem Album gestattet Ihr uns, den Hörer*innen, einen tiefen Blick in Euer Seelenleben. Wie geht es Dir und den anderen drei damit, ein so intimes Stück Musik in die Welt geworfen zu haben?

Jeremias:
Uns geht‘s definitiv gut damit. Wir haben ja im Vorfeld schon sieben Singles rausgehauen und sind dabei auf sehr viel positive Resonanz gestoßen. Außerdem ist es mittlerweile fast ein Jahr her, dass wir die Platte aufgenommen haben. Dadurch haben wir alle auch einen gewissen Abstand dazu. Aber ich will das jetzt gar nicht kleinreden, ganz im Gegenteil: Wir freuen uns, dass mit diesem Album jetzt, zum 22. September 2023, wirklich alles einmal gesagt wurde.

»Wir machen das alles einfach nur aus einer puren Freude, Liebe und inneren Dringlichkeit heraus.«

MYP Magazine:
Wenn man „Von Wind und Anonymität“ zum allerersten Mal hört, kann es passieren, dass man sich emotional ziemlich überrollt fühlt: Die Tatsache, dass einem vier fremde Menschen so private Gedanken und Gefühle anvertrauen, scheint eine besondere Verbindlichkeit zu schaffen, der man als Hörer*in auch irgendwie gerecht werden will. Wie gehst Du persönlich mit der Verantwortung um, die entsteht, wenn man mit seiner Musik für andere Menschen einen so großen emotionalen Resonanzraum schafft?

Jeremias:
Dass unser neues Album derartige Gefühle auslösen kann, höre ich gerade zum ersten Mal – und berührt mich. Aber diese krasse Verantwortung, von der Du sprichst, spüre ich persönlich überhaupt nicht, zumindest nicht im Moment. Das liegt wahrscheinlich daran, dass wir das alles einfach nur aus einer puren Freude, Liebe und inneren Dringlichkeit heraus machen. Das allein ist der Kern unserer Musik. Vielleicht entspringt daraus dieses Nichtverantwortungsgefühl.

»Mist! Wir singen davon, dass wir den Winter überlebt haben? Leute überleben den scheiß Krieg nicht!«

MYP Magazine:
Öffentlich über seine Gefühle zu sprechen, ist etwas, das immer noch nicht selbstverständlich ist in unserer Gesellschaft – insbesondere für Männer. Viele argumentieren, dass ihre Probleme im Vergleich zu anderen eher unbedeutend seien, vor allem mit Blick auf das Elend dieser Welt. Gab es bei Euch ähnliche Gedanken bei der Entwicklung der neuen Platte? Hattest Du persönlich Zweifel, dass Deine Gefühle nicht „wichtig genug“ seien, um sie zu äußern?

Jeremias:
Ja, absolut. Ich kann Dir dazu sogar einen konkreten Moment nennen. Als ich im März 2022 in Barcelona war und den Song „Wir haben den Winter überlebt“ geschrieben habe, hatte Putin wenige Wochen zuvor die Ukraine überfallen. Ich dachte nur: Mist! Wir singen davon, dass wir den Winter überlebt haben? Leute überleben den scheiß Krieg nicht! Als ich darüber mit unserem A&R-Manager Maxi gesprochen habe, hat er mir einen wichtigen Satz mitgegeben. Er sagte, dass man menschliches Leid nicht vergleichen und Gefühle nicht gegeneinander aufwiegen solle. Und das habe ich seitdem auch nicht mehr getan…

MYP Magazine:
… weil alles Menschliche seine Berechtigung hat.

Jeremias:
Genau. Und dennoch glaube ich, dass man sich als Musiker in so einem Moment nur gutfühlen kann, wenn man ganz genau weiß, wofür man das alles macht. Natürlich wollen wir, dass die Leute unsere Songs hören; natürlich wollen wir, dass sie zu den Konzerten kommen und unsere Texte mitbrüllen. Aber absolut vorrangig ist für uns, in der Musik Ausdruck zu finden. Nur darum geht es, das ist unser Antrieb.

»Mit zunehmendem Erfolg haben wir festgestellt, dass jeder von uns auf einmal etwas anderes wollte.«

MYP Magazine:
Diese Einstimmigkeit innerhalb der Band gab es in den letzten Jahren aber nicht immer. Im Pressetext zum neuen Album heißt es: „Die Synchronisation untereinander und füreinander ging verloren, die Beziehungen gerieten aus dem Takt. Irgendwann die Frage aller Fragen: scheitern oder weiter?“ Was genau war passiert?

Jeremias:
Ich glaube, dass ein gewisser Erfolg für alle erst mal komisch ist – und sich auch auf jeden Einzelnen anders auswirkt: privat, in der Beziehung zueinander sowie in den Beziehungen zu anderen Menschen. Zwar befinden wir uns als Band immer noch auf einem entspannten Level, was den Hype angeht. Dennoch haben wir mit zunehmendem Erfolg festgestellt, dass jeder von uns etwas anderes wollte. Und diese Situation war für alle erst mal verwirrend.

»Plötzlich steht man an einem Punkt, an dem die Leute diverse Dinge auf einen projizieren.«

MYP Magazine:
Kannst Du beschreiben, warum?

Jeremias:
Als wir vor fünf Jahren mit der Band gestartet sind, waren wir einfach nur vier Freunde, die gemeinsam Mucke machen wollten. Dann haben wir gemerkt, dass das etwas Längerfristiges werden könnte – etwas, das man beruflich machen will. In unserem Fall hieß das: Man gründet eine fucking GbR und plötzlich steht man an einem Punkt, an dem einen die Leute auf der Straße erkennen und diverse Dinge auf einen projizieren. Man wird zu einer Person der Öffentlichkeit, hat diverse Geschäftspartner und es gibt erwachsene Menschen, die mit einem ihren Lebensunterhalt verdienen. All das war nicht nur super neu für uns, sondern gleich auf mehreren Ebenen anstrengend. So kam es, dass jeder von uns für sich und sein Leben etwas anderes wollte. Das war auch okay so, wir haben sehr viel daraus gelernt. Und letztendlich ist das bei vier Individuen auch normal.

»Die drei sind die einzigen, die wirklich nachvollziehen können, wie es ist, sich klein zu fühlen und riesig.«

MYP Magazine:
Was bedeuten Ben, Jonas und Olli für Dich?

Jeremias:
Diese drei Jungs sind mein Lebenselixier.

MYP Magazine:
Es gibt Menschen, die wählen hierfür den Begriff „chosen family“.

Jeremias: (lächelt)
Ich mag meine Familie sehr, daher würde ich das Wort auch nur exklusiv für sie verwenden. Aber wir vier sind genauso eng. Und ich bin sehr froh, mit diesen drei Jungs das große Abenteuer teilen zu können, das wir 2018 gemeinsam begonnen haben. Sie sind die einzigen, die wirklich nachvollziehen können, wie es ist, 70 Konzerte zu spielen; sich sicher zu fühlen mit der Öffentlichkeit und unsicher; sich geil zu fühlen und schrecklich; sich klein zu fühlen und riesig. Außenstehende werden das in der Form nie wirklich nachvollziehen können – weder das Management, noch das Label, noch das Booking. Auch nicht ein bester Kumpel. Ich bin sehr dankbar, dass wir vier diese gemeinsame Erzählung haben.

»In dem Moment, in dem es Olli nicht gut ging, war das Grund genug für mich zu sagen: Ich bin da für dich.«

MYP Magazine:
Du hast Olli den Song „Da für Dich“ gewidmet. In Deiner Stimme scheint hier eine ganz besondere Dringlichkeit und Betroffenheit zu stecken. Was hat Dich dazu gebracht, diesen Song zu schreiben?

Jeremias:
Auslöser war eine Show in Linz am 18. Mai 2022. Nach dem Auftritt kam Olli zu uns hinter die Bühne und sagte, dass er gerade eine Panikattacke gehabt habe – und dass er nicht wisse, ob er das alles noch könne und wolle. Damit meinte er nicht nur die Live-Shows, sondern auch die Band als solche. Als wir einen Tag später in Wien gespielt haben, kam mir im Backstage die Idee für den Song. Und später im Hotel habe ich angefangen, daran zu schreiben.

MYP Magazine:
„Da für Dich“ erzählt davon, dass Ollis Seele nicht nachkam in den letzten Jahren. Wie erging es Deiner eigenen Seele in dieser Zeit?

Jeremias: (zögert einen Moment)
Gut, denke ich… nein, eigentlich nicht gut, weil es meinem Bruder nicht gut ging. Aber irgendwie war ich okay damit. Oder besser gesagt: Mir selbst ging es okay. Aber weißt Du, das mit dem Songschreiben ist eine ziemlich egozentrische Sache. Ich kann am Ende immer nur über das schreiben, was mich persönlich triggert und in irgendeiner Form berührt. Alles andere ist mir egal, zumindest aus musikalischer Sicht. Soll heißen: In dem Moment, in dem es Olli nicht gut ging, war das Grund genug für mich zu sagen: Ich bin da für dich. Und das wollte ich in einem Song ausdrücken.

»Tobias? Elias? Wie heißt Du?«

MYP Magazine:
Im Song „Egoist“ erzählst Du davon, wie sich Dein eigenes Leben in den letzten Jahren verändert hat. Was hat Dich hier getriggert, dass Du des in einem Song verarbeiten wolltest?

Jeremias:
In „Egoist“ behandele ich meinen Umzug nach Berlin. In Hannover wurde ich in letzter Zeit immer öfter auf der Straße erkannt und angesprochen, das wurde mir irgendwann zu viel. In Berlin habe ich das absolute Gegenteil erlebt – und das ist heute immer noch so. Wenn ich mich hier jemandem vorstelle, gibt’s oft die Antwort: „Tobias? Elias? Wie heißt Du?“ Das fand ich vor allem am Anfang richtig geil. Ich dachte: Wie krass ist es, dass niemand etwas von mir will? Dieses Gefühl wollte ich in der Songzeile „Dann bin ich lieber nichts“ zum Ausdruck bringen.

MYP Magazine:
Wie gelingt es Ben, Jonas und Olli, sich ein Privatleben zu bewahren?

Jeremias:
Ich würde behaupten, dass es uns allen enorm hilft, jeweils einen festen Freundeskreis zu haben, der um das Gut Privatsphäre weiß. Daher funktioniert es auch für die drei noch ganz gut, so etwas wie ein Privatleben zu haben.

»Wer bin ich, dass ich den Leuten sage, was sie zu denken haben?«

MYP Magazine:
Als Ihr vor einigen Jahren in der Sendung „Inas Nacht“ aufgetreten seid, begrüßte Euch Moderatorin Ina Müller mit den Worten: „Ihr seht sooo gut aus.“ Wie geht Ihr damit um, wenn Euer Aussehen so explizit thematisiert und vielleicht sogar vor die Musik gesetzt wird? Ärgern Euch solche Momente?

Jeremias:
Ärgern ist ein viel zu großes Wort dafür. Wir haben uns damals riesig über Inas Einladung in die Sendung gefreut, daher läge mir nichts ferner, als ihr daraus einen Strick zu drehen. Sie hat in dem Augenblick nur das in Worte gepackt, was sie gedacht hat, und wollte uns ein schönes Kompliment machen. Wir jedenfalls haben uns in dem Moment sehr geschmeichelt geführt.

MYP Magazine:
Trotzdem gibt es Menschen, die Bands in erster Linie wegen ihres Aussehens gut finden – diesen Umstand beschreibt Ihr selbst auch im Song „Clown zum Freak“.

Jeremias:
Ja, safe. So etwas ist super einseitig und oberflächlich. Aber wer bin ich, dass ich den Leuten sage, was sie zu denken haben? Letztendlich hinterlässt jeder Mensch einen Eindruck. Wir können nichts dafür, wenn uns Leute aus optischen Gründen gut finden. Aber auch das ist natürlich okay… (lacht)
Es gibt übrigens eine deutsche Meme-Seite, die immer wieder ein Foto von uns nimmt und „Elevator Boys“ darunter schreibt. Ich denke mir dabei regelmäßig: Hä, warum? Aber es ist, wie es ist. Mittlerweile sind wir‘s gewohnt und ich habe aufgehört, dem nachzugehen. Man kann ohnehin nicht allen Leuten gefallen. Unmöglich. Entweder erkennen die Menschen das, was du tust, und lieben dich dafür. Oder eben nicht. Beides ist okay. Ich werde hier niemanden verurteilen. Und ich werde auch nicht versuchen, irgendwen zu überzeugen.

»Für mich ist es immer wieder faszinierend, wie aus einem einzelnen Wort eine physische, haptische Sache wird.«

MYP Magazine:
Eure jüngste Single-Auskopplung, der Song „Goldmund“, ist eine kleine Hommage an den berühmten Roman „Narziss und Goldmund“ von Herman Hesse. Welche Rolle spielt Literatur in Deinem Leben?

Jeremias:
Ich finde die Kunstform richtig geil! Das mag vielleicht ein bisschen altbacken klingen, aber für mich ist es immer wieder faszinierend, wie aus einem einzelnen Wort eine physische, haptische Sache wird; wenn so ein Wort auf ein weißes Blatt Papier gedruckt wird und dann in deinem Kopf Bilder auslöst, sobald du es gelesen hast. Ich habe zwar schon als Kind und Jugendlicher viel gelesen, zu Hause und in der Schule, aber erst vor Kurzem einige Klassiker für mich entdeckt. Die Werke von Hermann Hesse mag ich wirklich sehr, aber auch Bücher wie „Schachnovelle“ von Stefan Zweig oder „Das Parfum“ von Patrick Süskind. Ich bin einfach ein Freund guter Geschichten. „Schachnovelle“ zum Beispiel ist dramaturgisch so aufgebaut ist, dass du mit dem letzten Satz abgeholzt wirst – das erschüttert dich, weil‘s so gut ist.

»Goldmund gehört niemandem. Diesen Gedanken fand ich schön.«

MYP Magazine:
Und warum hat es Dir die Figur Goldmund so angetan?

Jeremias:
Ich habe „Narziss und Goldmund“ gelesen, als wir alle im zweiten Corona-Frühjahr steckten und jede*r ganz allein für sich war, im stillen Kämmerlein. Dieser Goldmund aber, der war draußen in der Welt unterwegs und konnte machen, was er wollte. Erst war er mit Narziss im Kloster, dann ist er dort ausgebrochen und im Anschluss durch die Dörfer getingelt. Das fand ich in dem Moment wahnsinnig schön und hoffnungsvoll.

MYP Magazine:
In den ersten Zeilen des Songs heißt es: „Goldmund, du erinnerst mich an mich“. Hermann Hesse beschreibt Goldmund in seinem Roman als jemanden, der „zu den Menschen gehöre, welchen ein Stück aus ihrem Leben verloren gegangen ist, welche unter dem Druck irgendeiner Not oder Bezauberung sich dazu verstehen mussten, einen Teil ihrer Vergangenheit zu vergessen.“ Ist dieser Aspekt ebenfalls einer, in dem Du dich widerfindest?

Jeremias:
Nein, überhaupt nicht. Meine Vergangenheit war super, ich bin dankbar für alles. Ich mochte einfach nur Goldmunds Art zu denken – damit kann ich mich persönlich absolut identifizieren. Goldmund lebt nach Lust und Laune in den Tag hinein, ist heute hier und morgen da, ist im einen Moment überschwänglich und happy und im nächsten Moment wieder bittertraurig. Dennoch macht er am Ende immer, was er will. Er gehört niemandem. Diesen Gedanken fand ich schön. Man muss aber auch aufpassen, dass es nicht zu pathetisch wird. (grinst)

MYP Magazine:
Pathos hat das Album an anderen Stellen ja auch im Überfluss.

Jeremias lacht laut.

»Ich habe den Knabenchor in Hannover gefragt, ob sie sich vorstellen könnten, das einzusingen.«

MYP Magazine:
Ist der sakrale Charakter des Songs „97“ auch von „Narziss und Goldmund“ und der mittelalterlichen Klosterschule inspiriert, in der der Roman spielt?

Jeremias:
Das mag man denken. Aber tatsächlich geht das auf die Entscheidung zurück, keine weitere Klavierballade machen zu wollen. Trotzdem wollten wir mit diesem Song irgendwie musikalisch umgehen. Die Option, das Ganze mit unseren Instrumenten neu zu arrangieren, kam für uns aber nicht infrage. Also habe ich den Knabenchor in Hannover angerufen, in dem ich selbst 16 Jahre lang gesungen habe, und gefragt, ob sie sich vorstellen könnten, das einzusingen. Nach ihrer Zusage habe ich ihnen kongruent zum Klavier ein Arrangement geschrieben. Deswegen klingt es so, wie es klingt. Ein sehr sakraler Vibe, aber auch richtig nice.

»Wir haben alles Mögliche ausprobiert, um am Ende doch noch zusammenzukommen.«

MYP Magazine:
Im Vergleich zu Eurem ersten Album wirkt die Musik jetzt zwar zurückhaltender, dennoch hat die neue Platte einen ganz eigenen, grundsätzlich und erwachsen wirkenden Sound. Wie ist der musikalische Charakter dieses zweiten Albums entstanden?

Jeremias:
Wie ich eben bereits angedeutet habe: In den letzten Jahren wollten alle vier zunehmend etwas anderes. Das bezog sich auch auf die Musik. Der eine wollte sich vor den PC hocken und produzieren, der andere wollte nur Klavierballaden schreiben und wieder ein anderer wollte einfach ein Mikrofon in den Raum stehen und acht Minuten lang jammen. Aus diesen vielen Gelüsten hat sich langsam und über Monate das Album entwickelt. „Von Wind und Anonymität“ ist das Ergebnis eines langen Prozesses, in dem wir alles Mögliche ausprobiert haben, um am Ende doch noch zusammenzukommen und unsere Wünsche zu vereinen.

»Wenn man da den Berg hochgeht, rutscht man tausendmal ab und fällt auch hin und wieder auf die Fresse.«

MYP Magazine:
Im März habt Ihr euch für ein paar Wochen aus dem deutschen Noch-Winter ausgeklinkt und seid nach Fuerteventura geflogen. Dort sind diverse Fotos, Videos und Visualizer für das neue Album entstanden. Warum habt Ihr euch ausgerechnet für die Kanareninsel entschieden?

Jeremias:
Wir hatten einen Ort gesucht, der das Album visuell gut zusammenfasst. Das klingt vielleicht ein bisschen platt, aber Fuerteventura heißt übersetzt so viel wie „starker Wind“. Wir empfanden das als eine schöne Analogie zum Albumtitel. Außerdem hatten wir das Gefühl, dass die Insel mit ihren steinigen und weitläufigen Hügellandschaften gut zur Musik passt. Aber dass es am Ende so perfekt aufgehen würde, war für uns alle dann doch überraschend.

MYP Magazine:
Inwiefern?

Jeremias:
Unsere erste Platte, „Golden Hour“, wirkt aus heutiger Perspektive sehr weichzeichnerisch und jugendhaft. Die Musik war zwar nicht irrelevant, aber im Vergleich zu „Von Wind und Anonymität“ ein bisschen nichtssagend. Daher wollten wir versuchen, die Essenz des neuen Albums – dieses deutliche, teilweise abgefuckte und stark kontrastierte Wesen – auch visuell adäquat darzubringen. Und dafür war Fuerteventura perfekt. Wenn man da den Berg hochgeht, rutscht man tausendmal ab und fällt auch hin und wieder auf die Fresse.

»Für mich ist das Kindsein viel faszinierender als das Erwachsensein.«

MYP Magazine:
In Eurer Musik finden sich immer wieder Referenzen auf Eure Kindheit, etwa im Song „Wir haben den Winter überlebt“ oder im Musikvideo zu „Sommer“. Wie bemerkst Du an dir persönlich das Erwachsenwerden – und welchen Aspekte schätzt Du daran?

Jeremias:
Am meisten schätze ich die Unabhängigkeit und die Freiheit, die dieses Erwachsensein mit sich bringt. Aber ganz ehrlich? Eigentlich verteufele ich das auch. Oder besser gesagt: Ich mag es nicht so gerne. Sobald ich merke, dass ich irgendwo einen erwachsenen Eindruck mache, macht mich das ein bisschen traurig. Für mich ist das Kindsein viel faszinierender als das Erwachsensein. Als Kind ist man so losgelöst und einfach für sich, daran denke ich immer wieder gerne zurück. Aber unabhängig zu sein und für sich selbst entscheiden zu können, was man machen will, ist natürlich auch nicht uncool. (lächelt)

»Am liebsten genieße ich gerade die Stille.«

MYP Magazine:
Zu Beginn unseres Gesprächs haben wir über die emotionale Verbundenheit gesprochen, die Hörer*innen in Eurer neuen Platte finden können. Gibt es für Dich persönlich ein Album, das Dich in den letzten Jahren begleitet hat und Dir besonders am Herzen liegt?

Jeremias:
Mich hat „Am Wahn“ von Tristan Brusch sehr mitgenommen – das habe ich sogar eben noch im Taxi gehört. Dieses Album mag ich sehr. Und vor kurzem bin ich auf den Song „Die Freiheit“ von Georg Danzer gestoßen, den mag ich ebenso… (schweigt einen Moment) Mann, sorry! Eigentlich würde ich Dir gerne sehr viel konkretere Sachen nennen.

MYP Magazine:
Vielleicht ist das etwas so Privates und Intimes, dass man es in einem Interview nicht preisgeben sollte: Musik, bei der man seine Seele öffnet.

Jeremias:
Das stimmt. Es ist aber auch so, dass ich vor allem in den letzten beiden Jahren wenig Musik gehört habe. Am liebsten genieße ich gerade die Stille. Aus diesem Gefühl heraus habe ich auch den letzten Song des Albums geschrieben. Ist schon strange, oder? Ich bin erst 23 und suche jetzt schon die Stille. Ich weiß nicht, wie das mit 80 werden soll.