Interview — Jannis Niewöhner & Sabin Tambrea

Hymne auf die Freundschaft

Hermann Hesses Roman »Narziß und Goldmund« gilt als Hymne auf das Leben, die Freundschaft und die Einzigartigkeit eines jeden Menschen. Die Erzählung, die zu den wichtigsten der deutschen Literatur zählt, wurde nun im großen Stil verfilmt. Wir haben die Hauptdarsteller Jannis Niewöhner und Sabin Tambrea zum Gespräch getroffen.

9. März 2020 — MYP N° 28 »Freundschaft« — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotos: Steven Lüdtke

Als der S. Fischer Verlag im Juli 1930 den Roman „Narziß und Goldmund“ veröffentlichte, wurde es dem Autor Hermann Hesse etwas unheimlich. Zu positiv war das Echo, das seine sprachgewaltige Erzählung hervorrief, zu wohlwollend waren die Rezensionen. Unter den mehr als 20 Buchbesprechungen, die sich mit seinem neuesten Werk befassten, gab es nur eine wirklich kritische.

Noch mehr irritierte Hesse der Tonus vieler Zuschriften. Seinem guten Freund Otto Hartmann vertraute er damals an: „Meine Leser und namentlich Leserinnen schreiben mir täglich Briefe, wie schön der Goldmund sei und wie gut, dass ich vom Steppenwolf mich zu dieser ,Harmonie‘ hindurchgerungen habe. Es ist zum Speien. Für die Leute ist der Dichter da, um ihnen ,Harmonie‘ vorzutäuschen. Sobald er an den Tod, an die Tragik, an den Krieg, an alles Wirkliche erinnert, ist er ein lästiger Querulant.“

Aber kann man es den Leuten wirklich übelnehmen, dass sie sich in dieses Buch verlieben – in ein Buch, das nicht nur eine Hymne ist auf das Leben und die Freundschaft, sondern auch auf die Unterschiedlichkeit und Einmaligkeit eines jeden Menschen?

„Narziß und Goldmund“ erzählt die Geschichte zweier junger Männer, die sich um das Jahr 1500 in einer süddeutschen Klosterschule kennenlernen. Der eine, Novize Narziß, ist ein intellektueller und scharfsinniger Asket, sein wenige Jahre jüngerer Schüler Goldmund ein gutaussehender Lebemensch, der von seinem Vater ins Kloster abgeschoben wurde. Schnell entwickelt sich zwischen den ungleichen Figuren eine enge Freundschaft, die auch dann nicht zerbricht, als Narziß erkennt, dass Goldmunds Wesen nicht für das entbehrungsreiche und gottesfürchtige Leben als Mönch gemacht ist – und ihn dazu ermuntert, in die bunte weite Welt hinauszuziehen, um dort sein Glück zu finden.

„Narziß und Goldmund“ gilt heute als eines der wichtigsten Werke deutschen Literatur, seit 1930 hat sich der Roman millionenfach verkauft und wurde in über 30 Sprachen übersetzt. Die Entscheidung, ein solches Buch zu verfilmen, erfordert also eine gewisse Unerschrockenheit.

Regisseur Stefan Ruzowitzky hat diesen Schritt gewagt, mit viel Mut und einer hochkarätigen Besetzung. Herausgekommen ist ein kurzweiliger Streifen, der 115 Minuten lang in Hollywood-Optik glänzt und am 12. März in die deutschen Kinos kommt. An der Spitze des Ensembles stehen die beiden Hauptdarsteller Sabin Tambrea und Jannis Niewöhner, die ihren Figuren Narziß und Goldmund ein leinwandgerechtes Leben einhauchen konnten. Gedreht wurde der Film von August bis Oktober 2018 in Österreich, Tschechien und Südtirol. Ein gutes Jahr später haben wir die beiden in einem Kino am Potsdamer Platz zum Interview getroffen.

»Die Stärke der Geschichte ist, dass sie mit dem Leser mitwächst.«

Jonas:
Wann in Eurem Leben ist Euch die Geschichte von „Narziß und Goldmund“ zum ersten Mal begegnet? Und welchen Eindruck hat sie damals bei Euch hinterlassen?

Jannis:
Ich habe den Roman mit Anfang 20 zum ersten Mal gelesen. Eigentlich bin ich überhaupt keine Leseratte und habe große Schwierigkeiten, mich in Büchern zu verlieren – das ist eine Fähigkeit, die mir einfach nie gegeben war. Aber bei diesem Buch war es so, dass es vom ersten Moment an etwas mit mir gemacht hat. In „Narziß und Goldmund“ geht es um so elementare Fragen und Themen des Lebens, dass ich mich darin total wiedergefunden habe. Ich habe das Buch geradezu geliebt.

Sabin:
Das Besondere an dem Roman ist, dass er für jedes Lesealter seine eigene Gültigkeit hat. Das Buch ist in meiner Jugend irgendwie an mir vorbeigegangen, aber ich bin mir sicher, ich hätte es geliebt, da es viele Gedanken beinhaltet, die mich persönlich zu jener Zeit direkt betrafen. Als ich mich im Vorfeld des Drehs mit dem Roman auseinandergesetzt habe, bin ich aber auch auf ganz andere Facetten gestoßen – Facetten, die mir als Teenager noch verborgen geblieben wären. Ich meine damit etwa die vielen philosophischen Gedanken, die ich mit 15 Jahren noch nicht imstande gewesen wäre zu begreifen. Die Stärke dieser Geschichte ist, dass sie mit dem Leser mitwächst. Ich höre oft von Menschen, die alle paar Jahre diesen Roman in die Hand nehmen und sich über die vielen neuen Dinge erfreuen, die ihnen mit fortgeschrittener Lebenserfahrung auffallen.

Jannis:
Natürlich ist es auch so, dass man sich in unterschiedlichen Phasen des Lebens mit dem einen oder anderen Thema mehr oder weniger identifiziert. Das Buch erzählt zwei völlig unterschiedliche Charaktere, die ihre ganz eigenen Lebenswege verfolgen. Je nach persönlicher Lebenssituation findet man sich daher mal in der Figur des Narziß wieder und mal in der des Goldmund. Mir selbst ging es interessanterweise schon immer so, dass ich mich zu beiden Charakteren hingezogen gefühlt habe, weil ich mir für mich selbst auch beide Lebenswege vorstellen kann.

»Das Schönste an Narziß ist, dass er eine Offenheit und Neugier für das Unbekannte zeigt, ohne es zu verurteilen.«

Jonas:
Wo genau seht Ihr Schnittmengen zu Eurer eigenen Persönlichkeit? Was verbindet Sabin mit seiner Figur Narziß? Wo offenbart sich Jannis im Wesen des Goldmund?

Jannis:
Ich finde mich in grundsätzlichen Fragen des Lebens wieder, die Goldmund und mich gleichermaßen umtreiben: Was ist die eigene Kunst? Wie will man diese ausleben? Was will man mit seiner Kunst erzählen? Auf der einen Seite gibt es bei Goldmund und mir eine große Ungewissheit, mit der wir durchs Leben gehen, auf der anderen Seite versuchen wir, alles, was uns begegnet, sehr intensiv auszuleben. Wir wollen das Extreme und stürzen uns in alles hinein, was uns vor die Füße fällt. Dieses Irrationale, das Goldmund ausmacht, charakterisiert auch mich zu einem sehr starken Teil.

Sabin (unterbricht lächelnd):
Wer würde sich nicht gerne mit Goldmund identifizieren wollen, wenn er das Buch liest oder den Film sieht? Auch in mir steckt ein kleines bisschen Goldmund. Im Gegensatz zu Narziß ist er einfach der coole Lebemann, der so wenig Handbremse in sich hat, dass er alles ungefiltert erlebt.
Auf der anderen Seite bin ich aber auch zur Hälfte Narziß: Ich bin ein rationaler Mensch und wäge gerne ab. Für mich ist das Schönste an diesem Charakter, dass er – obwohl er Teil einer gestrigen Welt ist – eine Offenheit und Neugier für das Unbekannte zeigt, ohne es zu verurteilen. Mit dieser Haltung steht er übrigens auch im krassen Gegensatz zur Figur des konservativen Mönchs Lothar, der an alten Traditionen festhält und allem Neuen gegenüber misstrauisch bis feindlich eingestellt ist.
Was mich an dem Film ohnehin so beeindruckt, ist die Tatsache, dass er in der Lage ist, unsere gesamte Gesellschaft alleine über diese drei Figuren abzubilden: Goldmund steht für den Herzensmenschen, der sich aus seinem Bau wagt und die Welt entdeckt. Narziß ist der Intellektuelle, der durch seine Bücher eine große Offenheit entwickelt hat. Und Lothar ist der Unoffene, der im Gestern lebt. Damit hätte man übrigens auch die ganzen Populisten abgedeckt, die gerade mit bis zu 25 Prozent in den Parlamenten dieses Landes vertreten sind, was mir große Sorge bereitet.

»Ich würde nie behaupten, dass es bei Hesse weiße Stellen gibt.«

Jonas:
Durch die detaillierte und ausschmückende Sprache des Romans hat man als Leser das Gefühl, die beiden Hauptfiguren sehr gut kennenzulernen. Habt Ihr in der Buchvorlage dennoch weiße Stellen bei der Beschreibung der Charaktere identifiziert, bei denen Ihr das Gefühl hattet, diese erst durch Euer Spiel wirklich ausmalen zu können?

Sabin:
Ich würde nie behaupten, dass es bei Hesse weiße Stellen gibt. Dazu liefert er für die Fantasie viel zu viel Futter. Ich würde sogar sagen, dass die Romanvorlage fast schon zu flirrend ist, weil sie so unendlich viele Anknüpfungspunkte bietet. Unser Ziel war es, dafür eine adäquate Übersetzung zu finden. Auch wenn dies nie eins zu eins geschehen kann und sich nicht jeder einzelne Dialog in den Film übertragen lässt, mussten wir dennoch allen Gedanken des Romans gerecht werden und sie in eine filmische Sprache bringen.

»Für mich persönlich ist der Glaube an einen Gott etwas eher Irrationales.«

Jonas:
Dann lass mich anders fragen: Welche Wesenszüge Deiner Figur Narziß wolltest Du im Spiel unbedingt hervorheben? Was macht ihn für Dich so besonders?

Sabin:
Die Liebe zur Wissenschaft und zur Rationalität! Und die Tatsache, dass er dennoch keinen Zweifel an der Existenz eines Gottes hat. Für mich persönlich ist der Glaube an einen Gott etwas eher Irrationales. Daher habe ich mich im Vorfeld auch gefragt, wie ich die Wirkung der Religion auf Narziß in meinem Spiel zeigen kann. Meine Antwort war, dass dies nur über die Musik gelingen kann. Der Film gibt mir an zwei Stellen die kurze Chance, den Zuschauern zu zeigen, was die Religion für Narziß bedeutet, und zwar in den Momenten, in denen er die Choräle anstimmt. Diese Situationen ermöglichen den Zuschauern einen direkten emotionalen Anstoß. Daher war für mich ganz klar: Diese Momente mussten sitzen.

»Um meinen Goldmund darzustellen, habe ich in erster Linie aus mir selbst geschöpft.«

Jonas:
Im Spätmittelalter hatte Musik ohnehin einen ganz anderen Stellenwert. Während einem heute per Klick Milliarden von Songs zur Verfügung stehen, fand Musik damals nur in wenigen besonderen Momenten des Alltags statt. Wie habt Ihr euch in diese Zeit um 1500 hineingedacht? Hat für Euer Spiel das heutige Verständnis der Welt überhaupt eine Bedeutung gehabt?

Jannis:
In „Narziß und Goldmund“ finden etliche Themen statt, mit denen wir uns auch heute noch fast unverändert auseinandersetzen. Aus diesem Grund haben wir uns entschlossen, in unserem Film ein eher fiktives, romantisiertes Mittelalter zu beschreiben, was uns auch mehr Raum für die Erzählung der Charaktere gegeben hat. Für mich persönlich war die Zeit, in der die Geschichte spielt, mehr oder weniger egal. Um meinen Goldmund darzustellen, habe ich in erster Linie aus mir selbst geschöpft – aus all den Fragen, die ich habe, aus all dem Chaos, das sich so abspielt in meinem Leben, aus all dem auf der Suche sein. Goldmund trägt in sich eine große, undefinierbare Ungewissheit, gleichzeitig spürt er ein starkes Verlangen nach mütterlicher Liebe. Und auf der Suche danach entdeckt er die Kunst für sich. Das alles beschreibt für mich etwas zutiefst Menschliches und hat nicht wirklich etwas mit der Zeit zu tun, in der es stattfindet.

»Für junge Menschen ist es heute schwer, ihre eigene Identität zu entdecken – weil sie schon gefüttert werden, bevor sie Hunger haben.«

Jonas:
An einer Stelle des Films sagt Goldmund zu Narziß: „Durch dich habe ich suchen gelernt, aber suchen muss ich alleine.“ Muss man dieses Suchen auch heutzutage noch lernen – in einer Zeit, in der einem das gesamte Wissen der Welt zur Verfügung steht?

Sabin:
Ja, weil man heute mit dem Finden überschüttet wird. Egal, was man sucht oder nicht sucht, man erhält ständig tausende Antworten: tausende Spotify-Listen, tausende Google-Ergebnisse, tausende Posts, die einen überrollen. Daher ist es für junge Menschen heute auch so schwer, ihre eigene Identität zu entdecken – weil sie schon gefüttert werden, bevor sie Hunger haben. Und sobald es ein bisschen dunkel wird um sie herum, bekommen sie Angst: Angst davor herauszufinden, wer sie sind und wie sie empfinden.

»Im Film emanzipiert sich Goldmund schneller als im Roman.«

Jonas:
Ich persönlich hatte im Film den Eindruck, dass Sabins Narziß verletzlicher und nahbarer wirkt als die Figur im Roman, wohingegen sich Jannis‘ Goldmund emanzipierter und mutiger gibt. Welche Freiheiten haben Euch das Drehbuch und der Regisseur dabei gelassen, die Figuren jeweils so anzulegen, wie Ihr sie letztendlich gespielt habt?

Jannis:
Stefan Ruzowitzky hatte eine sehr klare Vision davon, was er mit dem Film erzählen will, und ich persönlich konnte mich dieser Vision sehr schnell anschließen, gerade in Bezug auf meinen Charakter Goldmund. Die einzige Frage, die ich mir stellen musste, war: Wie kann ich das, was mir das Buch vorgibt, auf meine Rolle im Film übertragen?
Vielleicht hast Du die beiden Figuren deshalb etwas verändert wahrgenommen, weil der Film die Geschichte wesentlich kürzer erzählt als das Buch. Beispielsweise verlässt Goldmund das Kloster im Film viel früher, als er es im Roman tut. Dort wird seine Zeit in der Klosterschule deutlich ausführlicher erzählt – inklusive der immer wiederkehrenden Zweifel, die ihn umtreiben, und inklusive der vielen Momente, in denen er mit sich hadert. Oder anders gesagt: Im Film emanzipiert sich Goldmund schneller als im Roman. Das ist auch nötig, um die Geschichte überhaupt in zwei Stunden erzählen zu können.

Sabin:
Was die von Dir im Film wahrgenommene Verletzlichkeit von Narziß angeht, muss ich sagen, dass ich diese im Buch schon immer gelesen habe. Es ist nur so, dass er diese Nahbarkeit nicht wirklich nach außen dringen lässt. Für mich als Schauspieler ist es aber viel spannender, den Zuschauern gegenüber durchlässig zu sein, statt eins zu eins die Figur des Buchs darzustellen – dadurch kann ich ihnen einladend eine Tür öffnen. Das ist im Buch gar nicht nötig, da die Figur sich über die Fantasie der Leser selbst in ihre Köpfe eingeladen hat.

»Wir haben über den gesamten Zeitraum versucht, Hermann Hesse gerecht zu werden.«

Jonas:
Habt ihr es jemals als Bürde empfunden, zwei Charaktere zu spielen, die eine so prominente Bedeutung in der deutschen Literatur haben?

Sabin:
Natürlich! Das kann man nicht von sich wegschieben. Als ich per SMS die Zusage für die Rolle bekommen habe, saß ich gerade in der Bahn. Im ersten Moment habe ich mich einfach nur gefreut und direkt meiner Frau geschrieben: „Ich bin Narziß!“ Aber schon im nächsten Moment schoss mir in den Kopf: Da gibt es jetzt unzählige Menschen in diesem Land, die alle sehr genaue, persönliche Vorstellungen davon haben, wie diese Figur zu sein hat und wie sie zu spielen ist. Genauso wie immer ganz viele Leute wissen, wie man Politik zu machen hat oder wie die deutsche Nationalmannschaft zu führen ist. Daher ist es eine enorme Herausforderung, so eine Rolle zu stemmen. Aber je ängstlicher man ist, desto unmutiger wird man. Und das ist da völlig fehl am Platz. Man muss mit voller Kreativität und Herzenskraft an so eine Aufgabe herangehen. Und entweder scheitert man dabei oder hat das Glück, ganz viele Menschen zu berühren.

Jannis:
Ein Scheitern kann es hier gar nicht geben – wenn überhaupt in Form einer harten Kritik. Aber davon muss man sich frei machen. Und man muss den Gedanken verstehen, dass die Verfilmung von so etwas Großem immer auch etwas extrem Subjektives hat. Wir als Team – und insbesondere Stefan Ruzowitzky – haben einfach aus unserer Wahrnehmung der Geschichte einen Film gemacht, immer darum wissend, dass so etwas nie wirklich perfekt gelingen kann. Dass liegt daran, dass jeder Mensch, der das Werk „Narziß und Goldmund“ kennt, damit ganz eigene Gedanken und Gefühle verbindet. Aus diesem Grund bleibt einem gar nichts anderes übrig, als so ein Projekt mit maximaler Hingabe anzugehen. Und ich glaube, das haben wir getan.

Sabin:
Und man kann guten Gewissens sagen, dass es in unserer Übersetzung von Roman zu Film keinen inhaltlichen Aspekt gibt, über den wir im Vorfeld nicht gesprochen hätten. Wir haben über den gesamten Zeitraum versucht, Hermann Hesse gerecht zu werden, insbesondere dann, wenn es Szenen im Buch gab, die es nicht in den Film geschafft hatten.

»In unserem Film werden die Zuschauer emotional ergriffen, und zwar ungefiltert.«

Jonas:
Romanverfilmungen müssen sich immer den Vergleich mit ihrer literarischen Basis gefallen lassen. Wenn man diesen Umstand mal über Bord wirft und „Narziß und Goldmund“ als ein grundsätzliches Anliegen versteht – als ein Thema, das es zu erzählen gilt: Was kann Euer Film zu diesem Anliegen beitragen, welche neue Perspektive kann er auf dieses Thema eröffnen?

Sabin:
Die direkte Herzensebene! In unserem Film werden die Zuschauer emotional ergriffen, und zwar ungefiltert. Sie können sich diesem Thema – komprimiert auf zwei Stunden – voll und ganz hingeben. Im Buch findet da eine ganz andere zeitliche Auseinandersetzung statt: über Tage, über Wochen oder sogar über Monate, je nach dem, wie lange man für die Lektüre braucht.

Jannis:
Das kann ich nur unterstreichen. Es ist das Medium an sich, das dem Thema oder Anliegen, wie Du sagst, einen bestimmten Mehrwert gibt. Davon abgesehen war es aber gar nicht unsere Aufgabe und auch nicht unser Ziel, da irgendetwas Neues zu finden. Vielmehr wollten wir der Geschichte an sich gerecht werden und ihren wesentlichen Kern erzählen.

»Auf einmal befindet man sich in so einer Art Fließbandarbeit.«

Jonas:
Goldmund wird als Kind von seinem Vater ins Kloster gebracht, weil er ihn loswerden möchte. Damit zwingt er ihm ein Leben auf, von dem der Junge selbst noch gar nicht weiß, ob er es später einmal leben möchte. Jannis, gab es in Deinem eigenen Leben je eine Situation, in der Du dich in eine Richtung genötigt gefühlt hast, in die Du eigentlich gar nicht gehen wolltest?

Jannis:
Das ist in meinem Fall ziemlich ambivalent, da ich sehr früh mit der Schauspielerei angefangen habe. Diese Entwicklung habe ich immer als großes Glück empfunden, aber es gab auch immer wieder Situationen, in der ich das absolut verflucht habe. Wenn man in so einen Beruf gerät und merkt, dass es halbwegs funktioniert, befindet man sich auf einmal in so einer Art Fließbandarbeit – auch wenn man das selbst gar nicht so empfindet. Plötzlich ist da ein Weg, der einem vorgegeben scheint. Daher kam bei mir auch immer wieder die Frage auf, ob dieser Beruf wirklich das ist, was ich will, weil ich nicht sicher war, ob die Schauspielerei nur etwas ist, das mir durch glückliche Fügungen begegnet ist – etwas, das mit einem Mal da war. Es wäre aber absolut falsch, das mit der Situation von Goldmund zu vergleichen, alleine weil ich immer große Freude an meinem Beruf hatte. Da war zum Beispiel die Schule viel eher etwas, in das ich unwillentlich hineingedrängt wurde (lacht).

Jonas:
Vielleicht hattest Du einfach Glück. Es gibt bestimmt viele Kinder, die insgeheim Schauspieler werden wollen, aber von ihren Eltern zu einer Ausbildung bei der Sparkasse gedrängt werden…

Jannis:
Und genauso gibt es bestimmt viele Eltern, die ihre Kinder vor eine Filmkamera drängen, obwohl diese vielleicht viel lieber bei der Sparkasse anfangen würden.

»Schauspielerei bedeutet nicht, dass man durch die Darstellung bestimmter Figuren ein bisschen aus seinem eigenen Leben erzählt.«

Jonas:
Im Roman sagt Narziß zu Goldmund Folgendes: „Indem ein Mensch mit den ihm von Natur gegebenen Gaben sich zu verwirklichen sucht, tut er das Höchste und einzig Sinnvolle, was er kann.“ Ist für Dich die Schauspielerei das einzig Sinnvolle, was Du tun kannst?

Jannis:
Ja, es fühlt sich auf eine bestimmte Art und Weise so an, zumindest in Kombination mit anderen Dingen: mit Musik, mit Freundschaft, mit der Fähigkeit, richtig zu lieben. Das, was einen antreibt und von Herzen kommt, ist ohnehin immer das Sinnvollste, was man im Leben tun kann. Für mich gibt es da aber nicht diese Eindeutigkeit, auf die Du hinauswillst. Klar, die Schauspielerei ist etwas, was ich persönlich als absolut sinnvoll und beglückend empfinde. Allerdings war mein Beruf für mich nie Teil eines Schwarzweißdenkens. Schauspielerei bedeutet nicht, dass man durch die Darstellung bestimmter Figuren ein bisschen aus seinem eigenen Leben erzählt. Ganz im Gegenteil: Das eigene Spiel ist im Wesentlichen geprägt von den Begegnungen mit anderen Menschen – oder auch von dem Druck, dem man immer wieder ausgesetzt ist.

Jonas:
Hattest Du je den Eindruck, aus Dir selbst eine Rolle herauszuschälen, so wie Goldmund im Laufe der Geschichte eine Skulptur aus einem Holzstamm herausschnitzt?

Jannis:
Ja, das könnte man tatsächlich so beschreiben. Allerdings habe ich im Vergleich zu Goldmund ganz am Anfang einer Rolle noch kein so konkretes Bild vor Augen. Oder anders gesagt: Ich schnitze fleißig, weiß aber oft noch nicht, was daraus einmal werden soll.

»Gewisse Verschiedenheiten zwischen den Menschen führen eher zu einer gewissen Wärme – und weniger zu einer Distanz.«

Jonas:
Die Geschichte von Narziß und Goldmund ist das Gegenteil des Sprichworts „Gleich und gleich gesellt sich gern“: Sie feiert nicht nur die Grundverschiedenheit der beiden Hauptfiguren, sondern beschreibt auch, wie sie sich durch ihre Diversität ergänzen und unterstützen. Konntet Ihr beide während des Drehs ebenfalls etwas voneinander lernen, was Euch bereichert und weitergebracht hat?

Jannis:
Total! So ähnlich, wie sich Goldmund von Narziß unterscheidet und in ihm eine gewisse Hilfestellung findet, so habe auch ich am Set immer wieder festgestellt, wie verschieden Sabin und ich sind – als Menschen wie als Schauspieler. Ich erinnere mich, wie ich immer wieder beobachtet habe, wie er auf ganz anderen Wegen zu etwas gefunden oder eine Szene gestaltet hat als ich. Daher war es für mich auch so spannend zu erleben, wie wir uns beim Dreh immer wieder ergänzt haben. Und was für einen großen Respekt wir uns bei all den Unterschiedlichkeiten entgegengebracht haben. Grundsätzlich glaube ich, dass gewisse Verschiedenheiten zwischen den Menschen eher zu einer gewissen Wärme führen – und weniger zu einer Distanz. Das kann aber nur gelingen, wenn jeder so ist, wie er ist, und niemand versucht, wie der andere zu sein.

Sabin (lächelt):
Über die Zeit mit Jannis Niewöhner könnte ich nur in der Form berichten, dass ich erröten würde. Daher möchte ich darüber in seiner Gegenwart eigentlich nicht sprechen. Aber Spaß beiseite: Für mich war diese Zusammenarbeit ein besonderes Erlebnis der Inspiration, die wir uns gegenseitig geschenkt haben.

»Ich habe das Gefühl, dass wir heute nicht mehr ganz so weit sind, wie wir eigentlich sein sollten.«

Jonas:
Das freundschaftliche Verhältnis zwischen Narziß und Goldmund ist auch von der Tatsache geprägt, dass Narziß schwul ist. Welchen Stellenwert haben all die gesellschaftspolitischen Errungenschaft unserer Zeit, wenn man das Thema Homosexualität in einem modernen Film des Jahres 2020 behandelt? Würdet Ihr sagen, dass Euer Werk an dieser Stelle wesentlich unbefangener und eindeutiger ist, als man das im Jahr 1930 sein konnte, als der Roman veröffentlicht wurde?

Sabin:
Ich glaube, dass wir uns bei den Dreharbeiten viel mehr Gedanken darum gemacht haben, wie, wann und in welcher Ausführlichkeit wir diesen Punkt darstellen können, als Hermann Hesse das wohl jemals beim Verfassen seines Romans getan hat. Bei ihm lässt er Narziß ganz direkt sagen: „Deine Träume sind von Mädchen, meine von Knaben.“ Wenn man bedenkt, dass Hesse bereits in der Hippie-Zeit als ein Symbol der freien Lebensart galt, so habe ich eher das Gefühl, dass wir heute nicht mehr ganz so weit sind, wie wir eigentlich sein sollten.

»Es ist absurd, wie sehr sich viele Menschen gegen andere, unbekannte Liebeskonzepte wehren, nur weil sie Angst davor haben.«

Jonas:
Apropos Liebe: Diese Geschichte befasst sich auf so vielen Ebenen mit einem Verständnis von Liebe, wie man es heutzutage gar nicht mehr gewohnt ist. Während unser moderner Liebesbegriff sich oft auf wenige Ausprägungen beschränkt, beschreibt Ihr auf Basis des Romans ein viel universelleres Verständnis des Gefühls Liebe. Ist diese feinsinnige und vielschichtige Ausprägung des Liebesbegriffs etwas, das wir als Gesellschaft erst wieder erlernen müssen?

Sabin:
Wir müssen vor allem lernen zu respektieren. Die Tatsache, dass unser heutiges Verständnis von Liebe so begrenzt ist, liegt doch darin begründet, dass wir in unserer Ignoranz andere Möglichkeiten gar nicht tolerieren. Dass wir heute beispielsweise noch Fußballer dazu ermutigen müssen, sich zu outen, ist eine Schande. Die Wahrnehmung ist ja bereits da, aber die Engstirnigkeit der Menschen muss weg. Und dafür bietet unser Film Vorlagen en masse. Egal, ob es um die Liebe zu Gott, um körperliche Liebe oder um geistige Liebe geht, das alles ist im Überfluss da. Man muss es nur erkennen.

Jannis:
Der Respekt entsteht dann, wenn die Angst davor verschwindet. Es ist absurd, wie sehr sich viele Menschen gegen andere, unbekannte Liebeskonzepte wehren, nur weil sie Angst davor haben. Es wundert mich sehr, dass das in unserer Zeit noch stattfindet.

»Wenn ich mich mit meinem besten Freund plötzlich nicht mehr verstehen sollte, würde ich mir eher Gedanken um mich selbst machen.«

Jonas:
Der Liebesbegriff in „Narziß und Goldmund“ schließt auch die Liebe zu einem engen Freund ein. Habt Ihr einen besten Freund oder eine beste Freundin, bei dem oder der Ihr die Gewissheit habt, dass er oder sie Euch für den Rest Eures Lebens begleiten wird?

Jannis:
Ja. Ich würde sogar sagen, da gibt es ein paar. Bei den meisten meiner Freunde ist es übrigens so, dass wir unterschiedlicher kaum sein könnten. Ich denke da etwa an einen meiner besten Freunde, mit dem ich zusammen aufgewachsen bin und bis zum Abi sehr viel zu tun hatte. Wir sind in unseren Leben komplett unterschiedliche Wege gegangen und sehen uns mittlerweile nur noch zwei-, dreimal im Jahr. Auch wenn sich um ihn mittlerweile andere Freundesgruppen gebildet haben, mit denen ich nicht wirklich etwas zu tun habe, habe ich nach wie vor das Gefühl, dass da noch ganz viel Substanz ist, wenn wir uns begegnen. Ich spüre dann, dass wir uns für alle Ewigkeit aufeinander verlassen können.

Sabin:
Mir geht es ähnlich. Auch wenn man sich eher selten sieht, gibt es einen gemeinsamen Ursprung. Wenn ich mich mit meinem besten Freund plötzlich nicht mehr verstehen sollte, würde ich mir eher Gedanken um mich selbst machen. Ich würde mich fragen, wie sehr ich mir treu geblieben bin oder nicht. Gott sei Dank bin ich immer noch in der glücklichen Situation, dass es in meinem Leben einige Menschen gibt, auf die ich mich voll und ganz verlassen kann – und die sich auf mich voll und ganz verlassen können.

»Das, was da entsteht, das bleibt.«

Jonas:
Ihr beide kanntet Euch vor den Dreharbeiten noch nicht wirklich. Seid ihr im Laufe der Monate Freunde geworden?

Jannis:
Ich würde sagen, ja. Es ist schon besonders, was einem so eine Zeit, so eine Phase gibt. Und das, was da entsteht, das bleibt.

Jonas:
Hesse hatte zwei Alternativtitel für sein Buch. Nummer eins: „Narziß oder Der Weg zur Mutter“. Nummer zwei: „Das Lob der Sünde“. Wenn Ihr eurem Film einen anderen Titel geben könntet, wie würde der lauten?

Beide lachen laut.

Jannis:
Ich glaube, da wäre alles viel zu platt, was mir gerade einfallen würde.

Sabin (grinst):
Ich würde sagen: „Goldmund und Narziß“.