Interview — Jannik Schümann

Lichter der Stadt

Im Mai 2011 sind wir Jannik Schümann zum ersten Mal begegnet sind. Zwei Jahre später treffen wir den aufstrebenden Jungschauspieler wieder – und verbringen mit ihm einen Tag in New York. Ein Gespräch über den Broadway, seine neue Rolle im Film „Spieltrieb“ und über das Gefühl, nach Hause zu kommen.

14. Juli 2013 — MYP N° 11 »Mein Souvenir« — Interview: Jonas Meyer, Fotos: Stephen Gwaltney

Damals regnete es, das weiß man noch. Zwar erst etwas mehr, dann wieder weniger. Aber es regnete.

Und draußen war es grau, nichtssagend grau: Man musste Schutz suchen in einem Café im Prenzlauer Berg und sich mit dem leuchtenden Orange vieler kleiner Lampen verbünden, um gegen dieses elende Grau anzukämpfen – und um eine interviewwürdige Atmosphäre für einen jungen Schauspieler zu erschaffen.

Damals, das war im Mai 2011. Und der junge Schauspieler, das war Jannik Schümann. Erst wenige Monate vorher war der gebürtige Hamburger nach Berlin gezogen, um sich ganz und gar seinem Beruf zu widmen. Um sich freizuschwimmen und zu wachsen. An der Stadt, am Leben und an sich selbst.

Als Kind wurde Jannik von seiner heutigen Agentin entdeckt – in einer Tankstelle beim Süßigkeiten kaufen. Aus purem Zufall. Und so kam es, dass er Schauspieler wurde und wir an jenem Nachmittag im Mai 2011 zum Interview verabredet waren. Damals flüchteten wir vor dem Grau in das Café mit dem orangenen Licht. Wir redeten über sein Leben, seine Wünsche, Träume und Sehnsüchte. Und über seine große Leidenschaft für die Schauspielerei.
Zwei Jahre ist es also her, dass wir uns zum ersten Mal gegenübersaßen. Und wie damals treffen wir Jannik auch heute an irgendeinem Tag im Mai zum Interview. Nur dass es diesmal nicht Berlin ist. Sondern New York.

Der 21-jährige ist für einige Wochen in der großen Stadt, weil er sich eine kleine Auszeit nimmt und für einen Moment verschnaufen will. Er hat viel gearbeitet in den letzten Monaten, in den letzten Jahren.

Unser heutiger Treffpunkt heißt Ecke 8th Avenue / West 40th Street, Jannik wartet bereits. Es ist gerade einmal 9:30 Uhr, doch während das heimatliche Berlin um diese Uhrzeit erst zögerlich erwacht, ist New York schon längst auf den Beinen – oder vielleicht immer noch? Wer weiß das schon.

Wir beginnen den Tag eher unamerikanisch mit Kaffee und Croissant und lassen uns von dem geschäftigen Menschenstrom aufsaugen, der entlang der 8th Avenue fließt.. Der Strom treibt uns nach Norden Richtung Times Square – jenem Ort, der wohl wie kein zweiter als Sinnbild für das niemals schlafende, aufgeregte und exzessive New York steht.

Jonas:
Du bist bereits zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres zu Besuch in New York. Wird die Stadt irgendwann zur Routine?

Jannik:
Ganz und gar nicht! Als ich vor drei Wochen nach New York reingefahren bin und die Skyline wieder vor Augen hatte, war die Aufregung genau so groß wie beim ersten Besuch vor einem Jahr – mein Herz ist quasi aus dem Körper herausgesprungen. Irgendwie ist es jedes Mal wieder ein total beeindruckendes Gefühl, weil die Stadt einen magisch anzieht.

Jonas:
Gibt es denn eine Ecke in New York, die dich besonders reizt?

Jannik:
Ja, tatsächlich hat der zentrale Theaterdistrikt rund um den Times Square eine absolute Magnetfunktion für mich. Letztes Jahr habe ich es erst nach vier Tagen geschafft, mich von dieser Gegend zu lösen und mal weiter downtown zu fahren, wo es diese typischen Straßenraster nicht mehr gibt.
Ich fand es im Nachhinein total schade, dass ich nicht früher auf größere Entdeckungsreise im East und Village gegangen bin, weil ich die Gegend dort ebenfalls total mag. In den kleinen und beschaulichen Straßen kann man sich total verlieren, weil New York einen auch gerade dort in seinen Bann zieht. Da ich die Stadt aber noch besser kennenlernen wollte, habe ich diesmal meine Fühler weiter ausgestreckt und mir auch andere Ecken genauer angesehen. Trotzdem war auch bei diesem zweiten New York-Aufenthalt wieder der Theaterdistrikt die erste Anlaufstelle.

Jonas:
Bereits vor zwei Jahren hattest Du uns mit glänzenden Augen verraten, wie sehr dein Herz für Musicals schlägt. Diese Leidenschaft scheint also ungebrochen…

Jannik:
Oh ja – in New York verging bisher kein Abend, an dem ich nicht in einer Broadway-Show war! Meine große Leidenschaft ist und bleibt einfach das Musical, daran hat sich nichts geändert.

Wer einmal erlebt hat, wie die Stars hier in den Musicals gefeiert werden, der versteht, warum der Broadway das Nonplusultra ist.

Jonas:
Leider wird in Deutschland das Genre des Musicals im Gegensatz zu den USA eher stiefmütterlich behandelt.

Jannik:
Das stimmt. In den Staaten haben die Menschen ein ganz anderes Gefühl für diese Kunstform. Und überhaupt hat das Musical hier einfach ein viel höheres gesellschaftliches Standing. Als Darsteller kann man einfach nicht weiter aufsteigen als am Broadway zu spielen. Das ist das Höchste der Gefühle, denn der Broadway ist weltweit Nummer eins.
Es ist unglaublich, wie hoch die Qualität ist, die einem hier auf den Bühnen geboten wird. Alles ist auf den Punkt genau: Jede Bewegung sitzt, jede Stimme ist perfekt, jeder Ton wird getroffen und sogar die Tonmischung ist genial. Daher war für mich bisher jeder Abend in New York ein Highlight.
Und auch das Publikum ist ein ganz anderes als in Deutschland: Im Theater und in den Shows sieht man wesentlich mehr junge Menschen als bei uns. Das liegt wahrscheinlich daran, dass hier für die meisten Vorstellungen wenige Stunden vor Beginn Tickets zum Discountpreis verkauft werden. Das macht die oft sehr teuren Karten für Schüler und Studenten erschwinglich.
Vielleicht sollten die deutschen Theater und Musicals auch mal überlegen, ob sie nicht verstärkt solche Last-Minute-Tickets anbieten wollen. Dann wären die Häuser bestimmt nicht so leer.
Es gibt übrigens noch einen weiteren Unterschied zu Deutschland: Während bei uns hauptsächlich mit den Stücken selbst geworben wird, stehen in den USA vor allem die Stars im Vordergrund, mit deren Gesichtern und Namen man die Show verkauft. Dementsprechend reagiert auch das Publikum ganz anders, wenn bekannte Darsteller die Bühne betreten.
Sobald beispielsweise am Broadway im Musical „Phantom der Oper“ das Phantom zum ersten Mal in Erscheinung tritt, wird frenetisch applaudiert und gejubelt. Das passiert bei uns eher selten. Wer einmal erlebt hat, wie die Stars hier in den Musicals gefeiert werden, der versteht, warum der Broadway das Nonplusultra ist – und warum jeder Darstellers auf das Ziel hinarbeitet, hier irgendwann einmal aufzutreten.

Vor dem Port Authority Bus Terminal machen wir Halt und drehen unsere Köpfe nach rechts: Blitzartig springt uns die Stein, Glas und Farbe gewordene Reizüberflutung des Times Square ins Gesicht – ein permanentes Zuviel, das sich aus jeder Wandpore drückt.

Fasziniert von dieser übermächtigen Imposanz werfen wir uns in den bunten Ameisenhaufen. Gigantische Broadway-Werbeplakate hängen wie Ikonenbilder an den Fassaden der Häuserschluchten und präsentieren die Antlitze der Musical-Stars.

Ziemlich große Bühne für die große Bühne.

Jannik strahlt über beide Ohren, in seinen Augen spiegeln sich die Lichter der großen Stadt. Links und rechts von uns reiht sich ein Theater an das andere, ständig buhlend um die Gunst des Zuschauers und um die Krone der besten Show. Hier liegen sie also, die Bretter, die die Welt bedeuten.

Jonas:
Als wir uns im Mai 2011 zum ersten Mal trafen, hattest Du gerade „Homevideo“ abgedreht. Danach hat sich bei dir ziemlich viel getan…

Jannik:
Ja, dieses Projekt hat mir beruflich einen kräftigen Schub gegeben: Nach „Homevideo“ habe ich richtig viel gearbeitet und tolle Rollen gespielt. Ich bin total glücklich darüber, wie sich alles entwickelt hat.

Jonas:
Eines der bemerkenswertesten Projekte ist dabei zweifelsohne der Film „Spieltrieb“, in dem du für eine der Hauptrollen besetzt wurdest.

Jannik:
Absolut! Zwar gab es die Anfrage für den Film sowie die erste Castingrunde bereits, bevor wir uns im Mai 2011 zum Interview trafen, allerdings wurde das Projekt aufgrund diverser Finanzierungsfragen erst einmal wieder auf Eis gelegt. Nachdem ich lange Zeit nichts mehr davon gehört hatte, gab es Ende 2011 plötzlich grünes Licht und es ging weiter.
Ich wurde zur zweiten und dritten Castingrunde Anfang Januar 2012 eingeladen, weil dort verschiedene Darsteller-Konstellationen ausprobiert wurden. Danach habe ich zwei qualvolle Wochen mit Warten verbracht, bis endlich der erlösende Anruf kam und ich die Zusage hatte, für die Rolle des Alev besetzt zu sein. Ich bin in die Luft gesprungen und habe geschrien vor Glück! Und im Mai 2012 haben wir dann in München angefangen zu drehen.

Jonas:
Der Film basiert auf dem gleichnamigen Roman von Juli Zeh – ein wundervolles und fesselndes Buch, das sich den Theorien Nietzsches verschreibt und durch das man sich im wahrsten Sinne des Wortes durcharbeiten muss. Man stößt in dem Buch auf so viele wichtige Sätze, die sehr viel Zeit und Raum brauchen. Wie bringt man diese Informationsgewalt in einem Film unter?

Jannik:
Das Buch ist eigentlich nicht verfilmbar, nicht nur wegen der besonderen Sprache und der vielen schwerwiegenden Nietzsche-Sätze. Das Thema ist einfach ziemlich heikel, schließlich geht es um das Ziel des 18jährigen Alev, Macht über andere Menschen auszuüben und sie zu kontrollieren. Er ist fest davon überzeugt, dass alle Menschen manipulierbar sind, wenn man nur die entsprechenden Weichen stellt und an den entscheidenden Rädchen dreht. Es geht ihm nicht um Gut oder Böse, sondern um die Logik der Dinge – das ist seine sogenannte Spieltheorie.
Alev ist gerade erst auf eine neue Schule gewechselt, wo er sich prompt neue Opfer sucht: So stiftet er seine Mitschülerin Ada dazu an, den Sportlehrer Smutek zu verführen – und Ada gibt sich aus Liebe zu Alev diesem perfiden Plan hin.
Als ich das Buch im Rahmen der Castingvorbereitungen zum ersten Mal gelesen hatte, dachte ich nur: Ach du heilige Nuss, wie soll ich das bloß spielen, wenn ich die Rolle bekomme? Und wie bringe ich das meinen Eltern bei, was ich da mache? Ich habe im echten Leben noch nie einen Menschen kennengelernt, der ansatzweise so wäre wie Alev.

Rückblickend kann ich sagen: Es gab für mich noch nie eine so große Herausforderung wie „Spieltrieb“.

Jonas:
Die Frage ist ja, ob es überhaupt einen Menschen gibt, der so ist wie Alev.

Jannik:
Ich weiß es nicht. Jedenfalls kann ich es mir nicht vorstellen. Selbst einer so fiesen Figur wie der des Henry aus „Homevideo“ ist man ja irgendwann schon einmal in seinem Leben begegnet oder hat von ihr gehört.

Alev unterscheidet sich dagegen von allem, was ich bisher kannte – alleine schon durch seine Sprache. Eigentlich redet er nie „normal“, sondern nur in bedeutungsschweren Sätzen und Zitaten. Das zieht sich konstant durch das gesamte Drehbuch und somit auch durch den kompletten Film.
Bevor die Dreharbeiten losgingen, hatte ich absolut keine Ahnung, wie ich um Himmels Willen diese Texte über die Lippen bekommen soll, sodass es für das Publikum glaubhaft ist.
Und selbst während der Dreharbeiten haben wir uns manchmal gedacht: Ob das alles in allem so funktioniert? Ich hatte anfangs echt ziemlich Muffensausen, aber letztendlich hat es doch geklappt. Rückblickend kann ich sagen: Es gab für mich noch nie eine so große Herausforderung wie „Spieltrieb“.

Jonas:
Wie ist es euch gelungen, die 600 Seiten und rund zwei Jahre erzählte Zeit des Romans in 90 Minuten Film zu packen?

Jannik:
Man muss den Film als ein eigenes Werk betrachten: Um das Wesentliche dieses 600-Seiten-Buchs in einem 90-Minuten-Film unterbringen zu können, ließ man beispielsweise Alev direkt in der ersten Filmszene auftreten, obwohl er im Roman erst viel später und nach einer erzählten Zeit von etwa einem Jahr die Bühne betritt. Man wollte die Handlung der 90 Filmminuten konsequent auf das Dreieck Alev, Ada und Smutek maßschneidern. Daher wurde etwa die Hälfte aller Roman-Figuren gestrichen. Und während man beispielsweise auf der einen Seite Personen wie Alevs Eltern oder seine Zimmergenossen im Internat stärker beleuchten musste, fielen dafür auf der anderen Seite Rollen raus, die im Buch hauptsächlich die Figur der Ada berühren und somit für die Dreiecksbeziehung Alev-Ada-Smutek keine unmittelbare Bedeutung haben.

Jonas:
Wie hast du dich dem Drehbuch genähert und dich auf diese komplexe Rolle vorbereitet?

Jannik:
Ich habe das Drehbuch schlicht und einfach auswendig gelernt, weil es mir sonst nicht möglich gewesen wäre, diese schwerwiegenden Sätze so zu sprechen, als wären sie normale Alltagssprache.
Außerdem war es sehr hilfreich, dass im Drehbuch die einzelnen Seiten nur auf der Vorderseite bedruckt waren. Wenn ich es also aufgeschlagen habe, gab es zwei Hälften: Der rechte Teil war beschriftet, der linke dagegen frei. Dort konnte ich meine Anmerkungen und Analysen zu jedem einzelnen Satz meiner Rolle aufkritzeln.
Davor musste ich aber erst einmal Nietzsche verstehen und mich mit seinen Theorien auseinandersetzen, sonst wäre es mir wahrscheinlich nicht gelungen, Alevs Sätze so umfangreich zu analysieren und für mich persönlich zu deuten. Ohne Nietzsche hätte ich Alev nicht verstanden.
Das ist ja auch überhaupt das Abgefahrene an der Schauspielerei: Dass man sich durch die Vorbereitung auf Rollen mit Themen auseinandersetzt, mit denen zumindest ich mich eher nicht mal so eben auseinandergesetzt hätte oder mich in absehbarer Zeit detailliert befassen würde.

Jonas:
Ist Nietzsche etwas, das sich in dir manifestiert hat und über die Rolle hinaus präsent geblieben ist?

Jannik:
Natürlich entwickelt man sich durch die Auseinandersetzung mit einer solchen Problematik auch intellektuell ein Stückchen weiter und nimmt das über die Rolle hinaus für sein Leben mit, trotzdem muss man zu den Gedanken und Vorstellungen Alevs eine klare Grenze ziehen. Alev und ich, wir beide haben nichts gemeinsam.

Jonas:
Hattest du denn mit Alev etwas gemeinsam, als du die Rolle gespielt hast?

Jannik:
Ich würde sagen, dass ich Alev war.

Wenn ich morgens in den Anzug geschlüpft bin, war ich plötzlich nicht mehr Jannik.

Jonas:
War es für dich schwierig, dich von dieser Rolle wieder zu trennen, mit der du so verwachsen warst?

Jannik:
Ehrlich gesagt hat mir das Kostüm ziemlich dabei geholfen, die Rolle wieder loszuwerden. Wie im Buch fällt Alev auch im Film durch seine teure und exzentrische Kleidung auf, durch die er sich von seinen Klassenkameraden in krasser Weise unterscheidet: Er trägt Designeranzug, spitze Lederschuhe und Burberry-Mantel.
Wenn ich morgens in den Anzug geschlüpft bin, war ich plötzlich nicht mehr Jannik. Als wäre plötzlich ein Hebel umgelegt worden, dachte ich wie Alev, bewegte mich wie Alev, redete wie Alev. Und umgekehrt konnte ich abends wieder Jannik sein, wenn ich den Anzug abgestreift habe.

Jonas:
Hattest du nicht die Befürchtung, dass das tiefe Eintauchen in diese Rolle dein eigenes Wertesystem beeinflussen könnte?

Jannik:
Nein, ganz im Gegenteil. Ich würde sagen, dass ich durch „Spieltrieb“ eine gewisse Wachsamkeit entwickelt habe. Es werden einem viele Dinge klarer, vor allem in Bezug auf das menschliche Handeln und die Gefahr der Manipulierbarkeit.

Jonas:
Hast Du bei der Analyse deiner Rolle versucht herauszufinden, wie Alev überhaupt zu dem Menschen werden konnte, der er ist?

Jannik:
Naja, Alev ist ein eiskalter Mensch, der nichts für die Gefühle anderer übrig hat und selbst auch keine Emotionen zulässt – bis auf wenige Momente. Und in genau diesen wenigen Momenten scheint er mit seinen Gefühlen total überfordert zu sein. Ich kann mir gut vorstellen, dass in seiner Kindheit irgendetwas Schlimmes passiert sein muss, das dafür verantwortlich ist.
Im Buch wie im Film bleibt dieser Aspekt aber absolut offen. Daher muss sich jeder Zuschauer ein eigenes Bild machen und für sich selbst eine mögliche Erklärung finden. Mir jedenfalls hat es sehr geholfen, zu Alev eine fiktive Biographie anzulegen, durch die ich halbwegs nachvollziehen konnte, warum dieser Mensch so ist, wie er ist.

Jonas:
Wie werden deiner Meinung nach die Zuschauer auf „Spieltrieb“ reagieren?

Jannik:
Ich glaube, dass dieser Film sehr provozieren wird. Es gibt viele beklemmende, traurige und teils schockierende Szenen, bei denen ich mir vorstellen kann, dass die Zuschauer großen Schmerz empfinden werden.
Wenn das passieren würde, wäre ich sehr zufrieden – denn dann wüsste ich, dass ich als Schauspieler funktioniert hätte. Einige der Szenen sind so sogar so abstoßend, dass den Zuschauern gar nichts anderes übrig bleiben wird als mich zu hassen. Das wäre großartig, denn dann hätte ich als Schauspieler wirklich gewonnen.

Überwältigt vom Farb- und Lichtermeer des Times Square setzen wir unsere kleine Reise durch Manhattan fort und laufen einige Zeit den Broadway entlang Richtung Süden. Irgendwie brauchen wir mehr Luft, mehr Freiheit, mehr Sonne: Hier in den tiefen Häuserschluchten verirrt sich einfach zu wenig natürliches Licht auf den Boden. Am Herald Square entscheiden wir uns daher kurzerhand, in die U-Bahn zu steigen und downtown zu fahren. Und so geht es im F-Train ruppig, aber zügig unter dem East River hindurch nach Brooklyn.

In der U-Bahn sitzen wir uns schweigend gegenüber, schauen einander an, beobachten andere.

Während Janniks hellblauen Augen durch den Wagon wandern und unauffällig die nähere Umgebung abtasten, hüllen die schummrigen Deckenleuchten und das matte Metall der Wandverkleidung den Innenraum in zartes Gold.

Der F-Train hat mittlerweile den East River passiert und ruckelt an der York Street ein. Wir finden, dass wir genug Zeit im Untergrund verbracht haben, verlassen die U-Bahn und streben Richtung Ausgang.

Kaum sind wir die Treppen hinaufgestiegen, begrüßt uns die hohe Mittagssonne mit ihrem grellsten Weiß.

Wir schauen uns um: Das also ist Brooklyn. Irgendwie schön hier, alles wirkt so ruhig und beschaulich. Zufrieden schlendern wir zum Brooklyn Bridge Park, lassen uns auf einer großen Wiese nieder und bestaunen die Skyline von Manhattan, die direkt vor unseren Füßen liegt.

Jonas:
Am 15. September wirst du im Berliner Tatort zu sehen sein, wo Du einen jugendlichen U-Bahn-Schläger spielst, der verdächtigt wird, eine Person zu Tode geprügelt zu haben – ebenfalls eine Rolle, die die Zuschauer eher hassen als lieben werden.

Jannik:
Ja, das stimmt. Dieser Tatort basiert auf einer wahren Begebenheit aus dem Jahr 2009. Am Münchener S-Bahnhof Solln wurde der 50-jährige Familienvater Dominik Brunner ermordet, weil er einige Schüler vor jugendlichen Schlägern beschützen wollte. Im Berliner Tatort, den wir vor kurzem abgedreht haben, ist die Handlung aber etwas abgewandelt. Trotzdem geht es um Zivilcourage und die Tatsache, dass die Leute eher wegsehen als eingreifen.
Ich bin total dankbar, dass ich diese Rolle spielen durfte. Ich mag es einfach, wenn ich Charaktere darstellen kann, die meilenweit entfernt sind von meiner eigenen Persönlichkeit. Ich übernehme zwar auch ganz gerne mal eine Rolle, in der ich der Schwarm der Schule bin und mich alle lieben, aber das andere ist für mich doch irgendwie eine größere Herausforderung.

Jonas:
Wie verlief der Dreh?

Jannik:
Der Dreh war in zweierlei Hinsicht eine außergewöhnliche Erfahrung. Zum einen hatte ich während der gesamten Produktion mit einem richtig starken grippalen Infekt zu kämpfen, weshalb ich mich immer noch wundere, wie ich diesen Dreh überstehen konnte. Zum anderen war es aber natürlich trotzdem toll, mit Dominic Raacke und Boris Aljinovic zu drehen. Der Tatort ist ja eine solche Institution im deutschen Fernsehen, dass man anfangs dachte, man würde tatsächlich vor den Kommissaren Ritter und Stark stehen.
Daher war ich im ersten Moment schon ein wenig eingeschüchtert, was sich aber nach kurzer Zeit gelegt hat. Es macht sehr viel Spaß, mit den beiden zu drehen und zu arbeiten.

Jonas:
Du beginnst gerade mit den Vorbereitungen für deine Rolle im Film „LENALOVE“, bei dem Grimme-Preisträger Florian Gaag Regie führen wird. Dieser Film stellt ebenfalls einen starken Bezug zur Realität her – worum geht es genau?

Jannik:
Der Titel „LENALOVE“ bezieht sich auf den Nickname der jugendlichen Lena, die im Chat gemobbt wird und daraufhin flieht. Ich spiele den 18-jährigen Tim, der der große Schwarm von Lena ist und sie am Ende rettet. „LENALOVE“ ist interessanterweise der erste Kinofilm, der sich dem Thema Cybermobbing widmet. Die Dreharbeiten dazu beginnen im Oktober.

Jonas:
Da spielst du aber ausnahmsweise mal keinen Bösewicht…

Jannik:
Nein. Tim ist zwar auch nicht der nette Junge von nebenan, immerhin vertickt er Drogen und wohnt im Heim. Aber er ist auch keine Figur, die irgendwelche Menschen umbringt. Diese Rolle ist wieder etwas komplett anderes, auch was die Vorbereitung angeht. Zwar werde ich auch wie sonst auf die Straßen gehen und nach bestimmten Menschentypen schauen, aber diesmal wohl nach ganz anderen Charakteren. Darauf freue ich mich sehr.

Der Mittag ist ein gutes Stück älter geworden, die Sonne steht tiefer. Wir machen uns wieder auf den Weg zurück nach Manhattan, denn es zieht uns ins Greenwich Village – jener Gegend, in der Jannik sich so gerne verliert und fallen lässt. Wir wandern also die Promenade der Brooklyn Heights entlang und steigen an der High Street in den A-Train, der uns an der 14 Street ausspuckt.

Es Zeit ist für einen großen Americano. Und so betreten wir einen kleinen Coffeeshop am Jackson Square Park, wo wir uns an den großen Fenstern des Cafés niederlassen.

Janniks Augen tasten schon wieder ihre Umgebung ab, unauffällig wandern sie durch das kleine Café. Für einen Moment verharren sie bei einem Gast, ziehen nach wenigen Sekunden zum nächsten weiter und verlieren sich irgendwann im bunten Treiben auf der anderen Fensterseite des Coffeeshops.

Jonas:
Ist das Beobachten von Menschen grundsätzlich Teil deiner Vorbereitung auf Rollen?

Jannik:
Ja, allerdings ist es mir als Schauspieler wichtig, nicht einfach das Verhalten anderer Menschen zu kopieren, sondern eher ihre Gestik und Mimik in bestimmten Situationen zu studieren. Vor allem wenn sie sich unbeobachtet fühlen, offenbaren sich die interessantesten Details, z.B. wenn jemand im Café sitzt, liest und sich am Kopf kratzt. Und diese Details sind es, nach denen ich suche.

Jonas:
Sind diese Details in New York andere als in Berlin?

Jannik:
Ne, in New York ist alles nur etwas schneller und wirkt wie vorgespult. Alles ist irgendwie wie mal zwei. Aber davon abgesehen funktionieren Menschen in bestimmten Dingen auf der ganzen Welt mehr oder weniger gleich.

Jonas:
Welche Erkenntnisse bringst du außerdem aus New York mit, wenn du in wenigen Tagen wieder nach Berlin zurückfliegst?

Jannik:
Ich war jetzt vier Wochen hier, das ist eine irrsinnig lange Zeit. Ich habe das Gefühl, in diesen Wochen wieder ein Stückchen gewachsen zu sein in meinem Leben und finde es total schön, dass mein Reise-Stickeralbum um einige Andenken reicher geworden ist.
Letztes Jahr war ich noch als Tourist hier und bin in acht Tagen von Freiheitsstatue zu Empire State Building gehetzt. Jetzt jogge ich morgens durch den Central Park, schlendere durch die Gassen im Village und sauge die Häuserschluchten in mich auf – wie ein echter New Yorker. So fühlt es sich zumindest an. Und dabei ist der „places to be before you die“-Schatz in meinem Kopf wieder ein Stück größer geworden.

Mich begleiten immer die Gedanken an meine Freunde und die Gewissheit, sie alle wiederzusehen, wenn ich nachhause komme.

Jonas:
Gab es ein Andenken an Berlin, das du mit nach New York gebracht hast?

Jannik:
Es ist eigentlich egal, wohin ich reise: Mich begleiten immer die Gedanken an meine Freunde und die Gewissheit, sie alle wiederzusehen, wenn ich nachhause komme.

Jonas:
Erinnerst du dich noch an den Moment, als deine Agentin dich vor vielen Jahren durch Zufall in einer Tankstelle entdeckt und angesprochen hat?

Jannik:
Ja, das habe ich noch sehr deutlich vor Augen.

Ich glaube nicht an Zufälle. Alles, was im Leben passiert, hat irgendeinen Sinn und Zweck.

Jonas:
Hast du dich jemals gefragt, wie dein Leben wohl verlaufen wäre, wenn es diesen Zufall nicht gegen hätte?

Jannik:
Ich glaube nicht an Zufälle. Alles, was im Leben passiert, hat irgendeinen Sinn und Zweck. Sogar die kleinsten Kleinigkeiten haben eine Bedeutung und lassen einen wachsen – und darauf kommt es an.

Wir verlassen das kleine Café und steuern den Jackson Square Park auf der anderen Seite der Straße an. Nachdem wir dort einige Portraits geschossen haben, packen wir unser Equipment zusammen und winken ein vorbeifahrendes Taxi herbei.

Wir wollen den Tag im Central Park ausklingen lassen, jener grünen Lunge, die New York vor dem Ersticken bewahrt.

Und so liegen wir irgendwann einfach da und atmen tief die Luft der großen Stadt ein, die so friedlich vor uns liegt. Oder wir vor ihr.

Wir beobachten, wie das sanfte Licht des New Yorker Abends allmählich den Central Park in das gleiche zarte Gold hüllt, das uns mittags in der U-Bahn begegnet ist.

Jannik schweigt und richtet seinen Blick auf die imposante Skyline. Vergnügt lässt er seine strahlend blauen Augen von Wolkenkratzer zu Wolkenkratzer tanzen. Als sie den höchsten Punkt erreichen, ziehen sich die Mundwinkel des jungen Schauspielers weit nach oben – genau wie damals an jenem Nachmittag im Mai 2011.

Als es regnete und er das Grau besiegt hat.

Nur mit einem Lächeln.