Interview — Jakob M. Erwa
Von Opulenz und Intimität
Sechs Jahre musste Filmemacher Jakob M. Erwa warten, dann durfte er endlich den Roman »Die Mitte der Welt« verfilmen. Wie er die Premiere in Russland erlebte, was sein nächstes Projekt mit Ausländerfeindlichkeit zu tun hat und warum großes Kino gleichzeitig opulent und nahbar sein muss, verrät er uns im Interview.
19. September 2017 — MYP N° 21 »Ekstase« — Interview: Jonas Meyer, Fotos: Steven Lüdtke
Als am 20. August 2017 die Kunden wie gewohnt ihren Edeka-Supermarkt in der Hamburger Hafencity betraten, waren sie mehr als irritiert. Sämtliche Regale, Frischetheken und Kühltruhen waren bis auf wenige Produkte leergeräumt, es herrschte gähnende Leere. Wer sich aus seiner Konsumenten-Schockstarre lösen konnte und näher an die Regale herantrat, entdeckte überall kleine bunte Aufsteller mit Hinweisen wie „Dieses Regal zeigt: Wir wären ärmer ohne Vielfalt.“ oder „So leer ist ein Regal ohne Ausländer.“ Ausgedacht und initiiert wurde die Aktion von einer großen Werbeagentur, die für einen Tag im Auftrag von Edeka alle ausländischen Produkte aus dem Supermarkt entfernen ließ. Ein kreatives Statement für mehr Vielfalt, Offenheit und Toleranz.
Jemand, der sich dem Thema Vielfalt in ähnlich kreativer, aber künstlerischer Art und Weise verschrieben hat, ist der Regisseur Jakob M. Erwa. Im Herbst letzten Jahres brachte der gebürtige Grazer seinen Film „Die Mitte der Welt“ in die Kinos, der auf dem gleichnamigen Roman von Andreas Steinhöfel aus dem Jahr 1998 basiert. Erzählt wird eine Liebesgeschichte zwischen zwei Teenagern in einer deutschen Kleinstadt. Die beiden heißen Phil und Nicholas, im Film gespielt von Louis Hofmann und Jannik Schümann.
Nach der Premiere in Köln ist Jakob ein Jahr lang um die Welt gereist, um seinen Film vorzustellen – in den unterschiedlichsten Ländern, vor den unterschiedlichsten Zuschauern. Um dem 36-jährigen Filmemacher, der heute in Berlin lebt, nach diesen Strapazen so etwas wie ein Urlaubsgefühl zu geben, haben wir ihn für einen Nachmittag in die Tropenwelt der Biosphäre Potsdam eingeladen. Auszug aus dem Pressetext: „Die Dschungellandschaft der Biosphäre mit über 20.000 prächtigen Tropenpflanzen und rund 130 verschiedenen Tierarten sowie einem stündlichen Gewitter mit Blitz und Donner versetzt die Besucher in eine ferne Welt.“ Vielfalt kann so schön sein – fanden wir auch irgendwie spannender als leere Regale.
Jonas:
Du bist in den letzten Monaten Tausende von Kilometern um die Welt gereist, um deinen Film „Die Mitte der Welt“ zu promoten. Wie geht es dir nach dieser Zeit?
Jakob:
Mir geht es gut – wieder gut. Wieder sage ich deshalb, weil sich erstens die Sonne nach langer Zeit wieder blicken lässt und es endlich Sommer ist. Und zweitens, weil ich nach dem Kinostart von „Die Mitte der Welt“ so ausgepowert war, dass ich in eine klassiche Herbst-Winter-Depression geschlittert bin. Am 10. November 2016, als der Film in den Deutschen und Österreichischen Kinos anlief, ist ein riesiges Bündel an Hoffnungen und Belastungen von mir abgefallen. Mit einem Moment war ich total kaputt. Zwar haben mich die vielen interessanten Reisen und das überaus positive Feedback der letzten Monate wieder etwas aufgebaut, aber jetzt muss ich endlich mal das Tempo reduzieren und Luft holen. Der Großteil der Arbeit ist vorbei, ich befinde mich bereits im Abnabelungsprozess. Für mich geht es jetzt darum, die Fenster aufzureißen und frischen Wind in die Bude zu lassen. Auf zu neuen Ufern!
Jonas:
Mit welcher Bilanz kannst du dieses Projekt für dich abschließen?
Jakob:
Mit „Die Mitte der Welt“ konnte ich einen Film machen, der mir extrem nah ist – nicht nur, weil ich so viel Zeit in dieses Projekt investiert habe: Acht Jahre habe ich auf die Rechte gewartet, sechs weitere Jahre habe ich an dem Film gearbeitet und fast ein ganzes Jahr lang bin ich damit um die Welt gereist. Sondern auch, weil er mir inahltlich so wichtig ist.
Für mich ist die „Die Mitte der Welt“ deshalb ein so besonderes Projekt, weil ich nicht gezwungen war, damit ein ganz bestimmtes Publikum bedienen zu müssen. Ich werde nicht müde es zu betonen: Dieser Film ist kein Schwulenfilm! Es ist vielmehr ein Film, der dazu einlädt, über das Leben nachzudenken – mit all seinen Facetten und Varianten, mit all seinen Familienkonstellationen und Freundschaften, in all seiner Vielfalt, mit all seiner Liebe.
Jonas:
Würdest du sagen, dass aus diesem Grund „Die Mitte der Welt“ nichts anderes ist als ein Abbild unserer heutigen Gesellschaft? Oder verstehst du den Film eher als einen gesellschaftlichen Auftrag?
Ein Abbild der Gesellschaft kann der Film nicht sein, weil unsere Gesellschaft einfach noch nicht so weit ist.
Jakob:
Weder noch. Ein gesellschaftlicher Auftrag an die Gesellschaft wäre mir viel zu pädagogisch. Und ein Abbild der Gesellschaft kann der Film nicht sein, weil unsere Gesellschaft einfach noch nicht so weit ist.
Man kann ohnehin nicht von „die Gesellschaft“ sprechen, denn das würde voraussetzen, dass unsere Gesellschaft eine homogene ist. Aber das ist sie nicht. So ist der Film – auch wenn er in der Provinz spielt – sicherlich kein adäquates Abbild für das Leben auf dem Dorf. Bezogen auf das erzählte Lebensgefühl und die Einstellung der Charaktere orientiert er sich wahrscheinlich eher an der gesellschaftlichen Vielfalt einer liberalen Großstadt wie beispielsweise Berlin.
Ich würde den Film vielmehr als einen Wunsch beschreiben. Oder besser gesagt als einen Wunschtraum. Filme sind ja generell zum Träumen da. Und wie jeder weiß: Manche Träume können einfach so wahr werden und an anderen muss man hart arbeiten, damit sie in Erfüllung gehen.
Dementsprechend ist in „Die Mitte der Welt“ nicht alles perfekt: Die Art und Weise, wie Glass die Kinder erzieht – das hat viel Gutes, aber auch viel Schlechtes. Und so wie Phil und Kat miteinander umgehen, das hat viel Schönes, aber auch viele Schwierigkeiten. So sind Menschen nun einmal. So sind Beziehungen. Das ist völlig normal. Für mich war es wichtig, dass der Film Höhen und Tiefen hat. Darauf lege ich nicht nur bei Filmen Wert, die ich sehen will, sondern auch bei Filmen, die ich machen will.
Jonas:
Du hast „Die Mitte der Welt“ auf bislang über 60 Filmfestivals weltweit vorgestellt. Hast du regionale Unterschiede bemerkt, was die Reaktionen deines Publikums angeht? Wie gehen beispielsweise Zuschauer in Mexiko mit dem Film um im Vergleich zu Japan oder Russland?
Ich wurde so erzogen, dass ich frei wählen kann, wen und wie ich liebe, und dass ich mit genügend Toleranz durch die Welt gehen muss, um zu erkennen, was im Leben alles möglich ist.
Jakob:
Was das Beispiel Mexiko angeht, habe ich nicht wirklich Unterschiede zu Deutschland feststellen können. Dafür war die Premiere in Moskau eine ziemlich große Nummer. Man muss wissen, dass es Filme mit queerer Thematik im Allgemeinen in Russland ziemlich schwer haben. Dementsprechend bin ich auch mit einem etwas mulmigen Gefühl nach Moskau gefahren. Umso überraschter war ich, dass sich die Leute dort wesentlich offener geben, als ich mir das vorher so vorgestellt habe. Denn das, was wir vor Ort bei den Vorstellungen erlebt haben, war total schön und wirklich positiv.
Die anschließende Pressekonferenz war ebenfalls sehr ermutigend. Natürlich begegnen einem dort Fragen wie „Was ist eigentlich in deiner Erziehung passiert, dass du so einen Film machst?“ Da hat es mir erstmal die Sprache verschlagen. Ich wusste in diesem Moment nicht, ob ich die Frage ernst nehmen und sachlich bleiben soll oder es besser wäre, auf Konfrontation umzuschalten. Als noch eine zweite Frage dieser Art nachgeschoben wurde, habe ich mich gegen die Konfrontation entschieden und bin überaus höflich geblieben. Ich habe dem betreffenden Reporter geantwortet, dass ich so erzogen wurde, dass ich frei wählen kann, wen und wie ich liebe, und dass ich mit genügend Toleranz durch die Welt gehen muss, um zu erkennen, was im Leben alles möglich ist. Für diese Antwort gab es von den anderen Journalisten spontanen Applaus. Das hat mir gezeigt, dass es auch ein anderes Klima geben kann in einem Land, in dem der Staat und die Kirche so viel Macht über die Gesellschaft haben. Das war mir persönlich eine wichtige Lehre.
Natürlich täuscht das nicht darüber hinweg, dass in diesem Land immer wieder schlimme Dinge passieren. In Moskau habe ich mich dann auch mit Vertreter*innen einer NGO getroffen, die sich für die Rechte von LGBTI-Menschen in Russland einsetzen, um mir ein Bild über die Situation des „normalen“ queeren Lebens in Russland zu verschaffen – was die so erzählt hat, war schon sehr erschreckend.
Jonas:
Findest du dich in Momenten wie bei der Pressekonferenz plötzlich in einer politischen Rolle wieder, die du ursprünglich für dich als Regisseur gar nicht angedacht hast?
Jakob:
Manchmal, das ist dann aber auch okay für mich. Ich hab ja auch ein sozialpolitisches Anliegen mit dem Film. Aber generell kommt „Die Mitte der Welt“ ja nicht so bierernst und überpolitisch daher. Das ist eher Gefühlskino als Politkino. Man kann ohnehin nicht alles wollen: Im selben Film die Selbstverständlichkeit einer schwulen Beziehung darstellen und gleichzeitig zeigen, dass queeres Leben grundsätzlich anders sein muss – das geht nicht. Das will ich auch nicht. Alles zu seiner Zeit.
Jonas:
Du spielst auf die selbstverständliche Liebesbeziehung zwischen den Charakteren Phil und Nicholas an. Hättest Du dir damals als Jugendlicher in Graz vorstellen können, mit der gleichen Selbstverständlichkeit so einen Film im Kino anzuschauen?
Jakob (zögert einen Moment):
Ich hatte das Glück, in einem sehr offenen Umfeld aufzuwachsen. Meine Eltern entstammen dem typischen Bildungsbürgertum, beide haben studiert, sind belesen, kunstinteressiert, politisch engagiert, aufgeschlossen und sehr kommunikativ. Für sie war Homosexualität etwas völlig Normales – ebenso wie für ihre Freunde, mit deren Kindern ich aufgewachsen bin und bei denen das demensprechend auch nie wirklich ein Thema war.
Hätte ich mir also vorstellen können, als Jugendlicher wie selbstverständlich in so einen Film zu gehen? Von der intellektuellen Grundausstattung auf jeden Fall. Ich überlege deshalb so lange, weil ich versucht habe, ein Beispiel aus der damaligen Zeit zu finden. Es will mir aber gerade keines einfallen.
Jonas:
Wenn du aus einer so kunstinteressierten Familie kommst, ist es ja nicht wirklich verwunderlich, dass du Filmemacher geworden bist.
Etwa ein Jahr vor dem Abi habe ich angefangen, mir große Sorgen um meine Zukunft zu machen.
Jakob (lacht):
Dieser Beruf wurde mir tatsächlich in die Wiege gelegt. Meine Mutter hat als Kulturkritikerin für eine Zeitung und einen Radiosender gearbeitet. Bereits 1981 hat sie mich zur Berlinale mitgenommen – ich war gerade minus fünf Monate alt und sie mit mir im vierten Monat schwanger.
Aber Spaß beiseite: Dass es irgendetwas mit Kunst werden würde in meinem Leben, das war mir schon sehr, sehr früh klar. Mit 14 habe ich an der HTL für Kunst und Design angefangen – eine Art berufsbildende höhere Schule mit Ausbildungschwerpunkten in diversen Kreativbereichen. Dort habe ich insgesamt fünf Jahre verbracht und mich tagtäglich mit Bildhauerei, Malerei, Design, Kunstgeschichte et cetera auseinander gesetzt.
Neben der Schule habe ich Musik gemacht – seit ich zwölf war, habe ich immer in diversen Bands gespielt. Das war total meine Welt. Und mein großer Traum war es, Rockstar zu werden. Aber Rockstar werden kann man leider nicht einfach so lernen oder studieren, da spielt neben Talent auch der Zufall eine große Rolle.
Und so habe ich etwa ein Jahr vor dem Abi – in Österreich sagt man Matura – angefangen, mir große Sorgen um meine Zukunft zu machen, und habe mich gefragt, ob Musik wirklich das Einzige sein soll in meinem Leben.
Meine Mutter war es dann, die den Begriff Film in den Raum geworfen hat. Einfach so. Film war für mich bis dahin nichts anderes als schöne Unterhaltung und irgendwie unbeschreiblich groß – im Sinne von unzerlegbar.
Aber plötzlich ist da etwas in meinem Kopf umhergeschwirrt. Also bin ich brav zu einer Berufsberatungsstelle für Jugendliche gestapft und habe mich informiert, was man im Filmbereich beruflich machen kann. Vor Ort habe ich mir zwei Seiten aus einem Ratgeber kopiert – die eine handelte von Kamera, die andere von Regie. Vor allem die Beschreibung zum Punkt Regie war sehr nah an dem, was ich mir vorstellen konnte: die Verbindung unterschiedlichster Kunstformen.
In den folgenden Tagen und Wochen habe ich mir diverse Bücher besorgt, die erklären, wie sich zum Beispiel Drehbücher aufbauen und wie man sie zerlegen kann. Dieses Zerlegen ist übrigens auch heute noch ein Prinzip, nach dem ich arbeite: Man muss eine Geschichte zuerst in ihre Einzelteile stückeln, um zu verstehen, wie sie aufgebaut ist. Dann setzt man diese Einzelteile wieder zusammensetzen – und versucht, sie besser oder spannender zu arrangieren.
Jonas:
Und so wurde der große Traum vom Leben eines Rockstars abgelöst durch den Wunsch, irgendwann einmal als Filmemacher zu arbeiten?
Jakob:
Lustigerweise ging es damals musikalisch gerade so richtig bergauf. Ich hatte mit meiner Band zwei Demos an diverse Verlage geschickt, die zu unserem Erstaunen überall gut ankamen. Allerdings hat sich auch hier wieder meine Mutter zu Wort gemeldet. Sie sagte: „Mach’ das mit der Musik ruhig weiter. Aber an deiner Stelle würde ich mich sicherheitshalber mal an einer Filmhochschule bewerben.“
Diesen Rat habe ich befolgt und mich an die Bewerbungen für die Wiener Filmakademie und die Münchener HFF – die Hochschule für Fernsehen und Film – gesetzt. Ursprünglich wollte ich ja nach Berlin, das war die Stadt, die mich am meisten interessiert hat. Aber mit gerade mal 18 Jahren war ich noch zu jung für die Aufnahmebestimmungen der dortigen Deutschen Film- und Fernsehakademie.
Jonas:
Die Münchener HFF, an der du schließlich gelandet bist und insgesamt fünf Jahre studiert hast, ist ja auch nicht von schlechten Eltern – sie gehört zu den renommiertesten Filmhochschulen in Europa.
Jakob:
Stimmt. Und im Vergleich zu Wien war München zumindest einen kleinen Schritt näher an Berlin.
Jonas:
Du hättest dich ja ein Jahr später wieder in Berlin bewerben können.
Jakob:
Nein! Diesen Wahnsinn des mehrstufigen Bewerbungsprozesses an einer Filmhochschule macht man kein zweites Mal mit, glaub’ mir. Dafür war ich dann doch zu faul. Und das Umfeld in München war letztendlich auch wirklich fein.
Jonas:
Im Jahr 2003 – noch mitten im Studium – hast du zusammen mit der Schauspielerin Rachel Honegger die Produktionsfirma mojo:pictures gegründet. Konntest du es nicht abwarten, deine eigenen Filme zu produzieren?
Neben dem Künstlerischen liegt mir auch sehr viel daran, die ganze Welt darum herum zu erschaffen.
Jakob:
Die Geschichte fängt eigentlich viel früher an. Bereits zu Schulzeiten habe ich immer schon meine Bands gemanagt und dabei die Kohle aufgetrieben für Demoaufnahmen, CD-Produktionen, Poster und all das. Ich glaube, neben dem Künstlerischen liegt mir auch sehr viel daran, die ganze Welt darum herum zu erschaffen. Und die erschafft sich nicht ohne finanzielle Unterstützung. So hat es sich damals schon aus der Notwendigkeit heraus ergeben, dass ich mich immer auch mit dem organisatorischen Teil beschäftige.
Auslöser für die Gründung der Produktionsfirma im Jahr 2003 war die Bitte eines gemeinsamen Freundes an Rachel und mich, dessen Abschlussfilm zu produzieren. Von Seiten der HFF hieß es damals, dass wir als Produzenten das Projekt unter einem bestimmten Namen einreichen müssten – und so haben wir uns spontan für „mojo“ entschieden.
Das alles wollten wir zuerst gar nicht so ernst nehmen. Dennoch ist die Produktionsfirma letztendlich aus dem Gedanken heraus entstanden, eigene Projekte auch unter einem eigenen Label weiterentwickeln zu können. Und so habe ich mit „Mojo“ an der Filmhochschule erst meine eigenen Kurzfilme produziert und etwas später – im Jahr 2007 – ging es an den ersten Spielfilm: meinen Abschlussfilm „Heile Welt“.
Jonas:
Dieser Film wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem „Großen Diagonale-Preis“ für den besten österreichischen Spielfilm 2006/07 und den „German Independence Award“ auf dem Filmfest Oldenburg für den besten deutschen Film.
Ich wollte allen beweisen, dass ich groß und amtlich arbeiten kann.
Jakob:
Dabei ist „Heile Welt“ aus purem Zufall entstanden. Der Film war eigentlich als ein Kurzfilm konzipiert, mit dem ich eine Inszenierungsübung machen wollte. Dem Ganzen vorausgegangen war die Produktion eines anderen Kurzfilms mit dem Titel „Wie Schnee hinter Glas“ im Jahr 2005. Diese Produktion hat mich wahnsinnig viel Kraft gekostet. Ich wollte den Film so richtig groß machen, mit teurem Filmmaterial, mit großem Team – ich wollte allen beweisen, dass ich groß und amtlich arbeiten kann. Dementsprechend war nicht nur die Produktionsarbeit so richtig aufwändig, sondern auch die Bemühung um die Finanzierung.
Der ganze Prozess war so schwierig und hat so lange gedauert hat, dass ich danach absolut keinen Bock mehr hatte und mir dachte: Das muss auch anderes gehen. Nicht nur, weil eine so große Produktion viel zu viel Kraft und Geld schluckt, sondern weil dabei auch die ganze Spontaneität und Flexibilität verloren geht.
Daher habe ich mir vorgenommen, bei meinem nächsten Projekt etwas sehr Schnelles zu machen, bei dem es nur darum geht, nah an den Schauspieler*innen zu sein und die Energie am Set einzufangen – egal ob es technisch geil ist oder nicht. Und so war der Kurzfilm „Heile Welt“ in einer Nacht geschrieben und innerhalb weniger Tage abgedreht. Das Ergebnis war ein 30-minütiger Kurzfilm, zu dem es sehr viel positives Feedback gab.
Als mir die Frage gestellt wurde, was ich nun als nächstes machen würde, dachte ich mir: Ich habe allein während der Proben so viel schönes Material gesammelt und so viel spannendes Wissen über alle Charaktere angehäuft, von denen einige im finalen Film leider kaum zu sehen sind. Eigentlich müsste ich diesen Film ausbauen, statt ein neues Projekt zu starten.
Und zack, war die Finanzierung da! Zack, haben wir gedreht! Zack, kam der Österreichische Filmpreis! Das ging wie im Zeitraffer – und war Ursache für diverse Film- und Fernsehanfragen, die ich in der Folge erhalten habe.
Jonas:
In „Heile Welt“ hast du fast ausschließlich mit jungen Darstellern gearbeitet, die keine oder nur wenig Schauspielerfahrung hatten – für die drei jugendlichen Hauptrollen war der Dreh die erste professionelle Filmerfahrung. Das erinnert mich an die sehr erfolgreiche skandinavische Serie Skam, bei der die Regisseurin ebenfalls bewusst auf unerfahrene junge Darsteller zurückgreift. Ist diese Herangehensweise ein Erfolgsrezept für die Zukunft? Zumal sich die Feuillettons auch regelmäßig darüber beklagen, dass man in Kino und TV immer wieder dieselben Gesichter sieht.
Jakob:
Dass es sich dabei um ein generelles Erfolgsrezept handelt, glaube ich nicht. Aber mutig ist es in jedem Fall. Und manchmal wird Mut belohnt, manchmal nicht.
Was das Thema mit den immer wiederkehrenden Gesichtern angeht, muss man einen Schritt zurückgehen und sich fragen, was die Ursache dafür ist. Meiner Meinung nach liegt das einzig und allein am Publikum. Beispiel „Fack ju Göthe“ mit Elyas M’Barek in der Hauptrolle: Warum läuft dieser Film so gut in den Kinos? Weil das Publikum einfach auch gern bekannte, ihnen vertraute Gesichter sehen will. Aber das ist ja zum Glück nicht in allen Filmen so.
Jonas:
Welchen Einfluss hat dieses Zuschauerverhalten auf deine Arbeit als Regisseur und Produzent?
Wenn man die Rolle nicht mit einem Schauspieler besetzen kann, den der Verleih sexy findet, dann stirbt das ganze Projekt.
Jakob:
Es macht meine Arbeit schwieriger. Ein Projekt, an dem ich in jüngerer Zeit gearbeitet habe, wurde beispielsweise alleine deshalb nicht realisiert, weil wir keinen „bankable“ Schauspiel-Star für die Hauptrolle gefunden haben. Alle, die das Drehbuch kannten und in das Projekt involviert waren, haben gesagt: „Ach, was für eine tolle Story, die gefällt uns wahnsinnig gut! Aber wer in Deutschland soll das nur spielen?“
Der ganze Film war von dieser einen Figur abhängig. Aber wenn man die Rolle nicht mit einem Schauspieler besetzen kann, den der Verleih sexy findet, dann stirbt das ganze Projekt.
Jonas:
Man will sich gar nicht ausmalen, wie viele gute Ideen und Drehbücher wieder zurück in die Schubladen gewandert sind, nur weil sich aus marktwirtschaftlichen Gründen keine passende Besetzung gefunden hat.
Jakob:
Tja.
Jonas:
Für den ORF hast du von 2007 bis 2009 die Jugend-Fernsehserie „tschuschen:power“ konzipiert und realisiert, eine fünfteilige Miniserie über Migranten der zweiten und dritten Generation in Wien. Haben für dich Filmprojekte, die sich mit aktuellen gesellschaftlichen Themen auseinandersetzen, einen besonderen Reiz?
Jakob:
Mich interessieren solche Themen sehr. Und es ist mir wichtig, den sogenannten Randgruppen der Gesellschaft eine Stimme zu geben. Das schaffe ich nur, indem ich solche Gruppen ins erzählerische Zentrum setze und – ganz wichtig – dafür auch die passenden Bilder finde. Ich glaube, dieser Anspruch kommt daher, dass ich mich selbst auch irgendwie als Teil einer Randgruppe sehe, die – wenn sie einmal eine Stimme hat – viel bewirken kann.
Jonas:
Hättest du dir beim Sendestart von „tschuschen:power“ im Jahr 2007 ausmalen können, dass die Themen Migration und Integration, die in der Serie behandelt werden, zehn Jahre später aktueller denn je sind – in Österreich, in Deutschland, in ganz Europa?
Jakob:
Nein, jedenfalls nicht in diesem bedrückenden Ausmaß, das wir gerade erleben.
Jonas:
Welchen Einfluss hat diese Entwicklung auf deine Arbeit als Filmemacher? Fühlst du dich getrieben, dieses Thema wieder aufzugreifen?
Ich definiere mich als einen politisch denkenden und fühlenden Menschen. Und ich habe ein sehr ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden.
Jakob:
Getrieben nicht, eher getriggerd. Ich bin natürlich kein Politiker, sonst wäre ich wohl auch in die Politik gegangen. Aber ich definiere mich als einen politisch denkenden und fühlenden Menschen. Und ich habe ein sehr ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden. Daher interessieren mich diese Themen grundsätzlich. Für mich als Regisseur ist es daher nach wie vor spannend, derartige Themen zu erzählen und sie in Bilder zu fassen.
Außerdem kann man den privaten Jakob nicht von dem beruflichen abkoppeln. Wenn ich für etwas brenne, berührt dieses Gefühl weder ausschließlich meine private noch meine berufliche Seite. Das kann doch eh kein Mensch – es sei denn, man ist einer dieser Regisseure, die der Reihe nach alle Aufträge entgegennehmen und abarbeiten, ohne sie zu hinterfragen. Ich selbst bin dafür jedenfalls zu idealistisch, als dass ich das jemals könnte oder wollte.
Jonas:
Du sprichst davon, dass es als Regisseur dein Anspruch ist, für ein Thema geeignete Bilder zu finden. Wie geht man mit diesem Anspruch bei der Verfilmung eines Romans wie beispielsweise „Die Mitte der Welt“ um? Jeder, der das Buch seit der Veröffentlichung vor 20 Jahren gelesen hat, hat doch bereits in seinem Kopf ganz eigene Bilder zu der Geschichte gezeichnet – wie bei jedem Buch, in das man versinkt. Das wird bei Dir nicht anders gewesen sein, oder? Wie viele der Bilder, die du selbst beim ersten Lesen des Buchs vor Augen hattest, haben es letztendlich auch in den Film geschafft?
Jakob:
Das kann ich gar nicht mehr so genau sagen, dazu müsste ich das Buch noch einmal lesen. Ich vermute, dass es Stellen im Roman gibt, die sich mit den Filmbildern vermischen, und dass es wiederum Stellen gibt, die mittlerweile von den Bildern des Films überlagert werden.
Grundsätzlich ist bei einer Buchverfilmung immer so, dass man den Absprung schaffen muss. Wenn es darum geht, etwas aus der einen Kunstform in eine andere zu übersetzen, bleibt einem nichts anderes übrig, als seinen eigenen Weg zu finden. Das war bei „Die Mitte der Welt“ nicht anders. Darin waren sich übrigens nicht nur alle Projektbeteiligten einig, sondern auch der Autor Andreas Steinhöfel, der an dieser Stelle von seinem Werk wirklich loslassen konnte.
Natürlich besteht immer die Gefahr, dass man Leute enttäuschen wird, wenn man versucht, die Atmosphäre, den und die Charaktere eines Buches einzufangen und in einen Film zu übertragen. Das war mir von Anfang an klar. Wie du selbst sagst: Man findet Bilder für Szenen, die andere Menschen für sich vollkommen anders gezeichnet oder abgespeichert haben. Zum Glück haben sich bei „Die Mitte der Welt“ sehr viele Leser*innen auf den Film eingelassen.
Jonas:
Der Film bedient sich nicht nur einer eigenständigen Bildsprache, sondern wird auch mit speziellen visuellen Effekte aufgeladen, die das Buch gar nicht liefern kann. So friert zum Beispiel an einer Stelle kurz das Bild ein und wird rot gefärbt. Und am Anfang des Films arbeitest du mit einer Art Collage, bei der du Fotos von „normalen“ Familien hintereinander geschnitten hast. Helfen solche Elemente, das filmische Werk individueller zu machen und stärker vom Buch abzuheben?
Ich wollte stille Intimität im Wechsel mit lauten, übertriebenen »larger than life«-Momenten, für die man so gerne ins Kino geht.
Jakob:
Von Anfang an war es mein Wunsch, keinen homogenen Stil zu verfolgen – der Film sollte so divers sein wie die Gesellschaft, die Menschen, die Charaktere. Dabei war es mir wichtig, einen Gegensatz herzustellen zwischen der nahbaren, begleitenden und authentischen Erzählweise einerseits und der visuellen Opulenz des Kinos andererseits. Ich wollte stille Intimität im Wechsel mit lauten, übertriebenen „larger than life“-Momenten, für die man so gerne ins Kino geht und für die man eine fette Leinwand braucht. Die von dir beschriebenen Effekte haben mir geholfen, diese großen Momente zu unterstreichen.
Die Collage am Anfang des Films mag ich übrigens besonders gerne. Diese Verspieltheit zeigt aufs Neue, dass Film nicht nur ein dokumentarisches Medium ist, sondern auch ein künstlerisches und unerwartetes. Außerdem hat mir dieser Kunstgriff geholfen, 50 Seiten familiäre Vorgeschichte aus dem Roman in wenigen Minuten Film zu erzählen.
Jonas:
Für diejenigen, die sich auf Instagram, Snapchat & Co. herumtreiben, dürfte dieser Effekt nichts wirklich Neues sein – er entspricht ihren Sehgwohnheiten.
Jakob:
Ganz genau. Nur dass Film im Allgemeinen den Anspruch hat, auch erzählerisch das Maximum rauszuholen – aus der klugen Kombination von Script, Sprache, Bildwelt, Ton, Effekten und Charakteren.
Jonas:
Blicken wir in die Zukunft. „Die Mitte der Welt“ liegt hinter dir, es sind also wieder Kapazitäten frei. Was ist dein nächstes Projekt?
Jakob:
Ich arbeite gerne an diversen Filmprojekten gleichzeitig. Es ist einfach sicherer, auf mehrere Pferde zu setzen – wir haben ja eben schon darüber gesprochen, wie schnell ein Film vor dem Aus stehen kann, wenn sich beispielsweise kein Hauptdarsteller findet.
Zur Zeit arbeite ich unter anderem an einer Serie, die sich mit der Frage auseinandersetzt, wie sich unsere Beziehungen künftig verändern. Dieses Projekt geht zurück auf meine Dankesrede Mitte Januar beim Bayerischen Filmpreis, als ich für „Die Mitte der Welt“ ausgezeichnet wurde. Die Rede endete mit dem Satz: „Dieser Preis ist für alle, die anders leben und anders lieben.“ Nach der Veranstaltung kamen Produzenten auf mich zu, die mir sagten, dass dieses Thema – anders zu leben und anders zu lieben – ihrer Meinung nach gerade mehr als aktuell sei und förmlich in der Luft liege. Und so kam eins zum anderen.
Unsere Generation der Millenials ist ja eine, die ganz und gar in Projekten denkt und lebt. Die Beziehungen, die wir führen, sind davon nicht ausgeschlossen. Unsere Beziehungen müssen heute wahnsinnig viel können – so viel wie früher ganze Freundeskreise geleistet haben. Auf der einen Seite müssen sie Sicherheit und Vertrautheit bieten, auf der anderen Seite müssen sie permanent aufregend und spannend sein. Die Sehnsucht nach dem Unerwarteten und nach Freiheit steht gleichbedeutend neben dem Wunsch, sich bei jemandem zuhause zu fühlen. Wir sind die erste Generation, die das alles in eine einzige Beziehung packen will.
Bei der Entwicklung der Serie stelle ich mir daher folgende Fragen: Was müssen Beziehungen heute können? Welche Bedeutung haben Lust, Liebe und Körperlichkeit? Was versteht man überhaupt unter einer modernen Beziehung? Entspricht die Idee der Monogamie noch der Lebensrealität? Oder werden wir in Zukunft viele verschiedene Wegbegleiter haben – wie ein Planetensystem, das um uns kreist?
Jonas:
Du sagst, dass du immer auf mehrere Pferde setzt – welche anderen Projekte liegen gerade auf deinem Schreibtisch herum?
Jakob:
Ein weiteres Projekt, an dem ich gerade sitze, trägt den Titel „Valeska“ und basiert auf der Autobiografie mit „Blumen für ein Chamäleon“, die 2013 erschienen ist. Es ist die wahre Geschichte einer jungen Frau, die in den 80er Jahren hier in Deutschland eine Friseurausbildung macht und per Zufall von einem französischen Fotografen entdeckt wird. Wenig später wird sie von einer Modelagentur nach Paris eingeladen, unter Vertrag genommen und ist als Model binnen kürzester Zeit total gefragt. Sie hat allerdings ein großes Geheimnis, von dem niemand erfahren darf: Sie wurde als Junge geboren.
Jonas:
Wie bist du auf diese Story gestoßen?
Jakob:
Lustigerweise auch wieder per Zufall. Als das Buch erschienen ist, habe ich dazu in irgendeiner Zeitschrift eine kurze, aber total spannende Verlagsankündigung gelesen. Mit nur wenigen Zeilen hat es der Text geschafft, neben einem kleinen Augenzwinkern auch eine persönliche Tiefe zu transportieren, die mich sehr gefesselt hat. Und da ich das Thema Identität ohnehin spannend finde, habe ich mir das Buch besorgt und angefangen zu lesen. Schon nach der Hälfte habe ich dem Verlag geschrieben, dass ich gerne die Option zur Verfilmung erwerben würde, und bin dadurch auch relativ schnell mit der Autorin in Kontakt gekommen. Durch die vielen Gespräche mit ihr wurde die Story für mich nochmal eine Stufe spannender.
Mein Traum wäre es, mit einer Transgender-Schauspielerin zu arbeiten.
Jonas:
Wann ist Drehbeginn?
Jakob:
Ich befürchte, dass wir mit dem Dreh nicht vor 2019 starten können, unter anderem weil dieses Projekt ein größeres Investitionsvolumen braucht und die Produktionsbudgets der Sender für das kommende Jahr schon relativ ausgebucht sind. Ganz aktuell sitze ich an der dritten Drehbuchfassung, die dazu verdammt ist, richtig gut zu werden – mit dieser Fassung entscheidet sich, ob wir für den Film eine Förderung erhalten oder nicht.
Aber schon im nächsten Jahr starten wir ein großes Casting für den Film, auf das ich mich sehr freue. Mein Ziel ist es auch hier, möglichst authentische Darstellerinnen und Darsteller zu finden, mit denen ich die Geschichte glaubhaft und lebensnah erzählen kann. Mein Traum wäre es, mit einer Transgender-Schauspielerin zu arbeiten, die für diesen Film allein aus ihrer eigenen Persönlichkeit heraus viel Erfahrung mitbringen und so die Rolle sicherlich noch viel intensiver gestalten kann.
Jonas:
Lass mich raten – es gibt sicher noch ein drittes Pferd, auf das du setzt.
Jakob:
Stimmt. Ein weiteres, sehr spannendes Projekt ist ein Fernsehspiel, das auf dem Roman „Erwachsene reden. Marco hat was getan“ von Kirsten Boie basiert. In dem Buch, das 1994 erschienen ist, geht es um einen 15-jährigen Jungen, der einen Brandanschlag auf ein Asylbewerberheim verübt hat. Dabei sind zwei Kinder ums Leben gekommen. Thematisch greift die Story damit die vielen traurigen Ereignisse Anfang der 90er Jahre auf, als es überall in Deutschland abscheuliche Angriffe auf Ausländer gab – wie etwa bei den tödlichen Brandanschlägen in Solingen und Mölln oder bei den Ausschreitungen und gewalttätigen Übergriffen in Rostock-Lichtenhagen. In der Verfilmung möchte ich den Bogen schlagen in die Gegenwart.
Jonas:
Schon wieder ein Thema, das nichts an gesellschaftlicher Aktualität eingebüßt hat.
Jakob:
Ja, leider. Als ich das Buch zum ersten Mal gelesen habe, war ich noch ein Jugendlicher. Und heute, über 20 Jahre später, ist das Thema immer noch – oder schon wieder – so aktuell, wie man es nie gehofft hatte.
Das Besondere an dem Buch ist, dass es nicht nur inhaltlich krass ist, sondern auch stilistisch sehr besonders. Die Geschichte wird aus den unterschiedlichen Perspektiven der Beteiligten erzählt, und das durchgehend in Interviewform. Alle Interviewten schildern dabei ihre Sicht auf den besagten Marco, der dabei selbst nie zu Wort kommt.
Für mich ist das Ganze auch deswegen so spannend, weil dem Leser durch diese Erzählweise drei Ebenen eröffnet werden: Er erfährt nicht nur etwas über die Tat und über den Täter, sondern auch über die interviewten Personen selbst, die sich von der Tat distanzieren. Im Verlauf des Buchs erfährt man zwischen den Zeilen, dass eigentlich alle Befragten eine gewisse Mitschuld an der Tragödie tragen. Auch wenn sie nicht unmittelbar an der Tat beteiligt waren, haben sich dennoch schuldig gemacht – durch Unterlassen, durch Überfordern, durch ihr in Worte gefasstes Gedankengut.
Man muss das Große klein machen, um es zu verstehen.
Jonas:
Wie gehst du an eine solche Geschichte heran?
Jakob:
Erstens voller Demut – wie bei jedem fremden Stoff. Und zweitens mit meinem bewährten Prinzip des Zerlegens. Man muss das Große klein machen, um es zu verstehen. Das ist wie im Leben: Wenn man diese komplexe, vielteilige Welt begreifen will, muss man sich mit ihren Einzelteilen befassen. Das ist auch etwas, was ich meinen Drehbuch-Workshops für Jugendliche versuche zu vermitteln.
Jonas:
Diese Workshops bietest du bereits seit 2011 an: Einmal im Jahr können dort ein knappes Dutzend 15- bis 18-Jährige ein paar Tage lang intensiv erfahren, wie man Filme macht. Was können die Jugendlichen von dir lernen?
Jakob:
Ich glaube, das Wichtigste, was man von mir lernen kann, ist Offenheit, Ehrlichkeit und Mut – Mut, um sagen zu können: „Das weiß ich nicht, bitte hilf mir dabei.“ Als ich vor sechs Jahren angefangen habe, diese Workshops anzubieten, war in mir selbst auch noch eine große Unsicherheit – ich dachte, ich sei noch viel zu unerfahren, um anderen etwas beizubringen zu können. Gegen diese Unsicherheit gibt es aber ein einfaches Rezept. Man muss den Jugendlichen auf Augenhöhe und als Partner begegnen. Daher mache ich ihnen gleich am ersten Tag klar: Ihr bekommt hier etwas von mir, aber ihr müsst mir dafür auch etwas geben – alleine schaffe ich es nicht.
Darüber hinaus gibt es noch etwas anderes, was ich ihnen sage: Alles, was ich euch hier beibringe, ist nicht die Wahrheit! Zumindest nicht die einzige, allgemein gültige. Ich vermittle in den Workshops lediglich meine eigene, individuelle Herangehensweise. Dieses Angebot muss jeder Jugendliche nehmen und zu seinem ganz persönlichen Modell umformen. Es geht darum, seinen eigenen Weg zu finden und ihn dann auch zu gehen.
Und was ich ganz besonders feiere, ist die Gewissheit, dass ich den Jugendlichen auch eine soziale Komponente mitgeben kann – in Form von Akzeptanz, Aufgeschlossenheit und Mut zur Vielfalt.
Jonas:
Und was kannst du selbst von den Jugendlichen lernen?
Jakob:
Ich bin jedes Jahr aufs Neue tief beeindruckt von der Unbefangenheit und dem Feuer, mit dem die Kids an die Sache herangehen. Wenn dieses Feuer einmal entzündet ist, sind sie nicht mehr zu bremsen. In diesen Momenten merke ich, wie sehr ich es liebe, selbst mit ganzem Herzen für etwas zu brennen und mich darin zu verlieren. Und jeden Tag besser zu werden in dem, was ich tue.