Interview — Instinkt und Psyche (Teil 3)

»Verletzlichkeit berührt mich«

Therapeutin Lisa Sundermeyer streichelt in ihrer Berliner Praxis jeden Tag Körper und tastet Seelen ab. Ihre Erkenntnis: Wir alle hören viel zu wenig auf unser Bauchgefühl.

23. Oktober 2018 — MYP N° 23 »Instinkt« — Interview & Text: Katharina Weiß

Teil 3 der Serie über Instinkt und Psyche:
Die Therapeutin

Katharina:
“Someone’s therapist knows everything about you”. Der Spruch geistert derzeit als Meme durchs Internet. Bist du manchmal neugierig darauf, die Freunde oder den Partner von Patienten kennenzulernen?

Lisa:
Kennenlernen? Weniger! Aber manche Leute, die ich über ein Jahr wöchentlich sehe, sind wie eine Serie. Da will ich natürlich wissen, wie es weitergeht. Wenn ein Patient die Therapie beendet hat, ist es manchmal auch komisch, dass diese Geschichte, die ich so lange begleitet habe, für mich nun auserzählt ist. Neben meinem eigenen Leben stecke ich meistens in 25 weiteren Parallelgeschichten.

Katharina:
Du bist ja quasi eine „Allmächtige Erzählerin“, die dank Schweigepflicht alles wissen und erfragen kann.

Lisa:
Darin steckt eine große Motivation, in diesem Beruf zu arbeiten: Mich hat schon als Kind die Wahrheit hinter der Fassade beschäftigt. Das ist für mich eine ganz tiefe Befriedigung: Wenn das, was in der Sitzung besprochen wird, nichts Verstecktes mehr enthält. Man kommt mit dem Patienten an eine Art Nullpunkt. Von dort aus kann er nochmal ganz von vorne anfangen.

»Ich hatte mal einen Mann in der Praxis, der mit fünf Frauen parallel eine Beziehung führte.«

Katharina:
Wie sieht so eine Problemlage aus?

Lisa:
Ich gebe dir ein Beispiel: Ich hatte mal einen Mann in der Praxis, der mit fünf Frauen parallel eine Beziehung führte. Die eine Frau sähe gut aus, die andere sei so nett und wieder eine andere habe dieselben Hobbys wie er und so weiter. Er sagte zu mir: „Mein Problem ist, dass ich mich nicht entscheiden kann.“ Ich habe festgestellt: Wenn man sich entspannt und sich nicht in Logik verzettelt, wird der Instinkt in uns laut, der ja oder nein sagt – und zwar ganz schnell. Weil er nicht so stark überformt ist wie unser Verstand. Ich habe ihm in den Sitzungen gezeigt, wie er sein Bauchgefühl stärker spüren kann. Am Ende fand er heraus: Keine von den fünf Frauen war die richtige. Wenig später hat er sich zum ersten Mal richtig verliebt.

»Der Intellekt ist ein tolles Werkzeug, aber als alleiniger Kompass leitet er oft in die Irre.«

Katharina:
Haben viele von uns verlernt, auf ihren Instinkt zu hören?

Lisa:
Ja. Eine große Zahl meiner Patienten leidet unter Problemen, die daraus entstanden sind. Ein anderer Fall ist ganz klassisch: Eine Frau kommt zu mir, weil sie den falschen Mann geheiratet und mit ihm ein Haus gebaut hat. Jetzt braucht sie Begleitung während der Trennung. Wenn ich solche Menschen frage, zu welchem Zeitpunkt sie zum ersten Mal gespürt haben, dass es nicht passt, dann sagen 90 Prozent zu mir: Das wusste ich schon ganz am Anfang, aber dann kamen die Gedanken, mit denen ich mich von etwas anderem überzeugt habe. Der Intellekt ist ein tolles Werkzeug, aber als alleiniger Kompass leitet er oft in die Irre. Ich bringe Menschen bei, ein störendes Verhaltensmuster zu erkennen und zugunsten ihres Instinkts aufzulösen.

Katharina:
Aber Panik ist doch beispielsweise auch ein Instinkt – und Menschen kommen wegen Panikattacken zu dir.

Lisa:
Falsche Panik entsteht dann, wenn du auf den Alarmknopf in deinem Inneren gedrückt hast, obwohl keine unmittelbare Bedrohung besteht. Wenn ich Menschen beibringe, nicht mehr so viel Angst zu haben, dann zeige ich ihnen, wie sie Stressreaktionen durch Entspannung vermeiden. Anstatt alles als Gefahr zu empfinden, lernen sie, stärker auf das Feintuning ihres Instinkts zu hören: Hier kann ich mich sicher fühlen, diesem Menschen kann ich vertrauen. Diese Fähigkeit wird mit ein bisschen Übung sehr schnell sehr viel besser.

»Verhaltensmuster sind Autobahnen, die wir uns im Laufe der Zeit zurechtlegen, um schneller ans Ziel zu kommen.«

Katharina:
Was bedeutet Übung in diesem Zusammenhang?

Lisa:
Menschen sind total schnell im Kopf: Wir können leicht einen Automatismus erkennen und begreifen, dass er stört. Aber die Bahnen im Gehirn verändern sich erst durch Training. Verhaltensmuster sind Autobahnen, die wir uns im Laufe der Zeit zurechtlegen, um schneller ans Ziel zu kommen. Je öfter wir darauf fahren, desto breiter werden sie. Deshalb sind sie natürlich bequem zu befahren. Ein neuer Weg beginnt immer erst als Trampelpfad. Da müssen wir uns immer wieder überwinden, um unser Gehirn umzugewöhnen.

Katharina:
Wer ist bei dir gut aufgehoben?

Lisa:
Menschen, die unter verschiedensten Schwierigkeiten leiden, die sie nicht mehr frei handeln lassen. Gründe dafür sind Ängste, Stress, der sich im Körper niederschlägt, andere psychosomatische Beschwerden, wenn jemand nicht nein sagen kann oder immer wieder denselben Beziehungskonflikt hat. Auch mit Traumapatienten habe ich viele Erfahrungen gesammelt, weniger dagegen mit Depressionen.

Katharina:
Mit wem kannst du nicht arbeiten?

Lisa:
Menschen mit schweren psychischen Krankheiten fallen nicht in mein Gebiet. Meine Methode ist eine Lernmethode. In dem Moment, in dem ein Patient nicht mehr in der Lage ist umzusetzen, was ich ihm mitgebe, weil er zu depressiv ist oder zu zwanghaft, muss ich ihn an spezialisierte Psychotherapeuten oder den sozialpsychiatrischen Dienst verweisen.

Katharina:
Was kannst du für deine Klienten tun?

Lisa:
Mit der Grinberg-Methode können Klienten dabei angeleitet werden, selbständig Verhaltensmuster über Körperaufmerksamkeit, Berührung und Entspannungstechniken zu verändern. Ich gebe den Menschen, die zu mir kommen, das Werkzeug mit, neu auf Situationen zu reagieren.

Katharina:
Wie arbeitest du konkret mit „Angstpatienten“?

Lisa:
Zusammen mit Menschen, die diesbezüglich etwas verändern wollen, arbeite ich ihre Angstreaktion heraus und zeige ihnen, wie diese sich körperlich ausdrückt: Wie man zum Beispiel die Schultern hochzieht, den Bauch verkrampft und welche Befürchtungen, Überzeugungen und Glaubenssätze einem dann so durch den Kopf gehen und das Handeln maßgeblich beeinflussen. Wie man abwehrt, fliehen oder verschwinden will. Und dann, und das ist ein ganz wichtiger Teil, bringe ich den Menschen bei, wieder loszulassen und – wenn das Adrenalin, also die Aufregung, kommt – sich zu entspannen und zu atmen, anstatt in die Stressreaktion zu gehen. Wenn man das Adrenalin weniger blockiert, fühlt man sich nicht mehr so verkrampft und blockiert. Sondern eher energetisiert, wie bei einer Achterbahnfahrt. Natürlich reflektiere ich im Gespräch auch die erwähnten Überzeugungen und Glaubenssätze, wo man sie gelernt hat und wo sie heute eigentlich hinführen, wenn wir automatisch nach ihnen handeln. Dann kann man daraus neue, passendere Einschätzungen der Situation entwickeln und einüben.

»Ich bin nicht für die Klienten und ihre Probleme verantwortlich, das sind sie immer noch selbst.«

Katharina:
Ist die Methode in einer Weise religiös angehaucht?

Lisa:
Nein, einen spirituellen Überbau gibt es nicht. Ich will einen Raum bieten, in dem der Mensch sich selber finden kann, anstatt ihm zu sagen, was für ihn richtig ist. Ich bin auch nicht für die Klienten und ihre Probleme verantwortlich, das sind sie immer noch selbst.

Katharina:
Was müssen die Klienten mitbringen, um erfolgreich ihre Therapieziele zu erreichen?

Lisa:
Die Bereitschaft, sich darauf einzulassen. Sie müssen bereit sein sich zu öffnen, sich selbst ehrlich zu reflektieren und neue Perspektiven einzunehmen. Und natürlich die Veränderung in ihrem Alltag umzusetzen – das passiert nicht von alleine, das ist schon Arbeit.

Katharina:
Du arbeitest seit 13 Jahren mit der Grinberg-Methode und hast beim Gründer persönlich gelernt. Was hast du von ihm mitgenommen?

Lisa:
Avi Grinberg ist schon ein anstrengender Mensch. Das scheinen Visionäre ja oft zu sein. Deswegen habe ich nur Anteile aus seiner Methode übernommen, mit denen ich arbeiten kann. Anderes habe ich verworfen oder durch passendere Methodiken ersetzt. Ich habe viele verschiedene therapeutische Ansätze zu meinem eigenen Stil verschmolzen. Aber gelernt habe ich damals in der Ausbildung trotzdem wahnsinnig viel. Er sagte immer: „Du musst 10.000 Stunden gearbeitet haben und 30 Patienten in der Woche haben, bis du wirklich exzellent bist.“ Er forderte von uns, wirklich meisterhaft darin zu werden, unser Gegenüber wahrzunehmen und es individuell zu begleiten.

Katharina:
Das klingt unfassbar anstrengend. Ich selbst durfte dich ja bei einer Probesitzung erleben: Du musst emotional voll da sein, sehr aufmerksam zuhören und dann auch noch mit viel Kraft massieren. Wie viele Leute kommen täglich zu dir?

Lisa:
Ich habe über zehn Jahre lang sehr viel gearbeitet. Jetzt bin ich 40 geworden und liebe es immer noch, Neues zu lernen. Aber ich nehme mir mehr Zeit, alles zu verarbeiten.

»Wenn sich ein Mensch Verletzlichkeit erlaubt, dann sehe ich ihn mit anderen Augen: Er berührt mich.«

Katharina:
Wenn du dich selbst hinterfragst: Wie hat dich diese spezielle Tätigkeit verändert?

Lisa:
Ich habe ganz viel von der Wertung verloren, die ich früher gegenüber Menschen hatte. Früher sah ich jemandem im Wartezimmer und dachte: Uh, der wirkt verkniffen oder arrogant. Aber innerhalb der ersten Sitzung hat sich so gut wie immer ein ganz neues Bild ergeben. Einerseits über seine Erzählungen, aber vor allem auch über die körperliche Arbeit, bei der ich spüre, wo jemand tiefsitzende Probleme hat. Die Menschen öffnen sich unter der Berührung. Und auf einmal weint die Person und du findest heraus, das die verkniffene oder arrogante Fassade nur ganz viel Angst versteckt hat. Wenn sich ein Mensch Verletzlichkeit erlaubt, dann sehe ich ihn mit anderen Augen: Er berührt mich.

Katharina:
Du glaubst also auch an die „Kraft der Verletzlichkeit“, eine These, die die Amerikanerin Brené Brown geprägt hat.

Lisa:
Unbedingt. Ich habe im Laufe der Zeit Folgendes erkannt: Dass ein Mensch Schwierigkeiten hat, sagt über den Einzelnen selbst nichts aus – weil wir alle ganz viele Schwierigkeiten haben. Wir alle sind sehr komplexe Universen. Und das Besondere, dass sich bei jedem freilegen lässt, ist viel stärker und schöner als die Verhaltensmuster, die wir entwickelt haben.

Katharina:
Bekommst du das mit jedem Klienten hin? Du musst die Leute ja entkleidet anfassen…

Lisa:
Wenn ich zu einer Person ein unangenehmes Gefühl habe, das sich auch während der ersten Sitzung nicht verändert, dann arbeite ich nicht mit der Person. Ich darf keine grundsätzliche Abneigung gegen die Person empfinden. Das würde der Klient unbewusst spüren und er kann sich dann nicht mehr wirklich öffnen. Diese Situation kommt aber sehr selten vor. Wenn Menschen wüssten, wie liebenswürdig sie sich machen, wenn sie sich verletzlich zeigen, würden sie das viel öfter zulassen.

Was hinter der Therapiemethode steckt und wie eine Patientin ihre Erlebnisse schildert, erfahrt Ihr in den anderen beiden Teilen der Serie über Instinkt und Psyche:

Teil 1: Die Therapie

Teil 2: Die Patientin