Interview — Der Assistent

»Ich habe keine Ahnung, ob man jemals wirklich weiß, wer man ist«

Mit seinem Debütalbum »Der Assistent« stellt sich »Fotos«-Frontmann Tom Hessler nun auch als Solokünstler vor. Die Platte ist für den 39-Jährigen der bisher größte Akt von Selbstfürsorge. Denn erstens hat er mit seinem groovigen Dub-Sound genau die Musik erschaffen, die er selbst immer hören wollte. Und zweitens verarbeitet er damit eine Zeit, die zu den dunkelsten seines Lebens gehört. Ein Gespräch über die Bürde der Pubertät, eine Messerattacke auf sich selbst und die Sorge, aus finanzieller Not Stadionrock-taugliche Musik machen zu müssen.

28. April 2023 — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotografie: Niklas Soestmeyer

„Die schönste Sprache der Welt ist ein Lächeln“, „Warte nicht auf große Wunder, sonst verpasst Du die kleinen“, „Vergiss nicht, glücklich zu sein“ – es ist scheinbar ein beliebter Trend geworden, die eigene Wohnung mit motivierenden Holz- oder Metallschildchen zu dekorieren, vor allem, wenn sie in Vintage-Optik und mit schwungvoller Handschrift gestaltet sind.

Was für die einen die spießbürgerliche Krone des Kitsch, ist für die anderen ein willkommener Stimmungsheber – und vielleicht sogar ein notwendiger. Denn vielen Menschen fällt es gar nicht so leicht, mit einem gewissen Grundoptimismus durchs Leben zu gehen und sich um die Gesundheit der eigenen Seele zu kümmern. Und so ist es – ganz egal, ob pro oder contra Motivationsschild – für uns alle nicht das Schlechteste, hin und wieder ein kleines bisschen Selbstfürsorge zu betreiben.

Das gilt auch für den 39-jährigen Musiker und Produzenten Tom Hessler. Seit fast zwei Jahrzehnten ist er Frontmann der Hamburger Indie-Band „Fotos“, gerade hat er unter dem Namen „Der Assistent“ sein erstes und gleichnamiges Soloalbum veröffentlicht. Und diese Platte, das darf man so sagen, ist in Toms Leben nicht weniger als der bisher größte Akt von Selfcare – musikalisch wie privat.

Denn erstens hat sich Tom mit seinem kuscheligen Dub-Sound, in dem er feine Jazzelemente mit unaufdringlichen Elektrobeats und entspannten Retromelodien mischt, den großen Traum erfüllt, genau die Musik zu machen, die er selbst am liebsten hören würde – insbesondere, wenn er zuhause auf dem Sofa liegt und die Gedanken kreisen lässt. Und zweitens, und das ist vielleicht der noch viel wichtigere Aspekt, verarbeitet „Der Assistent“ mit diesem Album eine Zeit, die zu den dunkelsten seines Lebens gehörte, wie er uns im Interview verraten wird.

Wer sich über die Jahre ein bisschen mit den „Fotos“ beschäftigt hat, für den dürfte es keine Neuigkeit sein, dass Tom Hessler ein richtig guter Musiker und Texteschreiber ist. Trotzdem lohnt auch für diese Menschen ein akustischer Blick in das Soloalbum, denn diese Platte – und damit wollen wir uns weder anbiedern noch in irgendeiner Form übertreiben – ist einfach verdammt gut. Oder besser gesagt: tut verdammt gut. Und das einerseits, weil sie uns Hörer:innen auf der Textebene von vorne bis hinten das Gefühl gibt, sie in der Tiefe ihres Herzens zu verstehen. Und andererseits, weil sie uns musikalisch in eine große Portion Zuckerwatte packt, ohne dabei jemals ins Kitschige oder Oberflächliche abzudriften.

In einem Akt großer kulinarischer Selbstfürsorge haben wir Tom Hessler vor kurzem in seiner Berliner Wohnung zum Interview bei Kaffee und Sahnetorte getroffen. Ein Schild mit Motivationsspruch haben wir dort übrigens nicht entdeckt.

»Ich gehöre nicht zu den Leuten, die ein großes Interesse daran haben, noch mal jung zu sein.«

MYP Magazine:
Tom, vor einigen Monaten hast Du auf Instagram ein Kinderfoto von Dir gepostet, dazu folgenden Hinweis: „Der Assistent hat gut lachen: Nach einem mysteriösen Kuraufenthalt kehrt er auffällig erholt zurück ins digitale Rampenlicht. Seine vierte Singleauskopplung ist eine demütige Verneigung vor den Filmmusik-Meistern der siebziger und achtziger Jahre.“ Bist Du jemand, der gerne in der eigenen Vergangenheit schwelgt?

Tom Hessler: (lacht)
Dieses Foto ist mir begegnet, als ich letztes Jahr zu Besuch bei meiner Familie in Bayern war. Ich fand es lustig, das auf Insta zu posten, denn das Bild hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Cover meines neuen Albums. Daraus habe ich die Story gesponnen, dass ich einen verjüngenden Kuraufenthalt hinter mir habe.
Generell gehöre ich aber nicht zu den Leuten, die ein großes Interesse daran haben, noch mal jung zu sein. Meine Kindheit und Jugend waren alles andere als die Highlights meines Lebens. Ich war immer ein sehr introvertierter Junge und fand es irgendwie bedrückend, auf einem bayerischen Dorf aufzuwachsen. Und auch später auf dem Gymnasium habe ich nie zu den coolen, sportinteressierten Zeitgenossen gehört. Vielmehr war ich ein Sensibelchen mit Nerd-Interessen, dem es schwerfiel, sich da einzugliedern. Alles in allem war das eine unangenehme Lebenszeit. Wenn ich heute Kinderfotos von mir sehe, denke ich daher immer: Wie gut, dass das vorbei ist.

»Mein kleiner Finger war hin. Wenn man professionell Musik macht, ist das eine ziemlich harte Diagnose.«

MYP Magazine:
Dein Debütalbum „Der Assistent“ ist ebenfalls in einer schwierigen Zeit Deines Lebens entstanden. Dürfen wir fragen, was genau passiert ist?

Tom Hessler:
Klar! Ist doch schön, wenn man was zu erzählen hat und nicht nur den Pressetext runterrockt. Passiert ist Folgendes: Mitte 2020 habe ich mir selbst – in einem Anflug von Wahnsinn – mit einem Messer eine schwere Handverletzung zugefügt, nachdem sich meine Freundin nach elf Jahren von mir getrennt hatte. Was folgte, war nicht nur emotional eine katastrophale Zeit, sondern auch körperlich. Ich musste mich mehreren OPs unterziehen, hatte wahnsinnige Schmerzen und musste über Monate zur Ergotherapie. Doch weder die Operationen noch die Krankengymnastik haben am Ende etwas gebracht. Mein kleiner Finger war hin und damit die vollständige Funktionsfähigkeit meiner Hand nicht mehr herzustellen. Wenn man professionell Musik macht, ist das eine ziemlich harte Diagnose. Und on top kam in meinem Fall noch ein extremes Einsamkeitsgefühl dazu, mitten im Corona-Winter in Berlin. Das war wirklich keine gute Zeit. Das Einzige, was mir blieb, war die Idee, eine sehr traurige und reflektierende Platte über das alles zu schreiben – die aber erst mal niemand haben wollte…

»Das, was man in extremen Trauer- und Umbruchphasen fabriziert, ist selten etwas, mit dem man sich später noch identifizieren will.«

MYP Magazine:
Inwiefern?

Tom Hessler:
Ich hatte mein Debütalbum ursprünglich ganz anders angelegt, vor allem die Musik war viel poppiger. Doch dieses Konzept fiel bei etlichen Labels durch, ich kassierte nur Absagen. Das brachte mich zu der Erkenntnis, das Ganze noch mal grundsätzlich zu überdenken. Natürlich hätte ich das Album auch einfach so rausbringen können. Aber ich hatte das Gefühl, dass es vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben wichtig sein könnte, eine Ehrenrunde zu drehen und erneut in mich zu gehen. Denn das, was man in extremen Trauer- und Umbruchphasen fabriziert, ist selten etwas, mit dem man sich später noch identifizieren will.
Zuallererst habe ich den Song „W“ überarbeitet und da eine Art Bruch reingebracht – ein Dementi, das durch die Luftigkeit in der Musik auf der einen Seite und die schweren Texte auf der anderen Seite entsteht. Damit hatte ich plötzlich eine Vision vor Augen, wie auch der Rest der Platte klingen könnte. Und so habe ich nicht nur alle neuen, sondern auch die bereits existierenden Songs durch den Dub-Wolf gejagt. Das war genau das, was der Platte gefehlt hatte…

MYP Magazine:
… und womit Du dich auch sehr stark vom „Fotos“-Sound löst.

Tom Hessler:
Na, Gott sei Dank! Ich dachte immer: Wenn ich mal eine Soloplatte mache, dann will ich gerne raus aus diesem „Fotos“-Ding – nicht nur, weil mir das musikalisch guttut. Wenn man Teil einer Band wie „Fotos“ ist, die gleich zu Beginn einem riesigen Hype ausgesetzt war, der sich aber nie kommerziell erfüllt hat, gilt man in der Musikbranche mehr oder weniger als verbrannt. Entweder, man ist Bono, der seine goldene Zeit hatte und dafür von der Masse geliebt wird. Oder man schafft es eben nicht und ist der, bei dem alle denken: „Oh Gott, das ist der Typ, der 2006 mal dieses „Giganten“ gesungen hat. Lass mich damit bloß in Ruhe!“

»Das Letzte, was ich machen will, ist eine kommerzielle, Stadionrock-taugliche Version von mir selbst zu erschaffen.«

MYP Magazine:
Hey, nichts gegen die erste „Fotos“-Platte!

Tom Hessler: (lacht)
Nein, natürlich nicht. Trotzdem wollte ich mich persönlich davon schon seit vielen Jahren emanzipieren. Aber mir war immer klar: Das Letzte, was ich machen will, ist eine kommerzielle, Stadionrock-taugliche Version von mir selbst zu erschaffen und mit Songs von etablierten Hitschreiber:innen noch mal Karriere zu machen – und das am besten noch unter meinem Klarnamen: „Tom Hessler macht jetzt erdigen Rock für alle.“ So etwas kann ich einfach nicht, auch wenn ich ein paar Mal darüber nachgedacht habe. Aber ich persönlich habe es am Ende immer bereut, wenn ich in meiner „Karriere“ solche Gedanken zugelassen habe. Stattdessen hat sich mir der Satz eines Freundes eingebrannt, der bereits vor vielen Jahren meinte: „Mach doch mal was, was du dir selbst anhören würdest.“

»Die Frage ist nicht, was mich am meisten inspiriert hat in dieser Zeit. Sondern, was mir am meisten Trost gespendet hat.«

MYP Magazine:
Was hörst Du dir selbst denn so an? Welche Musik hat Dich zu Deinem Soloalbum inspiriert?

Tom Hessler:
Tatsächlich gab es dieses eine Album, das ich 2020 ständig gehört habe, als ich in einer Art Notfall-Modus war und nicht wusste, wie ich mir helfen sollte – im dunklen Dezember ganz allein zuhause sitzend, mit dieser halb aufgeschnittenen Hand und all den Schmerzen. In dieser Zeit habe ich oft nichts anderes getan, als stundenlang die „The Keyboard King“-Platte von Jackie Mittoo zu lauschen, jenem legendären Keyboard-King des ebenso legendären Plattenlabels Studio One. Auf dem Album gibt es einen Song, der mich total mitnimmt: „You’ll never find“. Jackie Mittoo spielt da eine Hammondorgel als Fundament, darunter liegen ein paar weiche, leichte Dub-Grooves und ab und zu kommt eine zarte Stimme angeflogen und verschwindet wieder. Zu diesem Song habe ich immer wieder ganz allein in meiner Wohnung geschwoft. Und auf genau diese emotionalen Momente habe ich mich beim Schreiben meines eigenen Albums besonnen. Die Frage ist daher nicht, was mich am meisten inspiriert hat in dieser Zeit. Sondern, was mir am meisten Trost gespendet hat. Und das war definitiv dieses Lied.

»Für mich ist Musik immer der letzte Zufluchtsort.«

MYP Magazine:
Man unterschätzt doch allzu oft, welches Trostpotenzial Musik haben kann.

Tom Hessler:
Ich unterschätze das nicht. Für mich ist das der Grund, warum ich überhaupt Musik mache. Denn in meiner dunkelsten Zeit vor dieser dunkelsten Zeit, also während meiner Pubertät auf dem Dorf, da hat Musik das für mich zum ersten Mal geleistet und lässt mich seither nicht mehr los. Für mich ist Musik immer der letzte Zufluchtsort, in den ich mich fallen lassen kann, wenn es wirklich gar nicht mehr geht. Und das ist auch der Grund, warum ich mein Leben der Musik widme, denn damit kann ich anderen genau das zurückgeben, was ich selbst dadurch erfahren darf.

»Je mehr Zeit und Aufmerksamkeit den Menschen genommen wird, desto weniger aufnahmefähig sind sie für die guten Dinge.«

MYP Magazine:
Auch dieses Zurückgeben ist Dir bereits mit etlichen „Fotos“-Songs gelungen – wir hoffen, Du kannst das Kompliment annehmen.

Tom Hessler:
Vielen Dank! Aber egal, ob es um „Fotos“, „Der Assistent“ oder andere Künstler:innen geht: Für uns alle wird es nicht einfacher, unsere Musik in die Welt hinauszutragen, denn der Umgang mit Kunst oder künstlerischem Schaffen hat sich mit den Jahren grundlegend verändert. Heute buhlen im Wesentlichen große Tech-Konzerne um die Zeit und Aufmerksamkeit der Menschen, um damit schnell viel Geld zu verdienen. Und je mehr Zeit und Aufmerksamkeit den Menschen genommen wird, desto weniger aufnahmefähig sind sie für die guten Dinge: für gute Fotografie, gute Musik, gute Filme – oder kurz gesagt für alles, was ein bisschen langsamer erzählt ist und mehr Muse braucht. Großen Namen wie Bob Dylan oder den Rolling Stones fällt es da natürlich einfacher, die Leute bei sich zu halten. Aber Künstler:innen, die nicht diesen Bekanntheitsgrad haben und trotzdem gute, ernsthafte Musik machen, rennen da mehr oder weniger gegen die Wand.

MYP Magazine:
Apropos gute Musik: Was genau hat Dich musikalisch am Dub gereizt?

Tom Hessler:
Man muss wissen: Dub wurde in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren in Jamaika erfunden. Damals gab es Block-Partys, mit fetten Soundsystemen. Die eher poppigen, radiotauglichen Reggae-Produktionen jener Zeit waren für diese Partys allerdings eher unpassend. Dub-Legenden wie King Tubby und Lee „Scratch“ Perry haben daher einfach die existierenden Reggae-Bänder genommen und das alles deutlich dancier und trippier abgemischt. Diese simplen, aber effektiven psychedelischen Klangbearbeitungs-Ideen, die damals entwickelt wurden, sind bis heute fresh geblieben – und holen mich total ab.

»Das Letzte, was ich sein will, ist ein mittelalter, weißer, aus Bayern stammender Musiker, der jetzt irgendwie Dub-Reggae macht.«

MYP Magazine:
Deinem Kollegen Peter Fox wurde letztes Jahr kulturelle Aneignung vorgeworfen, nachdem er in seinem Song „Zukunft Pink“ Beats benutzt hatte, die aus dem afrikanischen Genre Amapiano stammen. Hattest Du Sorge, Dich mit Deinem neuen Album ebenfalls angreifbar zu machen?

Tom Hessler:
Auf jeden Fall. Ich habe mich mit dieser Thematik sehr intensiv auseinandergesetzt, denn das Letzte, was ich sein will, ist ein mittelalter, weißer, aus Bayern stammender Musiker, der jetzt irgendwie Dub-Reggae macht. Aus diesem Grund habe ich mich erstens sehr langsam und vorsichtig jenen Tools genähert, die in der Dub-Musik verwendet werden. Und zweitens war es mir immer wichtig, mit meinem eigenen Sound sowie der Art, wie ich mit Musik umgehe, ein entsprechendes Gegengewicht zu schaffen. Ganz am Ende erst habe ich mich tatsächlich getraut, diese Reggae-Offbeats auf den Keyboards einzubinden, weil ich lange dachte, das dürfe man auf keinen Fall. Doch als ich diese Technik bei „W“ angewendet habe, hat es plötzlich klick gemacht, und ich wusste: Fuck, genau das hat es gebraucht.
In meinem speziellen Fall denke ich daher, es ist okay. Der Dub in meinen Songs ist in erster Linie ein Groove-Element, das wie ein Zitat funktioniert. Das Dubbing ist – ohne die performativen Inhalte jamaikanischer Roots- und Rastafari-Culture – vor allem eine Produktionstechnik. Es geht hier um den Prozess, Einzelspuren bestehender Produktionen mit gewissen Studio-Tricks umzugestalten und dadurch neue Horizonte zu öffnen. Und das ist erst mal Creative Commons, wie es so schön heißt.

»Musik kann im besten Fall etwas bedeuten. Zumindest mehr als einfach nur massives Frequenz-Massaker aus KissFM.«

MYP Magazine:
Der Song „W“ wurde auf Spotify schon über 130.000 Mal gespielt, Du scheinst damit einen gewissen Nerv zu treffen. Wie geht es Dir damit?

Tom Hessler:
130.000 Plays sind nicht viel. 130 Millionen sind viel auf Spotify. 130.000 Mal gespielt entspricht in dem Fall etwa 200 Euro Einnahmen, denn Spotify vergütet all jene Plays noch schlechter, die im sogenannten „Discovery-Mode“ generiert werden – also Musik, die dir Spotify auf Basis deiner individuellen und algorithmisch erfassten Hörgewohnheiten automatisch kredenzt. Wenn meine Musik dagegen im Radio läuft, erhalte ich pro gespielten Song Geld von der GEMA, da meine Arbeit kommerziell genutzt wird. Würde ein Radiosender so funktionieren wie Spotify, würde er einen Teil meiner Einnahmen zurückverlangen – mit dem Argument, dass ich durch häufigere Plays ja ein breiteres Publikum erreichen würde. Gleichzeitig erhalte ich selbst aber nichts dafür, dass der Sender Geld mit Werbung oder aus Rundfunkbeiträgen verdient. Als Monopolist kann Spotify die Regeln selbst gestalten.

MYP Magazine:
Ok, davon kann man sich nichts kaufen.

Tom Hessler:
Doch, doch! Für 200 Euro kann man ein Drittel der Miete zahlen in einer nicht ganz so teuren Wohnung. Aber ich will darüber gar nicht nachdenken, das macht mir nur noch mehr Angst. Ich kenne die Situationen allzu gut, in denen man nicht weiß, wie es weitergehen soll. Oder in denen man sich fragt, ob man beim Arbeitsamt nicht doch eine Umschulung beantragen sollte. Solche Gedanken tun weh, vor allem, wenn Musik das Heiligste ist, was man im Leben hat – und man versucht, diese Musik vor jeder Form von Kommerzialisierung zu beschützen. Denn genau darum geht’s ja: Musik kann im besten Fall etwas bedeuten. Zumindest mehr als einfach nur massives Frequenz-Massaker aus KissFM, während man im Uber sitzt.

»Für mich war es am schwierigsten, nicht selbstmitleidig zu sein.«

MYP Magazine:
Würde Deine Musik nichts bedeuten, wärst Du vor Kurzem kaum bei den geschätzten Kolleg:innen von „Radio 1“ zu Gast gewesen, wo Du ausführlich Dein neues Album vorstellen durftest. In der Anmoderation zum Interview sagte die Moderatorin über Deine Platte: „Ich habe eine Welt betreten, die aus Melancholie und Einsamkeit ein ganz, ganz eigenes Gefühl kreiert und einen Soundtrack macht. […] Das ist sehr, sehr besondere Musik.“ War genau das Deine Intention?

Tom Hessler:
Dass sie das so beschrieben hat, hat mich sehr berührt. Und ich finde, das trifft den Nagel auf den Kopf. Aber wie gut so etwas am Ende gelingt, kann man sich als Musiker nicht wirklich vornehmen. Interessanterweise passt die Beschreibung auch gut zu dem, was während des Arbeitsprozesses passiert ist: Denn für mich war es am schwierigsten, beim Schreiben nicht selbstmitleidig zu sein. Das war ich schon viel zu oft in meinen „Fotos“-Songs, wenn ich mal wieder versucht habe, meine narzisstischen Leiden zu vertonen. Diesmal ging es aber vielmehr darum, mir selbst zuzuhören und meine eigenen Gefühle wahrzunehmen, um daraus einen ganz persönlichen Sound zu kreieren.

»Der Text kann genauso gut bedeuten, dass man einfach nur zu wenig Sport macht. Oder zu viel säuft. Oder ständig mit jemanden ins Bett geht, der nicht gut für einen ist.«

MYP Magazine:
Im Song „W“ sprichst Du auf Textseite von Selbstverletzung und mangelnder Selbstfürsorge, musikalisch packst Du dieses schwere Thema dagegen in Zuckerwatte. Ist das für Dich eine besondere Form, um Deine Messerattacke auf Dich selbst zu verarbeiten?

Tom Hessler:
Nein. Als ich den Text geschrieben habe, wollte ich mich etwas ganz anderem nähern – nämlich meiner Wut. Ich habe super lange gebraucht, um überhaupt herauszufinden, dass ich wütend bin, weil ich das immer so arg in mich hineingefressen habe. Diese Wut hat ihren Ursprung in entscheidenden Phasen meiner Kindheit und Jugend, in denen ich das Gefühl hatte, nicht gesehen oder gehört zu werden. Dass sich diese Wut am Ende auch gegen mich selbst richtet, war eine logische Konsequenz, die eher zufällig zu den eher allgemein gehaltenen Lyrics passt. Der Text kann genauso gut bedeuten, dass man einfach nur zu wenig Sport macht. Oder zu viel säuft. Oder ständig mit jemanden ins Bett geht, der nicht gut für einen ist. Um all das geht es in dem Lied.
Trotzdem habe ich gemerkt: Wenn man dieses Thema so direkt adressiert, finden viele Leute das immer noch ganz schön cringe – das ist einfach etwas, das einem ganz schön nahegehen kann. Selbst bei mir persönlich konnte ich diesen Text überhaupt erst durchbekommen, als die Musik dieses Lässige und Chillige bekommen hat. (singt die Zeile „Ich war nicht gut zu mir“) Das ist so soulig und berührend leicht!

»Ich wollte einfach nicht verraten, worum es inhaltlich geht, bevor man nicht die Musik gehört hat.«

MYP Magazine:
Warum hast Du den Songtitel codiert, indem Du dem Weh das e und h gestohlen hast?

Tom Hessler:
Die Musik sollte ein Gegengewicht schaffen zu der Schwere des Textes. Und das Gleiche ist dem Titel passiert. Ich wollte nicht verraten, worum es inhaltlich geht, bevor man nicht die Musik gehört hat. Es ist ja auch wirklich lustig, man sieht den Buchstaben und denkt sich: Hä?! Und dann geht das Lied los, irgendeiner singt „W“ und man weiß überhaupt nicht, was hier passiert – bis die erste Zeile kommt, bei der es dann plötzlich um heftigen Stoff geht.

MYP Magazine:
In dem Video zum Song „W“ erweiterst Du den Weh-Begriff teils auf lustige, teils auf sarkastische, teils auf nachdenkliche Art und Weise: Wadenkrampf, Work-Life-Balance, Warteschlange, Wutbürger, Waffenlieferung.

Tom Hessler: (lacht)
Das war nicht meine Idee, sondern die des genialen Regisseurs Christopher Marquez, der mit dem Video eine zusätzliche Polarisierungsebene eingezogen hat. Es gibt Menschen in meinem Umfeld, die den Song wirklich sehr berührend finden und eigentlich mit Ironie recht gut umgehen können, aber sich in dem Fall nicht sicher waren, ob das Video nicht viel zu distanziert ist zum eigentlichen Thema. Aber ich finde, der Clip hat genau die richtige Balance aus Schwere und Leichtigkeit.

»Wenn ich an damals zurückdenke, sehe ich braunes Eichen-Furnier und Flokati-Teppiche.«

MYP Magazine:
Dein Album erinnert mit seinem dahinplätschernden Sound ein wenig an die Gemütlichkeit und Spießigkeit der alten Bundesrepublik. Was hat Dich als Kind und Jugendlicher popkulturell geprägt? Mit welchen Filmen, Serien und mit welcher Musik bist Du aufgewachsen?

Tom Hessler:
Als ich klein war, gab es im Fernsehen nur drei Kanäle und nachmittags irgendwie zwei, drei Formate. Wenn ich an damals zurückdenke, sehe ich braunes Eichen-Furnier und Flokati-Teppiche. Und ich erinnere mich an Serien wie „Wickie und die starken Männer“ oder „Es war einmal das Leben“ – und natürlich ganz viel Easy-Listening-Library-Musik.

MYP Magazine:
Und James Last.

Tom Hessler:
Ja, den gab es auf jeden Fall auch. Ich finde, gerade deshalb funktionieren auch meine Dub-Reggae-Zitate so gut, weil ihnen diese verbrämten Library-Harmonien entgegengesetzt werden – wodurch klar ist, dass da keiner ernsthaft Reggae-Musik machen will. Die ganze Klangwelt ist super assoziativ und erinnert an einen trippy Traum, aus dem man plötzlich erwacht und sich denkt: What the fuck?!

MYP Magazine:
In den letzten Jahren haben unzählige TV- und Streaming-Formate die siebziger und achtziger Jahre wiederaufleben lassen. Gibt es zurzeit Filme oder Serien, bei denen Du dich in Deiner eigenen Nostalgie emotional abgeholt fühlst?

Tom Hessler:
Ja, aber keine neuen. Ich schaue gerade zum wiederholten Mal „Kir Royal“ und „Monaco Franze“. Diese Serien von Helmut Dietl beziehungsweise Patrick Süskind von Anfang, Mitte der Achtziger sind einfach richtig gut und irgendwie immer noch aktuell, denn dort werden Themen behandelt, die uns auch heute noch als Gesellschaft lähmen und belasten.

»Es wäre für mich ein großer Fortschritt, wenn ich gewisse Graustufen zulassen würde.«

MYP Magazine:
Du hast Dich in den letzten Jahren in Deinen Texten – auch bei Fotos – immer wieder mit existenziellen Fragen auseinandergesetzt. Zum Beispiel in der Bridge von „Melodie des Todes“:

Wer weiß schon, dass er glücklich ist?
Ob Liebe stärker als das Sterben ist?
Vergangenheit nicht mal vergangen ist?
Ich weiß, dass du mich nie vergisst

Auch auf Deinem Soloalbum stellst Du solche Fragen, etwa im Song „Mann ohne Vergangenheit“, in dem Du fragst: „Wer bin ich?“ Hast Du darauf im Laufe der Jahre eine Antwort gefunden, vielleicht sogar mit dieser Platte?

Tom Hessler:
Ich habe keine Ahnung, ob man jemals wirklich weiß, wer man ist. Mir würde es schon reichen, wenn ich nicht jedes Mal, wenn ich eine neue Platte herausgebracht habe, wieder alles komplett in Frage stellen würde. Und es wäre für mich auch ein großer Fortschritt, wenn ich gewisse Graustufen zulassen würde, im Sinne von: Ja, okay, das war sicherlich nicht großartig. Aber vielleicht war es auch nicht scheiße und in Ansätzen gut. Ich habe in solchen Situationen viel zu oft die Kettensäge oder das Beil angelegt. Allein der Satz „Es hat nicht funktioniert“, was heißt das denn überhaupt? Dass ich gescheitert bin, weil ich keinen Grammy bekommen habe? Ich habe so oft in meinem Leben die Dinge einfach über den Haufen geworfen und alles damit noch schlimmer gemacht. Dementsprechend ist die Tatsache, dass ich mit meinem Soloalbum eine freiwillige Ehrenrunde gedreht habe, ein riesiger Schritt für mich – mal ganz davon abgesehen, dass ich überglücklich bin mit dem Endergebnis. Diese Erfahrung kann ich definitiv mitnehmen für das nächste Mal, wenn ich mir mit etwas nicht sicher bin oder das Gefühl habe, Ablehnung zu erfahren. Oder wenn ich mir Fragen stelle wie: Will ich das? Wer bin ich eigentlich?
Ich glaube, mittlerweile habe ich gelernt, in diesen Momenten einfach zu sagen: Lass dir doch noch ein bisschen Zeit, ein bisschen Luft. Wenn du es jetzt noch nicht weißt, weißt du es sicher irgendwann anders. Es muss nicht jetzt entschieden werden.

»Ich habe mich fast mein gesamtes Leben lang an der Frage aufgehängt, was die Leute sagen.«

MYP Magazine:
In „Das süße Leben“, dem letzten Track des Albums, schaust Du sehr weit nach vorne, genauer gesagt auf Deinen Lebensabend…

Tom Hessler:
Nein, zum vermeintlichen Ende des Assistenten. Das ist eine Filmszene! Man sieht da richtig, wie die Kamera rauszoomt und der Assistent im Treibsand versinkt. Und man denkt sich: Ist das jetzt wirklich das Ende des Assistenten? Oder kommt er nochmal wieder?

MYP Magazine:
Du singst:

Am Ende bin ich körperlos,
ich weiß, dass mir die Stunde schlägt,
doch es hat sich gelohnt

Dazu hören wir ein sanftes Meeresrauschen, zu dem man auch verdammt gut einschlafen könnte, wenn man nachts mal wieder wachliegt. Ist dieses Album am Ende für Dich der bisher größte Akt von Selbstfürsorge in Deinem bisherigen Leben?

Tom Hessler: (lächelt)
Ja, das kann man tatsächlich so sagen, wenn man mal von dem enormen finanziellen Risiko absieht, das ich mit der Realisation dieser Platte eingegangen bin. Aber dass ich überhaupt den Mut habe, mir das zu gönnen und dabei einfach zu sagen: Es sind doch eh verrückte Zeiten, wer weiß schon, wie lange man so etwas noch machen kann, also warum nicht noch mal sich gönnen? Das für mich selbst zu formulieren und alles andere hintanzustellen, war mir einfach wichtig. Ich habe mich fast mein gesamtes Leben lang an der Frage aufgehängt, was die Leute sagen. Oder warum ich nicht die Aufmerksamkeit bekomme, die anderen Künstler:innen zuteilwird. Aber jetzt habe ich zum ersten Mal das Gefühl, ich mache das wirklich für mich.

»Dieser Assistent ist jetzt dein Begleiter, er macht es möglich, dass du frei agieren kannst.«

MYP Magazine:
Bleibt zum Schluss die Frage, was eigentlich hinter dem Namen „Der Assistent“ steckt.

Tom Hessler:
Aus Therapieprozessen kennt man es vielleicht, dass man manchmal unbewusst einen guten Gedanken hat und den beiläufig im Gespräch formuliert. Wenn die Therapeutin oder der Therapeut dann direkt nachhakt und fragt, woher das gerade kam, ist es oft so, dass man absolut blank ist und keine Ahnung hat. Mit dem Namen „Der Assistent“ war das ähnlich. Ich glaube, da wollte mir mein Unterbewusstsein etwas sagen. Und zwar: Du brauchst hier gerade einen eigenen Assistenten, der das Problem wirklich löst und dir hilft, einen neuen Kanal zu öffnen. Einen Assistenten, der dich dabei unterstützt, diese Musik zu machen, auf die du einfach gerade Lust hast. Egal, wo du herkommst. Egal, welche Musik du vorher gemacht hast. Und egal, was die Leute sagen und denken. Dieser Assistent ist jetzt dein Begleiter, er macht es möglich, dass du frei agieren kannst. Ich finde, das ist ein wunderbarer Gedanke.