Interview — Daniel Donskoy

»Da weiß man echt nicht mehr, wofür man sich den Arsch aufreißt«

Geboren in Moskau, aufgewachsen in Berlin und Tel Aviv, erwachsen geworden in London: Daniel Donskoy vereint in sich verschiedenste Kulturen – und in seiner Musik diverse Stile und Gefühle. Ein Interview über schwere Stunden in New Jersey, das Trügerische an der Berliner Freiheit, russisches Soulfood in London, das Urdeutsche am Heimatbegriff und den Drang, immer das Beste aus allem herausholen zu wollen.

29. Januar 2025 — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotografie: Maximilian König, Hair & Make-up: Vivien Berenice Mangin

Heimatabend, Heimatkunde, Heimathafen, Heimaturlaub, Heimatfilm: Kaum ein Begriff ist in der deutschen Sprache mit so viel Bedeutung geschwängert wie das unscheinbare Wörtchen mit den sechs Buchstaben. Das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache führt knapp 80 Substantive mit Heimat als Erstglied auf, darunter seit 2013 auch das Wort »Heimatministerium«. Markus Söder, damals bayerischer Finanzminister, hatte seiner Behörde ein zusätzliches Betätigungsfeld geschenkt – aus reiner Heimatliebe, versteht sich.

Doch was, wenn in der Biografie eines Menschen das Konzept Heimat gar nicht vorgesehen ist? Wie etwa bei Daniel Donskoy. 1990 in Moskau als Sohn einer ukrainischen Mutter und eines russischen Vaters geboren, siedelte er kurz darauf mit seinen Eltern und Großeltern nach Berlin über. 2002 zog er mit seiner Mutter weiter nach Tel Aviv, sechs Jahre später ging es für ihn zurück nach Berlin. Seit 2011 lebt er in London – zumindest gelegentlich, denn der Musiker, Schauspieler, Regisseur und Produzent ist aufgrund seines Jobs fast ständig irgendwo in der Welt unterwegs.

Dass das Thema Heimat – oder besser gesagt Zugehörigkeit – dennoch irgendwie eine Rolle zu spielen scheint im Leben des 35-Jährigen, lässt eine Zeile aus seinem kürzlich veröffentlichten Song »Bang« erahnen: »I hear you talking every day / That I have lost my right to stay«. Der Schmerz ist nachvollziehbar, immerhin haben nicht nur in Deutschland etliche Leute eine lautstarke, wenn auch nicht immer verfassungskonforme Meinung dazu, wer wann hier leben darf und wer wann wohin zu gehen hat. So wundert es auch kaum, dass das Wort Heimat im deutschen Sprachgebrauch besonders oft in Kombination mit »abschieben in«, »vertreiben aus« und »zurückschicken in« verwendet wird.

»Heimat ist da, wo man sich nicht erklären muss«, könnte man Daniel Donskoy mit den Worten Johann Gottfried Herders trösten. Doch wenn man sich wie Daniel vor drei Jahren entschieden hat, eine deutsche TV-Show mit dem Titel »Freitagnacht Jews« zu entwickeln, in der man locker-flockig über die jüdische Kultur spricht, auch über die eigene, ist die Auswahl an Orten, an denen man nicht zu einer klitzekleinen Erklärung zum Nahostkonflikt oder einem gängigen Klischee über jüdisches Leben genötigt wird, plötzlich etwas begrenzt.

Es bleibt also nichts anderes, als die Heimat in der Kunst zu suchen. Und die umfasst bei Daniel Donskoy, der von 2011 bis 2014 eine Schauspiel- und Musicalausbildung an der Arts Educational School in London absolvierte, nicht nur die Film- und Theaterwelt. Seit vielen Jahren macht er unter dem Namen DONSKOY auch Musik. Mitte 2024 hat er begonnen, in unregelmäßigen Abständen eine Serie von sieben Singles zu veröffentlichen. »Sippin‘«, »Middleman« und »Bang« sind bereits erschienen, bis zum Frühjahr folgen vier weitere. Man darf also gespannt sein, vor allem, weil sich in einigen der neuen Songs eine kleine Verneigung vor Adele, Sam Smith und George Michael erhören lässt – allesamt Londoner Musiker*innen. Was für ein Zufall.

Wir treffen Daniel Donskoy zum Interview und Fotoshooting im Studio von Fotograf Maximilian König in Berlin. Gerade kommt er von einem Dreh in Köln, nach einem Besuch bei den Großeltern geht’s in wenigen Tagen zurück nach London.

»Ich hätte verstanden, wenn die Crew nach so einem Tag gesagt hätte: ›Ich kann die Scheiße nicht mehr hören.‹«

MYP Magazine:
Daniel, vor Kurzem hast Du Deine jüngste Single »Bang« veröffentlicht, zeitgleich mit dem dazugehörigen Musikvideo. Auf Youtube hat eine Userin den Clip mit dem Satz kommentiert: »Uff, jetzt hab‘ ich mir ‘nen Ohrwurm eingefangen.« Ist »Ohrwurm« das größte Kompliment, das man für einen neuen Song erhalten kann?

Daniel Donskoy:
Es gibt tatsächlich kaum Schöneres als die Bestätigung, dass die Musik, die man macht, bei den Leuten hängenbleibt. Allerdings kann so ein Ohrwurm auch etwas sein, das man unbedingt wieder loswerden will – etwa, wenn man stundenlang einen einzigen Song in Dauerschleife hören musste. So wie bei unserem Videodreh. Ganz ehrlich: Ich hätte verstanden, wenn die Crew nach so einem Tag gesagt hätte: »Ich kann die Scheiße nicht mehr hören.«

MYP Magazine:
Im Video kann man Dir dabei zusehen, wie Du mit einigen Freunden und einer Prosecco-Flasche in der Hand durch die Londoner Nacht ziehst. Ist das auch als eine kleine Hommage an die Zeit nach Deinem Abi zu verstehen, als Du von Tel Aviv zurück nach Berlin gezogen bist und drei Jahre lang erst mal Party gemacht hast?

Daniel Donskoy:
»Bang« kann man definitiv als Hommage an Berlin verstehen, allerdings auch an London. Der Grime des Songs, also das etwas Schmutzige im Sound, ist definitiv von den Straßen Londons inspiriert. Das Energetische, Treibende wiederum steht für meine Liebe zu Techno und Exzess, denn Berlin war damals ein riesiger Spielplatz für mich.

»Die Jahre in Berlin waren essenziell, um zu verstehen, was der Begriff Freiheit überhaupt bedeutet.«

MYP Magazine:
Was haben diese ersten Jahre in Berlin mit Dir gemacht?

Daniel Donskoy:
Berlin hat mir damals eine Freiheit gegeben, nach der ich sehnsüchtig gesucht hatte. Ich bin in einer Familie aufgewachsen, in der es sehr viele Regeln gab, aber wenig Konstanz. Das liegt vor allem daran, dass wir ständig umgezogen sind. In zwölf Jahren war ich auf zehn Schulen. Dabei hatte ich nie das Gefühl, wirklich autonom zu sein. Berlin hingegen hat mir diese Autonomie auf dem Silbertablett serviert: Es war 2008 und meine 90-Quadratmeter-Wohnung in der Hermannstraße kostete 300 Euro warm. An den Wochenenden war ich im Berghain und unter der Woche habe ich an der Bar im Kunsthaus Tacheles gearbeitet und pro forma Biologie studiert.

MYP Magazine:
Mehr Freiheit geht nicht für einen 18-Jährigen.

Daniel Donskoy:
Stimmt. Aber diese neue Freiheit war auch eine trügerische, in der ich mich erst mal komplett verloren habe. Dennoch waren diese Jahre essenziell für mich, um zu verstehen, was der Begriff Freiheit überhaupt bedeutet.
Erst nach einer Weile habe ich gecheckt, dass ich in meinem Leben nichts auf die Reihe bekomme, wenn ich so weitermache. Denn wenn man seinen eigenen Begriff von Freiheit so konsequent lebt, dass er zu einem anarchischen wird, wird es mit Regeln immer schwieriger. Aber das Leben besteht nun mal aus gewissen Regeln, vor allem in der Arbeitswelt. Und die verlangt von einem in erster Linie Disziplin – auch und vor allem in der Unterhaltung. Daher war meine Entscheidung, 2011 nach London zu ziehen, um Schauspieler zu werden, die absolut richtige. In Berlin hätte ich damals nicht die Kurve gekriegt, auch weil mein gesamtes soziales Umfeld irgendeinen Bezug zum Nachtleben hatte.

»Wie in vielen Familien mit Einwanderungsgeschichte ging es auch bei uns immer darum, sich etwas aufzubauen.«

MYP Magazine:
Konntest Du ab diesem Punkt das Erziehungsmodell Deiner Eltern – mit all den strengen Regeln – etwas besser verstehen?

Daniel Donskoy:
Hundertprozentig! Wie in vielen Familien mit Einwanderungsgeschichte ging es auch bei uns immer darum, sich etwas aufzubauen und das Beste aus seinem Leben zu machen. Im postsowjetischen Russland wäre das Anfang der Neunziger nicht möglich gewesen. In Deutschland haben meine Eltern eine gewisse Perspektive gesehen. Aber sie wussten auch: Es war mit viel Fleiß und Disziplin verbunden, wenn man in diesem Land etwas schaffen wollte. Diese Lebenseinstellung war Kern ihrer Erziehung. Und natürlich hinterlässt eine solche Erziehung auch Spuren.

»Nichts ist genug. Nichts ist jemals genug für mich.«

MYP Magazine:
Inwiefern?

Daniel Donskoy:
Ich bin meinen Eltern unendlich dankbar, dass ich nicht in Russland aufwachsen musste. Allerdings schwappte der Druck, der in ihnen war, auch auf mich über. Seit meiner Kindheit trage ich den nicht immer gesunden Drang in mir, das Beste aus allem herausholen zu wollen. Nichts ist genug. Nichts ist jemals genug für mich. Das bedeutet auch: Ich selbst bin mein größter Kritiker, verzeihe mir keine Fehler und bin mit meiner Leistung oft auch dann nicht zufrieden, wenn ich dafür Applaus erhalte.
Außerdem dreht sich in meinem Kopf immer dieses Gedanken-Karussell: Ich bin jetzt in meinen Dreißigern und frage mich, ob mein Leben – so, wie ich es führe – wirklich das ist, das ich will. Oder ob es nur das Produkt der wilden Jahre in Berlin ist, mit all den Entscheidungen, die ich damals mit Anfang 20 für mich und mein Leben getroffen habe. Ich weiß nicht, ob ich das, was ich damals erstrebenswert fand, heute immer noch will. Und ob ich dafür so viel unterwegs sein muss. Das Leben, das ich führe, hat seinen Preis, das merke ich heute viel stärker als früher. Und ich frage mich, wer diesen Preis bezahlen soll.

»Warum muss man mit einem funktionierenden Hirn Künstler werden?«

MYP Magazine:
Wie stehen Deine Eltern dazu, dass Du Künstler geworden bist?

Daniel Donskoy:
Nach meinem Umzug nach Berlin fing ich erst mal ein Biologie-Studium an, das hat meine Eltern besänftigt – zumindest bis zu dem Punkt, als ich es wieder abgebrochen habe. (lacht)
Sie fanden es schrecklich, dass ich mich an einer Schauspielschule bewerben wollte. Das konnten sie einfach nicht verstehen. »Warum muss man mit einem funktionierenden Hirn Künstler werden?«, hieß es in meiner Familie immer.

»Wer so etwas mitgemacht hat, geht im Leben auf Nummer sicher.«

MYP Magazine:
Dabei sitzen auch Eltern gerne im Kino oder vorm Fernseher – ohne professionelle Schauspieler*innen würde das Unterhaltungsprogramm da etwas anders aussehen.

Daniel Donskoy:
Ja, natürlich. Aber ich glaube, dass Eltern einfach immer Angst um die Zukunft ihrer Kinder haben. Wie viele gelernte Schauspieler*innen schaffen es, mit ihrem Beruf die Miete zu zahlen? Vielleicht fünf von hundert? Und wie viele von diesen fünf können davon auch richtig gut leben?
Meine Familie hat sich innerhalb weniger Jahre aus den unteren Reihen der sozioökonomischen Schichten nach oben gearbeitet. Wer so etwas mitgemacht hat, geht im Leben auf Nummer sicher. Und das heißt: kein Straßenfeger werden.

MYP Magazine:
Stand dieser Job mal zur Debatte?

Daniel Donskoy: (lächelt)
Nein, aber er fungierte bei uns zu Hause immer als Totschlagargument: »Wenn du das jetzt machst, wirst du ganz sicher als Straßenfeger enden.« Dieses Bild hatten meine Eltern immer im Kopf. Aber heute sehen sie, dass ich auch in meinem Beruf als Künstler hart arbeite. Und harte Arbeit ist ein Wert, hinter dem sie stehen. Davon abgesehen nehmen sie wahr, dass ich mich in meiner Kunst nicht verstelle. Wenn ich auf der Bühne stehe – sei es als Musiker, Schauspieler oder generell als kreativer Mensch –, erkennen sie das moralische Verständnis wieder, das wir teilen. Ich glaube, für Eltern ist das etwas sehr Schönes.

»Wenn ich in London mal einen Scheißtag habe, gehe ich einfach in ein russisches Restaurant und esse das, was es in meiner Kindheit bei Oma gab.«

MYP Magazine:
Du bist durch Deine Großmutter zur Musik gekommen, bereits in Deiner Kindheit brachte sie Dir das Klavierspielen bei. Welche Erinnerungen hast Du an diese Zeit? Was hat Dir deine Oma neben dem Klavier mit dem auf den Lebensweg gegeben?

Daniel Donskoy:
Ich habe zu meinen Großeltern ein sehr enges Verhältnis, da ich mehr oder weniger bei ihnen aufgewachsen bin. Nachdem meine Familie nach Berlin umgezogen war, standen meine Eltern vor dem Problem, dass ihre sowjetischen Abschlüsse hier in Deutschland nicht anerkannt wurden. Das heißt, sie mussten ein zweites Mal studieren. Aus diesem Grund habe ich fast meine gesamte Kindheit bei meinen Großeltern verbracht. Während mein Opa mich zum Judo- und Schachunterricht gefahren hat, hat meine Oma hat mir das Klavierspielen beigebracht und mich mit sehr, sehr viel russischem Essen verwöhnt: Blini, Pelmeni und all die anderen fettigen Klassiker. Ich liebe diese Gerichte über alles. Wenn ich in London mal einen Scheißtag habe, gehe ich einfach in ein russisches Restaurant und esse das, was es in meiner Kindheit bei Oma gab.

»Wer sich den ganzen Tag Drei-Sekunden-Videos in den Kopf ballert, ist auch offener gegenüber verschiedenen Musikstilen und Genres.«

MYP Magazine:
Welche anderen Musiker*innen – neben Deiner Oma – haben Dich in Deiner Kindheit und Jugend am meisten geprägt?

Daniel Donskoy:
Queen, Jamiroquai und The Police! Das lief bei uns zu Hause hoch und runter. Etwas später habe ich dann auch Prince und Michael Jackson für mich entdeckt, weil ich den so fucking cool fand.

MYP Magazine:
Bei diesen drei Künstlern hat man sofort einen unverwechselbaren Sound im Ohr. Bei Deiner eigenen Musik scheint es, als wolltest Du dich gar nicht festlegen. Mal bist Du eher soulig unterwegs, mal bewegst Du dich in eine RnB-Richtung, mal machst Du ganz klassischen Pop. In der offiziellen Pressemappe bezeichnest Du deine Musik als »Urban Pop«. Ist es Dir schwergefallen, dem Ganzen überhaupt einen Genre-Sticker zu verpassen?

Daniel Donskoy:
Übelst! Aber das Gute ist: Dieses Genre-Ding verschwimmt in der öffentlichen Wahrnehmung mehr und mehr. Zwei Beispiele: Seit einiger Zeit ist 80s Pop wieder voll im Trend. Aber das ist ja auch nichts anderes als Popmusik, die mit einem gewissen Achtziger-Stil gefärbt wurde. Und dann erleben wir, wie heutzutage ganz selbstverständlich Emo Rock mit Rap kombiniert wird – zwei Genres, die eigentlich im krassen Gegensatz zueinander stehen. Dazu kommt, dass sich das Konsumverhalten in Bezug auf Musik total verändert hat. Wer sich den ganzen Tag Drei-Sekunden-Videos in den Kopf ballert, ist auch offener gegenüber verschiedenen Musikstilen und Genres und braucht dafür nicht unbedingt eine Schublade.

»Einerseits bin ich ein sehr energiegeladener Mensch, andererseits stecke ich voller Melancholie.«

MYP Magazine:
Auch bei »Bang« hast Du diverse Gegensätze miteinander in Einklang gebracht – musikalisch, textlich und visuell: Der Sound hat eine gewisse Grundmelancholie, die Du aber mit treibenden Beats und einer eingängigen Hook kombiniert hast. Auf der lyrischen Ebene startest Du erst superernst mit der Zeile »I hear you talking every day / That I have lost my right to stay«, dann aber lädst Du die Menschen ein, das Leben mit Dir zu genießen. Und was das Video angeht, reißen die Menschen erst ihre Arme hoch wie beim Feiern im Club, dann stehen sie an einer Mauer und schlagen rhythmisch auf sie ein. Dieses Bild hat fast etwas Religiöses – wie etwa beim Gebet an der Westmauer in Jerusalem. Wird Musik für Dich erst richtig spannend, wenn Du sie aus scheinbaren Gegensätzen aufbaust?

Daniel Donskoy:
Ich persönlich betrachte das weniger aus einer Design-Perspektive. Meine Musik spiegelt in erster Linie mein Inneres wider. Einerseits bin ich ein sehr energiegeladener Mensch, andererseits stecke ich voller Melancholie. Genau diese Ambivalenz manifestiert sich in »Bang«. Ich versuche mit aller Kraft, Freude in meinem Leben zu finden, auch wenn alles um mich herum zu zerfallen scheint und es nicht mehr diese Sicherheiten gibt, an die ich mich früher anlehnen konnte.

»Statt sich ihrer Ohnmacht zu ergeben, schnitt meine Mutter im Bunker ein Insta-Video.«

MYP Magazine:
Wie genau gelingt Dir das?

Daniel Donskoy:
Ich erinnere mich noch sehr gut an den Tag Mitte Oktober, als ich »Bang« veröffentlicht hatte. An diesem Tag hatte ich einen Videocall mit meiner Mutter, die gerade in einem Bunker in Tel Aviv saß. Sie wartete darauf, dass es gleich bang macht, da der Iran gerade seine Raketen auf Israel abfeuerte. Das ist so grotesk, das kann man sich gar nicht ausdenken.
Aber statt sich ihrer Ohnmacht zu ergeben, schnitt meine Mutter im Bunker ein Insta-Video – man muss wissen, dass meine Mutter einen nicht unerfolgreichen Koch-Account betreibt. (lächelt) Sie sagte mir: »Ich brauche das. Ich brauche diesen Glücksmoment meines Videos, um nicht in Melancholie zu verfallen.« Das hat mir in dem Moment Kraft gegeben. Und was für sie die Kochvideos sind, ist für mich die Musik. Leider befürchte ich, dass es in den nächsten Jahren noch viel schwieriger werden wird, solche kostbaren Glücksmomente für sich zu finden: Momente, in denen man glaubt, alles wäre in Ordnung, obwohl die Realität eine andere ist.

»Der 7. Oktober 2023 hat etwas gemacht mit mir – mit meinem Körper und mit meiner Psyche.«

MYP Magazine:
Wo findest Du in Deinem Alltag diese Glücksmomente?

Daniel Donskoy: (überlegt lange)
Das ist aktuell gar nicht so leicht, vor allem nicht nach den Ereignissen des 7. Oktobers 2023. Ich versuche, mich auf ganz banale Dinge des täglichen Lebens zu konzentrieren, zum Beispiel gutes Essen, Freunde, Sex. Genauso aber auch gute Bücher, Filme und Musik. Oder vielleicht mal irgendwo Urlaub machen, wo man am Strand liegen und in den blauen Himmel schauen kann, ohne dass einem irgendwelche Raketen über den Kopf fliegen. Es geht nicht immer um eine Grundglückseligkeit – man muss den Moment genießen, den man hat.

MYP Magazine:
Was genau hat jener 7. Oktober 2023 mit Dir gemacht?

Daniel Donskoy:
Vor allem die ersten Tage und Wochen waren für mich sehr, sehr schwierig. Ich war zu der Zeit in New Jersey, wo ich die Hauptrolle im Theaterstück »Der Pianist« gespielt habe. Während ich fast täglich auf der Bühne in der Rolle des Władysław Szpilman beschreiben musste, wie Juden vor meinen Augen hingerichtet werden, hatte ich gleichzeitig die jüngsten Bilder aus Israel vor Augen und musste an meine eigene Familie denken. Das hat etwas gemacht mit mir – mit meinem Körper und mit meiner Psyche.

»Manchmal beneide ich Menschen, die nur eine einzige Heimat im Herzen tragen.«

MYP Magazine:
Deine Eltern leben nach wie vor in Tel Aviv, Deine Großeltern sind immer noch in Berlin, Du wohnst seit 13 Jahren in London. Welche Bedeutung hat der Begriff Heimat für Dich?

Daniel Donskoy: (lächelt)
Heimat ist so ein urdeutsches Wort. Für mich persönlich ist der Begriff ein Synonym für auf der Suche sein, aber auch für Verwirrung und Zerrissenheit. So viele Orte auf der Welt sind in irgendeiner Form Heimat für mich, allerdings kein einziger zu hundert Prozent. Manchmal beneide ich Menschen, die nur eine einzige Heimat im Herzen tragen, und ich frage mich dann, wie es wohl gewesen wäre, wenn ich nur an einem Ort aufgewachsen wäre. Wäre das Leben dann einfacher gewesen? Für mich war es immer mit gewissen Schwierigkeiten verbunden, mit jedem Umzug in eine neue Stadt oder in ein neues Land auch immer neue Freundschaften zu finden, mich immer neu an die jeweiligen Gegebenheiten und Kulturen anzupassen und am Ende doch irgendwie fremd zu fühlen.

MYP Magazine:
Ging es Dir in London ähnlich?

Daniel Donskoy:
Der Umzug nach London war für mich besonders schwer. Alles war sauteuer, ich kam mit der Kultur nicht klar und verstand den Sarkasmus der Engländer einfach nicht. Auf der anderen Seite habe ich mich zum ersten Mal in meinem Leben nicht als Migrant gefühlt. In London definieren sich die Leute als Jamaican-British, Russian-British, Ukrainian-British und so weiter. Es geht also um das Und. In Deutschland hatte ich das nie. Da ging es eher um das Oder. Bin ich Deutscher oder Russe? Bin ich Deutscher oder Jude? Und in Berlin habe ich mich einfach nur als Berliner gefühlt, für den das kulturell verbindende Element in erster Linie Techno war – mit allem, was dazugehört.

»Nach ›Freitagnacht Jews‹ war ich der jüdische Schauspieler und Musiker Daniel Donskoy – und zwar nur noch der jüdische.«

MYP Magazine:
Darin kann man auch sein Glück finden.

Daniel Donskoy:
Klar, aber nicht dauerhaft. Daher hat mich London auch so angesprochen: Zum ersten Mal war es total normal, dass die Leute in meinem Umfeld nicht nur unterschiedliche kulturelle Hintergründe hatten. Wir konnten auch ganz selbstverständlich in die jeweiligen Kulturen unserer Freund*innen eintauchen – etwa, wenn wir bei ihren Familien zu Gast waren. Das habe ich sehr genossen, vor allem an der Schauspielschule. Aus diesem Grund verbinde ich mit der Stadt auch eine riesengroße Glückseligkeit. Gleichzeitig haben sich in London aber auch neue Fragen aufgeworfen…

MYP Magazine:
Zum Beispiel?

Daniel Donskoy:
Naja, eben solche Fragen, die man sich stellt, wenn man älter wird: Was ist, wenn ich mal Kinder habe? Wo sollen die aufwachsen und mit welcher Kultur? Sollen das britische Kinder werden oder deutsche oder israelische? Und müsste in deren Leben nicht auch irgendwie meine osteuropäischen Wurzeln eine Rolle spielen? Dabei habe ich da nie gelebt, sondern diese Kultur nur über meine Eltern und Großeltern erlebt.
Und dann stellt sich ja noch die große Frage, was ich meinen Kindern von meinem Jüdischsein mitgeben will. Welchen Einfluss das auf ihr späteres Leben haben kann, durfte ich vor einigen Jahren in Deutschland lernen, als ich mich im Fernsehen öffentlich mit meinen jüdischen Wurzeln beschäftigt habe. Vor »Freitagnacht Jews« war ich nur der Schauspieler und Musiker Daniel Donskoy. Nach »Freitagnacht Jews« war ich der jüdische Schauspieler und Musiker Daniel Donskoy – und zwar nur noch der jüdische.

»Am Ende trat genau das ein, was wir vorher in der Sendung thematisiert hatten.«

MYP Magazine:
Dass das eine Konsequenz sein würde, hast Du bereits in der Anmoderation zur allerersten Folge vorhergesagt. Du fragst: »Was passiert, wenn das einmal gesetzt ist? Diese Karte wird einem gefühlt immer wieder zugespielt. Einmal Jew, immer Jew

Daniel Donskoy:
Darauf hatte ich von Anfang an getippt. »Freitagnacht Jews« war ein interessantes Experiment, weil am Ende genau das eintrat, was wir vorher in der Sendung thematisiert hatten. Das Lustige an der ganzen Sache ist: Ich glaube nicht mal an einen Gott oder bin irgendwie religiös. Und trotzdem ist das Jüdische ein großer Teil meines kulturellen Verständnisses.

»Es ist keine schlechte Idee, Menschen, die sich als Teil einer minorisierten Gruppe fühlen, selbst entscheiden zu lassen, wie sie portraitiert werden.«

MYP Magazine:
In einer Folge der ZDF-Dokuserie »Germania« sagst Du: »In Deutschland werden gerne Portraits über Minderheiten gemacht, aber nicht mit Minderheiten.« War »Freitagnacht Jews« die Ausnahme von der Regel? Oder hast Du das Gefühl, dass sich im deutschen Fernsehen etwas zum Besseren verändert?

Daniel Donskoy:
Ja, auch wenn sich diese Veränderung nur sehr langsam vollzieht. Dennoch hat sich gerade in den letzten drei, vier Jahren etwas getan. Man scheint man gelernt zu haben: Es ist keine schlechte Idee, Menschen, die nach Deutschland kommen oder sich als Teil einer minorisierten Gruppe fühlen, selbst entscheiden zu lassen, wie sie portraitiert werden. Aus meiner Sicht liegt aber noch ein weiter Weg vor uns und wir müssen aufpassen, dass wir uns nicht in die falsche Richtung bewegen. Nur weil jemand zu einer Minorität gehört, hat er nicht mit allem recht. Mir ging es bei »Freitagnacht Jews« explizit darum, nicht die Unterschiede zwischen jüdischem und nichtjüdischem Leben herauszustellen. Ich wollte vielmehr zeigen, was uns alle verbindet, ganz egal, mit welchen kulturellen Einflüssen wir aufgewachsen sind.
Manchmal habe ich das Gefühl, dass es ein Trend der Zeit ist, Menschen unter dem Aspekt ihrer minorisierten Gruppe zu betrachten, der sie sich zugehörig fühlen. Natürlich finde ich es wichtig, dass man diese Gruppen sichtbar macht und sich einfühlsam mit ihren Anliegen beschäftigt. Aber aus meiner Erfahrung führt das zum Teil auch dazu, dass man Leute kategorisiert und sie damit auf einen einzigen Aspekt ihrer Identität reduziert: der Jude, die Lesbe, der Migrant. Schublade auf, reinquetschen, Schublade zu.

»Wir leisten Aufklärungsarbeit, für die es im Vorfeld viel Beifall, aber dann sendet man uns am Freitagabend um 23:15 Uhr im WDR?«

MYP Magazine:
2022 ging Euer Format in die zweite Staffel, danach war Schluss. Was war der Grund?

Daniel Donskoy:
Ich glaube, »Freitagnacht Jews« würde heute nicht mehr funktionieren. In dem aktuellen gesellschaftlichen Klima würde ich das auch nicht mehr moderieren wollen – weil ich nicht die Kraft hätte, mich mit dem ganzen Hass auseinanderzusetzen, der auf mich einprasseln würde.
Damals, beim Start der ersten Staffel, bin ich relativ blind und naiv an die Sache herangegangen und habe echt viel einstecken müssen. Das ging bis zu »man muss dich vergasen«. Wenn man den ganzen Tag solche Nachrichten liest, aber nicht wirklich die Unterstützung erhält von den Menschen, die diese Show bestellt haben, fühlt man sich ziemlich ratlos. Man fragt sich: Für wen machen wir das eigentlich gerade? Wir leisten Aufklärungsarbeit, für die es im Vorfeld viel Beifall gab, aber dann sendet man uns am Freitagabend um 23:15 Uhr im WDR, und dann auch noch alle vier Folgen am Stück? Da weiß man echt nicht mehr, wofür man sich den Arsch aufreißt.

»Plötzlich schauten sich Leute in Mexiko die Folge über argentinische Juden an, die wir aus Deutschland heraus gedreht hatten.«

MYP Magazine:
Was hättest Du dir vom Sender gewünscht?

Daniel Donskoy:
Mehr Engagement. Ein kleiner Trost war, dass wir danach noch ein paar andere Partner finden konnten, die unser Format verbreitet haben. Die Deutsche Welle zum Beispiel hat unsere Episoden synchronisiert und auf Arabisch, Hindu und Spanisch zur Verfügung gestellt. Das war geil! Plötzlich schauten sich Leute in Mexiko die Folge über argentinische Juden an, die wir aus Deutschland heraus mit der Produktionsfirma Turbokultur von David Hadda produziert hatten. Das hat uns gezeigt, welches Potenzial in unserer Sendung steckte. Damals hätte ich mir sehr gewünscht, weiterzumachen. Aber von Senderseite schien weder das Geld dafür da zu sein noch der tatsächliche Wille.

»Minderheit bedeutet im deutschen Fernsehen oft Problem. Das ist schade.«

MYP Magazine:
Vielleicht ist das Thema Diversity in den deutschen Sendeanstalten doch noch nicht so angekommen, wie man sich gerne auf die Fahnen schreibt.

Daniel Donskoy:
Im Vergleich zu Großbritannien gibt es da auf jeden Fall einen gewissen Aufholbedarf. Aber das Gesellschaftsbild ist dort auch ein anderes, was übrigens stark mit der Kolonialgeschichte des Landes verknüpft ist. Vor allem in Städten wie London sieht man eine Vielfalt auf der Straße, die der gemeine WDR-Redakteur aus Köln so nicht kennt. Der muss sich erst mal theoretisch aneignen, was Diversität überhaupt bedeutet und wie diese ins Fernsehprogramm zu übersetzen ist. Im Ergebnis wirkt das leider oft etwas krampfhaft und man denkt sich: Hey, ihr müsst dem Publikum jetzt nicht zum dritten Mal sagen, dass die Person Schwarz ist oder im Rollstuhl sitzt. Dennoch bin ich froh, dass überhaupt versucht wird, im TV mehr gesellschaftliche Vielfalt abzubilden. Das Problem dabei ist nur das Problematisieren der Minderheiten. Wenn in aktuellen Formaten zum Beispiel eine Figur homosexuell ist oder eine körperliche oder geistige Einschränkung hat, ist es in der Regel so, dass deren Homosexualität oder Behinderung das grundlegende Problem der Serie darstellt. Minderheit bedeutet im deutschen Fernsehen oft Problem. Das ist schade.

»Wir zerfallen in immer zahlreichere Bubbles.«

MYP Magazine:
In der »Germania«-Dokumentation sprichst Du darüber, dass es eine Art Fehler im System gebe: Aktuell müssten marginalisierte Gruppen die Mehrheitsgesellschaft darüber aufklären, dass sie marginalisiert seien. Dabei sei es aber Aufgabe der Mehrheitsgesellschaft, von sich aus zu merken, dass sie bestimmte Gruppen von Menschen marginalisiere. Wie kann dieser Paradigmenwechsel aus Deiner Sicht gelingen?

Daniel Donskoy:
Ganz ehrlich, ich weiß es nicht. Unsere Gesellschaft entwickelt sich nicht linear: Wir zerfallen in immer zahlreichere Bubbles, driften dabei immer weiter auseinander und regen uns am Ende darüber auf, dass die anderen falsch liegen. Wenn es uns gesellschaftlich nicht gelingt, wieder common ground zu finden, geht dieser Trend unaufhaltsam weiter. Und dann wird es schon ganz bald nicht mehr lustig. Für uns alle.