Interview — Bulgarian Cartrader
»Ich würde keinen Tag als Autohändler überleben«
Unter dem Namen Bulgarian Cartrader umarmt der Musiker Daniel Stoyanov verhärtete Männlichkeitsbilder, die er privat längst abgelegt hat. Im Zusammenspiel mit seiner fabelhaft-femininen Stimme entsteht ein künstlerisches Gesamtkonzept, das musikalisch nicht nur äußerst facettenreich ist, sondern vor allem auf der Live-Bühne mit erstaunlichen Entertainer-Qualitäten verblüfft. Ein Gespräch über automobile Liebe, würzige Folklore und dreieinhalb rasante Dekaden zwischen Bulgarien, Baden-Württemberg und Berlin.
31. Oktober 2022 — Interview: Katharina Viktoria Weiß, Fotografie: Frederike van der Straeten
In Autojahren wäre er schon ein Oldtimer: Daniel Stoyanov, der am 11. November unter dem Namen Bulgarian Cartrader sein Debütalbum „Motor Songs“ herausbringt, ist Baujahr 1986 – genau wie der Porsche 944 Safari, mit dem wir ihn im Treptower Park fotografieren. Doch obwohl er als Komponist, Produzent und professioneller Background-Sänger von Bands wie Seeed schon ein Veteran der Musikbranche ist, wirkt sein Cartrader-Sound erstaunlich frisch, ungehört und gegenwartsbezogen.
Der Mann hinter Bulgarien Cartrader ist ein großes Spielkind, das genauso gerne an Autos wie an Musik herumbastelt: Seine sinnliche Indiemusik lässt kontemporäre Hiphop-, Jazz-und Soul-Sounds mit subtilen Einflüssen aus der Balkan-Region ineinanderfließen. Doch während seine Musik federleicht klingt, steckt in Daniel Stoyanov ein tiefgründiger Beobachter, der sich musikalisch gefunden hat, aber kreativ um die Bedeutung der Welt um ihm herum ringt.
»Wenn ich performe, ist die Pistole auf meine Brust gerichtet.«
MYP Magazine:
Bei Deinem kürzlichen Auftritt im Berliner Fluxbau hast Du dein Publikum mit keckem Hüftschwung und frechen Ansagen elektrisiert. Warst Du immer schon so eine Rampensau?
Bulgarian Cartrader:
Ich bin mit Idolen aufgewachsen, die auf der Bühne sehr aktiv sind und ein gewisses Matador-Entertainment mitbringen. Wenn ich selbst performe, ist die Pistole so sehr auf meine Brust gerichtet, dass ich mich durch die Art, wie ich mich bewege, losreißen will – und dadurch unter Umständen sogar völlig angstfrei werde. Während ich also vor einem Aufritt manchmal furchtbar aufgeregt bin, kann sich das innerhalb des Konzerts komplett umdrehen. Dann darf ich einen Moment der Freiheit erleben, den auch alle anderen im Raum spüren.
MYP Magazine:
Deine Musik klingt spielerisch und doch ausgereift. Man merkt, dass Dein Leben von vielen nachdenklichen Phasen und reflexiven Umbrüchen durchzogen ist. Ich würde Deiner Biografie gerne in Jahrzehnten näherkommen. Wie war die erste Dekade Deines Lebens?
Bulgarian Cartrader:
Ich bin in einem Dorf in der Nähe von Sofia aufgewachsen und mit drei Jahren in Nordbulgarien in den Kindergarten gekommen, bei meiner Familie mütterlicherseits. Erstaunlicherweise erinnere ich mich noch sehr gut an das Land, seine Gerüche und Klänge, obwohl ich bereits mit vier Jahren nach Deutschland kam.
»Der Besitzer hatte immer irre Autos, dadurch wirkte er auf mich wie ein reicher Mann. Das habe ich als Kind sehr bewundert.«
MYP Magazine:
Die Lebensentscheidungen Deiner Familie wurden auch von der Wende maßgeblich beeinflusst. Als sich Europa nach dem Fall der Mauer neu sortierte, entschieden sich auch Deine beiden jungen Künstlereltern zur Migration. Wie erinnerst Du dich an den Weg in dieses neue Leben, der 1990 mit einer Flugreise begann?
Bulgarian Cartrader:
Ich weiß noch, dass ich mich im Flieger nach Deutschland zweimal erbrochen habe. Meine Eltern waren bereits ein Jahr davor umgezogen und ich war bei meinen wunderbaren Großeltern geblieben. Zunächst war ich völlig befremdet, denn ich erkannte meine eigenen Eltern nicht mehr, als sie mich nach zwölf getrennten Monaten am Flughafen abholten. Ich stieg mit ihnen ins Auto und irgendwo auf der Landstraße hat uns etwas unglaublich Schnelles, Rotes überholt. Ich weiß noch, wie ich dem Sportwagen lange nachgeschaut habe – denn ich hatte zuvor in meinem Leben noch nie so ein schnelles Auto gesehen. Dieser Augenblick hat mich sehr geprägt.
MYP Magazine:
Wie kam es dazu, dass sich das Autothema bei einem Künstlerkind wie Dir so durchgezogen hat?
Bulgarian Cartrader:
Meine Eltern haben ihre Versuche als Künstler wahrgenommen, aber in diesem Abschnitt der 1990er Jahre lagen andere Wege näher. Sie mussten zunächst auf ihre Arbeitserlaubnis warten und haben sich dann mit vielen verschiedenen Jobs durchgeschlagen. Beide haben eine Zeit lang in einer Tankstelle gearbeitet. Der Besitzer hatte immer irre Autos, dadurch wirkte er auf mich wie ein reicher Mann. Das habe ich als Kind sehr bewundert.
»Eigentlich wollten meine Eltern nach Paris, doch dann sind sie in Baden-Württemberg gelandet.«
MYP Magazine:
Du bist mittlerweile selbst Künstler und kennst das Hochgefühl, kreativ arbeiten zu können. Wie haben Deine Eltern das Zurücklassen dieser Berufung empfunden?
Bulgarian Cartrader:
Eigentlich wollten sie nach Paris, doch dann sind sie in Baden-Württemberg gelandet. Ich bin etwa eine Autostunde von Stuttgart großgeworden. Meine Mutter hat sehr früh erkannt, dass es hier keine Karriere für sie zu jagen gab. Und für sie war es irgendwie nicht schwer. Sie konnte das hinter sich lassen und nach vorne blicken. Aber wie diese Zeit Anfang der Neunziger für meine Eltern wirklich war, ist für mich immer noch ein Mysterium. Ich stelle mir es manchmal vor: zwei junge Erwachsene, noch nicht so lange zusammen. Wie haben sie sich geliebt, wie haben sie sich gestritten, welche Träume hatten sie? Je älter ich werde, desto mehr kann ich ihre Seelenlage erahnen – vielleicht verkläre ich sie aber nur.
MYP Magazine:
Wann ist Dir die Musik begegnet?
Bulgarian Cartrader:
Auch hier: Im Nachhinein wird vieles überhöht. Meine Eltern haben mein Rhythmusgefühl quasi schon im Kleinkindalter beschrieben. Aber Du suchst nach Schlüsselmomente, die bestimmt eine gewisse Sogwirkung entfaltet haben, oder?
MYP Magazine:
Ja, was waren zum Beispiel Deine ersten CDs?
Bulgarian Cartrader:
In der ersten Klasse fand ich eine Klassikbox und nach der Schule habe ich mir immer Vivaldi angehört, weil mir das am meisten gefallen hat. Dann hatten meine Eltern noch eine „Best of Queens“ und „Dire Straits“ rumliegen. Und später irgendwann im Bulgarienurlaub habe ich mir auf dem Schwarzmarkt eine Boyz II Men-CD geholt. Zum ersten Mal hörte ich R’n’B und Black Music. Die Stimmen und die Art des Gesangs dieser Künstler haben mich umgehauen. Kaum zurück in Deutschland habe ich angefangen, auf die Stunde beim Musiksender „Viva2“ hinzufiebern, in der die US-Charts vorgestellt wurden. Danach war ich immer energisch aufgeladen.
»Bulgarische Folklore ist für mich ein starkes Gewürz.«
MYP Magazine:
In Deinem Sound lassen sich auch immer wieder Elemente osteuropäischer Musik erkennen…
Bulgarian Cartrader:
Trotzdem habe ich von der bulgarischen Folklore immer Abstand gehalten. Das ist für mich ein starkes Gewürz – wenn man zu viel davon beigibt, ist die Mischung versaut. Es wird schnell zur Weltmusik und dann zum Klischee. Der Westen hat auch eine gewisse Fantasie über den Balkan, mit Blasmusik und Co., die die meisten Künstler Bulgariens vollkommen außer Acht lässt. Ich bin zu 80 Prozent von amerikanischer Musik geprägt. Wenn ganz tief in mir etwas anderes zum Vorschein kommt, dann sind es Frauenchöre wie „The Mystery Of The Bulgarian Voices“ oder „Trio Bulgarka“, mit denen bereits Kate Bush Songs aufgenommen hat.
»Ich bin in einer Kultur aufgewachsen, in der das Auto ein Teil der Familie ist.«
MYP Magazine:
Deine Künstlerpersona, der Bulgarian Cartrader, zeichnet sich durch eine ganz bestimmte Ästhetik aus, die Arbeiterklassensymbole mit Automobil-Protzerei fusioniert. Scherzhaft nennst Du diesen Look auch „Cartrader Couture“. Wo hat diese ihre Wurzeln?
Bulgarian Cartrader:
Obwohl wir nicht zum Mittelstand gehörten, hat mein Vater es immer irgendwie geschafft, sich alte Autos zu kaufen, sie er auch selbst repariert hat. Gefühlt habe ich meine halbe Kindheit auf vier Rädern verbracht. Allein wenn wir nach Bulgarien gefahren sind, waren wir zwei Tage unterwegs. Und dort war das Gerede über Autos omnipräsent. Generell bin ich in einer Kultur aufgewachsen, in der das Auto ein Teil der Familie ist. Gerade in Süddeutschland, zum Beispiel in meinem Heimatbundesland Baden-Württemberg, achten die Menschen sehr auf ihren Benz oder BMW.
MYP Magazine:
Die Faszination Deiner Kindheit ist mit Dir gewachsen. Was hat dem Image des Bulgarian Cartrader den letzten Schubs gegeben?
Bulgarian Cartrader:
Vermutlich kam das durch ein kleines Abenteuer mit meinem besten bulgarischen Kumpel Gogga. Er ist in der Nähe von Sofia großgeworden, im selben Machala wie ich, also im selben Viertel, nur eine Straße weiter. Wir sind sehr eng verbunden, sein Vater hat schon mit meinem Vater im Sandkasten gespielt. Er ist jemand, den ich mitten in der Nacht anrufen kann. In so einem nächtlichen Gespräch erwähnte Gogga, dass er sich beruflich umorientieren will – und es mal mit Autohandel versuchen möchte.
MYP Magazine:
In welchem Jahr war das?
Bulgarian Cartrader:
2015. Ich durchlebte gerade eine Phase, die nach vielen Jahren in der Musikbranche von Ermüdungserscheinungen gezeichnet war. Deshalb beschloss ich, ihm zu helfen. Gogga kam mit einer Gruppe von Autohändlern nach Deutschland. Der Plan war, die erste Fuhre von jeweils zwei Autos nach Bulgarien zu transportieren. Eine Woche lang zog ich mit dieser Gruppe von Autohändlern umher.
»Die bulgarischen Autohändler verkörpern kein Gaunertum, müssen aber Füchse sein.«
MYP Magazine:
Wie kann man sich diese bulgarischen Autohändler vorstellen, nach denen Du dich später benannt hast?
Bulgarian Cartrader:
Durchaus ein bisschen so, wie es dem Klischee entspricht: geprägt von einer gewissen Roughness und Schmutzigkeit. Sie verkörpern kein Gaunertum, müssen aber Füchse sein. Man muss den cleveren Handel verstehen und sich auch zwischen den Sätzen Signale senden können.
MYP Magazine:
Konntest Du dich damit identifizieren?
Bulgarian Cartrader:
Ich würde keinen Tag als Autohändler überleben, dafür bin ich viel zu sehr Künstlerseele. Aber ich habe großen Spaß daran gefunden, diesen bärtigen Autohändler in mir aufleben zu lassen. Bulgarian Cartrader ist wie ein Alter Ego. Ich wäre gerne einer von denen, ich bewundere sie sehr. Zudem verbindet mich dieses Alias mit meinem Herkunftsland. Ich verspüre den Drang zu einer kulturellen Mission.
»Es gefällt mir, Wut und Deformation auf eine gesunde Art auszuleben.«
MYP Magazine:
Was bedeutet diese „kulturelle Mission“ konkret für Dich?
Bulgarian Cartrader:
Ich wusste, es würde mir guttun, mich kulturell zu verankern – und nicht nur auf der Bühne zu stehen, um Zahlen zu generieren. Zudem konnte ich mit diesem Image eine gewisse Dickköpfigkeit aufbauen und mich abgrenzen. Jeder Bühnenkünstler kennt die harte Wand der Ignoranz, die einem in dieser herausfordernden Branche gegenübersteht und die man umstoßen muss. Es fasziniert mich, dieses Ziel zu erreichen, indem ich am Rande des Unmöglichen arbeite: Denn ein bulgarischer Autohändler, der die Musik liebt, ist im echten Leben sehr unwahrscheinlich – so ist es in der Kunst auf einmal naheliegend.
MYP Magazine:
Ist die Ästhetik Deines Bulgarian Cartrader also bewusst rau und etwas schnoddrig gehalten?
Bulgarian Cartrader:
Mir ist die Kantigkeit und Hässlichkeit bewusst. Es gefällt mir, eine gewisse Irritation aufzubauen und dadurch Wut und Deformation auf eine gesunde Art auszuleben. Ich fühle, dass ich immer etwas am Rande der Gesellschaft aufgewachsen bin. Seitdem ich erwachsen bin, treibt mich die Frage um, warum ein Teil davon in mir geblieben ist. Mit Bulgarien Cartrader versuche ich, diesen Aspekt in mir zu umarmen.
»Ich habe mich von dieser verhärteten Männlichkeit gelöst – daher bin ich privat auch glücklich.«
MYP Magazine:
Näherst Du dich auch einem Männlichkeitsbild an, dass Dich umtreibt?
Bulgarian Cartrader:
Ich habe mich persönlich von dieser verhärteten Männlichkeit gelöst – daher bin ich privat auch glücklich. Dennoch hallen gewisse Werte des Machismus, mit denen ich aufgewachsen bin, immer noch in mir nach. In der Kunst kann ich solche Motive aufgreifen und behandeln, ohne sie mit nach Hause in meine Beziehungen nehmen zu müssen. Immer wenn es mir gelingt, in meiner Arbeit offene Deformation zu zeigen, spüre ich, wie es mich entspannt, befriedigt und ein progressiver Fluss entsteht.
»In mir war so eine intensive Bravheit.«
MYP Magazine:
Eine Zeit, die das Verständnis von Männlichkeit besonders prägt, sind die Teenagerjahre. Wie erinnerst Du dich an die zweite Dekade Deines Lebens?
Bulgarian Cartrader:
Ein eigenartiger Abschnitt. Ich glaube, wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich einiges anders machen. Ich habe mich irgendwie zurückgehalten und zu wenig ausprobiert. In gewisser Art war so eine intensive Bravheit ihn mir, gepaart mit einer unterschwelligen Spannung, sie sich entladen musste. Normalerweise explodiert man als Teenager. Bei mir kamen erst viel später eine Reihe von kleinen Explosionen. Vermutlich war ich eher ein Herbstblüher. Als Jugendlicher hatte ich hingegen eine stark melancholische und grüblerische Ader.
MYP Magazine:
Also sind Anekdoten von Abibällen et cetera eher nicht zu erwarten?
Bulgarian Cartrader:
Nein, aber ich war auch nicht in einem Jahrgang, den man als legendär bezeichnen würde. Dabei halte ich mich da absolut nicht für etwas Besseres – ich glaube, das war ein generelles Gefühl in dieser Gruppe. Es war einfach keine Knüller-Klasse und wir hatten einen katastrophalen Abiball, der eigentlich gar keiner war.
»Mein Ziel war, meiner Mutter einen Bentley vor die Haustür zu stellen – was völlig bescheuert ist.«
MYP Magazine:
Richtig ging es also erst in Dekade Nummer drei los. Kam dann auch das erste eigene Auto?
Bulgarian Cartrader:
Mein erstes Auto war ein roter Mazda 121 mit Faltdach. Letzteres habe ich nicht ein einziges Mal geöffnet, weil ich Cabrios nicht mag. Als ich eines Morgens zu meiner Karre gelatscht bin, habe ich über der Fahrerseite einen 30 cm langen Schlitz im Faltdach entdeckt. Jemand hatte mir aus purer Lust am Zerstören mit einem Messer eine klare Nachricht hinterlassen. Ich konnte dann drei Monate lang andren Leuten durch das verschlossenen Faltdach mit der Hand zuwinken. Ein Anblick, der für die Passanten bestimmt sehr irritierend war.
MYP Magazine:
Und wann bist du von zu Hause fortgegangen, um Musiker zu werden?
Bulgarian Cartrader:
Ich bin mit 19 ausgezogen. Es ging nach Mannheim, Leipzig, Stuttgart, Berlin. Die Richtung Musik war gesetzt, auch weil meine Mutter sich immer sehr gewünscht hatte, dass ich diesen Weg verfolge. Ich habe viel in Tonstudios aufgenommen und Instrumentals geschrieben. Mit Anfang 20 war also das Ziel, bald Popstar zu werden und meiner Mutter einen Bentley vor die Haustür stellen zu können – was völlig bescheuert ist.
»Ich habe Körperkraft gegen Essen und Schlafplatz angeboten.«
MYP Magazine:
Dennoch hast Du eine solide Karriere in der Musikbranche hingelegt: Du hast viel für andere Künstler komponiert, unter verschiedenen Namen deutschsprachige Pop-Alben aufgenommen, bist mit einer eigenen Band namens Malky auf Tour gegangen und trittst seit Jahren als Background-Sänger mit der Band Seeed vor einem riesigen Publikum auf. Was hat Dich über die Jahre bei der Stange gehalten?
Bulgarian Cartrader:
Mir bedeutet Musik wirklich etwas. Neben dem Performen auf der Bühne gibt es in meinem Leben auch ein ganzes Universum rund um die Musikproduktion herum. Ich habe gemerkt, dass ich auch darin aufgehen kann, und das mich das alles total erfüllt. Trotzdem bin ich ein sehr neugieriger Mensch. Und manchmal denke ich mir, dass ich gerne noch etwas Interessantes studiert oder diverse andere Jobs ausprobiert hätte. Dieser Entdeckerlust bin ich daher auf verschiedene Arten in meiner Freizeit nachgegangen: Über einen Zeitraum von zwei Jahren bin ich zum Beispiel beinahe jedes Wochenende auf einen Bauernhof in Sachsen-Anhalt gefahren. Ich bin bei dieser Farm-Familie aufgeschlagen und habe Körperkraft gegen Essen und Schlafplatz angeboten.
»Es hat mich jedes Mal gereizt, jemanden wirklich kennenzulernen.«
MYP Magazine:
Auf Deinem aktuellen Album „Embrace“ gibt es eine Ballade, die verschiedene Stationen deines Lebens nachzeichnet. Darin erwähnst Du zum Beispiel Deine erste lange Beziehung. Ist darauf noch eine weitere gefolgt? Oder warst Du eher ein wilder Rock’n‘Roller?
Bulgarian Cartrader:
Ich war über weite Teile meines Lebens in Beziehungen. Es gab wenige Phasen, in denen ich Single war oder viele One-Night-Stands hatte. Wenn es bei den ersten paar Dates gestimmt hat und man eine gemeinsame Ebene finden konnte, war es für mich immer spannend, den nächsten Schritt miteinander zu gehen. Es hat mich jedes Mal gereizt, jemanden wirklich kennenzulernen.
MYP Magazine:
Zu Beginn Deiner vierten Lebensdekade hast Du eine Frau kennengelernt, mit der Du noch einen Schritt weitergegangen bist…
Bulgarian Cartrader:
Meine Freundin und ich sind seit vier Jahren zusammen, unser Sohn kam vor wenigen Wochen zur Welt. Ich bin sehr dankbar darüber, dass ich diese ganze Zeit sehr bewusst und intensiv erleben darf. Das war und ist ein besonderes Zeitfenster in meinem Leben.
MYP Magazine:
Eine freche Frage an Dich, die sonst immer Frauen gestellt wird: Wie bringst du Kind und Karriere unter einen Hut?
Bulgarian Cartrader:
Ich glaube, dass in vielen früheren Beziehungen mein Beruf oft zu schwierigen Situationen geführt hat. Heute bin ich allerdings in einer Beziehung, in der es zwar auch nicht einfach ist, aber trotzdem viel besser funktioniert – weil wir uns sehr respektieren und bewusst über unsere Bedürfnisse sprechen. Natürlich kann keiner sagen, mit welchen Konflikten wir konfrontiert würden, wenn ich zum Beispiel mal im Ausland touren würde. Aber ich glaube daran, dass wir es schaffen, weil unsere Familienstruktur auf sehr gesunden Beinen steht.
»Ich lebe ständig in der Zukunft, obwohl ich von der Vergangenheit tilge.«
MYP Magazine:
In Deinem musikalischen Werk sticht vor allem Dein Sprachtalent hervor. Dafür, dass Deutsch theoretisch nicht Deine Muttersprache ist, benutzt Du einen extrem virtuosen Wortschatz, bei dem viele deutsche Popmusiker vor Neid erblassen sollten. Und auch Dein Englisch ist angereichert mit eleganten Sprachbildern. Wie entstehen Deine Texte?
Bulgarian Cartrader:
Manchmal lege ich mir Wortlisten zurecht, mit Begriffen, die einen besonderen Klang oder eine aufregende Bedeutung für mich haben. Und manchmal stehe ich morgens einfach auf und stelle mich, noch so halb im Dämmerzustand, vor das Mic und lege einfach los.
MYP Magazine:
So fängt es an, aber wie stellst Du einen Song fertig?
Bulgarian Cartrader:
Es fühlt sich so an, als würde ich tagelang auf einem unbequemen Stuhl sitzen. Und dann weiß ich: Wenn ich jetzt noch eine Woche damit trödle, verliere ich den Schwung und dann zerbröckelt der Moment. Warum das so ist, bleibt ein Mysterium, nämlich das der eigenen Seele. In sehr kreativen Phasen bin ich ständig unruhig und möchte die nächsten Songs und das nächste Album komponieren. Das Paradoxe dabei: Ich lebe in solchen Momenten ständig in der Zukunft, obwohl ich von der Vergangenheit tilge und schreibe.
»Dieser Glücksbringer hält mich in jedem harten Berliner Winter warm.«
MYP Magazine:
Du hast einen Glücksbringer, der über Dein Alter Ego als Bulgarian Cartrader wacht: ein magisches Schafsfell. Was hat es damit auf sich?
Bulgarian Cartrader:
Der Bruder meiner Großmutter, mein Großonkel Ivan, war der letzte in der Familie, der eine Schafherde besessen hat. Er lebt immer noch mit seinen Hühnern und einer Kuh in der sogenannten Schoppenregion bei Sofia, in der die Menschen für ihren speziellen Humor bekannt sind. Vor Jahrzehnten hat er Felle seiner Schafen zu einem Mantelmacher ins Städtchen gebracht. Das Stück, das daraus entstanden ist, hat er an mich weitergegeben. Und dieser Glücksbringer hält mich in jedem harten Berliner Winter warm. Dieser Mantel umgedreht, also mit dem groben Schafsfell nach außen, plus zwei bis drei Ikea-Schafsfelle um meinen Kopf geschlungen, ergeben das Cover meiner ersten Single.
MYP Magazine:
Die letzte Frage gebührt einem Automobil: Auf dem Weg vom Shooting zum Café hast Du mich mit Deinem aktuellen Wagen mitgenommen, ein alter Benz. Wie ist der in Deine Familie gekommen?
Bulgarian Cartrader:
Genau gesagt handelt sich um einen W124, Modell 260E, Baujahr 1991. Ich habe den Motor komplett von einem Leipziger Mechaniker namens Karsten restaurieren lassen. Er ist ein Meister der alten Garde, der mein Auto vor dem Schrottplatz bewahrt hat und mir mit seinem sächselnden Akzent regelmäßig Tipps übers Telefon schickt, wenn der Benz mal wieder Zicken macht. Übrigens eine Bitte als Mercedes-Fahrer: Mensch Leute, wenn ihr die Sterne abreißen wollt, dann macht das bitte bei den Neuen für 80.000 Euro aufwärts – aber doch nicht bei einem schrulligen alten Opa-Benzo!
Unser ganz besonderer Dank
geht an Bartosz Navarra. Der Auto-Liebhaber stellte uns seinen Porsche 944 Safari zur Verfügung. Im Mai 2022 hat er mit dem Offroad-Wagen eine 6.000-Kilometer-Rally von Südfrankreich über Andorra und Nordspanien bis nach Portugal absolviert. Sein Streben nach Mobilitätsnostalgie kann man auf der Seite WAGEN WAGEN verfolgen, sein Gespür für zeitlose Ästhetik lebt er in seiner Agentur für visuelle Kommunikation aus.
Mehr von und über Bulgarian Cartrader:
instagram.com/bulgarian_cartrader
symphony.to/bulgarian-cartrader/lab-clean
Interview & Text: Katharina Viktoria Weiß
Fotografie: Frederike van der Straeten