Interview — Berliner Stadtmission

Für die ohne Zuhause

Nun, da das öffentliche Leben stillsteht, hat sich für obdachlose Menschen in kürzester Zeit ein Vakuum gebildet, das für sie nicht weniger als existenzbedrohend ist. Wir haben mit Barbara Breuer, Pressesprecherin der Berliner Stadtmission, über die aktuelle Lage von Obdachlosen in der deutschen Hauptstadt gesprochen.

16. April 2020 — MYP N° 29 »Vakuum« — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotos: Barbara Breuer

Wie zuhause bleiben, wenn man kein Zuhause hat? Wo Schutz suchen, wenn die Schutzräume geschlossen sind? Wie an etwas Kleingeld kommen, wenn niemand unterwegs ist, der einem etwas geben könnte? Wie in ärztliche Behandlung geben, wenn man keine Krankenversicherung hat? Und überhaupt: Wie überleben, wenn einen die Gesellschaft aus dem Blick verliert?

Die weltweite Corona-Krise trifft obdachlose Menschen besonders hart. Egal, ob London oder Berlin, Moskau oder New York, Madrid oder Los Angeles: Dort, wo das öffentliche Leben zum Erliegen gekommen ist, hat sich für Obdachlose innerhalb weniger Tage ein Vakuum gebildet, das für sie nicht weniger als existenzbedrohend ist und aus dem es kaum einen Ausweg gibt.

Die traurige Wahrheit ist: Das war schon immer so. In Krisenzeiten trifft es die Schwächsten unserer Gesellschaft seit jeher mit voller Breitseite.

Eine Institution, die sich seit über 140 Jahren gegen diesen Mechanismus stemmt, ist die Berliner Stadtmission. Der eigenständige Verein unter dem Dach der Evangelischen Kirche, der am 9. März 1877 gegründet wurde, hat es sich zur Aufgabe gemacht, all jenen unter die Arme zu greifen, die in der Berliner Gesellschaft eher am Rande stehen statt in der Mitte. Und die in vielerlei Hinsicht bedürftig sind.

Im Leitbild, das sich die Stadtmission gegeben hat, heißt es unter anderem: „Wir sind überzeugt, dass jeder Mensch von Gott eine unverlierbare Würde hat. Wir achten alle Menschen und begegnen ihnen in Liebe. Wir nehmen gesellschaftliche Herausforderungen an und setzen uns mit ihnen kritisch und gestaltend auseinander. Wir laden Menschen ein und begleiten sie in konkreten Lebenssituationen. Wir setzen uns dafür ein, dass es Menschen an Leib und Seele gut geht.“

Dieser Wertekanon hat auch Barbara Breuer überzeugt. Die 46-Jährige war 15 Jahre lang als freie Zeitungs- und Fernseh-Journalistin tätig, bevor sie 2014 die Leitung der Abteilung Presse- und Öffentlichkeitsarbeit im Bezirksamt Lichtenberg übernahm. Mitte Oktober 2019 wechselte sie als Pressesprecherin zur Berliner Stadtmission – eine Herzensangelegenheit, wie sie sagt. Der Verein hatte sich wenige Monate vorher ein neues Motto gegeben: „Weil der Mensch mehr ist.“ Das, erklärt sie, habe sie sehr inspiriert.

In einem Telefoninterview schildert sie uns, die wir gerade auf der heimischen Couch sitzen, die aktuelle Situation der Berliner Obdachlosen in der Corona-Krise. Und verdeutlicht uns, ganz nebenbei, wie privilegiert wir doch sind – wir, die es sich zurzeit zuhause so richtig bequem machen. Weil wir es können, im Gegensatz zu anderen.

»Bei der wichtigsten Losung, die Tag für Tag verkündet wird, sind Obdachlose von Anfang an raus.«

Jonas:
Seit einigen Wochen ist das öffentliche Leben in Deutschland mehr oder weniger lahmgelegt. Was bedeutet die aktuelle Situation für obdachlose Menschen?

Barbara:
Wir befinden uns in einer Zeit, in der jedem gesagt wird: „Stay at home!“ Aber was macht man, wenn man dieses home nicht hat? Bei der wichtigsten Losung, die Tag für Tag verkündet wird, sind Obdachlose von Anfang an raus. Zuhause bleiben können diese Menschen nicht, kein einziger von ihnen. Darüber hinaus sind das alles Leute, denen es im Normalfall nicht besonders gut geht. Sie haben weder ein soziales Netzwerk noch viel Geld im Hintergrund. Die meisten haben keine starke Gesundheit und verfügen auch nicht über eine Krankenversicherung. Diese Menschen sind sehr verwundbar.

»Bei Obdachlosen handelt es sich in der Regel um Menschen mit multiplen Problemlagen.«

Jonas:
In welchen persönlichen Situationen befinden sie die Menschen, die bei Euch Hilfe suchen?

Barbara:
Fast all diese Menschen stehen im Abseits, haben keine sozialen Kontakte mehr. Mehr als die Hälfte der Obdachlosen sind Menschen mit einer psychischen Erkrankung. Sehr, sehr viele von ihnen haben zusätzlich noch einen Suchthintergrund – das heißt Alkohol, Drogen oder was auch immer. Daneben besteht bei einem großen Prozentsatz der Leute irgendein Migrationsstatus, sprich ihr Aufenthaltsrecht ist ungeklärt oder sie sind Schwarzarbeiter, die zu wenig verdienen, um sich eine Wohnung leisten zu können. Soll heißen: Bei Obdachlosen handelt es sich in der Regel um Menschen mit multiplen Problemlagen. Und wenn diese Menschen, die ohnehin schon belastet sind, in so eine Krisenzeit wie jetzt hineingeraten, ist das für sie noch viel, viel schwieriger als für Otto Normalbürger.

»Wenn die Leute nachts nicht um die Häuser ziehen, stellen sie auch keine Flaschen ab.«

Jonas:
Kannst Du das konkretisieren? Mit welchen zusätzlichen Herausforderungen haben obdachlose Menschen in Berlin gerade zu kämpfen?

Barbara:
Man muss sich Folgendes vorstellen: Normalerweise verdienen sich Obdachlose ihr Geld mit Schnorren oder Flaschensammeln. Schnorren ist aber gerade nicht. Momentan sind kaum Passanten unterwegs, die etwas in den Sammelbecher werfen könnten. Und auch die Straßenbahnen, S- und U-Bahnen sind leer. Das bedeutet, dass man Straßenzeitungen wie die Motz oder den Straßenfeger zurzeit auch nicht verkaufen kann. Und was das Flaschensammeln angeht, ist da gerade ebenfalls nichts zu holen. In Berlin wurden sämtliche Kulturangebote eingestellt – und wenn die Leute nachts nicht um die Häuser ziehen, stellen sie auch keine Flaschen ab.
Insgesamt sind Menschen, die auf der Straße leben, gerade in einer sehr schwierigen Lage. Und dazu kommt eine große Verunsicherung. Ich habe vor kurzem gehört, wie einige Obdachlose bei uns an der Bahnhofsmission am Zoo darüber gesprochen haben, wie das eigentlich ist, wenn sie sich infizieren. Werden sie überhaupt behandelt, wenn sie keine Krankenversicherung haben? Haben sie überhaupt das Recht auf einen Corona-Test? Sie waren sich relativ schnell einig, dass ihnen wahrscheinlich jede Hilfe verwehrt würde. Ist es nicht traurig, wenn Menschen in unserer Gesellschaft das Gefühl haben, an einem Punkt angekommen zu sein, an dem sich keiner mehr für sie interessiert?

»Gibt man eher dem Menschen den Vorzug, der gepflegt ist und nach Parfum riecht, oder dem, der schmuddelig ist und sich eingenässt hat?«

Jonas:
Gab es bei Euch bereits erste Infektionsfälle?

Barbara:
Bisher waren wir in der glücklichen Lage, dass in keiner unserer Einrichtungen Gäste erkrankt oder positiv getestet wurden. Aber wenn man realistisch ist, sind wir einen Steinwurf davon entfernt. Und darüber mache ich mir wirklich Sorgen. Irgendwann geht’s rund – und dann werden die Leute in Mengen krank. Ich persönlich glaube, dass das spätestens dann der Fall sein wird, wenn die Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen wieder gelockert werden. Und dann wird man sehen, wie bewertet wird, wenn jemand ins Krankenhaus kommt. Wird zuerst die Person behandelt, die eine Krankenversicherung hat, oder die ohne Versicherung? Gibt man eher dem Menschen den Vorzug, der gepflegt ist und nach Parfum riecht, oder dem, der schmuddelig ist und sich eingenässt hat? Für wen werden sich die Ärzte entscheiden? Ich möchte da überhaupt nichts Böses unterstellen. Ich hoffe einfach nur, dass immer zugunsten des Menschen gehandelt wird und nicht plötzlich Bewertungskriterien eine Rolle spielen, die in unserer Gesellschaft keine Rolle spielen sollten.
Neulich sagte mir ein Obdachloser: „Das Schlimmste, was es gibt, ist Fieber auf der Straße.“ Das tägliche Leben sei zwar hart, aber das könne man irgendwie bewältigen. Aber wenn Fieber dazukomme und man wirklich krank sei, dass sei die Hölle. Und das kann ich wirklich nachvollziehen. Jeder weiß, wie es ist, krank zu sein. Da möchte man nichts lieber, als sich den ganzen Tag zuhause in sein warmes Bett zu kuscheln. Wenn man sich vorstellt, dass es Menschen gibt, die nicht einmal so etwas besitzen, weiß man, wie hart diese Krise Obdachlose treffen kann.

»Viele Menschen, die zu uns kommen, haben den ganzen Tag noch nichts gegessen.«

Jonas:
Wie fangt Ihr die Leute auf, insbesondere in der aktuellen Situation?

Barbara:
Wir von der Berliner Stadtmission versuchen immer, den Tagesablauf eines obdachlosen Menschen so gut wie möglich aufrechtzuerhalten. In der Kältehilfe zum Beispiel haben wir im Normalfall 327 Plätze. Das heißt, am Abend kommen die Leute in unsere Einrichtung, übernachten da, können sich die Hände desinfizieren und duschen. Am nächsten Morgen verlassen sie unsere Einrichtungen wieder, und zwar mit einem Frühstück im Magen. Tagsüber, wenn sie auf der Straße sind, können sie sich beispielsweise in unserer Kleiderkammer in der Lehrter Straße in der Nähe vom Hauptbahnhof Klamotten holen. Oder sie schauen gleich nebenan in unserer Ambulanz vorbei, wenn sie verwundet sind oder andere medizinische Probleme haben. Mittags können sie in die Bahnhofsmission am Zoo, um sich etwas zu Essen zu besorgen. Dort betreuen wir die Leute normalerweise zwischen 14 und 18 Uhr in einem Gastraum, der etwa 50 bis 60 Personen fasst…

Jonas:
Normalerweise…

Barbara:
Genau, das geht jetzt natürlich nicht mehr. Daher haben wir vor wenigen Wochen auf eine Not-Essensausgabe durchs Fenster umgestellt. Diese Aktion nennt sich #NothilfeBerlin. Die Nothilfepäckchen, die wir dort – und an mehr als zehn weiteren Stellen in der Stadt – an Bedürftige ausgeben und verteilen, beinhalten zwei Sandwiches – also ein belegtes Toastbrot, ein belegtes Brötchen oder eine große doppelte Stulle –, ein Stück Obst, einen halben Liter Wasser sowie ein Goodie, also beispielsweise einen Müsliriegel oder ähnliches. Und wenn jemand großen Hunger hat, kann er sich natürlich auch zweimal anstellen.
Oft spielen sich an der Essensausgabe wirklich eindrückliche Szenen ab. Ich habe beispielsweise vor kurzem einen Mann gesehen, der sich direkt weggedreht hat, nachdem er ein Lunchpaket erhalten hatte: Er war so hungrig, dass er sofort in sein Brötchen beißen musste. Viele Menschen, die zu uns kommen, haben den ganzen Tag noch nichts gegessen. Es ist wirklich beschämend, wenn in einem so reichen Land wie Deutschland Menschen so leben müssen.

»Die Speisekammern sind leer – alles an frischer Ware ist aufgebraucht und nachbestellt wird erstmal nicht.«

Jonas:
Wie viele dieser Nothilfepäckchen verteilt Ihr zurzeit?

Barbara:
Aktuell packen wir täglich rund 1.100 Päckchen, zweitausend sind unser Ziel. Wir haben gerade angefangen, auch anderen Einrichtungen diese Nothilfepakete anzubieten, nachdem wir sicherstellen konnten, dass unsere eigenen Stellen – sprich Notunterkünfte, Kleiderkammer, Bahnhofsmission am Zoo – genügend Lunchpakete zum Verteilen haben. Wir sind gerne bereit zu teilen und unsere Kapazitäten hochzufahren, falls andere Ausgabestellen etwas brauchen.

Jonas:
Wer unterstützt Euch bei Eurer Nothilfe-Aktion?

Barbara:
Unter anderem die Berliner Tafel. Außerdem gibt es einige Hotels und Restaurants, die uns immer wieder Ware schicken. Das ist allerdings ein sehr wackliger Prozess, da das Gastgewerbe seit einigen Wochen weitestgehend geschlossen ist. Die Speisekammern sind leer – alles an frischer Ware ist aufgebraucht und nachbestellt wird erstmal nicht, weil keiner weiß, was kommt. Aber wir stellen jeden Tag aufs Neue fest: Wenn die eine Quelle versiegt, tut sich irgendwo eine andere auf und es ruft plötzlich jemand an, der eine Ladung Müsliriegel spendet. Dementsprechend gibt es eine Vielzahl von unterschiedlichen Playern, die uns helfen, das Rad am Laufen zu halten.
Jetzt denken die Leute natürlich: Ist doch alles super! Ihr habt so viele Unterstützer, wozu braucht Ihr überhaupt noch Spenden? Unser größtes Problem ist, dass die Art der Unterstützung unplanbar ist. Einmal erhält man eine Ladung Müsliriegel, ein anderes Mal 10.000 Brötchen, wieder ein anderes Mal ein paar Kisten Salat. Dann hat man aber immer noch keine Butter, keinen Käse und noch keine Wurst, die es braucht, um die ganzen Brötchen und Stullen zu belegen. Momentan müssen wir immer noch viel dazukaufen.

»Es braucht gerade einmal 35 Euro, um einen bedürftigen Menschen eine Woche lang mit Nothilfepäckchen zu versorgen.«

Jonas:
Das heißt, die beste Form, um der Berliner Stadtmission in dieser Situation unter die Arme zu greifen, ist eine Geldspende?

Barbara:
Im Normalfall ist jede Form von Unterstützung toll, egal ob Geldspende, Sachspende oder ehrenamtliches Engagement. In der aktuellen Krise ist aber tatsächlich Geld das, was wir am dringendsten brauchen, auch weil wir damit den Prozess am besten steuern können. Es würde momentan auch gar keinen Sinn machen, im großen Stil die Leute dazu aufzurufen, ihr Zuhause zu verlassen, um in unsere Einrichtungen zu kommen und uns dort ehrenamtlich unter die Arme zu greifen. Das gesundheitliche Risiko ist zu groß. Außerdem arbeiten wir gerade in stark reduzierter Belegschaft, wodurch ein gewisser Druck auf uns lastet und alles wie am Schnürchen laufen muss. In einer solchen Situation haben wir einfach weder die Zeit noch die Kapazität, um neue Helferinnen und Helfer einzuarbeiten. Es braucht da erfahrene, langjährige Mitarbeiter, die die Abläufe kennen. Von daher freuen wir uns im Moment am meisten über Geldspenden, das ist das, mit dem wir am einfachsten arbeiten können. Übrigens: Es braucht gerade einmal 35 Euro, um einen bedürftigen Menschen eine Woche lang mit Nothilfepäckchen zu versorgen.


Spendenkonto der Berliner Stadtmission:
IBAN: DE63 1002 0500 0003 1555 00
BIC: BFSWDE33BER
Bank für Sozialwirtschaft


»Auch Menschen, die obdachlos sind, leben nach ihren ganz individuellen Tagesabläufen.«

Jonas:
Du hast eben erklärt, dass es Euch darum geht, den Tagesablauf von Obdachlosen so gut wie möglich aufrechtzuerhalten. Ich kann mir vorstellen, dass in diesem Zusammenhang das Wort Tagesablauf bei vielen Nicht-Obdachlosen ein gewisses Staunen hervorruft.

Barbara:
Stimmt. Das ist etwas, was sich Menschen mit einem geregelten Leben, einer Wohnung, einem Arbeitsplatz und einer Familie oft nicht vorstellen können. Viele denken, dass Obdachlose den ganzen Tag hinter ihrem Becher sitzen und darauf warten, dass dieser sich mit Kleingeld füllt. Aber so ist es ganz und gar nicht. Auch Menschen, die obdachlos sind, lungern nicht nur den ganzen Tag herum. Sie haben ihre festen Plätze, wo sie übernachten, und sie leben nach ihren ganz individuellen Tagesabläufen. Es gibt diverse Dinge, die sie regelmäßig tun, oder Angebote, die sie immer wieder wahrnehmen. Manche besuchen beispielsweise täglich unser Hygiene-Center. Oder sie halten ihre sozialen Kontakte aufrecht, etwa zu den Sozialarbeitern. Einige versuchen sogar, aus der Wohnungslosigkeit herauszukommen, wozu sie bestimmte Dinge erledigen müssen. Dabei geht es etwa darum zu zeigen, dass sie den Willen haben, ihrer Sucht abzuschwören. Oder sie versuchen, gewisse Veränderungen auf den Weg zu bringen, um ihre persönliche Lebenssituation zu verbessern.

»Es ist unser Anspruch, die Menschen, die zu uns kommen, würdig und angemessen zu betreuen, und zwar ohne dabei die geltenden Auflagen zu verletzen.«

Jonas:
Welchen Einfluss hat Corona auf Euren eigenen Tagesablauf? Wie hat sich in den letzten Wochen Eure Arbeitssituation verändert?

Barbara:
Bei uns ist es wie überall auch. Viele Leute sind ins Homeoffice gewandert, außerdem bleiben viele ehrenamtliche Helferinnen und Helfer weg, weil sie sich um ihre Familien kümmern müssen. Oder sie wollen das Risiko nicht eingehen, sich zu infizieren oder das Virus selbst zu übertragen. Daneben haben diverse Einrichtungen der Stadtmission geschlossen, darunter unsere Hotels und Jugendgästehäuser.
Es ist also vieles anders, aber wir versuchen, diese zusätzlichen Herausforderungen peu à peu zu lösen. Denn weiterhin ist es natürlich unser Anspruch, die Menschen, die zu uns kommen, würdig und angemessen zu betreuen, und zwar ohne dabei die geltenden Auflagen zu verletzen. Dass sich Leute nicht mehr in Gruppen aufhalten dürfen, erschwert die Situation allerdings ungemein. Denn gerade das gehört in Notunterkünften oder Obdachlosen-Tagesstätten zum täglichen Geschäft. Einzelzimmer kann dort niemand finanzieren. Und so versuchen wir, Möbel umzustellen und Abläufe zu verändern, um Gruppenbildung zu vermeiden.
Ein Beispiel: Am Containerbahnhof in Friedrichshain-Kreuzberg betreiben wir eine Notunterkunft, die in einer Traglufthalle eingerichtet wurde. Dort übernachten im Schnitt 120 Menschen, je nach Witterung und Jahreszeit. Die Corona-Situation hat uns vor die Frage gestellt, wie wir an so einem Ort gewährleisten können, dass sich unsere Gäste nicht gegenseitig anstecken – oder von uns angesteckt werden.

Jonas:
Wie habt Ihr die Situation gelöst?

Barbara:
Zum einen haben wir vor dem Eingang zwei Wasserkanister aufgestellt, dort können sich die Menschen die Hände waschen und desinfizieren, bevor sie die Unterkunft betreten. Außerdem wird der Griff der Eingangstür nach jedem Gast desinfiziert. Darüber hinaus haben wir die Tische auseinandergerückt und aus Sechsbettzimmern Vierbettzimmer gemacht. Kurz gesagt: Wir haben versucht, alle Auflagen zu erfüllen – den Möglichkeiten vor Ort entsprechend.

»Die politische Agenda geht in die richtige Richtung, man müsste nur noch ein bisschen mehr machen.«

Jonas:
Fühlt Ihr euch in der aktuellen Situation von der Politik ausreichend wahr- und ernst genommen?

Barbara:
Ich habe bisher den Eindruck, dass Elke Breitenbach, die Berliner Sozialsenatorin, unsere Situation durchaus im Blick hat. Die Obdachlosen stehen auf ihrer Agenda, das hat sie immer wieder gezeigt. Aber auch für sie ist – wie für jede andere Person – die aktuelle Krise ein völlig neues Szenario, mit dem keiner gerechnet hatte. Mittlerweile hat man sich in Berlin entschieden, die Jugendherberge in der Kluckstraße anzumieten und für Obdachlose zu öffnen. Allerdings habe ich gehört, dass die 200 Plätze, die dort zur Verfügung stehen, bereits belegt sind. Es gibt zwar noch eine Notunterkunft in der Storkower Straße mit 100 Plätzen, aber wenn man bedenkt, dass Anfang des Jahres in der „Nacht der Solidarität“ knapp 2.000 Obdachlose auf den Straßen Berlins gezählt wurden, ist das bei weitem nicht genug. Dennoch geht die politische Agenda grundsätzlich in die richtige Richtung, man müsste nur noch ein bisschen mehr machen.

Jonas:
Eckhard Baumann, der Leiter des Vereins Straßenkinder e.V., hat vor kurzem in einem Stern-Interview darüber gesprochen, dass es seit Beginn der Corona-Krise und den damit verbundenen Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen mehr obdachlose Kinder und Jugendliche auf den Berliner Straßen gibt. Siehst Du diese Entwicklung auch? Und wenn ja, was ist Deiner Meinung nach der Grund dafür?

Barbara:
Wenn ich etwas zu dem Thema sagen würde, wäre das mehr oder weniger frei aus der Luft gegriffen – unsere Einrichtungen kümmern sich in der Regel nur um Erwachsene. Kinder und Jugendliche gehören eher nicht zu unserem Klientel, die würden wir im konkreten Fall immer an die entsprechenden Vereine weitervermitteln.
Trotzdem kann ich mir gut vorstellen, dass man zurzeit eine solche Entwicklung beobachten kann. Wenn Kinder aus Familien, die eh schon Probleme haben, den ganzen Tag zuhause „eingesperrt“ sind, mit ihren Eltern auf engstem Raum leben müssen und nicht einmal mehr in die Schule flüchten können, ist es nicht verwunderlich, wenn sich Probleme potenzieren und diese Kinder am Ende auf die Straße getrieben werden – weil sie einfach keinen anderen Ausweg sehen.

»Wer sich auf die Berliner Straßen begibt, dem begegnet das Thema Obdachlosigkeit normalerweise überall.«

Jonas:
In Eurer Pressemitteilung vom 31. März heißt es, dass Ihr den Berliner Obdachlosen in der aktuellen Situation das Signal geben wollt: „Du bist in dieser Zeit nicht vergessen, wir sehen Dich und sorgen uns um Dich!“ Drohen Menschen, die auf der Straße leben, gerade jetzt noch stärker aus dem gesellschaftlichen Fokus zu rücken?

Barbara:
Absolut. Wer sich auf die Berliner Straßen begibt, dem begegnet das Thema Obdachlosigkeit normalerweise überall. Wohnungslose Menschen sind Teil des täglichen Straßenbilds, man sieht sie an den U-Bahn-Ausgängen, in den Einkaufszentren, in den Parks beim Flaschensammeln. Aber wenn die Leute nicht mehr im öffentlichen Raum unterwegs sind, weil sie zuhause im Homeoffice sitzen oder den Weg zur Arbeit momentan lieber mit dem Auto statt mit der Bahn zurücklegen, geraten obdachlose Menschen automatisch aus dem gesellschaftlichen Blickfeld. Die Leute haben sie in ihrem neuen Alltag einfach nicht mehr auf dem Schirm.

»Es braucht nicht immer gleich eine große Geldspende. Es hilft schon, wenn man obdachlosen Menschen ein kleines Signal gibt, dass man sie wahrnimmt.«

Jonas:
Wie kann es gelingen, diese Menschen gerade jetzt etwas sichtbarer zu machen?

Barbara:
Ich verstehe total, wenn in der aktuellen Situation jeder erstmal an sich und seine Familien denkt – immerhin besteht die Gefahr, ernsthaft zu erkranken, außerdem stehen ganze Existenzen auf dem Spiel. Trotzdem würde ich mir wünschen, dass sich die Leute auch in einer solchen Zeit darauf besinnen, dass es da draußen immer noch Menschen gibt, denen es viel, viel schlechter geht und die man nicht vergessen darf.
Das heißt übrigens nicht, dass es da immer gleich eine große Geldspende braucht. Es hilft schon, wenn man obdachlosen Menschen ein kleines Signal gibt, dass man sie wahrnimmt. Etwa, wenn man sie vor dem Supermarkt sieht und fragt, ob ihnen vielleicht etwas mitbringen kann, was sie gerade dringend benötigen. Als ich selbst vor einigen Tagen einkaufen war, stand am Supermarkteingang ein Obdachloser, der mich fragte, ob ich mal ein Zwei-Euro-Stück für ihn hätte – für den Einkaufswagen. In den Supermärkten besteht mittlerweile für alle Kunden eine Einkaufswagenpflicht, weil man dadurch einen gewissen Sicherheitsabstand gewährleisten will. Ich habe dem Obdachlosen die zwei Euro gegeben – ehrlich gesagt mit dem Gedanken: „Na, ob das wirklich für den Einkaufswagen ist?“ Aber wenig später habe ich ihn tatsächlich mit Wagen im Supermarkt getroffen. Er wollte sich nur eine Tüte Chips und etwas zu trinken holen, hatte aber kein zusätzliches Geld für einen Einkaufswagen.
Wir selbst sind uns einer solchen Problematik gar nicht bewusst, da jeder von uns in der Regel eine Münze für den Einkaufswagen in der Tasche hat. Wenn man das aber nicht hat, hat man ein Problem. Dann kann man sich seine Chips, Kekse oder von mir aus die Flasche Wodka nicht kaufen. Als ich diese Situation reflektiert habe, wurde mir klar: Sogar hier werden Menschen in gewisser Weise ausgeschlossen. Und ich habe gemerkt, wie privilegiert ich bin – weil ich mir in meinem Leben um solche Probleme überhaupt keine Gedanken machen muss.

»Ich freue mich, wenn die Leute darüber nachdenken, wie sie ihre Energie und ihren Grips für etwas Nachhaltiges einsetzen können.«

Jonas:
Apropos privilegiert: Die Sozialen Netzwerke quellen momentan über von Posts, die zeigen, wie Leute auf kreative Art und Weise versuchen, ihre Langeweile in der häuslichen Isolation zu bekämpfen…

Barbara (lacht):
Ja, das begegnet mir auch dauernd!

Jonas:
Wirkt das auf Dich in irgendeiner Art befremdlich? In Bezug auf Deinen beruflichen Alltag und Deine Lebenswirklichkeit müssen Dir diese Posts doch vorkommen, als lebten Du und Dein Team in einer völlig anderen Welt.

Barbara (überlegt einen Moment):
Ich sag‘ es mal so: In dieser Corona-Krise Pressesprecherin der Berliner Stadtmission zu sein, ist ein 24/7-Job. Und wenn ich dann mal einen solchen Post sehe, denke ich mir: Mensch, dieses Homeoffice muss etwas wirklich Entspanntes sein! Aber im Ernst: Ich gönne allen Leuten ihre Zeit zuhause. Sie sollen zusehen, dass sie gesund durch diese schwere Zeit kommen – und damit meine ich körperlich und seelisch unbeschadet. Nur so können sie danach glücklich weiterleben und -arbeiten.
Allerdings freue ich mich auch, wenn die Leute nach drei oder vier Wochen mal Facebook und Instagram satthaben und darüber nachdenken, wie sie ihre Energie und ihren Grips für etwas Nachhaltiges einsetzen können. Etwas, das nicht nur sie selbst hilft. Sondern etwas, das auch anderen Menschen helfen kann.
Glücklicherweise gibt es auch hier in Berlin bereits viele tolle Beispiele. In der Storkower Straße etwa betreiben wir unseren Textilhafen, ein sogenanntes Upcycling-Unternehmen, das aus scheinbar nutzlosen Dingen oder Abfallprodukten andere, neuartige Produkte schafft. Aktuell nähen wir dort ohne Ende Mundmasken und haben dazu aufgerufen, uns zu unterstützen – entweder, indem man in Heimarbeit selbst Masken näht oder uns vor Ort bei der Produktion hilft. Das wurde bisher sehr gut angenommen, auch von Leuten, die nicht nähen können. Eine Schere halten und damit einmal entlang einer Schablone schneiden, das kann jeder.

»Ich hoffe, dass der Applaus, den man gerade überall hört, auch langfristig Spuren hinterlässt.«

Jonas:
Man erlebt in diesen Tagen auch, dass Menschen immer wieder öffentlich Beifall klatschen – Beifall, der jenen gilt, die sich in der aktuellen Situation um andere kümmern und die mit ihren Berufen als systemrelevant gelten. Zu dieser Gruppe könnte man Dich und Dein Team ebenfalls zählen. Kannst Du persönlich mit dem Applaus etwas anfangen?

Barbara:
Puh. Diesen Applaus finde ich für den Moment wirklich toll und ermutigend. Auch, weil er sich an Menschen richtet, die sonst nicht prominent im Rampenlicht stehen oder drei Millionen Follower haben. In so einer Krise ist es wichtig, dass die Leute zusammenhalten und die Gesellschaft nicht auseinanderbricht.
Auch wenn bestimmte Berufsgruppen jetzt als systemrelevant bezeichnet werden, ist es für mich persönlich eher schwierig, darüber zu richten, ob ein Beruf gerade mehr wert ist als ein anderer. Ich glaube, auch der Youtuber, der gerade lustige Videos ins Netz stellt und dafür sorgt, dass die Leute nicht so verzweifelt und traurig sind, hat genauso eine Daseinsberechtigung und ist am Ende ebenfalls systemrelevant – nur vielleicht in einer anderen Art und Weise als jemand, der einen Dienst am Menschen verrichtet. Meiner Meinung nach kann jeder seinen individuellen Beitrag dazu leisten, dass wir diese Krise gut überstehen. Daher wäre ich selbst auch niemand, der bestimmten Berufsgruppen applaudieren würde. In unserer Gesellschaft ist niemand verzichtbar, jeder Mensch ist ein wichtiges Glied in der großen Kette. Und damit diese Kette nicht reißt, müssen alle zusammenhalten und gemeinsam stark sein. Und wir müssen verhindern, dass ein Teil dieser Kette brüchig wird.
Ich hoffe daher, dass der Applaus, den man gerade überall hört, auch langfristig Spuren hinterlässt. Ich wünsche mir, dass sein Nachhall nie versiegt – und dauerhaft etwas in unserem täglichen Umgang miteinander verändert.


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Ute Rastert
Telefon (030) 690 33-405
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