Interview — Apparat

Neue Heimat

Aufgewachsen in der ostdeutschen Provinz und im Vakuum der Nachwendezeit, gilt Sascha Ring heute international als feste Größe – sowohl als Musiker und Komponist. Ob alleine unter dem Namen Apparat oder mit Gemeinschaftsprojekt Moderat: Sascha Ring schafft beeindruckende Klangwelten, die im Ohr bleiben.

5. Juli 2015 — MYP No. 18 »Meine Suche« — Interview: Jonas Meyer, Fotos: Franz Grünewald

Manchmal muss man einfach raus. Aus dem Bett. Aus dem Alltag. Vor die Tür. Vor die Stadt. Einfach raus – vor allem, wenn man glaubt, keine Luft mehr zu bekommen.

Oft hilft schon eine Fahrt ins Grüne, zum Beispiel in den Grunewald. Natürlich gibt es in Berlin nicht nur diesen Flecken Erde, an den man sich zurückziehen könnte. Zumindest wer ein paar Stunden Ruhe und Einsamkeit sucht, ist mit einem anderen Stück Natur oft besser beraten – jedenfalls an einem belebten Sonntagnachmittag.

Aber wir finden es einfach schön hier. Und obwohl heute ausgerechnet Sonntag ist, ist das Glück auf unserer Seite: Die Anzahl an Joggern, Hundebesitzern und Spazierstock- haltern ist überschaubar, der Parkplatz an der Teufelsseechaussee nur mäßig belegt. Es sieht also ganz so aus, als ob wir den Grunewald in den nächsten Stunden mit nur wenigen Mitmenschen teilen müssten. Wahrscheinlich steckt der gestrige Sturm den meisten noch zu tief in den Knochen.

Wir parken unser Auto, schnallen die Rucksäcke um und laufen los – erst über befestigte Wege, dann mitten in den Wald hinein. Wir sind mit dem Berliner Musiker Sascha Ring unterwegs, der bereits seit den späten 90ern als Solokünstler unter dem Namen Apparat agiert und einige Jahre später mit der Band Modeselektor das Gemeinschaftsprojekt Moderat gegründet hat.

Je tiefer wir in den Wald vordringen, desto mehr Licht wird von den dichten Baumwipfeln verschluckt. Unter unseren Schuhen knirschen Zweige und kleine Äste, Blätter rascheln. Für einen Moment fühlt sich das Ganze wie ein abenteuerlicher Jungsausflug an, die Locationsuche mitten im Wald wird für uns zu einer kleinen Entdeckungsreise. Kindheitserinnerungen werden wach, wir haben sogar Saft und Kekse im Rucksack – jetzt fehlen nur noch ein paar Holzschwerter.

Einige Minuten später. Wir erreichen die große Sandgrube südöstlich des Teufelssees. Auch hier ist glücklicherweise wenig los. Es dürften maximal ein Dutzend Familien sein, die sich über das weite Areal verteilt haben. Während die recht jung wirkenden Mütter und Väter auf großen karierten Picknick-Decken sitzen und diverse Obstsorten in mundgerechte Stückchen schneiden, springen ihre Kinder im Sand herum. Holzschwerter haben sie keine. Aber manche von ihnen Sicherheitswarnwesten.

Wir durchqueren die Sandgrube und gelangen an einen kleinen Tümpel. Auf einer großen Infotafel am Rande des Gewässers wird mit Fotos und Illustrationen die Flora und Fauna des hiesigen Naturschutzgebiets erklärt. Wir lernen Zwergtaucher, Erdkröte, Ringelnatter und Graureiher kennen. Fast wie damals in der Heimat, als man mit Papa stundenlang durch die Natur spazierte.

Jonas:
Du bist in der beschaulichen Stadt Quedlinburg aufgewachsen und mit 19 Jahren nach Berlin gezogen. Was genau hat dich Mitte der 90er aus dem Harz in die Hauptstadt getrieben?

Sascha:
Ich musste damals einfach aus Quedlinburg raus. Die Ecke dort war ziemlich schlimm – eine einzige Party- und Drogenhölle. Und alle Leute arbeitslos.

Jonas:
Du bist ausgerechnet nach Berlin gezogen, um dem Partyleben zu entfliehen?

Sascha:
Naja, vor 18 Jahren war Berlin noch ein bisschen anders. Es gab hier zwar auch Partys und Drogen, aber irgendwie ist das damals noch anders abgelaufen. Diesen anonymen Partytourismus, wie man ihn heute kennt, hatte man Mitte der 90er in Berlin noch nicht. Man hat eher im engen Kreis gefeiert, jeder kannte sich.
Ich selbst kannte hier allerdings noch niemanden und war dementsprechend auch nicht bei den Partys dabei – jedenfalls nicht in meiner Berliner Anfangszeit. Für mich waren das ideale Voraussetzungen, um ein wesentlich ruhigeres Leben führen zu können. Eigentlich absurd.

Jonas:
Und wie hast du dein neues, ruhiges Leben in Berlin gestaltet?

Sascha:
In den ersten drei Jahren habe ich in einem kleinen Designbüro eine Ausbildung zum Werbe- und Medienvorlagenhersteller gemacht. Ein recht kantiger Begriff – aber so hieß der Beruf nun einmal. Mit der Zeit habe ich natürlich auch wieder neue Leute kennengelernt, um mich herum war es dann nicht mehr ganz so ruhig. Aber wirklich rückfällig bin ich nicht geworden: So, wie mein Leben in Quedlinburg war, ist es in Berlin zum Glück nie geworden. Ich habe hier sogar für ein paar Jahre aufgehört zu rauchen und zu trinken.

Jonas:
Hattest du denn absolut gar keine gute Zeit in Quedlinburg?

Sascha:
Glücklicherweise funktioniert das Gehirn so selektiv, dass man sich fast nur an die guten Sachen erinnert. Dadurch wird einem vorgegaukelt, dass alles gar nicht so schlimm war – man vergisst einfach recht schnell die Schattenseiten. Nur was meine Jugend angeht, ist das leider andersherum: Aus dieser Zeit habe ich irgendwie die positiven Dinge vergessen und erinnere mich nur noch an die weniger schönen.

Jonas:
Was ist passiert?

Sascha:
Wenn man 18 oder 19 Jahre alt ist, erlebt man emotional eine wahnsinnig intensive Zeit. Tage, Wochen und Monate erscheinen endlos lang. Verkackt man diese Zeit, weil man ständig darunter leidet, keine Perspektive zu haben, und denkt, irgendwann als Asi zu enden, brennt sich dieses Gefühl dauerhaft ein. Wenn ich an meine Zeit in Quedlinburg zurückdenke, sehe ich mich, wie ich morgens auf der Couch sitze, eine Bong rauche und glaube, niemals ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft werden zu können. Vielleicht habe ich diese stille Befürchtung auch später noch mit mir herumgetragen – sozusagen als Motor. Das würde erklären, warum ich jahrelang so ruhelos war und immer wieder neue Sachen ausprobiert habe. Ich wollte wohl nie wieder auf dieser Couch in Quedlinburg landen.

Wir haben uns wie auf einem riesengrossen Spielplatz gefühlt, der ganz allein uns gehörte.

Aber es gibt auch schöne Erinnerungen an damals – immerhin habe ich dort diese ganze Techno-Urzeit erlebt.
Wir haben uns wie auf einem riesengroßen Spielplatz gefühlt, der ganz allein uns gehörte. Um uns herum hat sich ja niemand um irgendetwas gekümmert. Man durfte einfach alles. Und für eine ganze Weile schienen wir in einer mehr oder weniger rechtsfreien Zone zu sein. Zwar ist irgendwann auch mal die Polizei gekommen und hat gesagt: „Jetzt macht mal nicht so dolle!“ Aber das war’s auch schon.

Jonas:
War der Ur-Techno der 90er das Erste, mit dem du musikalisch in Berührung gekommen bist?

Sascha:
Nein, ich bin schon wesentlich früher mit Musik in Kontakt gekommen, da mein Vater in den 80ern in einer Coverband spielte. Als kleiner Junge durfte ich oft mit zu den Konzerten kommen – dabei hatte ich auch immer schon ein Auge auf die Bühne geworfen. Etwas später habe ich angefangen, Schlagzeug zu spielen, und durfte damit sogar im Probenraum meines Vaters etwas rumbolzen. Eine gewisse Zeit lang habe ich auch die örtliche Musikschule besucht, um das Instrument richtig zu lernen, aber irgendwann habe ich es wieder gelassen und mir einen Plattenspieler gekauft.

Jonas:
Aber beruflich wolltest du anfangs nichts mit Musik machen, sondern mit Grafik.

Sascha:
Quatsch, natürlich wollte ich etwas mit Musik machen! Aber wer denkt denn bitte, dass das eine wirklich realistische Option für die Zukunft ist, wenn man in Quedlinburg aufwächst? Dazu hat man dort nicht wirklich eine Beziehung. Für meinen Vater war die Musik ja auch kein Beruf, sondern eher Spaß und ein nettes Hobby.
Ich wusste gar nicht, dass es auf der Welt so etwas wie Berufsmusiker gibt. Oder Leute, die damit klarkommen, ihr Leben in erster Linie nach der Musik auszurichten. Das musste ich in Berlin erst einmal lernen – und meinen Horizont gründlich erweitern. Und erst in dieser Stadt habe ich gemerkt, dass es auch noch viele andere Lebensentwürfe gibt, die tatsächlich funktionieren können.

Jonas:
In welchem Teil Berlins bist du damals gestrandet?

Sascha:
Ich bin zu allererst in eine WG in der Brunnenstraße gezogen. In diesem Teil der Stadt zwischen Mitte und Prenzlauer Berg – mit all seiner Bürgerlichkeit – bin ich auch immer noch zuhause.
Ich bin zwar zwischendurch ein paar Mal umgezogen und habe einige andere Ecken Berlins kennengelernt, aber so richtig weggeschafft aus der Ecke habe ich es nie. Meine aktuelle Wohnung ist gerade einmal fünfhundert Meter entfernt von meiner allerersten Adresse.
Ich bin ja auch älter geworden und finde es gar nicht schlecht, dass ich in dieser Gegend mehr oder weniger meine Ruhe habe. Trotzdem spüre ich in mir gewisse Ambitionen, irgendwann einmal in den Wald zu ziehen – ein wenig steckt immer noch der Quedlinburger in mir.

Jonas:
Hast du in deiner Heimatstadt bereits damit begonnen, deine eigene Musik zu produzieren?

Sascha:
Nee, ich habe dort nur Platten aufgelegt – so richtig harten Techno auf diversen Partys. Vor kurzem habe ich den Film „Als wir träumten“ gesehen, zu dem wir unseren Moderat-Track „A New Error“ als Titelsong beigesteuert haben. Interessanterweise gibt es ziemlich viele Parallelen zwischen diesem Film und meiner Jugend: permanente Angst vor Nazis, Autos klauen und zwischendrin immer Techno.

Jonas:
Warum hast du dich bei deiner Flucht aus Quedlinburg ausgerechnet für eine Grafiker-Ausbildung entschieden?

Sascha:
Ich wollte irgendetwas Handfestes machen. Grafik war auf der einen Seite kreativ genug, um überhaupt für mich in Frage zu kommen, und auf der anderen Seite ausreichend solide, dass ich meiner Oma sagen konnte: Ich mache jetzt etwas Richtiges.
Nach meiner Ausbildung habe ich sogar noch ein Jahr lang in diesem Beruf gearbeitet. Aber irgendwie musste der Job immer mehr mit der Musik konkurrieren, die bereits permanent in meiner Freizeit stattfand. In Berlin war es damals noch ziemlich leicht zu sagen: Ich arbeite jetzt nicht mehr. Das habe ich dann einfach mal gemacht. Zu dieser Zeit war auch mein erstes Album fertig und ich habe so langsam angefangen, Konzerte zu spielen. Trotzdem musste ich mich damals nach wie vor mit Grafikjobs über Wasser halten, denn so richtig hat’s mit der Musik noch nicht gereicht.
Eine Dauerlösung war das natürlich nicht, es musste eine Grundsatzentscheidung her. Doch als ich kurz davor war, mich voll und ganz für die Musik zu entscheiden, habe ich diese Grundsatzentscheidung noch einmal angezweifelt und einen Rückfall gehabt: Irgendwie war so ein richtiger, handfester Beruf zu verlockend.
Ich habe mich daher nach einem Job als Art Director umgeschaut und hatte bald einige Vorstellungsgespräche. Ein Unternehmen hat mir sogar wenig später einen Arbeitsvertrag zugeschickt.
Aber als ich diesen Vertrag durchgelesen habe, habe ich mit jeder Seite gedacht: Das kann es irgendwie nicht sein. Ich habe das Dokument langsam zerrissen – und habe diesen Akt für mich selbst so richtig inszeniert. In diesem Moment war für mich absolut klar, dass es ab sofort in meinem Leben keine Grafik mehr gibt, sondern nur noch Musik. Dieses Bild habe ich noch ganz genau im Kopf.

Jonas:
Gibt es in Berlin bestimmte Menschen, die dir in deiner Anfangszeit geholfen haben, die ersten musikalischen Schritte zu machen?

Sascha:
Ja, da gibt es einige. Der erste, den ich in Berlin kennengelernt habe, war Marco Haas vom Label Shitkatapult. Mein Mitbewohner hatte ihm ein Demoband von mir gegeben und sagte eher aus Spaß: „Hör mal rein!“ Marco wollte das direkt herausbringen, hat es aber alleine nicht wirklich gebacken bekommen. Er war selbst gerade nach Berlin gezogen und vom Labelbusiness völlig überfordert, weil sein Geschäftspartner in Heidelberg geblieben war. Um meine Platte irgendwie releasen zu können, musste ich also kurzfristig Teil des Labels werden – und saß am Ende stellenweise ziemlich lange im Büro. Wenig später habe ich dann Ellen Allien, Gernot Bronsert und Sebastian Szary von Modeselektor sowie die Leute des Designkollektivs Pfadfinderei kennengelernt. Mit dieser ganzen Clique habe ich immer noch sehr viel zu tun.

Jonas:
Gemeinsam mit den Jungs von Modeselektor hast du das Projekt Moderat gestartet – allerdings habt ihr dafür zwei Anläufe gebraucht. Was ging denn beim ersten Versuch im Jahr 2002 schief, was knapp sieben Jahre später funktioniert hat?

Sascha (grinst):
Zu diesem Thema muss ich eine lustige Geschichte erzählen. Es gibt einen Fake-Pressetext zu unserem ersten gemeinsamen Album aus dem Jahr 2009, der bestimmt noch irgendwo im Internet herumgeistert. Dieser Text ist damals in einer Nacht- und Nebelaktion entstanden, nachdem uns in letzter Minute der Texter versetzt hatte. Gernot, Sebastian und ich saßen damals in Gernots Wohnung auf der Couch und mussten dringend irgendetwas verfassen – die Deadline war am nächsten Morgen. Wir dachten, es wäre voll lustig, wenn wir einen totalen Quatsch- Text veröffentlichen würden. Also haben wir beispielsweise geschrieben, dass wir die Platte in den berühmten Hansa-Studios aufgenommen hätten. Und wir haben erzählt, dass wir für die Produktion ein tonnenschweres Plate Reverb aus L.A. nach Berlin verschifft hätten. Außerdem haben wir behauptet, dass wir uns 2002 total zerstritten hätten und uns daher zuerst wieder menschlich annähern mussten, bevor wir uns musikalisch annähern konnten.
Wie bereits gesagt, das war alles absoluter Quatsch, den wir dann natürlich zur Strafe in gefühlt 80 Interviews immer wieder runterbeten mussten. So weit hätte man eigentlich auch mal vorher denken können. Die wahre Antwort auf deine Frage ist: Wir haben uns nie schlecht verstanden. Aber wir haben auch nie wirklich das Bedürfnis gehabt, eine richtige Band zu sein. Wir wollten einfach gemeinsam Spaß haben – und so war Moderat ursprünglich ein reiner Fun-Live Act. Wir haben uns zusammen auf die Bühne gestellt und losgejammt. Darüber hinaus hatten wir aber einfach kein so großes Interesse daran, musikalisch weiter zusammenzuarbeiten – auch weil wir in unsere eigenen Projekten Apparat und Modeselektor recht stark eingespannt und viel unterwegs waren.
Irgendwann haben wir aber festgestellt, dass wir uns privat so gut wie gar nicht mehr sehen. Also haben wir beschlossen, wieder mehr zusammen abzuhängen. Und so ist nebenbei unser erstes Album entstanden. Lustigerweise war das im Jahr 2006 bei meinem gemeinsamen Album mit Ellen Allien genauso: Wir wollten einfach wieder mehr Zeit miteinander verbringen. Und das Ergebnis war „Orchestra of Bubbles“.

Wenn ich die Musik zu einem Film oder Theaterstück entwickle, möchte ich nicht irgendein Dienstleister sein, der einfach nur so den Sound liefert.

Jonas:
Wann hat sich bei dir ein konkretes Gefühl dafür entwickelt, welche Musik du machen willst?

Sascha:
Ganz am Anfang findet man ja alle Sachen toll, von denen man sich auch vorstellen könnte, sie selbst zu machen. Im Laufe der Zeit häufen sich diese Einflüsse – und dann entsteht daraus im besten Fall etwas Eigenes.
Wann genau ich selbst zum ersten Mal an diesem Punkt war, weiß ich nicht mehr. Aber es gab den Punkt definitiv. Das Problem ist: Mit der Arbeit an jeder neuen Platte habe ich das Gefühl, dass ich diesen Punkt von Neuem erreiche – und erreichen muss. Deswegen hört sich jedes meiner Alben auch anders an.

Jonas:
Das kann ja auch etwas sehr Motivierendes sein.

Sascha:
Wenn ich das höre, was ich bei der letzten Platte gemacht habe, denke ich mir: Ich habe irgendwie keinen Bock, das nochmal zu machen. In dieser Situation versuche ich, neue Inspiration zu finden.
Das wird natürlich von Album zu Album schwieriger, weil man zur Ideenfindung bereits etliche musikalische Bereiche durchforstet hat. Seit neuestem höre ich mir recht viele Jazz-Platten an, aber so wirklich komme ich darauf gerade noch nicht so klar.

Jonas:
Es gibt nicht wenige Künstler, die die unterschiedlichen Projekte, in die sie involviert sind, strikt voneinander trennen. Wie handhabst du es bei Apparat und Moderat?

Sascha:
Für mich lässt sich das sehr schwer voneinander trennen – alleine deshalb, weil ich beides schon so lange mache.
Bei Moderat läuft die Zusammenarbeit auch eher blockartig ab, das heißt, man steckt zwei bis drei Jahre ziemlich tief in diesem Projekt. Im Anschluss daran kann man natürlich nicht einfach sagen: Ich habe damit nichts mehr zu tun und mache solo als Apparat sofort eine ganz andere Platte. Das, was ich als Apparat wenig später produziere, hört sich noch ziemlich stark nach Moderat an – und umgekehrt. Es dauert einfach eine ganze Weile, bis man sich von so einem gemeinsamen Projekt musikalisch wieder freigemacht hat.
Ich bin auch nicht der Typ, der im Kopf mehrere Projekt-Schubladen hat, die er öffnen kann, wenn er Songs schreibt. Ein Song kommt einfach so aus mir heraus. Danach kann ich mir immer noch überlegen, in welche Richtung ich ihn produzieren will.
Mit der Zeit habe ich gemerkt, dass es eigentlich richtig toll ist, diese beiden Projekte zu haben, weil ich dadurch aus Apparat ein wenig die Ambitionen herausnehmen kann. Ich muss dort nicht mehr unbedingt Songs mit richtigen Hooks schreiben. Und genauso muss ich nicht mehr etwas zwangsläufig für die große Bühne produzieren – das kann ich alles mit Moderat bedienen.
Apparat hat sich dadurch für mich zu einer riesengroßen Spielwiese entwickelt, auf der viel mehr erlaubt ist. So spiele ich beispielsweise als Apparat zur Zeit nur bestuhlte Konzerte. Und wenn dort mal für sechs Minuten ein einziger Ton läuft, ist das auch ok. Diesen Zustand empfinde ich als eine große Befreiung.

Jonas:
Hast du auf dieser Spielwiese auch die Film- und Theatermusik für dich entdeckt? Vor allem in den letzten Jahren war deine Musik in diversen Produktionen vertreten.

Sascha:
Ich habe nicht unbedingt danach gesucht. Aber es hat sich in den letzten Jahren gehäuft, dass mir Leute gesagt haben, dass meine Musik auch sehr gut in einem Filmkontext funktionieren könnte. Bis mich diesbezüglich aber mal jemand konkret kontaktiert hat, hat es ein wenig gedauert. Die erste Anfrage dieser Art kam von Sebastian Hartmann – einem sagen wir mal nicht besonders traditionell arbeitenden Theaterregisseur. Das alleine hat mich schon irgendwie gereizt.
Sebastian hatte damals gefragt, ob ich mir nicht vorstellen könnte, seine Bühnenadaption von Tolstois „Krieg und Frieden“ zu vertonen. So hat sich eine nach wie vor wirklich interessante Zusammenarbeit ergeben.
Für mich kommt es bei solchen Kooperationen vor allem darauf an, dass man einen Partner hat, mit dem man sich nicht nur perfekt ergänzt, sondern mit dem man sich auch auf einer gleichberechtigten Ebene trifft.
Wenn ich die Musik zu einem Film oder Theaterstück entwickle, möchte ich nicht irgendein Dienstleister sein, der einfach nur den Sound liefert. Ich möchte über einen gewissen künstlerischen Freiraum verfügen. Sobald sich eine Konstellation ergibt, in der der eine den anderen bedient, funktioniert das für mich nicht mehr.

Jonas:
Der Regisseur Andreas Dresen verwendet in seinem neuen Film „Als wir träumten“- den Song „A New Error“, der nicht eigens für den Film komponiert wurde, sondern bereits 2009 auf der ersten Moderat-Platte erschienen ist. Wie war es für dich, diesen Track zum ersten Mal in Kombination mit den Filmbildern zu erleben? Hast du in dem Moment deine Musik von einer anderen Seite kennengelernt?

Sascha:
Für mich ist es wirklich schwierig, meine Musik in einem völlig anderen Kontext zu erleben. Da so ein Apparat- oder Mode- rat-Song meistens in langer, kleinteiliger Arbeit entstanden ist, hat man dazu auch eine ganz besondere Beziehung. Daher denke ich auch in acht von zehn Fällen: Das passt ja überhaupt nicht – meine Musik wirkt in dem Film wie ein Fremdkörper! Wenn man sich die Szenen aber wieder und wieder anschaut, versteht man allmählich, was derjenige damit gemeint hat, der Musik und Bewegtbild zusammengebracht hat.
Eine ähnliche Erfahrung habe ich im letzten Jahr mit dem italienischen Film „Il Giovane Favoloso“ von Mario Martone gemacht, für den ich die Filmmusik komponiert habe. Dazu muss man wissen: Regisseure versehen ihre Filme in der Editing-Phase gerne mit sogenannten Temp Tracks – temporäre Musikpassagen, die dazu dienen, vorab eine gewisse Stimmung zu erzeugen, um den Komponisten eine grobe musikalische Richtung vorzugeben. Bei Musikern sind solche Temp Tracks nicht wirklich beliebt, weil sie schon im Vorfeld eine gewisse künstlerische Einschränkung bedeuten. Mario Martone hatte vorab sage und schreibe 15 bereits existierender Songs von mir als Temp Tracks in die erste Editing-Version seines Films gepackt. Als ich mir das Ganze angesehen habe, dachte ich:
Was für eine Katastrophe, da passt ja absolut kein Song! Zwei, drei Runden später habe ich aber langsam verstanden, was Mario meinte – und wie er selbst meine Musik hörte. Jeder Mensch nimmt Musik anders und hat dementsprechend auch eine andere, ganz persönliche Beziehung dazu. Irgendwann bin ich daher bei etwa 60 Prozent Verständnis angelangt – die restlichen 40 Prozent musste ich durch Veränderung meiner Skizzen erreichen.

Jonas:
Immerhin scheint das, was am Ende dabei herausgekommen ist, nicht das Schlechteste gewesen zu sein: Im Sommer 2014 habt ihr auf dem großen Filmfestival in Venedig den Filmscorepreis „Premio Piero Piccioni“ gewonnen.

Sascha:
Alles in allem war die Zusammenarbeit mit Mario super. Im Endeffekt hat er mich einfach machen lassen. Er hat sich meine Vorschläge angehört und gesagt: „Das ist zwar anders, als ich es mir vorgestellt habe, aber trotzdem gut.“ Wenn man so eine Arbeitsweise gelten lässt und einander vertraut, kann es passieren, dass am Ende etwas viel Größeres daraus hervorgeht.
Das ist auch extrem wichtig, wenn ich mit Gernot und Sebastian von Modeselektor im Studio sitze. Bei einigen Ideen, die die beiden entwickeln, denke ich am Anfang auch manchmal: Naja, geht so. Wenn aber ein gewisses Grundvertrauen besteht und man der Idee die Chance gibt, ein wenig zu reifen, kommt am Ende vielleicht etwas dabei heraus, das viel geiler ist als das, was ich mir vorher eher eindimensional vorgestellt habe. Man muss einfach andere Meinungen zulassen – erst dann erhält das Ganze, was man da tut, auch eine gewisse Tiefe.

Wenn das Ganze nicht unbedingt für RTL II produizert ist, kann es passierenm dass sicher der Zuschauer schnell manipuliert fühlt.

Jonas:
Bei der Musik für den Film „Traumland“ von Petra Volpe hast du für meine Begriffe eine besonders starke und tiefgehende Emotionalität geschaffen. War das von Anfang an dein Ziel? Oder ist dir erst am Ende der Komposition bewusstgeworden, wie gefühlvoll und berührend dieser Soundtrack ist?

Sascha:
Die Musik zu „Traumland“ ist folgendermaßen entstanden: Ich habe mir den Film angeschaut und dazu einfach vor mich hingejammt. Das war ziemlich cool. So eine spielerische Herangehensweise ist aber nur möglich, wenn man die entsprechende Zeit und auch den Freiraum hat.
Ich mache ohnehin von Haus aus Musik, die sehr gefühlvoll ist. Allerdings muss man aufpassen, dass man es nicht übertreibt. Vor allem bei dem Genre der Filmmusik habe ich gelernt, dass man extrem vorsichtig sein muss, da hier der Schritt zur Manipulation besonders klein ist. Man darf nicht versuchen, musikalisch die Stimmung zu verstärken, die eh schon durch den Film erzeugt wird. Denn wenn das Ganze nicht unbedingt für RTL2 produziert ist, kann es passieren, dass sich der Zuschauer schnell
manipuliert fühlt und einem das, was er da sieht, nicht mehr abnimmt.

Jonas:
Würdest du sagen, dass die Musik, die du bei Apparat und Moderat erschaffst, eine grundsätzlich andere Wirkung auf Menschen hat als beispielsweise Schlager oder Metal?

Sascha (grinst):
Das kommt auf die Menschen an. Es gibt sicherlich auch Leute, auf die die Musik von Helene Fischer eine unfassbar emotionale Wirkung hat und denen das richtig nah ans Herz geht.

Jonas:
Emotionale Wirkung kann rein theoretisch auch Aggression bedeuten.

Sascha:
Absolut. Ich bin sowieso der Überzeugung, dass es bei jeder Art von Musik – jeder Art von Kunst – wichtig ist, dass sie irgendeine Reaktion hervorruft.
Wenn sie einfach nur an den Leuten vorbeigeht, hat es nichts gebracht.

Irgendwann kommt man doch wieder zu der Musik von damals zurück – mit all den vielen Kindheitserinnerungen, die daran hängen

Jonas:
Zu deinem Album „The Devil’s Walk“ aus dem Jahr 2011 gibt es einen Kurzfilm, in dem du die langsame, aber stetige Veränderung deiner Musik beschreibst: Du erzählst, dass sich zu dem rein elektronischen Sound deiner Anfangsjahre mit der Zeit immer mehr Akustikelemente addiert haben. Fühlst du dich zwischen elektronischer und akustischer Musik hin- und hergerissen?

Sascha:
Zu meiner Anfangszeit um die Jahrtausendwende gab es noch wahnsinnig viel zu entdecken. Die ganze Computermusikwelt schien zu explodieren: Ständig wurden neue Plugins entwickelt, die wiederum ganz neue Sounds generieren konnten.
Und wenn da noch nichts Passendes dabei war, hat man sich seine Sounds einfach selbst programmiert.
In den letzten Jahren sind für mich elektronische Geräusche aber zunehmend langweilig geworden. Ich habe immer seltener einen Aha-Effekt, wenn ich elektronische Musik höre – das Thema ist einfach etwas abgegessen.
Für mich haben mittlerweile akustische Signale einen größeren Reiz, weil sie nie hundertprozentig perfekt sind. Außerdem bekommen sie meiner Meinung nach den Ohren wesentlich besser – jedenfalls, wenn sie gut aufgenommen sind. Nach wie vor liegt für mich persönlich die Magie immer noch darin, elektronische Sounds mit akustischen zu kombinieren.

Jonas:
Gibt es ganz aktuell für dich Musik, bei der du das Gefühl hast, etwas zu entdecken?

Sascha:
Ich höre zur Zeit sehr viel ältere Musik, vor allem die 80er haben es mir angetan. Dieses Jahrzehnt habe ich musikalisch immer noch nicht vollständig erkundet. Ich entdecke aus dieser Zeit immer wieder Sachen, die ich richtig toll finde.
Damals wurde Musik noch richtig aufgenommen. Doch leider gab es irgendwann einen Zeitpunkt, von dem an man alles tot- komprimiert hat, nur damit es besonders gut im Radio knallt.

Jonas:
Mit der Musik der 80er verbindet unsere Generationen einfach unzählige Kindheitserinnerungen.

Sascha:
Das ist absolut wahr. Ich habe immer noch vor Augen, wie ich als Kind mit meinem Vater auf der Wohnzimmercouch saß und wir auf einem Tonbandgerät Westradio-Shows mitgeschnitten haben. So haben wir das Programm für die Konzerte seiner Coverband „zusammengeraubkopiert“.
Das Absurde dabei war: Mein Vater sprach kein Englisch, daher hat er sich alle Texte in Lautschrift mitgeschrieben. Und mit diesem Fantasie-Englisch hat er dann auf der Bühne beispielsweise seine Cover-Versionen von Roxy Music gespielt.
Durch solche Geschichten baut man natürlich eine besondere emotionale Bindung zu dieser Musik auf – Roxy Music finde ich auch heute noch geil. Zwar fand ich später als Teenager die Musik von meinem Vater doof und dachte, ich müsse rebellieren und Techno hören. Aber irgendwann kommt man doch wieder zu der Musik von damals zurück – mit all den vielen Kindheitserinnerungen, die daran hängen.

Jonas:
Bist du ab und zu noch in Quedlinburg?

Sascha:
Ich bin gerade dabei, ein neues Verhältnis zu meiner Heimatstadt herzustellen. Und ich habe das Gefühl, das klappt bisher ganz gut. Wenn man länger nicht an einem Ort war, verändert sich einfach die Beziehung dazu.
Mittlerweile finde ich es echt schön, wieder dorthin zu fahren. Ich sehe die Stadt heute einfach anders – und die Stadt sieht auch tatsächlich anders aus: Vor 15 Jahren war Quedlinburg noch total grau, heute ist daraus eine mega Touri-Stadt geworden.

Jonas:
Du selbst hast dich in all den Jahren ja auch sehr verändert. Vielleicht lernt ihr beide euch gerade neu kennen.

Sascha:
Vielleicht. Vor 18 Jahren bin ich aus Quedlinburg geflohen, um den vielen negativen Einflüssen zu entkommen – aber die gibt’s jetzt ja nicht mehr. Ich finde, das ist eine recht gute Voraussetzung.