Interview — Anna−Sophia Richard
»Menschen müssen kreativ sein, wenn es ums eigene Überleben geht«
In ihrem Dokumentarfilm »Los cuatro vientos« macht Regisseurin Anna-Sophia Richard sichtbar, wie die Arbeitsmigration in den globalen Norden seit Jahrzehnten ein kleines Dorf in der Dominikanischen Republik verändert. Dafür wurde sie gerade mit dem »Young C. Award« des renommierten CIVIS Medienpreises ausgezeichnet. Im Interview erklärt sie, warum in der Dominikanischen Republik ein riesiges Missverständnis über das Leben im Ausland herrscht, was ihre eigene Lebensgeschichte mit dem Film zu tun hat und wieso insbesondere Frauen weder im Exil noch in ihrer Heimat die Anerkennung erfahren, die ihnen zusteht.
6. Juni 2022 — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotografie: Frederike van der Straeten
Der Südwesten der Dominikanischen Republik ist eine Region, die besonders stark von der Auswanderung der einheimischen Bevölkerung geprägt ist. So ist es auch im Dorf Fondo Negro, dessen Bewohner*innen in alle Himmelsrichtungen verstreut leben. Denn im Ausland, so der allgemeine Glaube, lockten neue Perspektiven und vor allem Wohlstand. Und damit eine lukrative Einnahmequelle, um die zurückgelassene Familie zu versorgen.
Doch die Realität ist meistens eine andere: In vielen Fällen hetzen die Menschen im Exil von einer unsicheren, ausbeuterischen Arbeitsstelle zur nächsten – immer mit dem Druck im Nacken, genügend Geld nach Hause zu schicken und das Überleben der Familie zu sichern. Gleichzeitig werden sie im Laufe der Monate und Jahre immer mehr zu Fremden in ihrem Heimatdorf.
Mit den vielfältigen Geschichten jener Menschen aus Fondo Negro befasst sich der Dokumentarfilm „Los cuatro vientos“ von Regisseurin Anna-Sophia Richard, der von der Ludwigsburger Giganten Film produziert wurde und am 4. November 2021 im SWR seine TV-Premiere feierte. „Die vier Winde“, so der deutsche Titel, macht exemplarisch sechs besondere Schicksale sichtbar. So etwa das von Orfedita Herédia, die die erste Frau aus Fondo Negro war, die nach Europa auswanderte. Nach Jahren der Arbeit im Ausland kehrte sie 2010 in ihr Dorf zurück, wo sie kurze Zeit später zur Bürgermeisterin gewählt wurde.
Doch in „Los cuatro vientos“ geht es auch um die Lebensgeschichten und Gefühlswelten von Menschen, die nicht zurückgekommen sind und in New York, Stuttgart oder Madrid feststecken. Dort haben sie nicht nur mit Einsamkeit, Heimweh und Existenzängsten zu kämpfen. Durch ihre ökonomische Lage können sie auch kaum eine freie Entscheidung treffen. Und ihre familiären Beziehungen sind durch die große Distanz permanent bedroht.
Als Tochter eines dominikanischen Vaters und einer deutschen Mutter erlebte die Regisseurin selbst, wie einschneidend die Auswanderung ein Leben verändern kann. Mit sechs Jahren zog Anna-Sophia Richard mit ihrer Mutter und ihrer jüngeren Schwester aus der Dominikanischen Republik nach Deutschland, ihr Vater aber blieb dort. Einige Jahre später versuchte auch er, in Deutschland anzukommen. Doch die Erfahrung von alltäglichem Rassismus und Chancenungleichheiten ließen ihn enttäuscht in die Dominikanische Republik zurückkehren.
Die Erfahrungen aus ihrer Kindheit und Jugend haben Anna-Sophia Richard motiviert zu erforschen, wie sich die Dominikanische Republik durch die Auswanderung so vieler Menschen verändert und wie diese die Folgen von Familientrennung erleben und verarbeiten. Vor wenigen Tagen nun wurden sie und ihr Dokumentarfilm mit dem „Young C. Award“ des renommierten CIVIS Award ausgezeichnet – Europas bedeutendstem Medienpreis für Integration und kulturelle Vielfalt.
»Ich wollte deutlich machen, dass Arbeitsmigrant:innen sehr viel aufgeben, um bei uns ihr Glück zu suchen.«
MYP Magazine:
Anna, was hat Dich motiviert, so einen Film wie „Los cuatro vientos“ zu machen?
Anna-Sophia Richard:
Ich bin in der Dominikanischen Republik zur Welt gekommen und aufgewachsen. Als ich sechs Jahre alt war, ist meine Mutter mit mir nach Deutschland gezogen, mein Vater aber blieb dort. Seitdem hat mich das Thema einer getrennten Familie nicht mehr losgelassen – auch, weil der Rest meiner dominikanischen Verwandten auf der ganzen Welt verstreut lebt. Mit „Los cuatro vientos“ wollte ich verschiedenste Aspekte der Migration sichtbar machen, die ich selbst aus meiner „Kinderperspektive“ noch nicht kannte.
Außerdem hatte ich immer das Gefühl, dass in unserer gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit Migrationsgeschichten die Arbeitsmigration eine geringere Beachtung findet als andere Formen der Migration. Mit „Los cuatro vientos“ wollte ich deutlich machen, dass Arbeitsmigrant:innen sehr viel aufgeben, um bei uns ihr Glück zu suchen. Die Entbehrung und Opfer sind für die ganze Familie schwerwiegend und bedeuten einen großen Verlust.
»Vieles wird sichtbar, was sich die meisten von uns im globalen Norden gar nicht vorstellen können.«
MYP Magazine:
Welche Gefühle hattest Du selbst während der Arbeit an dem Film?
Anna-Sophia Richard:
Sehr gemischte. Als ich angefangen habe, an „Los cuatro vientos“ zu arbeiten, wurde ich öfter gefragt, welche Haltung ich selbst zu diesen Migrationsgeschichten habe; ob ich es als positiv oder negativ empfinde, dass die Leute ihr Dorf und ihre Familien verlassen. Dadurch wurde mir bewusst, dass ich keine wertende Haltung einnehmen wollte. Diese Erkenntnis war sehr wichtig und hat sich im filmischen Prozess verfestigt. Mir wurde durch die Arbeit am Film klar, dass es immer Migration geben wird. Und dass das Leben der Bleibenden auf den ersten Blick glücklicher wirkt, jedoch ohne die Opfer der Auswandernden nicht möglich ist.
Gleichzeitig ist in mir aber auch ein tiefes Gefühl der Bewunderung für diese Menschen entstanden. Wenn man die einzelnen Schicksale aufdröselt, wird vieles sichtbar, was sich die meisten von uns im globalen Norden gar nicht vorstellen können. In mir persönlich hat das tiefe Gefühle von Demut und Traurigkeit ausgelöst – und die Sehnsucht dieser Menschen nach ihrem Herkunftsland habe ich im Laufe der Dreharbeiten immer besser verstehen und nachempfinden können.
»Viele dominikanische Kinder und Jugendliche träumen davon, durch Baseball ihr Glück zu machen.«
MYP Magazine:
Wie hast Du diese Menschen überhaupt gefunden? Und wie ist es dir gelungen, dass sie Dir so persönliche und intime Gedanken anvertraut haben – und das auch noch vor einer Kamera?
Anna-Sophia Richard:
Mein Kameramann Jonas Schneider und ich haben im Vorfeld zwei große Recherchereisen in die Dominikanische Republik unternommen und dabei etliche Interviews geführt, bevor wir schließlich eine Entscheidung für die Protagonist:innen des Films getroffen haben. Das waren stellenweise zehn Gespräche am Tag. Uns war klar, dass wir Migration in all ihren Facetten erzählen wollten, und daher hatten wir sehr klare Vorstellungen von den Perspektiven, die der Film repräsentieren soll.
Für die Perspektive der Kinder hat sich beispielsweise das Thema Baseball angeboten, der Sport hat dort denselben Stellenwert wie in Deutschland der Fußball und ist mit denselben Träumen und Sehnsüchten verbunden. Viele dominikanische Kinder und Jugendliche träumen davon, durch Baseball ihr Glück zu machen, auch wenn am Ende nur sehr wenige von ihnen wirklich schaffen.
»In der Dominikanischen Republik herrscht ein riesiges Missverständnis darüber, wie so ein neues Leben im Ausland aussieht.«
MYP Magazine:
Wie haben die Menschen vor Ort darauf reagiert, dass Du über ihre Situation einen Dokumentarfilm machen wolltest?
Anna-Sophia Richard:
Insgesamt haben sich sehr viele Menschen, mit denen wir ins Gespräch gekommen sind, über unser Filmvorhaben gefreut und uns bereitwillig unterstützt. Dabei war es von Vorteil, dass ich selbst sehr offen mit meiner eigenen Geschichte umgegangen bin und den Leuten viel von meiner familiären Situation erzählt habe. Ich denke, dadurch haben sie sich auf eine besondere Weise mit mir verbunden gefühlt. Überhaupt ist es den Menschen dort wichtig, dass ihre Geschichten erzählt werden. Sie alle erleben Tag für Tag, welche immensen Folgen die Migration auf ihr Leben hat, und sie leiden unter dem Rassismus und den Vorurteilen, mit denen die Leute ihnen in ihrer neuen Umgebung begegnen.
Zudem herrscht in der Dominikanischen Republik ein riesiges Missverständnis darüber, wie so ein neues Leben im Ausland aussieht. Und viele derjenigen, die etwa nach Europa oder in die USA migriert sind, haben ein großes Interesse daran, dass auch ihre Landsleute verstehen, wie hart und entbehrungsreich das neue Leben ist.
»Jede:r von ihnen hat die Hoffnung: Wenn ich es versuche, dann wird sich mein Leben verbessern.«
MYP Magazine:
Die Protagonistin Julia sagt an einer Stelle des Films: „Als ich auswanderte, habe ich nicht darüber nachgedacht, was mich erwarten würde.“ Mangelt es den Menschen in der Dominikanischen Republik an Informationen, wie das Leben ihrer migrierten Landsleute im Ausland tatsächlich aussieht – und welche Widrigkeiten damit oft verbunden sind?
Anna-Sophia Richard:
Jede:r von ihnen hat die Hoffnung: Wenn ich es versuche, dann wird sich mein Leben verbessern. Diese Zuversicht ist ja auch etwas total Menschliches. Das Problem ist nur, dass die, die im Ausland leben, den anderen in der Heimat zeigen wollen, dass es ihnen gut geht; dass sie es geschafft haben; dass ihre Entscheidung richtig war. Und sie möchten, dass sich ihre Familien keine Sorgen machen. Von den Problemen wird dann eher weniger erzählt, vor allem, wenn man gerade auf Besuch in der Dominikanischen Republik ist.
MYP Magazine:
Glaubst Du, dass Dir deine eigene Biografie dabei geholfen hat, diesen Dokumentarfilm zu realisieren?
Anna-Sophia Richard:
Ja, auf jeden Fall. Die Protagonist:innen haben mir schnell vertraut und sich geöffnet, insgesamt habe ich mich in dem Thema sehr sicher gefühlt und dadurch eine große Freiheit bei der Umsetzung empfunden. Für mich ist das eine wichtige Voraussetzung, um ein Filmprojekt umzusetzen. Das half mir auch, mich auf die Sprache des Films zu konzentrieren. Uns ging es darum, mit dem Film Gefühle zu vermitteln und nicht nur durch Fakten aufzuklären.
»Wir wollten die Menschen wertschätzend und würdevoll abbilden und keinen westlichen Armutsvoyeurismus befördern.«
MYP Magazine:
„Los cuatro vientos“ wirkt sehr stimmungsvoll und fast szenisch. Dieser Eindruck entsteht unter anderem durch die langsamen Kamerafahrten, die ungewöhnlichen Bildausschnitte und die cineastischen Farben. Warum haben Dein Kameramann Jonas Schneider und Du auf diesen Stil gesetzt?
Anna-Sophia Richard:
Während unserer vielen Gespräche vor Ort haben wir immer wieder von Menschen gehört, die im Ausland gestorben sind und es nicht mehr geschafft haben, noch einmal ihre Heimat zu sehen. Diese Geschichten haben uns sehr berührt und uns dazu inspiriert, einen sehnsuchtsvollen Blick auf Fondo Negro einzunehmen – einen Blick, der wie die Erinnerung dominikanischer Migrant:innen an ihr geliebtes Zuhause wirkt. Dabei sollte die Kamera immer das Gefühl vermitteln, mehr oder weniger zu schweben – und von den vier Winden getragen zu sein, die für die vier Himmelsrichtungen stehen, in die die Menschen ausgewandert sind. Außerdem wollten wir die Menschen wertschätzend und würdevoll abbilden und keinen westlichen Armutsvoyeurismus befördern. Es ist ohnehin die Frage, wer von den beiden Personengruppen das härtere Los gezogen hat: diejenigen, die im Dorf geblieben sind, oder diejenigen, die weit weg in der Fremde leben und diese große Sehnsucht in sich tragen.
MYP Magazine:
Im Film wirken die Orte der Migration eher dunkel und kühl, während die Szenen in der Dominikanischen Republik durchgehend hell und warm dargestellt sind.
Anna-Sophia Richard:
Das war ein wichtiger Teil unseres Konzepts. Im Film wirkt beispielsweise New York mit seinen riesigen Hochhäusern wie ein Ort, an dem man sich als einzelner Menschen total klein fühlt. Oder Stuttgart, das in unserem Film wie ein Ort der Einsamkeit wirkt. Mir ist es selbst immer wieder passiert, dass ich aus der Dominikanischen Republik nach Deutschland geflogen bin, dann im Auto auf dem Weg nach Hause saß und das Gefühl hatte: Hier ist ja gar nichts los auf den Straßen. Wo sind denn diese ganzen Menschen?
»Als junge Mutter mag ich mir kaum vorstellen, wie schmerzhaft es für Orfedita war, ihre Familie und das Neugeborene zu verlassen.«
MYP Magazine:
Gibt es ein persönliches Schicksal, das Dir im Laufe des Drehs besonders ans Herz gewachsen ist?
Anna-Sophia Richard:
Ich konnte mich insbesondere mit den Frauen sehr gut identifizieren. Ich finde es stark, wie sie sich für ihre Familien aufgeopfert haben und zusätzlich mit einer überaus machistischen Gesellschaft in ihrer Heimat konfrontiert sind. Es ist bemerkenswert, wie viele dominikanische Frauen sich im Ausland fast zu Tode arbeiten und trotzdem zu Hause nicht die Anerkennung erhalten, die sie verdienen.
Und da ich selbst vor kurzem Mutter geworden bin, muss ich immer wieder an Orfedita Herédia denken, die Bürgermeisterin des Dorfes. Sie hatte in den 1980er Jahren als eine der ersten dominikanischen Frauen das Dorf verlassen, ihr Kind war da gerade erst drei Monate alt. Als junge Mutter mag ich mir kaum vorstellen, wie schmerzhaft es für Orfedita war, ihre Familie und das Neugeborene zu verlassen. Die vielen Ängste und Vorwürfe, die sie sich damals gemacht hat, waren unerträglich für sie.
Ganz davon abgesehen gab es in jener Zeit auch noch kein Internet – das heißt, Frauen wie Orfedita sind in ein Land ausgewandert, von dem sie nicht wussten, wie es aussieht und was sie dort erwarten würde. Und sie haben in Kauf genommen, ihre Familie für Monate, vielleicht für Jahre nicht wiederzusehen. Dass es heutzutage möglich ist, täglich über Videoanruf zu kommunizieren, war für sie unvorstellbar.
MYP Magazine:
Warum ist es im Süden der Dominikanischen Republik so, dass so viele Frauen auswandern und so wenige Männer?
Anna-Sophia Richard:
In den 1980er Jahren wurden in Spanien und in anderen europäischen Ländern immer mehr Frauen berufstätig. Und so gab es einen immer größeren Bedarf an weiblichen Haushaltshilfen.
MYP Magazine:
Glaubst Du, dass eine Chance besteht, dass die Männer dort verstehen, welches anachronistische Bild auf Gesellschaft und Mann und Frau sie haben und welche Steine ihnen das letztendlich in den Weg legt?
Anna-Sophia Richard:
Es wäre wünschenswert, wenn das verstanden würde. Aber das ist ein langer Prozess.
»Auch wir in Deutschland haben noch einen langen Weg vor uns, was Aufklärung, Gleichberechtigung und Gender-Themen angeht.«
MYP Magazine:
Im Film wird unter anderem ein Gespräch zwischen der Bürgermeisterin und einem Mann gezeigt. Sie unterhalten sich über eine aus Fondo Negro stammende Frau, die in Madrid von ihrem Ex-Partner ermordet wurde. Die Bürgermeisterin sagt: „Solche Geschichten dürfen nicht vergessen werden. Wir Frauen sind wehrlose Wesen. Am Ende sind wir leichte Beute. Das muss sich ändern.“
Anna-Sophia Richard:
Da hat sie recht. Ich bin mir aber nicht sicher, ob auch andere Frauen das so sehen, wie Orfedita das tut. Und zudem muss man sagen, dass leider die Frauen, die aus der Dominikanischen Republik oft auswandern, auch in ihrem neuen Alltag unter Situationen leiden, in denen sie als Frauen diskriminiert werden. Viele müssen als Putzkräfte arbeiten. Hinzu kommen sexuelle Übergriffe, die migrantische Frauen häufig treffen. Die Realität in Deutschland ist ja nicht so, dass hier unbedingt alles so ist, wie man es sich wünschen würde. Warum ich das so explizit sage: Auf jeden Fall muss sich in der Dominikanischen Republik etwas ändern. Und ich hoffe, dass es das auch tut. Aber auch wir hier haben noch einen langen Weg vor uns, was Aufklärung, Gleichberechtigung und Gender-Themen angeht. Ganz oft sind die Frauen, die als Migrantinnen kommen, auch die, die am stärksten leiden. Manche haben als Ärztinnen gearbeitet, sind hier aber erst mal Putzkräfte. Sie leiden dadurch doppelt: unter Rassismus und Sexismus.
»Diese Fälle sind nicht weniger wichtig als die von Menschen, die vor dem Krieg oder Naturkatastrophen geflohen sind.«
MYP Magazine:
Gerade erleben wir in Europa eine Situation, in der ebenfalls unzählige Frauen ihr Land verlassen und die Männer zurückbleiben – allerdings, weil sie vor dem Krieg fliehen, nicht vor der Armut. Welche Bedeutung hat ein Film wie Deiner in der aktuellen Zeit? Gibt es Parallelen, die Du ziehen kannst?
Anna-Sophia Richard:
Was jede Flucht mit sich bringt, ist die Trennung von Familien. Meine Protagonist:innen im Ausland haben einen Sehnsuchtsort, der immer noch existiert. Sie können ihre Sehnsucht beruhigen, indem sie sich sagen: In ein paar Jahren kann ich den nochmal sehen – egal, wie unrealistisch das ist, weil sie vielleicht gar nicht das Geld für das Flugticket zusammenbekommen. In der Ukraine ist das etwas anderes: Da wissen die Leute, dass das Land vielleicht nie wieder so aussehen wird, wie sie es kennen. Das muss ein furchtbarer Schmerz sein.
Unser Film ist zeitlos und wichtig. Das Thema Migration wird immer existieren und jedes Land hat seine eigene Auswanderungsgeschichte, wie ein Protagonist in unserem Film sagt. Die Gründe für das Weggehen oder die Flucht sind vielfältig. Sie zu bewerten oder gar zu verurteilen, steht uns nicht an. Selten wird über die wirtschaftliche Bedeutung der Migration gesprochen. Dabei profitiert sowohl die Ökonomie der Einwanderungsländer als auch die der Auswanderungsländer. Ohne die Überweisungen aus dem Ausland wäre deren Wirtschaftskraft deutlich niedriger – und Hunger und Armut dagegen viel stärker ausgeprägt.
Unser Film macht deutlich, wie sehr das Leben der Familien vom dem im Ausland erwirtschafteten Geld abhängt. Und da die Migration immer weitergeht, ist das ein Zirkel, der nie enden wird.
Mein Anspruch war zu zeigen, dass diese Fälle nicht weniger wichtig sind als die von Menschen, die vor dem Krieg oder Naturkatastrophen geflohen sind. Die Leute aus der Dominikanischen Republik kommen ja nicht, weil sie Deutschland so schön finden und unbedingt dort leben wollen. Sie kommen, weil ihnen nichts anderes übrig bleibt. Und das, was sie dafür aufgeben, ist für uns unvorstellbar. Wir können uns in der Regel nicht vorstellen, dass man sich von seiner Familie verabschiedet in dem Wissen, sie vielleicht nie wiederzusehen.
»Menschen müssen kreativ sein, wenn es ums eigene Überleben geht.«
MYP Magazine:
„Los cuatro vientos“ ist Dein Abschlussfilm. Was glaubst Du, wie hat dieser Film Deine berufliche Zukunft beeinflusst? Bist Du durch den Film auf neue Themen gestoßen, die Dich als Regisseurin interessieren?
Anna-Sophia Richard:
Neue Themen habe ich durch den Film für mich nicht entdecken können. Aber ich habe als Regisseurin besser verstehen können, wie ich Filme machen möchte. Dazu gehört auch, mich und meine eigene Sprache weiterzuentwickeln. Darauf habe ich wieder einen frischen Blick werfen können. Momentan entwickle ich ein szenisches Projekt über eine Frau, die durch eine Scheinehe nach Deutschland auswandern kann und der die neue Realität sehr zu schaffen macht. Es gibt die verschiedensten Formen der Migration und Menschen müssen kreativ sein, wenn es ums eigene Überleben geht.
Hinweis:
Der Film wird am 11. Juli 2022 um 20:15 auf dem Sender Tagesschau24 erneut ausgestrahlt.
Mehr von und über Anna-Sophia Richard:
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Interview & Text: Jonas Meyer
Fotografie: Frederike van der Straeten