Interview — Alfie Templeman
»Mich inspirieren Menschen, die sich mit der Welt auseinandersetzen«
»Radiosoul«, das dritte Studioalbum von Alfie Templeman, ist genau das Richtige, wenn über einem dunkle Wolken aufziehen – eine große Portion Funk und Soul, die vor allem mit ihren komplexen Arrangements besticht. Entstanden ist die Platte aus den persönlichen Tiefen heraus, die der 21-jährige Multi-Instrumentalist, Songwriter und Produzent in den letzten Jahren durchlebt hat. Ein Interview über musikalische Freiräume auf dem Dorf, die Macht von Algorithmen und die Frage, ob man seine Probleme in einer Tupperbox frischhalten sollte.
31. August 2024 — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotografie: Roberto Brundo
Es gibt Momente im Leben, da hängt man emotional ziemlich in den Seilen. Waschmaschine kaputt, Beziehung auch, und weder draußen vor der Tür noch drinnen im Herzen will sich richtig Sommer einstellen. Was also tun gegen den bleiernen Blues?
Am besten eine große Portion Eis! Oder noch besser: eine große Portion Funk und Soul, wie sie etwa auf dem neuen Album von Alfie Templeman serviert wird. Kein Scherz. Denn in „Radiosoul“, dem mittlerweile dritten Studioalbum des 21-jährigen Multitalents aus London, steckt so viel musikalische Energie und Lebensfreude, dass man gar nicht anders kann, als mit dem Popöchen zu wackeln, die Vorhänge aufzuziehen und mal kräftig durchzulüften in der dunklen Bude.
Das Bestechende an diesem Album ist allerdings nicht die schiere Massen an verschiedenen musikalischen Elementen, sondern ihre Zusammensetzung. Zwar spielt Alfie insgesamt elf Musikinstrumente (oder zwölf, wenn man seine oft eher instrumental genutzte Stimme mitzählt). Dennoch hat er präzise darauf geachtet, nicht einfach alles in einen Topf zu werfen und daraus einen großen Pott Londoner Allerlei zu kredenzen.
Das komplexe Arrangement der insgesamt elf Songs auf „Radiosoul“ entspricht eher einem ausgeklügelten, fein abgestimmten Menü eines Sternerestaurants, bei dem sich mit jedem Gang eine kleine Geschmacksexplosion am Gaumen vollzieht. Hört sich an wie ein Werbetext? Nee, wir meinen das wirklich ernst. Hier eine kleine Kostprobe:
Aufgewachsen ist Alfie Templeman in Carlton, einem 800-Seelen-Dorf zwei Stunden nördlich von London, von wo aus er 2018 seine musikalische Karriere startete – mit Songs, die er in seinem Kinderzimmer aufnahm und die mittlerweile Abermillionen Streams auf Spotify zählen.
Doch der 21-Jährige wirkt alles andere als abgehoben, als wir ihn Ende Mai in Berlin zu einem lauschigen Interview- und Shooting-Nachmittag treffen. Nein, Alfie freut sich geradezu darüber, nicht auf der Straße erkannt zu werden, und steht den Marktmechanismen der Musikindustrie, die mittlerweile stark von den Algorithmen sozialer Netzwerke getriebenen sind, äußerst kritisch gegenüber.
Doch reden wir erst mal über das neue Album: jene große Portion Funk und Soul, mit der sich jeder emotionale Grauschleier vertreiben lässt – und die Alfie Templeman mit einem ungewöhnlichen Hinweis zur persönlichen Problembewältigung beginnen lässt.
»Mit dem Song wollte ich mir selbst für einen kurzen Moment eine Atempause verschaffen.«
MYP Magazine:
Alfie, Du eröffnest Dein neues Album mit der Zeile „I stashed my problems in a Tupperware“. Ist das eine empfehlenswerte Strategie, um mit Sorgen und Problemen umzugehen?
Alfie Templeman: (lacht)
Leider nein – auch wenn ich versuche, mir das selbst einzureden, zumindest bei dem Song „Radiosoul“, aus dem die Zeile stammt. Wie bei jedem anderen Menschen gibt es auch in meinem Leben Dinge, die mich belasten – und ich bin jemand, der immer wieder versucht, all seine Probleme beiseitezuschieben. Mit dem Song wollte ich mir selbst für einen kurzen Moment eine Atempause verschaffen. Ich wollte mich und andere ermutigen, die eigenen Probleme mal kurz in eine Tupperdose zu stecken. Aber vielleicht sollte man das auch einfach lassen. Immerhin löst man damit kein Problem, sondern verschiebt es nur – denn in so einer Box bleiben die Probleme länger frisch… höchste Zeit eigentlich, dass ich meine Tupperware öffne und mich meinen Sorgen stelle.
»Vielleicht bleibt mir beim Songschreiben gar nichts anderes übrig, als aus meiner eigenen Realität zu schöpfen.«
MYP Magazine:
In der Pressemitteilung zu dem Album heißt es, dass es Dir schwerfällt, über Deine Gefühle zu sprechen – interessanterweise ganz im Gegenteil zu Deiner Musik, denn in den elf Songs Deines neuen Albums öffnest Du dich gegenüber Dein Publikum auf eine fast radikale Art und Weise. Bist Du von dieser Ambivalenz selbst überrascht?
Alfie Templeman:
Überrascht bin ich nicht. Ich finde es eher seltsam. Wenn ich in einem Song über meine Gefühle spreche, denke ich darüber nicht wirklich nach. Es ist vielmehr eine unterbewusste Entscheidung, meine persönlichen Empfindungen zu thematisieren. Vielleicht bleibt mir beim Songschreiben aber auch gar nichts anderes übrig, als aus meiner eigenen Realität zu schöpfen. Wer weiß: Würde ich in meiner Freizeit gerne Fantasy-Romane lesen und mich von dieser Welt inspirieren lassen, würde ich meine eigenen Texte wohl viel fiktionaler gestalten.
Alfie überlegt einen Moment.
Es passiert übrigens immer wieder, dass mir Menschen davon berichten, wie meine Musik ihnen in bestimmten Phasen ihres Lebens geholfen hat. Dabei beziehen sie sich oft auf konkrete Songtexte, in denen sie ihre eigenen Gefühle gespiegelt sehen, und wollen wissen, welche persönlichen Erlebnisse ich da verarbeitet habe. In solchen Momenten habe ich fast nie eine Antwort parat – weil ich bei den allermeisten Songs vergessen habe, aus welcher Situation heraus sie entstanden sind.
»In meinen Songs gibt es nicht allzu viele Bilder. Ich schreie immer direkt heraus, wie es mir geht.«
MYP Magazine:
Wir hatten vor Kurzem ein Interview mit der österreichischen Rockband Wanda, in dem der Frontmann sagte: „Eigentlich will ich den Text (eines Songs) gar nicht so sezieren. Es handelt sich dabei immer noch um Lyrik – und die kann niemals eindeutig sein. Selbst wenn ich eine Zeile wie der Himmel ist blau in einen Song hinein schreiben würde, gäbe es da immer noch ein riesiges Spektrum an Bedeutungen.“ Sind Deine Texte inhaltlich verbindlicher?
Alfie Templeman:
Ja, auf jeden Fall! In meinen Songs gibt es nicht allzu viele Bilder. Ich schreie immer direkt heraus, wie es mir geht. Und wenn es auf den ersten Blick nicht so glasklar ist, kann man die Bedeutung einer Zeile zumindest irgendwie erahnen, denn ich beschreibe in der Regel einfach nur das, was ich fühle.
MYP Magazine:
Dein Song „Eyes Wide Shut“ wirkt wie eine letzte große Abrechnung mit der Welt. Bildet dieses Lied ebenfalls Deinen persönlichen Gefühlszustand ab?
Alfie Templeman:
Dieser Song ist während und nach meiner letzten Tour entstanden. Damals gab es immer wieder Situationen, in denen ich super beschäftigt war und sich mein Gehirn fast überreaktiv anfühlte. Dann, im nächsten Moment, war ich plötzlich irgendwo im Nirgendwo, ganz alleine und ohne irgendeine Aufgabe. Da war nur absolute Stille. Diesen Kontrast zu erleben, fand ich sehr spannend – und daraus habe ich dann einen Song gebastelt.
»Die großen Ohren sollen zeigen, wie es sich anfühlt, wenn man eine absolute Reizüberflutung erlebt.«
MYP Magazine:
In dem Video bist Du mit übergroßen Ohren zu sehen. Welche Idee steckt hinter dieser plakativen Maske?
Alfie Templeman:
Die großen Ohren sollen zeigen, wie es sich anfühlt, wenn man eine absolute Reizüberflutung erlebt, von allem um sich herum absolut überwältigt ist und einfach nur die Stille sucht.
MYP Magazine:
Interessanterweise bestehen auch die Lyrics von „Eyes Wide Shut“ aus vielen symbolträchtigen Bildern – was für Deine Musik eher ungewöhnlich ist.
Alfie Templeman:
Das liegt vor allem daran, dass ich den Song zusammen mit meinem guten Freund Justin Hayward-Young geschrieben habe. Justin hat mir nicht nur dabei geholfen, den Text zu zerhacken, sondern mir auch bei der Bildsprache unter die Arme gegriffen. Er ist wirklich gut darin, allein mit Worten besondere Bilder zu malen. Das ist etwas, was ich selbst nicht so gut kann – aber worin ich besser werden will. Ich mag Songs wie „Eyes Wide Shut“ total, weil sie aus vielen kleinen Wortfetzen zusammengesetzt sind. Das finde ich ziemlich lustig.
»Leider habe ich zunehmend das Gefühl, dass wir uns in der Musikbranche auf einen falschen Weg begeben haben.«
MYP Magazine:
Dabei hat der Song aber auch eine ernsthafte Seite, denn er nimmt eine Perspektive ein, die aktuell viele und vor allem junge Menschen verbindet: Die ganze Welt ist beschissen und es gibt keine positive Vision für die Zukunft. Gleichzeitig strotzt der Sound von „Eyes Wide Shut“ nur so vor Funk und Soul. Ist energetische Musik das einzige Mittel, mit dem man unsere Welt noch ertragen kann?
Alfie Templeman:
Eindeutig ja. Zumindest, wenn man mit Musik respektvoll umgeht und als das ansieht, was sie ist: eine Kunstform. Mich inspirieren Menschen, die sich mit der Welt auseinandersetzen, daraus eine klare Vision für ihre Musik ableiten und in ein Album transformieren. Solange es solche Menschen gibt, bleibe ich optimistisch – in Bezug auf meine eigene Zukunft, aber auch die der ganzen Welt.
Leider habe ich zunehmend das Gefühl, dass wir uns in der Musikbranche auf einen falschen Weg begeben haben. Alles wirkt immer oberflächlicher und oft hat man den Eindruck, dass soziale Medien, allen voran TikTok, mehr und mehr die Kriterien für die Entwicklung von Musik vorgeben. Das macht mich sehr traurig und beunruhigt mich auch. Umso schöner ist es daher, wenn man auf echte Künstler stößt, die der Kunst immer noch den Vorrang geben.
»Ich habe mir fest vorgenommen, mich nicht den Algorithmen zu unterwerfen.«
MYP Magazine:
Vielleicht gibt es irgendwann in der Zukunft ja mal eine Social-Media-Plattform, die sich an ganzen Musikalben und nicht an maximal 60 Sekunden langen Tracks orientiert.
Alfie Templeman:
Das wäre zu schön.
MYP Magazine:
Fühlst Du persönlich einen gewissen Druck, Musik zu kreieren, die in erster Linie den Algorithmen schmeichelt?
Alfie Templeman:
Tatsächlich wurde ich von Labels immer wieder mal gefragt, ob ich nicht einen Song für TikTok schreiben könne. Das ist heutzutage ganz normal und ich mache den Labels da auch keinen Vorwurf. Aber so etwas ist einfach nicht mein Ding. Ich habe mir fest vorgenommen, mich nicht den Algorithmen zu unterwerfen. Für mich persönlich fühlt sich das weder richtig noch natürlich an.
»Ich weiß, das klingt ein bisschen großspurig. Aber ich hatte mir tatsächlich das Ziel gesteckt, mich selbst mit meiner Musik zu begeistern.«
MYP Magazine:
Dein neues Album kommt überaus lebendig und energiegeladen daher, beim Hören wird man von Rhythmen, Melodien und komplexen Arrangements nur so überschüttet. Wie ist dieses gewaltige Stück Funk und Soul entstanden? Was genau war da in Dir, das unbedingt herauswollte?
Alfie Templeman: (lacht)
Danke für die Blumen, das Kompliment weiß ich wirklich zu schätzen. Ich hatte in den letzten Jahren immer öfter das Bedürfnis, mich mit meiner Musik in alle Genres auszubreiten. Das ist aber nicht der einzige Grund, warum sich mein Sound über die Zeit sehr verändert hat. Meine erste Platte „Forever Isn’t Long Enough“ zum Beispiel entstand größtenteils während der Pandemie, ich hatte sie weitgehend selbst produziert. Diese Situation hat mich damals sehr eingeschränkt – musikalisch, inhaltlich und produktionstechnisch. Bei „Radiosoul“, meinem mittlerweile dritten Album, war es höchste Zeit, mich mit dem Sound in viele andere Richtungen zu bewegen. Ich wollte einfach ein bisschen herumexperimentieren und dabei in allen künstlerischen Entscheidungen völlig frei sein.
Klar, natürlich gibt es auf dem neuen Album immer noch klassische Indie-Pop-Songs wie „Hello Lonely“ oder „Eyes Wide Shut“, für die mich die Leute bereits kennen. Aber es finden sich darauf auch Tracks wie „Beckham“ oder „Submarine“, die wesentlich vielschichtiger sind – und bei denen es mein Anspruch war, vor allem ein besserer Musiker zu werden.
MYP Magazine:
Sehr ambitioniert!
Alfie Templeman: (lächelt)
Ich weiß, das klingt ein bisschen großspurig. Aber ich hatte mir tatsächlich das Ziel gesteckt, mich selbst mit meiner Musik zu begeistern.
Alfie macht eine kurze Pause.
Ich glaube, das hat auch viel damit zu tun, dass ich letztes Jahr von zu Hause ausgezogen bin. Vom kleinen Carlton in Bedfordshire ging’s ins große London, einer Stadt voller Künstler und Kreativer. Als ich dort ankam, bohrten sich mir sofort etliche Fragen in den Kopf: Wie passe ich hier rein? Wie kann ich vor mir selbst rechtfertigen, dass ich hier leben darf? Wie kann ich beweisen, dass ich als Künstler und Musiker gut genug bin, um hier dazuzugehören? Das alles hat meine Standards, die ich mir im Laufe der Jahre beim Schreiben und Aufnehmen gesetzt hatte, deutlich verändert. Die Messlatte lag plötzlich viel höher.
»Ich weiß jetzt viel besser, dass es nicht allzu viele Dinge braucht, um einen Song groß klingen zu lassen.«
MYP Magazine:
Die musikalische Komplexität Deines neuen Albums erinnert ein bisschen an ein Wimmelbild, in dem es immer wieder etwas Neues zu entdecken gibt – ganz so, als wärst Du vom „horror vacui“ getrieben, jenem künstlerischen Konzept, das die Leere scheut und den Wunsch beschreibt, alle weißen Flächen mit Darstellungen oder Ornamenten zu füllen. Wann weißt Du, dass das Arrangement eines Songs final ist und Du keine zusätzlichen musikalischen Elemente mehr hinzufügen musst?
Alfie Templeman:
Tatsächlich ist es mir sehr wichtig, mit einem Song nicht zu weit zu gehen. Auch wenn sich das neue Album musikalisch sehr reichhaltig anhört, habe ich während des Produktionsprozesses genau darauf geachtet, sehr vorsichtig mit zusätzlichen Klangelementen zu sein.
Ein Beispiel: Wenn man einen Song aufnimmt, teilt man die Instrumente und Effekte nach Frequenzen auf. Dabei gibt es hohe, mittlere und tiefe Frequenzen – hier finden unter anderem das Schlagzeug und der Bass statt. Im Laufe der Zeit habe ich gelernt, dass man vermeiden sollte, zu viele Elemente in den oberen und mittleren Frequenzen miteinander kollidieren zu lassen. Soll heißen: Wenn ich etwa in den hohen Frequenzen einige prägnante Gitarrenparts habe, siedele ich dort keine Klavierelemente mehr an. Interessanterweise bedeutet dieses Vorgehen erst mal eine Einschränkung, die ich eigentlich vermeiden wollte. Aber manchmal ist weniger tatsächlich mehr: Ich kann in meinem Sound immer noch maximalistisch sein – nur weiß ich jetzt viel besser, dass es nicht allzu viele Dinge braucht, um einen Song groß klingen zu lassen.
»Auf dem Dorf konnte ich so viel Lärm machen, wie ich wollte, es hat sich nie jemand beschwert. In London wäre so etwas undenkbar.«
MYP Magazine:
Du bist im beschaulichen Carlton aufgewachsen, einem 800-Seelen-Dorf zwei Stunden nördlich von London. Welche Vorteile hat es, seine Kindheit und Jugend an einem solchen Ort zu verbringen – vor allem, wenn man Berufsmusiker werden will?
Alfie Templeman:
Für mich als Teenager war Carlton großartig, ich hatte dort die Möglichkeit, mich voll und ganz auf die Musik zu konzentrieren. Wäre ich in einer Stadt wie London großgeworden, wäre ich wahrscheinlich permanent von anderen Dingen abgelenkt gewesen – und vielleicht mit 13 schon zum Vollalkoholiker geworden. (lacht)
Aber im Ernst: Auch wenn die Gegend um Carlton ziemlich trostlos war und mir kaum etwas anderes übrig blieb, als Musik zu machen, hätte ich an jedem anderen Ort der Welt sicher nichts anderes getan. Musik war schon immer meine einzig wahre Leidenschaft, schon in meiner Kindheit. Dennoch war es natürlich hilfreich, in einem kleinen Dorf mit netten Nachbarn zu leben, die mich einfach Schlagzeug spielen ließen. Ich konnte so viel Lärm machen, wie ich wollte, es hat sich nie jemand beschwert. In London wäre so etwas undenkbar. Dort kann man nur Musik machen, wenn man ein Studio hat – einfach, weil die Umgebung so laut ist. Bei mir ging das damals im Kinderzimmer.
»Die meisten der elf Album-Tracks sind eher aus den Tiefen entstanden – und ich finde, sie gehören zu den besten Songs, die ich je geschrieben habe.«
MYP Magazine:
Es gibt auf Deinem neuen Album einen Song namens „Hello Lonely“, in dem Du singst:
Back when days were friends of mine
I killed them and I let them die slowly
Now I’m lonely
Nothin’ is forever
But forever’s always whisperin’ closely
“Hello, lonely”
Der österreichische Dichter Rainer Maria Rilke beschrieb einmal in einem seiner Bücher, dass man als Künstler die Einsamkeit suchen müsse. Er sagte: „Es ist gut, einsam zu sein, denn einsam zu sein ist schwer; die Tatsache, dass etwas schwer ist, muss für uns ein umso größerer Grund sein, es zu tun.“ Ist das ein Gedanke, in dem Du dich persönlich wiederfindest?
Alfie Templeman:
Einsamkeit ist ein notwendiges Übel – zumindest manchmal. Sie ist Segen und Fluch zugleich. Im Laufe der Jahre habe ich immer wieder bemerkt, dass mir genau dann die besten Songs gelingen, wenn ich mich selbst zu 100 Prozent miteinbeziehe. Und das fällt mir am leichtesten, wenn ich besonders traurig bin und viel Schmerz empfinde. Das wirkt wie ein Katalysator… aber ist das in der Kunst nicht immer so?
In den insgesamt zwei Jahren, in denen ich an dem Album geschrieben habe, gab es in meinem Leben viele Höhen und Tiefen. Die meisten der elf Tracks sind eher aus den Tiefen entstanden – und ich finde, sie gehören zu den besten Songs, die ich je geschrieben habe.
»In diesem Alter verändert man sich in der Regel sehr – ich persönlich hatte das Gefühl, mich jeden einzelnen Monat zu verändern. Das ist auf zwei Jahre gerechnet ein ganz schönes Chaos.«
MYP Magazine:
Interessanterweise hat man das Gefühl, dass die schwermütigen Songs vor allem in den ersten beiden Dritteln des Albums zu finden sind. Ab „Submarine“ scheint die neue Platte sukzessive optimistischer, zuversichtlicher und glücklicher zu werden. Entspricht diese Dramaturgie auch Deiner persönlichen Reise und Entwicklung in der Realität?
Alfie Templeman:
Auf jeden Fall. Auch wenn ich die meisten Tracks zwischen Februar und Juni letzten Jahres aufgenommen habe, gehen einige Lieder bis ins Jahr 2022 zurück. Das bedeutet: Ich war 19, als ich mit dem Schreiben anfing, und fast 21, als ich alles zusammen hatte. In diesem Alter verändert man sich in der Regel sehr – ich persönlich hatte das Gefühl, mich jeden einzelnen Monat zu verändern. Das ist auf zwei Jahre gerechnet ein ganz schönes Chaos. (lächelt)
Ich habe zwar vorher nie darüber nachgedacht, aber es scheint in der Tat so zu sein, dass ich gegen Ende des Albums optimistischer werde. Die letzten vier Tracks wirken im Vergleich zum Rest eher hoffnungsvoll. „Run to Tomorrow“, das letzte Stück auf der Platte, ist ein durchweg positiver Song. Aber auch „Switch“, in dem es darum geht, eine kalte Dusche zu nehmen, sein Gehirn zu aktivieren und zu versuchen, seinen Scheiß endlich auf die Reihe zu bekommen.
„Submarine“ wiederum handelt davon, wie ich von einer Tour nach Hause komme, um meine Freundin endlich mal wiederzusehen. Da sie sich sehr für Meeresbiologie interessiert, erzähle ich in dem Song, wie ich mit einem U-Boot aus Amerika zu ihr zurückkomme – statt ganz konventionell mit dem Flugzeug.
»2018 habe ich meine erste Single veröffentlicht und seitdem drei Alben gemacht. Ich finde, das ist noch lange kein Grund, warum mich jemand auf der Straße erkennen sollte.«
MYP Magazine:
Den vierten Songs dieses letzten Albumdrittels hast Du dem Fußballer David Beckham gewidmet. Zu Beckhams Biografie gehört: Je erfolgreicher er während seiner aktiven Karriere wurde, desto größer wurden auch der Erfolgsdruck und die Erwartungen, die an ihn gestellt wurden. Ist das etwas, das Du in ähnlicher Form auch erlebt hast? Schließlich hast Du mit Deiner Musik bereits in jungen Jahren sehr viel öffentliche Aufmerksamkeit erhalten.
Alfie Templeman:
Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Ehrlicherweise fühlt es sich für mich auch gar nicht so an, als ob ich erfolgreich wäre. Ich fühle mich auch nicht in irgendeiner Form berühmt – einfach, weil ich es nicht bin. Ganz im Gegenteil: Ich bin immer wieder völlig überwältigt, wenn die Leute zu meinen Auftritten kommen. 2018 habe ich meine erste Single veröffentlicht und seitdem drei Alben gemacht. Ich finde, das ist noch lange kein Grund, warum mich jemand auf der Straße erkennen sollte – und das ist großartig! Dementsprechend habe ich auch nicht das Gefühl, dass es viele Erwartungen an mich gibt. Ich habe eine relativ kleine, aber tolle Fangemeinde, die es zu mögen scheint, dass ich einfach nur ein bisschen herumspiele und mich musikalisch immer wieder verändere.
»Es geht mir nur darum, als Künstler ein gutes Gesamtwerk zu schaffen.«
MYP Magazine:
Hast Du für Dich persönlich eine Definition von Erfolg?
Alfie Templeman: (lacht)
Na, auf jeden Fall keine kapitalistische. Es geht mir nur darum, als Künstler ein gutes Gesamtwerk zu schaffen – etwas, worauf ich stolz bin, wenn ich in ein paar Jahren darauf zurückblicke. Ich will einfach nur Songs schreiben, die mich selbst begeistern und mich musikalisch herausfordern; Songs, die mich selbst so weit pushen, dass ich gezwungen bin, so viele Instrumente wie möglich zu lernen, um eine gute Ein-Mann-Band zu werden. Alles andere ist mir egal.
»Hin und wieder ist es nicht die schlechteste Idee, einfach etwas Verrücktes zu tun. Manchmal bringt das die großartigsten Ergebnisse hervor.«
MYP Magazine:
Kommen wir zum Schluss noch mal kurz auf „Radiosoul“ zurück, den ersten Song des neuen Albums. Im Refrain singst Du:
‘Cause I’ve been running the red lights like it’s the beginning
And the radio stays on while nobody listens
Ist es wirklich ein gutes Vorbild, bei Rot über die Ampel zu fahren?
Alfie Templeman:
Ich weiß, das ist sehr gefährlich. Aber dieses Bild hat mich irgendwie gepackt – vielleicht auch deshalb, weil ich selbst ein eher schlechter Autofahrer bin und schon ein paar Mal aus Versehen über eine rote Ampel gefahren bin.
Im Song will ich mit dem Bild sagen: Wenn ich eine rote Ampel überfahre, dann nur, weil ich in dem Moment nicht wirklich über mein Leben nachdenke. Ich stelle mein Handeln nicht in Frage, hänge nicht in der Vergangenheit fest und bewege mich per Autopilot stoisch nach vorne.
Davon abgesehen bin ich aber der Meinung, dass es hin und wieder nicht die schlechteste Idee ist, einfach etwas Verrücktes zu tun. Manchmal bringt das die großartigsten Ergebnisse hervor. Wie zum Beispiel bei meinem neuen Album. Da ging es letztendlich nur darum, ein bisschen herumzualbern und neue Dinge auszuprobieren, ohne sich darum zu kümmern, ob sie schiefgehen könnten. Denn was wäre das maximal Schlimmste gewesen, was hätte passieren können? Genau: das Album einfach nicht zu veröffentlichen. Mehr nicht.
MYP Magazine:
Über eine rote Ampel zu fahren, wirkt zumindest auf dem Dorf wie eine kleine Rebellion, die man sich hin und wieder erlauben kann – zumindest, wenn weit und breit kein anderes Auto zu sehen ist.
Alfie Templeman:
Stimmt. Und es wäre doch auch ein viel schlechteres Vorbild, wenn ich singen würde:
(singt in der Melodie des „Radiosoul“-Refrains)
„I’ve been robbing a baaank“
Da ist die rote Ampel auf dem Dorf doch viel harmloser.
Mehr von und über Alfie Templeman:
Interview & Text: Jonas Meyer
Fotografie: Roberto Brundo