Interview — aa–legrand

»Musik ist für mich eine Form von Selbstermächtigung«

Mit seiner gefühlvollen Debüt-EP »Pacific« liefert Simeon Loth alias aa–legrand das beste Mittel gegen schmuddelige Wintertage, in seine Songs kann man sich einwickeln wie in eine flauschige Indiefolk-Decke. Doch es droht auch Fernweh-Gefahr, denn die Platte ist inspiriert von einem sommerlichen Roadtrip entlang der nordamerikanischen Westküste. Ein Interview über das Verständnis von Kunst, Musik als eine Form von Selbstermächtigung und die ewige Magie von Radiohead.

14. Dezember 2022 — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotografie: Nis Alps

Die Versuchung, an einem kaltfeuchten Dezembertag nicht übers Wetter zu schreiben und es bis aufs Äußerste zu verfluchen, ist groß. Vor allem, wenn die Musik, um die sich der Text eigentlich drehen sollte, inspiriert ist von einem weit entfernten Sommer an der Westküste Nordamerikas. Wer schon mal da war, weiß, wovon die Rede ist: das Licht, die Luft, die Landschaft – was für ein magisches Fleckchen Erde!

Das findet auch Simeon Loth alias aa–legrand. Der 32-jährige Singer-Songwriter war Mitte 2015 sechs Wochen lang mit dem Auto zwischen Vancouver und San Francisco unterwegs und verliebte sich jeden Tag aufs Neue in die atemberaubenden Küsten, Wälder und Gebirgszüge entlang des berühmten Pacific Coast Highway (Trigger-Warnung: Etwaige Bildersuchen können zu akutem Fernweh führen).

Was Simeon in diesen sechs Wochen erlebte, berührte ihn so tief, dass er der nordamerikanischen Pazifikküste zuerst einen Song („Shade Of A Giant“) und dann seine Debüt-EP widmete. Der Titel: „Pacific“. Was auch sonst.

Pacific“ besteht mit „All You Love“, „Slow, Sleep, Fall“ und dem besagten „Shade Of A Giant“ zwar nur aus drei Titeln. Doch erstens zeigt Simeon mit dem feinsinnigen Arrangement, der eingängigen Melodik und dem prägnant-atmosphärischen Indiefolk-Sound mit leichten elektronischen Einflüssen bereits jetzt, wo er musikalisch steht und wohin er will.

Und zweitens – vielleicht noch wichtiger – gelingt es ihm, mit diesen drei Titeln eine ihm ganz eigene Emotionalität herzustellen. Wie ein Pendel bewegt sie sich zwischen Melancholie und Zuversicht hin und her, wandert von Nachdenklichkeit zu Zerstreuung, immer ganz sanft und ohne wahrnehmbare Übergänge. Und ehe man sich versieht, schießen einem Assoziationen an das Jahr 2008 in den Kopf, als Bon Iver sich mit seinem legendären Debütalbum „For Emma, Forever Ago“ aufmachte, die Welt zu erobern. Fürwahr ein großer Vergleich, doch wir reden ja nur über Assoziationen. Time will tell.

Eines allerdings hat Simeon Loth dem Bon-Iver-Gründer Justin Vernon voraus: Der gebürtige Pforzheimer ist nicht nur Musiker, sondern auch Gitarrenbauer. In seiner „Backyard Guitars“ genannten Werkstatt in einem Neuköllner Hinterhof hatte er bereits etliche Gitarren berühmter Bands auf seiner Werkbank (das Namedropping überlassen wir seiner Website).

Im Körnerpark wenige Gehminuten entfernt haben wir ihn zum ausführlichen Interview getroffen – an einem Samstagnachmittag, als das Wetter noch nicht so war, dass man es verfluchen wollte. Aber dafür das Fernweh nach einem Roadtrip auf dem Pacific Road Highway schon genauso groß.

»Bei einem Roadtrip geht es nicht darum, irgendwo anzukommen, sondern unterwegs zu sein.«

MYP Magazine:
Simeon, uns ist es trotz intensiven Googelns nicht gelungen, Dein Alias aa–legrand zu entschlüsseln. Was steckt hinter diesem Künstlernamen?

Simeon:
Der Begriff aa–legrand ist weniger ein Name, sondern vielmehr ein Motto, das die Absicht meiner Musik verbildlichen soll: Das a steht als erster Buchstabe des Alphabets für einen Anfang, der Bindestrich symbolisiert einen Weg und legrand steht für das Ziel, von dem ich selbst noch nicht weiß, was es ist. Hoffentlich etwas Großes. Auf jeden Fall aber etwas Unbekanntes.

MYP Magazine:
Zu diesem Weg passt auch folgender Satz, der uns immer wieder auf Deinen Social-Media-Kanälen begegnet: „aa–legrand is creating music for a road trip.“ Welche Kriterien muss Musik für Dich erfüllen, damit sie eines Roadtrips würdig ist?

Simeon:
Bei einem Roadtrip geht es nicht darum, irgendwo anzukommen, sondern unterwegs zu sein. Wichtig ist das, was auf der Reise passiert. Die Musik, die mich persönlich dabei begleitet, muss meine Gedanken und Gefühle auf einem bestimmten Punkt des Weges repräsentieren können. Außerdem muss sie eine Art Sehnsucht wecken. Und sie muss eine Klangwelt konstruieren, die mich sofort mitnimmt und neugierig macht auf das, was da akustisch passiert.

»Künstler sein war für mich immer etwas, das sehr weit entfernt von mir war.«

MYP Magazine:
2015 hast Du dich auf einen ausgedehnten Roadtrip entlang der nordamerikanischen Westküste begeben. Was hat Dich an diesem Fleckchen Erde so fasziniert, dass Du ihm mit „Shade Of A Giant“ gleich einen ganzen Song gewidmet hast?

Simeon:
Natur hatte immer schon eine große Anziehungskraft auf mich und ist seit meiner Kindheit ein Sehnsuchtsort. Aus diesem Grund habe ich mich damals auch auf den Weg nach Kanada und in die USA gemacht, wo ich drei Monate lang diverse Nationalparks abgefahren bin, im Auto geschlafen habe und das alles einfach auf mich wirken lassen wollte. Die Natur dort ist wirklich beeindruckend und hat mich regelrecht umgehauen. Ich vermute mal, dass ich nicht der Einzige bin, der sich dort vollkommen überwältigt gefühlt hat. In „Shade Of A Giant“ geht es konkret um die Magie des Redwood National Park in Nordkalifornien – außerdem beschreibt der Song für mich eine Art Wendepunkt.

MYP Magazine:
Inwiefern?

Simeon:
Ich habe mich auf dieser Reise zum ersten Mal mit der Geschichte der indigenen Völker Nordamerikas befasst, die in Kanada First Nations genannt werden. Ich weiß noch, wie ich ein paar Wochen nach meiner Ankunft im Museum für Anthropologie in Vancouver stand und mir eine Ausstellung über die Kwakwaka’wakw, Haida und Coast Salish angesehen habe. Das, was wir heute als Kunst und auch als deren Kunst wahrnehmen, wirkte auf mich eher wie ein Handwerk an Alltagsgegenständen, etwa wenn die Menschen beispielsweise ihre Schalen und Truhen, aber auch rituelle Gegenstände verzierten – also etwas sehr Praktisches und Nahes.
Das hat meine Sicht auf Kunst sehr verändert. Ich habe gemerkt: Kunst ist nichts, was man nur machen kann, wem man in einem entrückten Zustand ist. Kunst ist vielmehr etwas Alltägliches, was man einfach so tut, weil es ganz natürlich aus einem herauskommt.
Das klingt für andere vielleicht selbstverständlich. Aber da ich nicht aus einem superkreativen Elternhaus komme, war Künstler sein für mich immer etwas, das sehr weit entfernt von mir war. Zu checken, dass das gar nicht weit weg sein muss, sondern dass ich das aus mir heraus machen kann, nur mit dem, was ich habe, hat meine Sicht auch auf mich selbst total verändert. Plötzlich hatte ich das Gefühl, ganz neue Möglichkeiten zu haben. Das habe ich als eine große Wendung in meinem Leben empfunden.

»In Nordamerika war alles groß und weit und hell – ganz im Gegensatz zu Berlin.«

MYP Magazine:
Wie ist der Song dann konkret entstanden?

Simeon:
Als ich von meinem Roadtrip nach Berlin zurückkam, wusste nicht, was ich mit meinem Leben anfangen sollte. Ich hatte diesen typischen Berlin-Struggle mit Zwischenmiete und so weiter und saß dann vorübergehend in einem fremden, gammligen WG-Zimmer fest. Draußen baute sich gerade der Berliner Winter auf. Und so kauerte ich mit meiner Gitarre in der Hand unter schummrigen Licht auf meinem Bett und probierte ein bisschen herum. Plötzlich hatte ich dieses Riff, dieses Fingerpicking Pattern! In meinem Leben gibt es eigentlich selten diese Momente, in denen ich mich wirklich inspiriert fühle, aber in diesem Augenblick war mir irgendwie total klar, was da musikalisch passieren sollte.
Dieses Picking Pattern gab mir ein Gefühl, das mich nach vorne pushte. Ein Gefühl, das ich unbedingt auffangen wollte, weil es mich an meine Zeit im Sommer in Nordamerika erinnerte. Dort war alles groß und weit und hell – ganz im Gegensatz zu Berlin: Da war alles klein und eng und dunkel. So habe ich den Song geschrieben als ein Andenken – um dieser Erinnerung ein Denkmal zu setzen und sie für mich als Fixpunkt zu verankern.

»Es gibt im Musikgeschäft den Hype, dass man damit anfangen muss, solange man jung ist.«

MYP Magazine:
Fertiggestellt und veröffentlicht hast Du „Shade Of A Giant“ erst etliche Jahre später, im Juli 2022. Welche Bedeutung hat Zeit für Dich – privat wie auch in Deiner Musik?

Simeon:
Ja, tatsächlich liegen ein paar Jahre zwischen den ersten Songskizzen und der Veröffentlichung. Das hängt vor allem daran, dass ich meiner Musik lange nicht so viel Zeit und Aufmerksamkeit widmen konnte, wie ich wollte – und ich auch nie das Geld hatte, um mein Zeug von anderen Leuten produzieren zu lassen.
Durch das Recording von „Shade Of A Giant“ habe ich mich zum ersten Mal mit Musikproduktion auseinandergesetzt. Ich habe angefangen, mit Logic zu experimentieren, hatte mehrere Versionen des Songs auf meinem Computer, und ich weiß noch genau, dass es der 1. Mai 2019 war, als ich endlich eine Version aufgenommen hatte, bei der es klick machte. Am Tag der Arbeit!
Es gibt ja im Musikgeschäft den Hype, dass man damit anfangen muss, solange man jung ist. Diese Zeit ist aber bei mir schon vorbei, daher muss ich mein eigenes Tempo gehen. Und wenn zwischen dem ersten Schreiben und der Veröffentlichung so viel Zeit vergeht, dann ist mein Ziel jetzt, dass diese Zeit kürzer wird.

MYP Magazine:
Und, gelingt Dir das?

Simeon: (lächelt)
Slow, Sleep, Fall“ zum Beispiel ist innerhalb einer halben Stunde entstanden. Ich war irgendwo in Berlin auf dem Rad unterwegs, hatte plötzlich einen Text im Kopf und wusste, wie das Ganze klingen soll. Dann bin ich schnell nach Hause geradelt und habe versucht, das auf der Gitarre nachzuspielen. Und 30 Minuten später war der Song da.

»In der Musik kann man sich die Welt nach seinen Ideen konstruieren.«

MYP Magazine:
Apropos Zeit. In einem Interview mit Soundbetter sagst Du: „It took me quite a long time to gather enough courage to work in music. And ever since I made that decision I feel like I am becoming a better version of myself.“ Was hat Dich so lange zurückgehalten?

Simeon:
Dafür gibt es sehr, sehr viele Gründe. Man hat im Leben immer Stimmen um einen herum, die einem einreden, dass das nicht funktionieren würde. Die Menschen, die einem so etwas sagen, haben für sich eine klare Vorstellung davon, wie es auszusehen hat, wenn man in der Musik arbeitet. Aber letztendlich ist dieses Feld so groß und weit, dass man dort wirklich alles machen kann, was man möchte. Es gibt ja keine wirkliche Vorgabe, man kann sich die Welt nach seinen Ideen konstruieren. Ich habe lange gebraucht, mich von diesen Stimmen zu emanzipieren. Ich hasse diesen Ausdruck eigentlich, aber seit ich die Entscheidung getroffen habe, merke ich, dass ich endlich ich bin und mich nicht mehr verbiegen muss. Natürlich gehen mit dieser Entscheidung auch eine Reihe neuer Probleme einher, aber zumindest habe ich das Gefühl, dass sich die Dinge seither entwickeln, in Bewegung sind und ich das alles irgendwie in eine Richtung lenken kann, die ich für richtig halte. Für mich ist das eine Form von Selbstermächtigung.

»In der Rockmusik ging es erst mal nicht darum, wie es am Ende klingt, sondern was es mit den Menschen macht.«

MYP Magazine:
Als Teenager hast Du fast ausschließlich 60s Blues und Rock gehört. Ist es für Dich ein Widerspruch, heute selbst eine ganz andere Art von Musik zu machen als die, die Dich sozialisiert hat?

Simeon:
Ich weiß, genremäßig ist meine Musik eine ganz andere Baustelle. Und dazu ist sie auch noch sehr mellow. Aber ich sehe das gar nicht so als Widerspruch. Denn erstens versuche ich mehr und mehr, auch die Energie von Rock in meine Musik einfließen zu lassen. Und zweitens war es der Anspruch von Rockmusik in ihren Ursprüngen, abseits von ausgetretenen Pfaden neue Wege zu gehen und etwas Neues zu kreieren. Da ging es erst mal nicht darum, wie es am Ende klingt, sondern was es mit den Menschen macht. Genau dieses Ziel habe ich auch mit meiner Musik: am Ende etwas vollkommen Neues zu schaffen – mit einem Sound, der mein ganz eigener ist.

»Ich hatte das dringende Bedürfnis, jede einzelne Schraube erst raus- und dann wieder reinzudrehen.«

MYP Magazine:
Bevor Du angefangen hast, mit Deiner eigenen Gitarre Songs zu schreiben, hast Du lange Zeit die Gitarren anderer Musiker:innen repariert, und zwar im professionellen Stil. Wie bist Du zu diesem Job gekommen?

Simeon:
Gitarrenbau hat mich schon immer interessiert, auch weil ich aus einer Handwerkerfamilie stamme. Mein Großvater zum Beispiel war Uhrmacher. Als ich meine erste E-Gitarre hatte, saß ich bei ihm in der Werkstatt und wir fingen an, an meiner Gitarre rumzulöten. Ich hatte das dringende Bedürfnis, jede einzelne Schraube erst raus- und dann wieder reinzudrehen. Irgendwann mal, als ich als Student einen neuen Nebenjob brauchte, bin ich hier in Berlin auf einen Gitarrenladen gestoßen, wo Leute für das Reparaturgeschäft gesucht wurden. Ich habe mich beworben, wurde genommen und so fing es an.
Ein paar Jahre später habe ich mir dann eine eigene Werkstatt für Gitarrenreparatur und Service aufgebaut. Auch da konnte ich glücklicherweise auf meine Familie zurückgreifen. Meine Eltern hatten auf dem Dachboden noch eine hundert Jahre alte Werkbank rumstehen, die ich nur abholen musste.

»In anderen Bands und Konstellationen sehe ich mich eher als Handwerker.«

MYP Magazine:
Beeinflusst Deine handwerkliche Arbeit an dem Instrument auch Deine künstlerische?

Simeon:
Ich würde eher sagen, dass es in den Prozessen gewisse Parallelen gibt. Etwa den Grundsatz, dass man von grob zu fein arbeitet. Oder den Prozess in verschiedene Kapitel unterteilt, um eine gewisse Klarheit sowie einen Flow zu erreichen. Das kann ich eher vom Handwerk in die Musik übertragen als andersherum.
Daneben ist es so, dass ich auch in anderen Bands und Konstellationen Musik mache. Dort sehe ich mich selbst eher als Handwerker, der eine Fähigkeit anbietet und mit einem ganz klaren Rezept durchzieht – ganz im Gegensatz zu meiner eigenen Musik, wo ich versuche, meinen eigenen Weg zu finden.

»Radiohead ist der Spiegel, in dem ich mich anders sehe.«

MYP Magazine:
Du bist ein riesiger Radiohead-Fan. Was genau packt Dich so an der Musik?

Simeon:
Radiohead steht für mich für etwas grundlegend Neues, das es vorher in der Form nicht gab. Das meine ich nicht nur in Bezug auf die vielen neuen Technologien, mit denen die Band immer schon experimentiert hat. Ihre Musik löst etwas in mir aus, das ich vorher noch nicht kannte. Radiohead ist der Spiegel, in dem ich mich anders sehe. Ich fange an, mich mit anderen Themen auseinanderzusetzen oder Dinge neu zu denken. Und abgesehen davon haben sie natürlich richtig geile Songs.

MYP Magazine:
Wir haben ganz am Anfang über den Roadtrip-Gedanken Deiner Musik gesprochen, mit dem wir das Interview auch beenden möchten: Wie müsste für Dich die perfekte Strecke zu Deinen Songs aussehen?

Simeon:
Ich hoffe, dass meine Musik so offen gestaltet ist, dass sie zu vielen verschiedenen Landschaften passt. Und ich hoffe, dass die äußere Reise auch eine innere Reise auslöst. Dass die Songs etwas mit den Leuten machen. Aber überhaupt im Auto zu sitzen und zu rollen, ist schon mal eine gute Sache.