Fotoserie — Melissa Ianniello
Wish It Was a Coming Out
Mit ihrer Fotoserie »Wish It Was a Coming Out« erzählt Melissa Ianniello die Geschichte älterer homosexueller Menschen in Italien. Damit stellt sich die lesbische Künstlerin nicht nur der eigenen Sprachlosigkeit gegenüber ihren Großeltern. Sie macht auch auf ein doppeltes Tabu aufmerksam, das sie in der italienischen Gesellschaft in Bezug auf Homosexualität und Alter identifiziert.
30. August 2021 — Fotografie: Melissa Ianniello, Text: Jonas Meyer
Lara Elia (47) und Lia D’Urso (65), Nicolosi (Sizilien)
Lara und Lia lernten sich 2009 im Internet kennen – durch ihr gemeinsames Interesse für lesbisch-feministischen Aktivismus. Lia ist eine pensionierte Restauratorin aus Catania, Lara arbeitet als Journalistin und beschäftigt sich hauptsächlich mit wissenschaftlichen Arbeiten. Aufgewachsen ist sie in Rom, wurde aber in Afrika als Tochter eines italienischen Vaters und einer englischen Mutter geboren. Die beiden Frauen leben im sizilianischen Örtchen Nicolosi in einer kleinen Villa, wo sie die gemeinsame Leidenschaft für Gartenarbeit und die innige Liebe zu ihren Haustieren teilen. Lara und Lia sind nach wie vor begeisterte Aktivistinnen, die es sich zum Ziel gesetzt haben, in ihrem Leben keinen einzigen Pride zu verpassen.
Pina Capizzo (64), Assemini (Sardinien)
Pinas Kindheit war gezeichnet von männlicher Gewalt: zum einen durch ihren Vater, einem eifersüchtigen und traditionalistischen Mann, der immer wieder seine Gewaltausbrüche an ihr entlud. Zum anderen wurde sie von einer Gruppe von Männern aus ihrem Dorf misshandelt. Pina entdeckte schon sehr früh, dass sie lesbisch ist. Als sie noch ein Teenager war, entschied ihr Vater, sie von der Schule zu nehmen, und zwang sie, in einigen Häusern des Dorfes als Putzkraft zu arbeiten. Bei diesem Job verliebte sie sich in die Tochter einer Hausherrin – und eine starke, unbestreitbare Liebe entstand. Um der väterlichen Unterdrückung zu entfliehen, heiratete sie mit 18 einen Mann, den sie nicht liebte. Die Erlösung kam erst 32 Jahre später, als sie ihrem Ehemann offenbarte, dass sie lesbisch ist, und sich von ihm trennte. Heute ist Pina frei und genießt es, immer wieder neue Beziehungen mit Frauen und die damit verbundenen Gefühle zu erleben.
Anna Palla (64), Cagliari (Sardinien)
Nachdem sie ihr halbes Leben damit verbracht hatte, Geld und Erfolg hinterherzujagen, begab sich Anna auf eine spirituelle Reise. Diese half ihr nicht nur dabei, sich von ihren alten Idealen zu befreien, sondern brachte sie auch dazu, sich einen neuen Namen zu geben: Nubedivento. Heute fühlt sie sich wie eine freie Frau, die endlich das in sich trägt, was sie fälschlicherweise im Außen suchte – und das über Jahrzehnte.
Maria Laura Annibali (76) und Lidia Merlo (74), Rom (Latium)
Maria Laura und Lidia kennen sich seit 17 Jahren. Ihre Liebesgeschichte ist eine, die erst im hohen Alter erblühte. Dabei ist Lidia diejenige, die Maria Lauras Herz eroberte: Monatelang warb sie voller Zärtlichkeit und Poesie für die Angebetete. Eines Nachts schrieb sie „Laura, ich liebe dich leidenschaftlich und hoffnungslos!“ an eine Wand vor deren Haus. Von diesem Tag an trafen sie sich regelmäßig, kamen zusammen, verlobten sich wenig später und schlossen schließlich vor kurzem den Bund fürs Leben.
Roberto Tavazzi (65), Foligno (Umbrien)
Roberto ist ein ehemaliger Diözesanpriester – ein Amt, das er mehr als die Hälfte seines Lebens innehatte. Geboren wurde er in der Provinz Cremona, wo er über 40 Jahre lang lebte. Als er im bereits vorangeschrittenen Alter erkannte, dass er schwul ist, beschloss er, der Kirche für immer den Rücken zu kehren, um freier leben zu können. Roberto gab kurzerhand sein Gelübde auf und zog nach Foligno, eine Stadt im Herzen von Umbrien, wo er seitdem wohnt.
Stella Marchi (67) und Paola Fognani (75), Rom (Latium)
Stella und Paola sind bereits seit 1984 ein Paar. Gemeinsam haben sie viele Herausforderungen gemeistert, wie etwa Stellas Tumor. Die beiden Frauen haben sich standesamtlich trauen lassen und leben in ihrem Haus in Rom – zusammen mit ihren geliebten Katzen. Stella und Paola sind zwar Rentnerinnen, aber immer noch leidenschaftliche LGBT-Aktivistinnen. Daneben sind sie passionierte Reisende, die die Berge lieben. Die beiden sind ein Paradebeispiel dafür, dass in einer Partnerschaft auch nach vielen Jahren das Feuer nicht erlöschen muss: Sie lieben sich immer noch genauso heiß und innig wie früher.
Pasquale Ferro (65), Ischitella (Kampanien)
Pasquale wurde in Neapel geboren. Er hatte eine schwierige Kindheit, die von Elend und Gewalt geprägt war. Doch damit nicht genug: Es wurde ihm auch die Möglichkeit verwehrt, eine höhere Schule zu besuchen. Trotzdem gelang es ihm im Laufe der Jahre, sich zu emanzipieren. Als er entdeckte, dass er schwul ist, kam er in Kontakt mit der mit der homosexuellen Szene in Neapel. In dieser Zeit begann er zu schreiben und Theater zu spielen, dabei ließ er sich von der Straße und ihren Geschichten inspirieren. Im Laufe der Jahre entwickelte er sich zu einem Dramaturgen und arbeitete als Journalist. Seine Texte entstanden dabei alle aus dem tiefen Bedürfnis heraus, den sogenannten Verstoßenen der Gesellschaft eine Stimme zu verleihen und ihnen ihre Würde zurückzugeben.
Zeno Zappi (68) und Massimo Coralli (59), Imola (Emilia-Romagna)
Zeno und Massimo sind seit zwölf Jahren ein Paar und leben in Imola. Beide haben eine enge Beziehung zu ihren Familien, sind dort seit langer Zeit geoutet und gehen insgesamt sehr offen mit ihrer Homosexualität um. Die beiden Männer eint nicht nur ihre starke Liebe zueinander, sie teilen auch eine ganz besondere Passion: Sie kreieren Schmuck aus Recycling-Materialien. Aus dieser Leidenschaft haben Zeno und Massimo im Laufe der Zeit ein Business gemacht. Heute bieten sie ihre kunstvollen Arbeiten unter anderem auf Märkten in der Region um Imola an.
Paolo Melato (74), Rom (Latium)
Nachdem Paolo lange eine heterosexuelle Beziehung geführt hatte, outete er sich im Alter von 30 Jahren als schwul. Im Laufe der Zeit traf er sich mit vielen, meist jüngeren Männern, bis er seine große Liebe kennenlernte: einen Arzt, mit dem er viele Jahre zusammenblieb. Doch dann erkrankte sein Partner an Aids und starb in relativ jungen Jahren. Die letzten Monate ihrer Beziehung waren für Paolo und seinen Freund äußerst schwierig: Da der junge Arzt in einer Zeit erkrankte, in der man noch wenig über Aids wusste und sich das Virus enorm schnell verbreitete, waren die beiden Männer mit etlichen Stigmatisierungen konfrontiert – als wäre die nackte Angst vor dem Tod nicht schon Bürde genug. Heute lebt Paolo in einer kleinen Wohnung in Rom, die er mit seinem Hund teilt.
Victor Palchetti-Beard (67), und Gianni Manetti (70), Florenz (Toskana)
Victor und Gianni sind seit 43 Jahren ein Paar. Victor ist Amerikaner und kam 1975 während seines Studiums nach Italien, wo er durch gemeinsame Freunde Gianni kennenlernte. Es war Liebe auf den ersten Blick. Das Problem: Als Amerikaner durfte Victor nur eine begrenzte Zeit in Italien bleiben. Kurzerhand beschloss also Giannis Mutter, Victor zu adoptieren, um ihrem Sohn bei der Gründung einer Familie zu helfen. Leider sind Gianni und Victor nun rein rechtlich gesehen Brüder und können daher vor dem italienischen Standesamt keine Lebenspartnerschaft eingehen.
Vittorino Panzani (78), und William Belli (71), Trient (Trentino-Südtirol)
Vittorino und William sind seit 47 Jahren zusammen und leben heute in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft. Sie haben sich beide schon in jungen Jahren geoutet und engagieren sich seitdem in der LGBT-Bewegung. Im Laufe der Jahre haben sie nie einen Pride verpasst und sind viel durch die Welt gereist. Die beiden Männer leben in Trient, wo sie seit über 20 Jahren als Antiquitätenhändler tätig sind.
Gianni Picciotto (72†), Perugia (Umbrien)
Gianni stammt aus Sizilien und bekannte sich bereits in seiner Jugend zu seiner Homosexualität. Trotz seiner „Andersartigkeit“ lernte seine Familie, ihn zu akzeptieren, insbesondere durch die Fürsprache seiner Mutter. Im Teenageralter lernte er einen etwas älteren Jungen namens Pino kennen. Kurz nach Giannis 18. Geburtstag gingen die beiden auf der Suche nach Arbeit nach Turin. Dort lebten sie 52 Jahre lang eine intensive Liebesgeschichte – bis zu Pinos Tod im Jahr 2015. Am 14. April 2020, im Alter von 72 Jahren, starb auch Gianni.
Silvano Patacca (67), Pisa (Toskana)
Silvano arbeitet als Programmdirektor an der Fondazione Teatro di Pisa. Er liebt seinen Job, er liebt das Theater, und dazu ist er ein ewiger Romantiker, der immer noch auf der Suche ist nach seinem Seelenverwandten. Trotz seines Alters gibt Silvano nicht auf und hofft, irgendwann einen Mann zu finden, mit dem er eine feste Beziehung führen kann – eine Beziehung, die stabil genug ist, um sein Leben in Gleichgewicht zu bringen. Mehr wünscht er sich nicht. Und auch nicht weniger.
Giovanni Rodella (67), Florenz (Toskana)
Giovanni ist in Mantua geboren und aufgewachsen. Kurz nach seinem 18. Geburtstag wurde er zum Militärdienst in Florenz eingezogen. Noch während seiner Zeit in der Armee entdeckte er hier seine Homosexualität. Nachdem er tiefe Schuldgefühle überwunden hatte, konnte er sich schließlich zu seinem Schwulsein bekennen und es akzeptieren – eine Zeit der Befreiung. Nach dem Militärdienst blieb er in Florenz und ließ sich zum professionellen Fotografen ausbilden. Im Laufe der Jahre dokumentierte er unzählige politische und kulturelle Ereignisse mit seiner Kamera – insbesondere die der LGBT-Bewegung.
Edda Billi (87), Rom (Latium)
Geboren in der kleinen Küstenstadt Follonica in der Toskana, verliebte sich Edda als Teenagerin in eine junge Frau, das einen Jeep fuhr und Poesie und Literatur liebte. Diese Frau eröffnete ihr nicht nur die Welt der Bücher und Kultur, sondern war auch ihre erste große Liebe. Da Eddas Familie nicht einverstanden war mit der sexuellen Orientierung ihrer Tochter und sie massiv unter Druck setzte, beschloss sie, nach Rom zu ziehen. Dort wurde sie Dichterin, engagierte sich als Aktivistin für den feministischen Separatismus und ist eine der ersten Bewohnerinnen der Casa Internazionale delle Donne, einem Gemeinschaftswohnhaus für Frauen, das in den 1970er Jahren aus den Forderungen der Feministinnen nach Freiheit und Selbstbestimmung entstand. Edda definiert sich nach wie vor als lesbisch: als eine Frau, die Frauen und das Leben liebt.
Über das Projekt
„Ich bin 30 Jahre alt, lesbisch und habe es nicht geschafft, mit meinen Großeltern über mein wahres Ich zu sprechen.“ Die Arbeit „Wish It Was a Coming Out“ der italienischen Dokumentarfotografin Melissa Ianniello hat ihren Ursprung in einer leidvollen persönlichen Lüge, die jahrelang andauerte.
Seit ihrer Jugend weiß Melissa, dass sie Frauen liebt. Doch sie musste auch immer wieder feststellen, dass die sexuelle Orientierung einer Person von ihrem Umfeld in der Regel als heterosexuell angenommen wird – als sei das völlig selbstverständlich. Auch wenn ein Coming-out eine Form der Befreiung sein kann, ist es nach wie vor für viele nichtheterosexuelle Menschen schwierig, einen Teil der eigenen Identität zu offenbaren, etwa aus Angst vor Vorurteilen, Stigmatisierungen oder Repressionen. „Jahrelang trug ich die Last mit mir herum, meinen Großeltern die Entdeckung meines Lesbischseins nicht mitteilen zu können, und verpasste so die Chance, ein gemeinsames Verständnis mit ihnen zu haben“, erzählt Melissa.
Das Fehlen eines solchen Bekenntnisses weckte in ihr das Bedürfnis nach Selbsterlösung, die Notwendigkeit eines Aktes der Katharsis, der nicht nur ihr zugutekommen sollte, sondern auch anderen. Und so begann sie, mit ihrer Kamera die Lebenserfahrungen von Menschen zu erforschen, die zwar ein ähnliches Lebensalter wie ihre Großeltern haben, aber in Bezug auf ihre sexuelle Orientierung eher ihr selbst ähneln. Damit wurde die Arbeit zu einer indirekten Hommage an ihre Großeltern, von denen drei gestorben sind, bevor die Enkelin den Mut hatte, sich vor ihnen zu outen.
Melissa startete „Wish It Was a Coming Out“ im Jahr 2018 als laufendes Langzeitprojekt, an dem sie weiter arbeitet. „Mein Ziel war und ist es, einen Einblick in das Leben schwuler und lesbischer Menschen im heutigen Italien zu geben, die jenen widersprüchlichen und faszinierenden Lebensabschnitt erleben, der mit dem Älterwerden verbunden ist“, erklärt sie.
Geholfen hat ihr bei der Realisation, dass sie mit ihren Protagonist*innen etliche Erfahrungen teilt, die man in einer Gesellschaft macht, wenn man die eigene Homosexualität offenbart. „Eine dieser Erfahrungen ist, dass in Italien ein doppeltes Tabu im Zusammenhang mit Homosexualität und Alter besteht, das ich mit meiner Arbeit untersuchen wollte“, sagt Melissa. Und so fing sie vor drei Jahren an, durchs Land zu reisen, um all diejenigen zu treffen, die ihre persönliche Geschichte teilen wollten – mit ihr und der Welt. „Ich habe das Lächeln, die Sorgen, die Gedanken, die Liebe und die Sehnsüchte von Menschen eingefangen, die viel zu selten zu Wort kommen.“
Doch für Melissa ist „Wish It Was a Coming Out“ mehr: „Diese Arbeit bietet die Möglichkeit, das Schweigen zu überwinden, das viele von uns noch immer mit sich herumtragen. Sie handelt von dem Wunsch, sich vollständig zu offenbaren, ohne einen Teil der eigenen Identität zu verleugnen.“ Und sie fügt hinzu, dass sich der Begriff Coming-out im Titel ihrer Fotoserie nicht nur auf die eigene Sexualität bezieht: „Sondern auch und vor allem auf den generationenübergreifenden Austausch der eigenen Erfahrungen, des eigenen Lebens und des ganzen Selbst.“
Mittlerweile hat Melissa übrigens ihrer noch lebenden Großmutter erzählt, dass sie Frauen liebt: „Das war eine der schönsten und beeindruckendsten Erfahrungen, die ich je gemacht habe.“
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Fotografie: Melissa Ianniello
Text: Jonas Meyer