Editorial — Gereifte Gefühle
Die späte Ekstase
Wer die Ekstase erkundet, wendet sich fast instinktiv der Jugend zu – in all ihren entrückenden Erfahrungen der Einmaligkeit. Dabei ist die Jugend wie die Ekstase immer nur etwas Vorübergehendes. Wir haben mit Menschen gesprochen, die schon etwas länger auf dieser Erde sind, und sie gefragt, wie man die Ekstase im Rückblick greifbar macht.
19. September 2017 — MYP No. 21 »Ekstase« — Interviews & Text: Katharina Weiß, Fotos: Moritz Jekat
Frisch verliebt zu sein, mehr Ekstase geht nicht.
Irene (74), Berlin-Grunewald:
Was für mich ekstatische Höhepunkte sind? Ich bin Biologin, da denken wir an etwas ganz Bestimmtes… aber Spaß beiseite: Ekstase hat mit Emotionalität zu tun, manchmal auch mit Alkohol. Deshalb ist es auch so schwierig, wenn sie vorbei ist. Frisch verliebt zu sein, mehr Ekstase geht nicht. Mit 14 ist mir das zum ersten Mal passiert. Auf einem Fest in Essen, mitten im Juli, als die Winterlinden blühten. Wenn ich diesen Geruch heute in die Nase bekomme, dann drehe ich immer noch durch.
Anne (82), Berlin-Grunewald:
Nachdem mein Mann im vorigen Jahr an Alzheimer gestorben ist, musste ich neue Erinnerungen schaffen. Also habe ich beschlossen, mit Anfang 80 nochmal umzuziehen: von Magdeburg zu meiner Enkeltochter nach Berlin. Sie ist gerade 21 geworden, da muss man natürlich viel feiern gehen. In meinem Alter ist diese Art der Ekstase nichts mehr für mich. Aber in der Philharmonie oder in der Deutschen Staatsoper Unter den Linden zu sitzen und der Musik zu lauschen, das ist das Größte.
Mir fehlt heutzutage ein bisschen mehr Aufregung, mehr Protest.
Alois (75), Berlin-Grunewald:
Berlin vor 25 Jahren, das war pure Ekstase – vor allem politisch. Wir Berliner haben uns nie alles gefallen lassen, was die Politik sagt. Das fand ich richtig gut! Leider ist heutzutage eine gewisse Gleichgültigkeit entstanden, mir fehlt da ein bisschen mehr Aufregung, mehr Protest. So generell würde ich Ekstase als Gemütsbewegung definieren, die – wenn sie richtig ist – kontrolliert werden sollte.
Friedel (82), Berlin-Friedrichshain & Monika (70), Berlin-Grunewald:
Wir kommen gerade von einem Ausflug zum Grunewaldturm – kleine und große Reisen waren in unserem Leben schon immer ekstatische Höhepunkte. Früher trennte uns beide die Mauer. Während es für die eine zu DDR-Zeiten mit Schiffsreisen der „Völkerfreundschaft“ nach Lettland oder Russland ging, flog die andere nach Bali oder Australien. Getroffen haben wir uns viel später in Barcelona. Und auch wenn die Abenteuer kleiner geworden sind, ist es genauso schön!“
Werner (79), Berlin-Mitte:
Das Gefühl, Ekstase zu erleben, hatte ich schon lange nicht mehr. Glück ist kein Dauerzustand und hat nichts mit Zufriedenheit oder Unzufriedenheit zu tun. Glück und Ekstase, das sind geschenkte Momente – wenn sie da sind, muss man vorher wissen, dass man sie nicht festhalten kann.
Zwei Minuten glücklich sein im ganzen Leben, mehr bekomme ich nicht zusammen.
Michael (59), Berlin-Zehlendorf:
Ekstase bedeutet für mich, dass die Gefühle völlig über einen hinauswachsen. Die Kinder zum allerersten Mal im Arm zu halten gehört beispielsweise dazu. Aber da ich ein bisschen älter bin, weiß ich mittlerweile schon, dass man diese Momente der Ekstase nicht festhalten kann. Wenn man es dennoch versucht, dann kann es schnell umschlagen – ins Gegenteil, in Depression. Man sollte sich nicht abhängig machen von ekstatischen Gefühlen. Sehr frei nach Goethe heißt das: „Zwei Minuten glücklich sein im ganzen Leben, mehr bekomme ich nicht zusammen.“ Ich glaube, bei mir waren es aber mehr!