Annette Hess
Interview — Annette Hess
»Mir gefällt Schönheit, die gebrochen ist«
Drehbuchautorin Annette Hess gilt als virtuose Geschichtenerzählerin. Nach »Ku’damm« und »Weißensee« hat sie sich nun an eine Neuadaption des Coming-of-age-Klassikers »Wir Kinder vom Bahnhof Zoo« gewagt. Ein Interview mit einer Menschensammlerin über die Kunst, neue Welten zu erschaffen.
5. März 2021 — MYP N° 30 »Gemeinschaft« — Interview: Katharina Weiß, Fotografie: Frederike van der Straeten
Sie ist Deutschlands bekannteste Drehbuchautorin: Wo Annette Hess die Feder ansetzt, geht die Quote recht zuverlässig hoch. Dabei ist sie häufig Chronistin der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und der Hauptstadt Berlin. Filme wie „Die Frau vom Checkpoint Charlie“ oder „Die Holzbaronin“ trafen ebenso den Nerv der Zeit wie ihre Serien-Hits „Weißensee“ und „Ku’damm“. Darüber hinaus landete sie 2018 als Romanautorin mit „Deutsches Haus“ einen Bestseller für den Ullstein Verlag.
Unsere Chefredakteurin Katharina Weiß hat die Autorin, die zwischen dem Weserbergland und Berlin pendelt, zu einem Gespräch über ihr neuestes Werk getroffen: die Serie „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“, die seit kurzem auf Amazon Prime zu sehen ist.
Katharina Weiß:
Sie kommen vom niedersächsischen Dorf und sind nur fünf Jahre jünger als Christiane F. Haben Sie das Phänomen „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ als Teenager eher mit Faszination oder mit Distanz verfolgt?
Annette Hess:
Als ich das Buch mit ungefähr zwölf Jahren zum ersten Mal gelesen habe, ist es eingeschlagen wie eine Bombe. Meine Freundinnen und ich wussten davor so gut wie nichts über harte Drogen und den Babystrich. Ich war einerseits total abgestoßen und andererseits sehr angezogen: Ich wollte auch zu einer supercoolen Hauptstadt-Clique gehören, die kompromisslos ihr Leben aufs Spiel setzt. Diese Ambivalenz spiegelt sich im riesigen Erfolg des Buches wider, das auch in anderen Ländern ein Hit war.
»Unsere Eltern durften ihren Eltern keine Fragen stellen.«
Katharina Weiß:
Sie sagten in einem Interview, dass sich das Grundmotiv der meisten Stoffe unter „Das Individuum und die Gesellschaft“ zusammenfassen lässt. Das wird auch in Ihrem aktuellen Projekt abgebildet. Welche Perspektiven finden Sie diesmal besonders spannend?
Annette Hess:
Zum einen das historische Momentum: Die Generation der Christiane F., zu der ich auch noch ein Stück weit gehöre – wir sind Kinder der Kriegskinder. Unsere Eltern waren in ihren Familien konfrontiert mit Vätern, die traumatisiert von der Front kamen, als sogenannte Mitläufer oder sogar Verbrecher in der Nazizeit. Unsere Eltern durften ihren Eltern keine Fragen stellen, sie waren zum Schweigen verdammt und wirken bis heute wie eine verlorene Generation. Die Unfähigkeit, später mit den eigenen Kindern das Gespräch zu suchen, spiegelt sich für mich in der Mutter von Christiane F. wider.
Aber da ist nicht nur die Unfähigkeit zur Kommunikation. Nicht zu vergessen ist auch die körperliche Gewalt, die über Generationen einfach weitergegeben wird. Die Tatsache, dass sich Ende der 1970er Jahre so viele Kinder und Jugendliche in dieser Diskothek Sound getroffen und harte Drogen genommen haben, ist meiner Meinung nach aus der Historie begründet.
Ich persönlich finde solche Zusammenhänge faszinierend. Gleichzeitig reizt mich aber auch die Zeitlosigkeit des Stoffs: was jung sein bedeutet. Hoffnungen und Ängste treffen auf die Unfähigkeit, sich selbst einschätzen zu können. Das kulminiert dann in dem berauschenden Gefühl, unsterblich zu sein.
»Es war uns extrem wichtig, die Figuren nicht nur als Opfer darzustellen.«
Katharina Weiß:
Neben den Drogen ist vor allem der erotische Aspekt – auch in seiner Brutalität und seinem Tabu – ein Grund für die Zeitlosigkeit der Vorlage. Mit welchen inneren Konflikten wurden in Ihrem Team die Szenen rund um Kinderprostitution aufgeschrieben?
Annette Hess:
Für dieses Projekt habe ich zum ersten Mal zusammen mit einem sogenannten Writers Room geschrieben. Dafür habe ich mit fünf jungen Autoren*innen gearbeitet, die frisch von der Filmuni oder aus der Drehbuchwerkstatt München kamen. Anfangs haben wir eher weniger geschrieben, sondern intensiv über unsere eigenen ersten Erfahrungen mit Drogen, Sexualität, Gewalt oder Übergriffigkeit gesprochen. Wir haben uns ausgiebig mit der Frage befasst, wie man diesen Stoff so wenig voyeuristisch wie möglich erzählen kann. Später, als es dann um die Visualisierung ging, haben wir uns darüber mit dem Regisseur Philipp Kadelbach ausgetauscht, etwa über die Kostüme. Es ist ein unbehaglicher Gedanke, dass jemand zum Beispiel aus unserer Serie Szenen vom Babystrich zusammenschneiden und für Suchbegriffe wie „Sex mit Kindern“ hochladen könnte. Dennoch war es wichtig, diese Seite zu beleuchten und auch die Ambivalenz von Figuren wie Günther aufzugreifen: Er ist der einzige Erwachsene, der den Mädchen wirklich zuhört, und gleichzeitig müssen sie Sex mit ihm haben. Darin liegt eine immense Brutalität. Dennoch war es uns extrem wichtig, die Figuren nicht nur als Opfer darzustellen. Dafür haben wir uns von der Vorlage entfernt: Die Idee, dass sich die Gruppe gegen Günther zusammenschließt und sich wehrt, fühlte sich für uns richtig an.
»Man kann das Leben quasi so aufschreiben, wie es laufen sollte.«
Katharina Weiß:
Für den Writers Room von „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ haben Sie an Filmhochschulen nach Teamkolleg*innen gesucht. Sie beschreiben den Prozess als sehr privat. Was war die aus kreativer Sicht größte Überraschung dieser „Gesprächstherapie“, wie sie es einmal nannten?
Annette Hess:
Da es mit dem Buch bereits eine Vorlage gab und wir nicht gemeinsam einen komplett neuen Stoff entwickeln mussten, konnten wir uns von Anfang an auf die Figuren und deren Psychologie konzentrieren. Der Schicksalsweg, die Drogenspirale abwärts ist kein komplizierter Plot, wir konnten uns also ganz mit den menschlichen Aspekten beschäftigen. Vielleicht auch deshalb konnten wir sehr schnell produktiv werden. Was mich überrascht hat: wieviel Spaß es mir gemacht hat, meine Co-Autor*innen Linda Brieda, Christiane Kalss, Johannes Rothe, Lisa Rüffer und Florian Vey laufen zu lassen – denn ich habe die großartigen Ergebnisse gesehen, die nur in einem kreativen Freiraum entstehen können. Dabei bin ich ein totaler Kontrollfreak – anders kann man aber auch nicht Drehbuchautorin werden.
Katharina Weiß:
Verständlich, denn mit dem Drehbuch beginnt nun mal jeder Film. Menschen wie Sie müssen das ganze Universum im Kopf haben und gedanklich zusammenhalten.
Annette Hess:
Ich glaube, beim Drehbuchschreiben kompensiert man schon seine Machtlosigkeit über das Leben. Man kann dort das Leben quasi so aufschreiben, wie es laufen sollte.
»Ich dachte mir mit jeder weiteren Sekunde: Was für eine Katastrophe! Warum ist das so lahmarschig?«
Katharina Weiß:
Sind Sie manchmal enttäuscht, wenn Sie eine Szene schreiben, dadurch einen ganz eigenen Film im Kopf haben und schließlich die Umsetzung der Schauspieler*innen sehen?
Annette Hess:
Das ist etwas, das man als Drehbuchautorin als allererstes lernen muss: Man muss sein Buch irgendwann loslassen. Das war ein totaler Schock bei meinem ersten Film, „In Liebe eine Eins“ mit Anna Loos. Ich erinnere mich noch genau, wie mich der Regisseur und der Cutter spontan eingeladen haben, einen ersten Blick auf das Material zu werfen. Ich saß zwischen den beiden eingekeilt vor dem Bildschirm und dachte mir mit jeder weiteren Sekunde: Was für eine Katastrophe! Warum ist das so lahmarschig? Ich hatte noch nicht gelernt dabei zu bedenken, dass die Zuschauer*innen natürlich noch nicht wissen, was ich über die Handlung weiß. Oder was die Schauspieler*innen sagen. Das hören die Zuschauer*innen dann ja zum ersten Mal. Das konnte ich lustigerweise nicht abstrahieren.
Diese Nervenzusammenbrüche bei der ersten Sichtung eines fertigen Films habe ich inzwischen nicht mehr. Das Gefühl hat sich mittlerweile gedreht. Heute bin ich sehr neugierig, wie sich die anderen kreativen Gewerke von meinem Buch haben inspirieren lassen: Wie haben Regisseur*innen und Schauspieler*innen meinen Stoff gesehen? Welche Perspektive hat sich durchgesetzt? Bei meinen letzten Projekten wie „Ku’damm“ oder „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ bin ich allerdings auch als Creative Producer intensiv in die Drehprozesse eingebunden. Dort entscheide ich nicht nur die Regie mit, sondern auch den Cast oder den Look. So kenne ich die täglichen Muster – und es gibt keinen Schockeffekt mehr im Schneideraum, da ich die Serien bis zum Schluss mitgestalte.
»Ich denke oft: Das ist viel zu irre, das versteht keiner, das geht nicht durch.«
Katharina Weiß:
Writers Rooms scheinen sich vor allem im Serienzeitalter zu bewähren. Wo liegen die großen Chancen dieser Teamarbeit? Und was können Sie immer noch alleine am besten?
Annette Hess:
Die Writers Rooms haben sich ja vor allem entwickelt, da bei Serien einfach viele Bücher geschrieben werden müssen. Gerade bei langlaufenden Serien kann das keiner allein. Was ich für mich weiterhin nur alleine finden kann, ist die Grundidee, das Thema, die Vision für eine Geschichte. Das kommt bei mir aus dem Bauch heraus und ist immer sehr persönlich. Und dann kann ich mir den Rahmen überlegen, wie die Geschichte ausgearbeitet wird. Was ich jetzt bei „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ gemerkt habe: Wenn man eine starke Grundlage hat und im Writers Room eine freie, tabulose Atmosphäre herrscht, wird man miteinander mutiger.
Wenn ich alleine Drehbücher schreibe, habe ich – auch aufgrund meiner langjährigen Erfahrung – oft viele Scheren im Kopf. Ich denke oft: Das ist viel zu irre, das versteht keiner, das geht nicht durch. Wenn dann aber drei oder vielleicht sogar alle fünf Teamkolleg*innen eine Idee super finden, die man gerade wieder verwerfen wollte, dann schreibt man auch Ungewöhnliches auf. Ich finde, das merkt man unserer Serie mit ihrer manchmal anarchistischen Erzählweise und ihrer Leichtigkeit auch an. Speziell für dieses Projekt empfand ich die vielen Stimmen als perfekt.
»Wir sind die, die aus dem Nichts schöpfen.«
Katharina Weiß:
Im Jahr 2018 traten Sie als Gründungsmitglied der Drehbuchautor*innen-Initiative Kontrakt 18 an die Öffentlichkeit. Wenn ich es richtig verstanden habe, sollte diese Initiative der mangelnden Macht von Drehbuchschreibenden Aufmerksamkeit schenken, um mehr Anerkennung und kreative Freiheit für ebendiese zu bewirken. Wie sieht es aktuell mit der kreativen Freiheit von Drehbuchautor*innen aus?
Annette Hess:
Alle Sender suchen mehr denn je nach Geschichten, nach Stoffen, nach Content – und je mehr Wertschätzung den Schöpfer*innen eben jenes Contents entgegengebracht wird, desto höher wird die Qualität dessen, was bei den Zuschauenden ankommt – um die es uns allen ja geht. Deshalb kämpft unsere Initiative auch weiterhin eisern für die angemessene Positionierung der Drehbuchautor*innen in der Branche. Wir sind die, die aus dem Nichts schöpfen. Und wenn zum Beispiel eine Autorin eine gute Idee für eine Serie hat, dann sollte die Person auch mitentscheiden dürfen, wer diese Vision inszeniert. Das ist mit manchen Vertreter*innen der Regiefraktion immer noch ein Streitpunkt, natürlich geht es da auch um Macht. Was Kontrakt 18 so besonders macht – und worum uns andere Gewerke beneiden – ist unsere Vernetzung. Wir haben ein gemeinsames Forum, wir tauschen unsere Erfahrungen untereinander aus und raten Kolleg*innen zu oder ab, mit wem sie zusammenarbeiten sollten.
Unabhängig von kreativem Mitspracherecht ist zudem die finanzielle Beteiligung an den Verkaufserlösen gerade ein wichtiges Thema. Ein großer Teil unserer Unterzeichner*innen hat aktuell Produktionen, die auf Netflix oder Prime verfügbar sind. Von mir zum Beispiel laufen da aktuell „Weißensee“ und „Ku’damm“, dafür sehe ich aber keinen Cent. Als ich die Verträge für „Weißensee“ gemacht habe, gab es quasi noch gar kein Netflix. Aber natürlich gibt es irgendjemanden, der jetzt an diesem Verkauf verdient. Da muss eine neue Transparenz geschaffen werden. Ich finde, es kann nicht sein, dass ich als Erfindern der Serie daran nicht beteiligt werde. Und das gilt auch für andere Gewerke – und für Produktionsfirmen selbst übrigens auch, die zum Beispiel von Streamingdiensten nicht erfahren, wie oft ihre Produktionen dort aufgerufen werden. Ein undurchsichtiges Millionengeschäft, was so nicht bleiben kann.
»Ich suche mir gerne die Schwächsten der Gesellschaft als Hauptfiguren aus.«
Katharina Weiß:
Je stärker unsere Sehgewohnheiten sich auf Serien fixieren, desto mehr Macht liegt auch bei den Autor*innen, die einer Figur ihre Seele gegeben haben. Den Prozess, einer Figur wirklich nahezukommen, haben Sie mit „Empathietraining“ beschrieben. Was bedeutet das? Und wie hat sich diese Arbeitsroutine auf Ihren Alltag ausgewirkt?
Annette Hess:
Das Wort klingt ein bisschen sehr technisch, aber es beschreibt folgende Dynamik sehr gut: Man lässt sich in seinen tieferen Gefühlsschichten von Menschen berühren, die man im gesamtgesellschaftlichen Kontext eigentlich verurteilt. Ich suche mir gerne die Schwächsten der Gesellschaft als Hauptfiguren aus, in „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ beispielsweise sind das die Drogenabhängigen und die Verlorenen am Rande der Gesellschaft. In „Ku’damm“ dagegen waren das zum Beispiel junge unverheiratete Frauen in den 1950er Jahren, die nichts durften und nichts wert waren.
»Ich tauche gerne in scheinbar heile Welten ein – und suche dann nach den Rissen.«
Katharina Weiß:
Was einmal gegenwärtig war, ist nun Nostalgie. Ein bisschen leben Ihre Stoffe von dieser bittersüßen Zeitreise – und von einer poetischen Ästhetik, die vielen Menschen zu gefallen scheint. Wie ist die geformt worden?
Annette Hess:
Das ist eine interessante Frage. Ich bin zunächst einmal ein tief romantischer Mensch. Zudem bin ich eskapistisch veranlagt. Ich tauche gerne in scheinbar heile Welten ein – und suche dann nach den Rissen. Mir gefällt Schönheit, die gebrochen ist. Selbst eine so bedrückende Geschichte wie „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ hat für mich durch die Liebesgeschichte, durch den jugendlichen Leichtsinn oder das große Herz von Axel eine gewisse Schönheit. Durch die Zeilen hindurch fühlt man vielleicht meine Sehnsüchte und die Romantik, mit der ich an sich harte Stoffe und Thematiken schreibe. So fließt möglicherweise ein Teil davon mit in die Arbeit der Schauspieler*innen oder der Regisseur*innen ein.
»Grundsätzlich zieht mich alles an, was widersprüchlich ist.«
Katharina Weiß:
Von „Was nützt die Liebe in Gedanken“ über die „Ku’damm“-Serie bis zu Ihrem Romandebüt „Deutsches Haus“ haben mich persönlich in Ihren Stoffen immer wieder die komplexen Männercharaktere angesprochen, die Sie darin zeichnen. Fließen in diese Figuren eher eigene Erfahrungen oder eigene Ideale ein?
Annette Hess:
Ich war schon als Achtjährige oft in die Bösen verliebt, die Prinzen haben mich nicht interessiert. Ich erinnere mich noch an meine Enttäuschung bei „La Belle et la Bête“ von Jean Cocteau, wenn sich la Bête in diesen öden Schönling verwandelt. Ich fand die Bestie mit dem guten Herzen viel aufregender. Grundsätzlich zieht mich alles an, was widersprüchlich ist. Denn Widersprüchlichkeit schafft Reibung, das macht es spannend und davon lebe ich ja auch: Konflikte und Überraschungen machen eine Geschichte erst erzählenswert.
»Ich weiß aus meinen Recherchen, was junge Frauen damals dachten, was sie aushalten müssten.«
Katharina Weiß:
Für Aufruhr im Kontext einer männlichen Figur sorgte eine kreative Entscheidung bei der „Ku’damm“-Serie: Hauptfigur Monika, die in der ersten Staffel vom Industriellensohn Joachim Franck vergewaltigt wird, verzeiht ihm zunächst, und verliebt sich schließlich sogar in ihn, was am Ende der zweiten Staffel in einer Heirat der beiden mündet.
Annette Hess:
Zu diesem Handlungsstrang hat mich in der ersten Staffel eine Freundin inspiriert, die aufgrund verschiedener Gewalterfahrungen durch eine sehr schwere Zeit gegangen ist und sich mit dem Gedanken des Verzeihens stark auseinandersetzen musste. Ich weiß auch aus eigenem Erleben, welche Kraft man dafür aufwenden muss – und wie es sich doch oft auf lange Sicht auszahlt.
Da ich bei „Ku’damm 56“ eine Erzählzeit von fast fünf Stunden hatte, wollte ich mich trauen, so einen intensiven Bogen zu spannen: Nach dem Verbrechen und dem Schock lernt Monika nur langsam, sich selbst wieder zu spüren. In der Liebe zu Musiker Freddie kann sie schließlich wieder Spaß am Leben und ihrem Körper empfinden. Nach einer gewissen Zeit der Katharsis kommt schließlich eine Aussprache. Von diesem Punkt des ehrlichen Verzeihens aus haben sich beide Figuren stark weiterentwickelt, was in der Liebesgeschichte mündet, die viele Zuschauer*innen mochten und diskutierten. Dennoch tat es mir leid, dass einigen die kreative Entscheidung, Joachim und Monika einen Neuanfang als Liebespaar zu geben, negativ aufgestoßen ist. Und dafür, dass das jemand unmöglich findet, habe ich großes Verständnis. Aber man darf auch nicht vergessen, dass es in den 1950er Jahren durchaus Ehen gab, die mit einer Quasi-Vergewaltigung und daraus resultierender Schwangerschaft begonnen haben. Darüber spricht niemand gern, aber ich weiß aus meinen Recherchen, was die Unaufgeklärtheit der jungen Frauen damals angerichtet hat, was junge Frauen damals dachten, was sie aushalten müssten. Auch das wollte ich mit Monikas Schicksal erzählen.
»Wenn die Reflexion zu früh einsetzt, kommt die Geschichte nicht mehr aus dem Herzen, sondern aus dem Kopf.«
Katharina Weiß:
Haben Sie durch Ihre Arbeit schon mal einer Liebesgeschichte eine glückliche Wendung gegeben, die Ihnen selbst in der Realität versagt wurde?
Annette Hess:
Die Frage kann ich gar nicht richtig beantworten, da sie sehr ins Unterbewusste zielt. Was ich beschreiben kann: Ein Thema oder eine Figur faszinieren mich, ich gehe dem nach, tauche ein, gehe darin auf. Und beobachte manchmal auch, wie eine Ader wieder versiegt. Was ich in dieser ersten Zeit der Ideenfindung aber erst mal nicht tue, ist zu reflektieren, woher meine Faszination oder gewisse Einfälle kommen. Wenn die Reflexion zu früh einsetzt, dann ist man im theoretischen Bereich und kann die Geschichte nicht mehr lebendig erzählen. Dann kommt sie nicht mehr aus dem Herzen, sondern aus dem Kopf.
Aber bei jedem Stoff bemerke ich irgendwann, was das eigentlich mit mir zu tun hat. Ein Beispiel: Am Ende der ersten „Ku’damm“-Staffel zieht Monika aus und trennt sich damit von ihrer Mutter, der Tanzlehrerin Caterina Schöllack. Als ich zum ersten Mal den Rohschnitt des dritten Teils gesehen habe, musste ich heulen wie ein Schlosshund. Erst in diesem Moment ist mir aufgegangen, dass das gerade mein persönliches Thema war, weil meine Tochter zuhause ausgezogen ist. Ich hätte vorher nie gedacht, dass diese Trennung so brutal sein würde. Sie wohnt in Berlin und wir sehen uns oft, wenn ich hier bin. Aber der Schmerz damals war ganz schrecklich für mich.
»Ich lausche tausendmal lieber einem Gespräch in der U-Bahn, als eine neue Netflix-Serie zu schauen.«
Katharina Weiß:
Wie sehr sind Ihre Figuren Denkmäler der Menschen, die Ihnen in Ihrem Leben begegnet sind?
Annette Hess:
Die Mutter bei „Ku’damm“, Caterina Schöllack, ist meiner Großmutter nachgezeichnet – was aber unbewusst passiert ist. Ich habe zwei Cousinen in der Schweiz, die ich nur ganz selten sehe. Als die dort die Serie gesehen haben, riefen sie am nächsten Tag bei meinen Eltern an und meinten: „Das ist doch Oma!“ Da hatte ich Gänsehaut.
Ich denke, ich lasse all meine Begegnungen mit Menschen letztlich in meine Figuren einfließen. Ich bin einfach fasziniert von Menschen, das wird auch eher mehr als weniger, ich bin neugierig auf Lebenswege, Familienstrukturen. Ich will hinter Fassaden blicken. Ich lausche tausendmal lieber einem Gespräch in der U-Bahn, als eine neue Netflix-Serie zu schauen. Aber nicht, weil ich Autorin bin und Stoff brauche, sondern andersherum ist es richtig: Wegen meiner Faszination für Menschen bin ich überhaupt Autorin geworden.
#annettehess #wirkindervombahnhofzoo #community #katharinaweiss #mypmagazine
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Interview & Text: Katharina Weiß
Fotografie: Frederike van der Straeten
Thanh Binh Tran
Interview — Thanh Binh Tran
Wohltätigkeit in digital
Mit Gründergeist gegen die Krisenstimmung: Thanh Binh Tran ist Mitbegründer des Wohltätigkeits-Start-ups »Moonshot Mission«, mit dem er die Spendenbranche revolutionieren will. Ein Gespräch über die persönliche Verantwortung in der Gesellschaft – und das tollkühne Ziel, das Elend der Welt zu beseitigen.
27. Februar 2021 — MYP N° 30 »Gemeinschaft« — Interview: Katharina Weiß, Fotografie: Frederike van der Straeten
Als letztes Jahr, so mitten in der Pandemie, das Start-up Caroobi dichtmachte, stand Thanh Binh Tran plötzlich auf der Straße. Etwas mehr als ein Jahr hatte er als Head of Business Development in dem anfangs hochgelobten Unternehmen gearbeitet – einer Firma, die sich vorgenommen hatte, mit Unterstützung millionenschwerer Investoren wie etwa BMW den Kfz-Service in Deutschland zu digitalisieren. Doch dann war Schluss. Und Thanh war – wie viele andere ambitionierte, junge Menschen – in einem neuen Leben gestrandet, das in erster Linie geprägt war von außerordentlich viel Freizeit. Corona sei Dank.
Doch da Thanh Binh Tran vor Gründergeist nur so sprüht und sich so etwas nicht einfach abschalten lässt, zumindest nicht bei ihm, nahm er sich vor, all seine Energie endlich einem Herzensprojekt zu widmen, das er seit Jahren aus Zeitmangel beharrlich aufgeschoben hatte. Sein Vorhaben könnte nicht ehrgeiziger sein: Mit einem kleinen Team aus insgesamt vier Personen hat er es sich zum Ziel gesetzt, das Wesen der Wohltätigkeit zu verändern: effizienter, moderner, transparenter. Und das auf der ganzen Welt.
Von seinem WG-Zimmer in Berlin-Kreuzberg aus bastelte er monatelang an der Webseite zu seinem Start-up Moonshot Mission. Die Plattform will eine Art Booking.com für Wohltätigkeitsorganisationen sein. Aber was heißt das konkret?
Laut Thanh Binh Trans Aussagen finden User*innen auf der Seite eine Auflistung der effektivsten NGOs der Welt, und zwar mit allen Einsatzgebieten und Projekten. Anstelle von Nutzerbewertungen oder Hotelsternen sieht man wissenschaftliche Studien, die ausschließlich dem Zweck dienen, die Effektivität der einzelnen Organisationen zu beweisen.
Entscheidet man sich zu einer Spende, wickelt Moonshot Mission die Zahlung ab. Da Thanh Binh Trans Firma kein Geld für diesen Prozess verlangt, ist das Ganze kostenlose Werbung für all die NGOs, die in die Liste von Moonshot Mission aufgenommen werden. Das hilft vor allem kleinen Organisationen mit geringem Marketingbudget.
Bisher war es auf dem heiß umkämpften Markt der Wohltätigkeitsprojekte eher so, dass diejenige NGO am meisten Spenden erhält, die über das beste Marketing-Team verfügt – egal, wie gut die Arbeit vor Ort ist. Mit diesem Muster möchte Thanh Binh Tran nun brechen. Im Gespräch mit Chefredakteurin Katharina Weiß gewährt er einen Einblick in die Tragweite seiner Vision. Und er vertritt dabei den Standpunkt, dass Wohltätigkeit nicht als Ehrenamt ausgeübt werden muss.
Katharina Weiß:
Trotz des Wohltätigkeits-Aspekts hast Du auch deine aktuellen Karriereziele an das Start-up Moonshot Mission geknüpft. Die sind allerdings im Moment noch recht verhalten: Ihr wollt es schaffen, dass die Arbeit aller jetzigen und künftigen Mitarbeiter*innen Eurer Firma durch regelmäßige Gehälter entlohnt wird. Wie genau verdient Ihr mit Eurer Plattform Geld?
Thanh Binh Tran:
Ganz einfach: Wir fragen unsere Nutzer*innen nach einer freiwilligen Spende an uns. Je mehr Zuwendungen wir erhalten, desto mehr können wir in Marketing investieren – und damit mehr Menschen davon überzeugen, an eine NGO ihrer Wahl zu spenden. Das heißt konkret: Wenn Du beispielsweise 50 Euro spendest, behalten wir von diesem Geld nichts ein, sondern fragen Dich, ob Du bereit bist, etwa mit weiteren fünf Euro uns zu unterstützen. Deine Gesamtspende beträgt dann natürlich 55 Euro.
Katharina Weiß:
Welchen Vorteil hat es für die Spender*innen, den Zahlungsvorgang in Eure Hände zu legen, anstatt auf den Websites der NGOs direkt selbst zu spenden?
Thanh Binh Tran:
Dies hat sich aus zwei Gründen als sinnvoll erwiesen: Erstens, weil einige NGOs in den Vereinigten Staaten ansässig sind und wir uns um darum kümmern, Deine Steuervorteile in Deutschland geltend zu machen. Und zweitens, damit Deine Daten bei uns geschützt bleiben. Darüber hinaus informieren wir Dich, falls eine NGO nach wissenschaftlichen Standards nicht mehr zur Weltspitze der effektiven Organisationen gehört. Die NGO selbst hat dabei keine Möglichkeit, Dich zu kontaktieren.
»Ohne Ausgaben könnten wir keines der Probleme lösen, an denen wir arbeiten.«
Katharina Weiß:
Das klingt dennoch stark nach Kapitalisierung von Wohltätigkeit. Warum bist Du so davon überzeugt, dass dieser Weg ein guter ist?
Thanh Binh Tran:
Klar, wir könnten das Projekt natürlich auch auf dem klassischen Weg – sprich nebenberuflich – aufbauen und auf Freund*innen und Familie als Spender*innen setzen. Dann hätten wir keine Ausgaben und würden rein ehrenamtlich arbeiten. Ohne Ausgaben könnten wir aber kein Marketing betreiben, keine skalierbaren Prozesse aufbauen und am Ende keines der Probleme lösen, an denen wir arbeiten.
Daher ist es uns ein Anliegen immer wieder zu erklären, warum Spendengeld, das in Marketing fließt, letztlich zu effektiveren und höheren Spendeneinnahmen durch NGOs führt und nicht einfach verpufft.
Für uns bedeutet gutes Marketing, dass wir aus einem Euro, den wir unmittelbar in Marketing investieren, acht bis zwölf Euro in zusätzlichen Spenden generieren können: durch Pressearbeit, Werbung und Verbesserungen an unserer Webseite. Wenn wir aber daran festhalten, dass Spenden mit möglichst wenig Ausgaben in Marketing und Verwaltung betrieben werden sollen, verfehlen wir meiner Meinung nach den Allerwichtigsten aller Punkte: genau jenen Menschen zu helfen, die Hilfe brauchen.
»Nahrung, Gesundheit und Bildung waren in meinem Leben immer selbstverständlich. Jetzt möchte ich anderen Menschen diese Chance geben.«
Katharina Weiß:
Warum ist Dir der gute Zweck überhaupt so wichtig?
Thanh Binh Tran:
Als Sohn vietnamesischer Geflüchteter war ich glücklich, ein Leben voller Möglichkeiten in Europa zu führen. Nahrung, Gesundheit und Bildung waren in meinem Leben immer selbstverständlich, obwohl ich diese Dinge nicht direkt beeinflussen konnte. Jetzt möchte ich anderen Menschen diese Chance geben.
Katharina Weiß:
Du hast zu Beginn der Corona-Pandemie Deinen Job verloren. Dadruch hattest Du plötzlich von morgens bis abends Zeit für Moonshot Mission. Bist Du mittlerweile an einem Punkt, an dem Du schon etwas mit der Website verdienst?
Thanh Binh Tran:
Wir arbeiten alle auf ehrenamtlicher Basis und investieren unsere Ersparnisse in das Projekt.
Katharina Weiß:
Wie lange kannst Du noch von diesem Idealismus leben?
Thanh Binh Tran:
Mitte des Jahres muss ich mir Gedanken machen, wie lange ich und das Team die Moonshot Mission noch betreiben können. Wenn genug Leute an unsere Idee glauben, sind auch erste Gehälter auszahlbar.
»Wir wollen bis 2030 weltweit extreme Armut beenden.«
Katharina Weiß:
Welche Motivationen haben die anderen Menschen, die mit Dir an Moonshot Mission arbeiten?
Thanh Binh Tran:
Das Moonshot-Team besteht neben mir aus weiteren drei Personen. Da ist zum Beispiel Guy, der das Start-up, in dem wir vor zwei Jahren gemeinsam gearbeitet hatten, ebenfalls verlassen hat und nach Tansania gezogen ist, um dort die Arbeit einer internationalen NGO zu koordinieren. Natürlich war er der erste, den ich angerufen habe. Sein klares Ziel: die NGO-Welt effizienter zu gestalten.
Als wir uns anschließend die Meinung von Marketing-Experten einholen wollten, habe ich Max und Patrick um Rat gebeten. Die beiden haben eine Marketingagentur und saßen damals mit mir im Management des Werkstatt-Portals Caroobi, das Mitte 2020 operativ eingestellt wurde. Ich wusste also, dass sich diese beiden kompetenten Köpfe auch noch orientieren müssen. Als Guy und ich ihnen erklärt haben, dass wir eine NGO nach dem Prinzip eines Start-ups aufbauen, waren sie direkt an Bord.
Katharina Weiß:
Warum überhaupt der Name Moonshot Mission? Eigentlich irreführend…
Thanh Binh Tran:
Im Einklang mit den Zielen der UN wollen wir bis 2030 weltweit extreme Armut beenden. Natürlich ist das fast unmöglich zu erreichen – in der Start-Up Welt nennt man so eine tollkühne Idee moonshot vision.
»Für 100 Euro können wir das Äquivalent von 14 Jahren an zusätzlichen Schultagen ermöglichen.«
Katharina Weiß:
Ihr sagt, dass Ihr nur die „effektivsten“ Organisationen der Welt auf Eurer Seite listet. Welche das sind, ermittelt Ihr auf Basis von Erkenntnissen des Wirtschaftsnobelpreises 2019. Diese stützen sich auf Ergebnisse, die mit der wissenschaftlichen Methode der sogenannten Rigorous Impact Evaluation gesammelt wurden. Ergänzt werden diese Daten durch Studien der Weltbank und der Vereinten Nationen. Zu welchen Ergebnissen kommen diese Erhebungen?
Thanh Binh Tran:
Rigorous Impact Evaluations sind vergleichbar mit Experimenten aus der Wissenschaft. Dank der Erkenntnisse können wir genau sagen, welche Effekte Spendengelder auf die Menschen vor Ort haben.
Nehmen wir an, Du möchtest Grundschulkindern in Kenia helfen: Für 100 Euro, die im Land ankommen, könnte man einem talentierten Kind durch ein Stipendium etwa 118 zusätzliche Tage Schule finanzieren. Dank Rigorous Impact Evaluations wissen wir aber, dass die Vergabe von Medikamenten, in diesem Fall Entwurmungspillen, die Abwesenheitsrate in der Schule senkt. Das heißt: Für dieselben 100 Euro, die wir in Kenia in Entwurmungspillen investieren, können wir nicht nur die Krankheit heilen, sondern auch das Äquivalent von 14 Jahren an zusätzlichen Schultagen ermöglichen.
»Wir fragen uns, wie Malaria heutzutage überhaupt noch ein Problem für Millionen von Menschen sein kann.«
Katharina Weiß:
Warum sind akute Krisen wie zum Beispiel die Explosion in Beirut weniger relevant für Euch?
Thanh Binh Tran:
Bei Katastrophen wie der im Libanon sind Spenden unbedingt unterstützenswert und wichtig, das muss an erster Stelle gesagt werden. Wir fokussieren uns jedoch auf Prävention und länderübergreifende Probleme, die wir als Gemeinschaft schon lange hätten lösen können. Millionen Menschen leiden noch heute unter Krankheiten wie etwa Malaria, obwohl präventive Medikamente rund um die Uhr sehr guten Schutz bieten. Zum Beispiel können wir für sechs Euro einem Menschen aus Ostafrika eine Saison lang Schutz vor Malaria geben. Da fragen wir uns natürlich, wie das heutzutage überhaupt noch ein Problem für Millionen von Menschen sein kann. Moonshot Mission wurde gegründet, um globale Probleme dieser Art zu lösen.
»Wenn wir nicht bereit sind, Teile unserer Spenden sinnvoll zu reinvestieren, leiden am Ende die Menschen.«
Katharina Weiß:
Auch wenn Du es nachvollziehbar erklärst, folgendes Problem sehe ich trotzdem: Intuitiv würde man doch als Spender*in von beispielsweise 100 Euro sein Geld eher an eine Organisation senden, die verspricht, dass hundert Prozent der Summe an den guten Zweck gehen. Geld, das für die Organisation und Administration benötigt wird, erscheint vielen Menschen wie verschwendet. Wie begegnet Ihr einem solchen Umstand?
Thanh Binh Tran:
Viele Menschen sind der Meinung, dass von einer 100-Euro-Spende im besten Fall 100 Euro im Land ankommen sollten. Wenn nichts bei der NGO übrigbleibt, können aber weder Verwaltung noch Marketing betrieben werden. Und ohne Marketing gibt es keine neuen Spender*innen. Erfolgreiche Fundraiser*innen holen aus einem Euro Investment acht Euro in neuen Spenden heraus. Wenn wir nicht bereit sind, Teile unserer Spenden sinnvoll zu reinvestieren, leiden am Ende die Menschen, denen wir ursprünglich helfen wollten. Da aber dieser Sachverhalt nicht so einfach zu vermitteln ist, leiten wir die Spenden unserer User*innen abzüglich der Transaktionsgebühren direkt weiter und finanzieren uns durch freiwillige Beiträge.
»Wichtiger als der Vertrag ist gegenseitiges Vertrauen.«
Katharina Weiß:
Da Ihr selbst kein Teil der NGOs seid, sondern diese nur online vertretet, sind Eure Möglichkeiten relativ gering, was die Überprüfung des tatsächlichen Einsatzes des gespendeten Geldes angeht. Wie wollt Ihr dem Missbrauch von Spendengeldern entgegenwirken?
Thanh Binh Tran:
Zum einen bestehen Verträge zwischen uns und den Organisationen, die eingrenzen, was mit Spendengeldern passieren darf. Wichtiger als der Vertrag ist aber gegenseitiges Vertrauen. In der Vergangenheit haben unsere NGOs herausragende Arbeit geleistet und ihre Gelder effektiver als jede andere Organisation verwendet. Zudem werden alle unsere Partner regelmäßig auf den Prüfstand gestellt. Falls der Test negativ ausfällt, wird die NGO von unserer Plattform genommen. Bestehende Spender*innen werden durch uns informiert – und da die Daten bei uns liegen, kann auch keine weitere Spende mehr fließen.
»Trotz allen Wohlstands leben weltweit 600 Millionen Menschen von weniger als 1,62 Euro am Tag.«
Katharina Weiß:
Du hast eben davon gesprochen, dass es auf unserer Welt nach wie vor große Probleme und Ungerechtigkeiten gibt, die noch nicht bewältigt wurden. Was sind Deiner Meinung nach die wichtigsten Punkte, mit denen sich unsere Gesellschaft stärker befassen sollte?
Thanh Binh Tran:
Ich glaube, dass wir als Gemeinschaft bei mindestens zwei Themen komplett versagen. Erstens: Trotz aller wissenschaftlicher Erkenntnisse zerstören wir weiterhin den Planeten, als gäbe es einen zweiten, auf den man ausweichen könnte. Zweitens: Trotz allen Wohlstands leben weltweit 600 Millionen Menschen von weniger als 1,62 Euro am Tag. Zur Einordnung der Größenverhältnisse: Die gesamte Europäische Union zählt etwa 450 Millionen Einwohner*innen.
»Entscheidend ist, ob man persönlich bereit ist, etwas zu opfern.«
Katharina Weiß:
Welche Verantwortung siehst Du speziell bei Deiner Generation?
Thanh Binh Tran:
Jedem ist bekannt, dass die gerade genannten Probleme existieren. Entscheidend ist, ob man persönlich bereit ist, etwas dafür zu opfern. Viele Menschen verzichten auf Fleisch, nehmen den Zug, statt zu fliegen, und gehen demonstrieren; vielen anderen ist das aber immer noch schlichtweg egal.
Beim Thema Spenden wird’s dann noch düsterer: Drei Prozent des eigenen Einkommens zu spenden, dieser Anteil erscheint einem im ersten Moment als eher wenig. Bei 2.500 Euro brutto entspricht das einer monatlichen 50-Euro-Spende – und das ist für viele Menschen unvorstellbar. Da frühere Generationen diese Themen vernachlässigt haben, liegt es jetzt in unserer Verantwortung, neue Lösungen zu finden und selbst Opfer zu erbringen. Initiativen für eine bessere Welt gibt es mehr als genug – man muss sich nur engagieren.
#thanhbinhtran #moonshotmission #community #katharinaweiss #mypmagazine
Mehr über Moonshot Mission:
Interview & Text: Katharina Weiß
Fotografie: Frederike van der Straeten
Sebastian Goddemeier
Portrait — Sebastian Goddemeier
Provinz ist kein Ort
Journalist und Autor Sebastian Goddemeier hat sich queere Themen zum Sujet gemacht – und schreibt fleißig gegen gesellschaftliche Stigmata an. In seinen Texten schöpft er dabei oft aus dem eigenen Erlebten und Ertragenen. Ein Portrait über einen jungen Mann, dessen Geschichte eine ganz besondere ist. Und die sich so oder so ähnlich hätte überall ereignen können.
21. Februar 2021 — MYP N° 30 »Gemeinschaft« — Text: Jonas Meyer, Fotografie: Maximilian König
Das Städtchen Drensteinfurt kann sich wirklich sehen lassen. Der schmucke Ort im Herzen des Münsterlands glänzt nicht nur mit seinem erstaunlichen Repertoire an historischen Fachwerkhäusern. Es gibt außerdem vier Wasserschlösser, drei Grundschulen, ein Erlebnisbad und unzählige Kilometer Fahrradweg. Und auch die Vereinslandschaft hat, von Angelsport bis Zigarrenclub, so einiges zu bieten für die knapp 16.000 Einwohner. Erwähnenswert ist auch die niedrige Pro-Kopf-Verschuldung, die bei nur etwa einem Zehntel des Landesdurchschnitts liegt. Und dann, zu allem Überfluss, führt noch der westfälische Jakobsweg an der Stadt vorbei.
Nicht der schlechteste Ort also, um aufzuwachsen. Zumindest, wenn man nicht schwul ist. Wie Sebastian Goddemeier, freiberuflicher Journalist und Autor und mittlerweile 27 Jahre alt.
Um gleich ein gewisses Erwartungsmanagement zu betreiben: Die Lebensgeschichte von Sebastian ist nicht als Verdammung seiner Heimat zu verstehen. Sie ist kein Herabblicken der Großstadt aufs Land, keine Kriegserklärung des Heute an das Gestern, kein cool versus piefig. Drensteinfurt könnte überall sein. Und Sebastians Leben das eines anderen, vieler anderer. Gerade deshalb muss es erzählt werden.
»Im Kindergarten bin ich sehr gerne als Erdbeere im roten Tutu aufgekreuzt.«
Eine der frühesten Erinnerungen, die Sebastian aus dem Gedächtnis kramen kann, geht zurück auf seine Zeit im Kindergarten. „Ich weiß noch, dass ich dort sehr gerne im glitzernden Sailor-Moon-Kostüm oder als Erdbeere im roten Tutu aufgekreuzt bin“, erzählt er. Dass er nicht nur mit Hot Wheels spielte, sondern auch mit Barbies, war damals noch kein Problem. Und dass er gerne Kleider trug und sein Gestikulieren etwas feminin wirkte, auch nicht. Sebastians Welt war in Ordnung.
Dann, kurz vor seiner Einschulung, ließen sich die Eltern scheiden. Es folgte ein Umzug ins Sauerland, genauer gesagt nach Harth, ein 800-Seelen-Dorf in der Nähe von Büren. In dieser Zeit legte der Kleine extrem an Gewicht zu.
An seine Grundschulzeit in Harth hat Sebastian kaum gute Erinnerungen. Spätestens ab der zweiten Klasse wurde es ungemütlich für ihn, da er immer wieder von seinen Mitschüler*innen verspottet wurde – hauptsächlich wegen seines Übergewichts. Aber auch die Worte „Mädchen, Mädchen“ bekam er damals schon zu hören, „Schwuli“ ebenso.
»Unter allen Kindern war klar: Man möchte nicht schwul sein.«
„Unter allen Kindern war klar: Man möchte nicht schwul sein“, erzählt Sebastian. Dass dieser Begriff für einen Mann steht, der Männer liebt, wusste er da bereits. „Keine Ahnung, woher ich das Wort kannte“, überlegt er und fährt fort: „Ich erinnere mich, dass meine Oma einen Bekannten hatte, der schwul war. Ich glaube, das war das erste Mal, dass ich mit dem Thema in Kontakt gekommen bin.“ Und dass es sich dabei um etwas Schlechtes handeln musste, machten ihm seine Klassenkamerad*innen mehr als deutlich.
Sebastian weiß noch, wie überfordert er als Sieben- oder Achtjähriger mit dieser Situation war – nicht zuletzt auch wegen seiner familiären Verhältnisse. „Im Gegensatz zu anderen Kindern hatte ich nicht das Glück, wenigstens zuhause eine gewisse Stabilität vorzufinden“, erzählt er und ergänzt: „Ich hatte niemanden, dem ich mich anvertrauen konnte, und musste sehr früh lernen, mich um mich selbst zu kümmern.“
Der Junge fühlte sich zunehmend isoliert und einsam – und war der festen Überzeugung, irgendetwas sei falsch mit ihm. „Ich kam mir vor wie ein Aussätziger, weil es weit und breit niemanden gab, mit dem ich mich identifizieren konnte“, berichtet er. Viele Jahre später wird er in einem seiner Texte schreiben: „In meiner Kindheit lernte ich, Gefühle auszuschalten und sie zu unterdrücken: Wut, Trauer, Enttäuschung. All das verbot ich mir ab einem gewissen Punkt, um zu überleben.“
»Ich war einfach anders – also hat man sich auf mich geschmissen.«
Kurz bevor Sebastian in die sechste Klasse kam, ging es zurück nach Drensteinfurt. Damit änderten sich für den pubertierenden Teenager zwar der Wohnort und die Schule, nicht aber die Sticheleien von Seiten der Klassenkamerad*innen. Zu sonderbar war ihnen dieser neue Mitschüler, der gerade seine Emo-Phase auslebte und so überhaupt nichts gemein hatte mit den Jungs, die man sonst auf den Straßen, in den Schulen und Vereinen von Drensteinfurt sah.
„Ich fand Fußball immer scheiße, habe Jeannette Biedermann gehört und mir alle drei Wochen die Haare gefärbt“, erinnert er sich. „Dazu hatte ich immer ziemlich ausgefallene Klamotten an. Ich war einfach anders – also hat man sich auf mich geschmissen.“ Der Begriff geschmissen ist dabei wörtlich zu nehmen, nicht selten wurde Sebastian auch körperlich attackiert.
Und so kugelte sich der Teenager immer weiter ein, isolierte sich und versuchte, nichts von sich preiszugeben, was eine weitere Angriffsfläche eröffnet hätte. Darüber hinaus, so erzählt er, habe er extrem viel Energie dafür aufgewendet, sich selbst das Schwulsein abzusprechen. Immer wieder habe er versucht, Mädchen zu daten: „Ich habe mir gesagt: Nee, das bin ich einfach nicht.“
»Ich hatte das Gefühl, die Kontrolle über das Gerede zu haben, weil ich es selbst provoziere – und nicht, weil etwas falsch mit mir ist.«
Doch es waren nicht nur die Mitschüler*innen, die Sebastian zur Ablehnung der eigenen Gefühle brachten. Es fehlten auch die Vorbilder, die Identifikationsfiguren im Alltag. „Homosexualität vorgelebt zu bekommen war in Drensteinfurt nicht drin“, schildert er seine Erinnerungen an damals. „Und in der medialen Öffentlichkeit gab es damals nur wenige, aber völlig überzeichnete schwule Charaktere wie etwa Ross Anthony oder Olivia Jones.“ So etwas wie das normale schwule Pärchen von nebenan, da ist er sich sicher, wäre in seiner Kindheit und Jugend undenkbar gewesen.
Als das Mobbing immer größere Ausmaße annahm, versuchte er sich irgendwann an einer neuen Strategie und machte es sich zur Aufgabe, seine Mitschüler*innen bewusst zu provozieren. „Ich habe mein Auftreten total überzeichnet, indem ich etwa morgens den kleinen Weg vom Fahrradständer zum Schuleingang zu meinem kleinen Laufsteg gemacht habe“, erzählt er.
Mit goldenen Adidas-Schuhen und einem riesigen Schal um den Hals tat Sebastian nun jeden Morgen so, als wäre er ein Model, das den Catwalk entlang schreitet. „Ich wusste ja, dass die Leute ohnehin über mich reden“, beschreibt er sein damaliges Empfinden. „Und mit diesem Auftreten hatte ich immerhin das Gefühl, die Kontrolle über all das Gerede zu haben – weil ich es selbst provozieren konnte. Und nicht, weil etwas falsch mit mir ist.“
»Ich hatte irgendwann die Illusion: Wenn ich nur perfekt genug bin, dann mögen die mich.«
Nach der Provokationsphase folgte die totale Anpassung. In der Oberstufe trainierte Sebastian sein Gewicht ab, legte sich Klamotten zu, die auch von allen anderen getragen wurden, und hörte die Musik, die auch bei allen anderen gerade gefragt war.
„Plötzlich gehörte ich dazu: Ich hing mit den Coolen an der Schule ab,“ erzählt er und verrät: „Ich hatte irgendwann die Illusion: Wenn ich nur perfekt genug bin, dann mögen die mich. Dann müssen die mich mögen, es gibt ja gar keinen anderen Weg.“ Und so setzte er alles daran, einfach unter einer Fassade zu verschwinden.
Der enorme Gewichtsverlust sorgte dafür, dass Sebastians Gesicht immer markantere Züge annahm. Seine ausgeprägten Wangenknochen, blauen Augen und langen Beine machten aus dem 1,90 Meter großen Teenager einen gutaussehenden jungen Mann – so gut, dass er im Alter von 16 von einer Münchener Modelagentur unter Vertrag genommen wurde.
Wurde er anfangs noch für Foto-Love-Storys in der Popcorn gebucht, avancierte er relativ schnell zum Fashion-Model und reiste um die Welt. Doch dieser Nebenjob, der für etliche Jugendliche auch heute noch die Erfüllung aller Lebensträume bedeutet, war in der Realität weitaus weniger schillernd, als es die Hochglanzmagazine immer vermuten lassen.
„Ich war als Model nie wirklich erfolgreich und habe damit auch kein Vermögen verdient“, berichtet Sebastian. Der Grund: Er war zu fett. Jedenfalls glaubte man das bei einer Berliner Agentur und ließ ihn das auch unverblümt wissen. Dabei war er zu jener Zeit bereits ziemlich abgemagert. „Ich weiß gar nicht, wie oft ich damals geheult habe“, erinnert er sich. „Das sind eben die Dinge, an die die Leute nicht denken, wenn’s ums Modeln geht.“
»Man kann gar nicht anders, als deren Körper mit dem eigenen zu vergleichen – und das macht was mit einem.«
Auch wenn sich durch den prestigeträchtigen Job einiges in Sebastians Leben geändert hatte, eine Sache wurde er nicht los: den fast zwanghaften Drang, das Lebensmodell anderer zu kopieren. Wie etwa das irgendwelcher reicher Kids aus München, die ihr Aussehen und Tun – oder besser gesagt Nichtstun – auf Instagram ausstellten.
„Ich dachte, genauso muss ich sein: ständig nach Nizza fliegen und den ganzen Tag am Pool posieren – natürlich mit einer teuren Uhr am Arm“, erzählt er. Es dauerte nicht lange und er eiferte dem Lifestyle dieser Leute nach, und zwar deckungsgleich. „Mit Freunden in Nizza abhängen“ war etwas, was er nicht nur einmal zelebriert hatte, wie er uns etwas beschämt wissen lässt.
Heute befremdet ihn seine Motivation von damals: „Das alles hat sich immer sehr leer und synthetisch angefühlt – und es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich verstanden habe, dass Instagram nicht mehr ist als eine Oberfläche.“ Und er unterstreicht: „Ich musste lernen, mich so zu akzeptieren, wie ich bin. Und dass es völlig okay ist, wenn ich Chips esse statt Salat.“
Ganz losgeworden ist er den Druck nie, den diese Plattform auf Menschen und ihr Körperempfinden ausübt. Daher bezeichnet er Instagram ganz klar als Droge: „Auch ich folge dort Fitness-Influencern, die ich mir natürlich gerne ansehe. Man kann gar nicht anders, als deren Körper mit dem eigenen zu vergleichen – und das macht was mit einem.“
Aber im Gegensatz zu früher, so erzählt er, sei er heute in der Lage, das dort Gesehene und Begehrte anders zu reflektieren – oder überhaupt zu reflektieren. Damit meint er konkret: „Ich weiß, warum ich mir das anschaue. Ich weiß, was das mit mir macht. Aber ich kann mittlerweile recht gut steuern, wie ich damit umgehe.“
»Statt mich mit mir und meinen Gefühlen auseinanderzusetzen, fand ich es viel verlockender, einfach nur zu ballern.«
Apropos Droge: Es gab eine Zeit, in der Alkohol einen immensen Stellenwert in Sebastians Leben eingenommen hatte. Und damit meint er ausdrücklich nicht jene Tage, an denen er am Drensteinfurter Bahnhof herumlungerte und sich mit Veltins V+ die Kante gab – obwohl er auch damals schon Alkohol dazu benutzt habe, seine Gefühle zu regulieren, wie er erzählt.
Nach dem Abi war der junge Mann nach Berlin gezogen, um Journalismus zu studieren und der Enge der Kleinstadt zu entfliehen – mit all ihrer Homophobie. Doch gerade in den ersten Jahren gewann das Feiern nicht selten gegen das Studieren, Sebastian verlor sich regelmäßig in der Clubszene der Hauptstadt. „Ich wollte damals einfach nur verschwinden“, erinnert er sich und gesteht: „Statt mich mit mir und meinen Gefühlen auseinanderzusetzen, fand ich es viel verlockender, einfach nur zu ballern – Alkohol wohlgemerkt.“ Ein Fan anderer Drogen sei er nie gewesen.
»Ich musste lernen, dass das, was ich will, wahrscheinlich nicht das Richtige für mich ist.«
Das Résumé zu seinen mittlerweile acht Jahren in Berlin fällt daher auch eher nüchtern aus: Mit ihrem Angebot, ihrer Anonymität, Offenheit und Unverbindlichkeit habe ihm die Stadt ziemlich geschadet, erklärt er und fügt hinzu: „Genau das wollte ich ja – aber ich musste auch lernen, dass das, was ich will, wahrscheinlich nicht das Richtige für mich ist.“ Und so lässt er heute die Finger vom Alkohol.
Gut so, denn so hat er die Hände frei fürs Schreiben. Und schreiben, das tut Sebastian Goddemeier, als gäbe es kein Morgen. Im Alter von 14 verfasste er seine ersten Artikel für die Westfälischen Nachrichten, heute ist er als freiberuflicher Journalist für das Vice Magazin, den Spiegel und den Tagesspiegel tätig, wo er unter anderem das Format Queerspiegel betreut.
Dieser monatlich erscheinende Newsletter ist das beste Beispiel für all das, was sich Sebastian journalistisch zum Sujet gemacht hat. Seit Jahren befasst er sich mit Themen, die vor allem jene Menschen angehen und betreffen, die eher etwas außerhalb der sogenannten heteronormativen Mehrheitsgesellschaft sehen. Oder wie es jene Mehrheitsgesellschaft formulieren würde: die bunt sind wie der Regenbogen.
Dass er zu Beginn seines journalistischen Schaffens erst einmal über sein eigenes Leben und Erleben geschrieben hat, ist mindestens bemerkenswert. Denn vor allem in den Texten, die er seit 2018 auf der Website des Vice Magazins veröffentlicht hat, geht Sebastian so schonungslos, offen und ohne jede Form von Berührungsangst mit sich und seiner Umwelt um, dass man als Leser die eigene Offenheit und Aufrichtigkeit gerne mal in Frage stellt. Und ebenso die eigene Unterhaltsamkeit, denn in Sebastians Artikeln steckt eine gute Portion Spaß und Selbstironie. In ihrem Kern sind sie allerdings ernsthaft, persönlich und konkret – und in vielen Fällen als thematischer Anstoß mehr als überfällig – ja, auch noch im Jahr 2021.
Sebastian riet heterosexuellen Männern, sich »von hinten nehmen« zu lassen.
In „Schwuler Junge auf dem Land: Das hat eure Homophobie aus mir gemacht“ etwa erzählt er von seiner eigenen schwierigen Kindheit und Jugend in Drensteinfurt und einer homofeindlichen Umgebung, mit der auch heute noch viele junge Menschen zu kämpfen haben. In „Wo Paragraf 175 trotz seiner Abschaffung heute noch weiterlebt“ thematisiert er die auch heute noch an vielen Stellen existierende Diskriminierung nicht heterosexueller Menschen in Deutschland. Und mit dem Text „Wie meine Scham als Homosexueller meine Beziehungen zerstörte“ beschreibt er die eigene Problematik im Umgang mit seiner Sexualität.
In anderen Texten etwa hat er queere Geistliche zu Wort kommen lassen. Er hat über persönliche Erfahrungen in der Psychotherapie berichtet. Und er hat Menschen eine Stimme gegeben, die von ihren Homophobie-Erlebnissen am Arbeitsplatz und in ihren Familien erzählen.
Außerdem hat er in seinen Artikeln mit schwulen Klischees aufgeräumt, seinen Vater interviewt und berichtet, wie er sich als Dragqueen auf die Straßen von Neukölln getraut hat. Er hat aufgezeigt, wie ungesund unsere Gesellschaft für queere Menschen ist, ließ sich von Bill Kaulitz erklären, wie es sich anfühlt, das ganze Leben lang in eine Schublade gesteckt zu werden, und riet heterosexuellen Männern überschriftswirksam, sich „von hinten nehmen“ zu lassen.
»Als Jugendlicher hätte ich mich gefreut, wenn jemand über all diese Themen geschrieben hätte.«
Klar, Clickbaiting versteht der 27-Jährige natürlich, doch in allen geschilderten und nicht geschilderten Fällen verfolgt er ein konkretes inhaltliches Anliegen. Für letzteren, die Analsex-Empfehlung, hatte Sebastian den Sexualpsychologen Umut Özdemir interviewt. Dieser führt die für viele heterosexuelle Männer befremdliche und mit Scham behaftete Vorstellung von schwulem Sex auf ein Männerbild zurück, das in unserer Gesellschaft insgesamt kein verwundbares oder empfindsames sein darf, sondern nach wie vor von archaischen Stereotypen geprägt ist. Sebastians Ratschlag also an alle Hetero-Männer: Probiert es doch einfach mal aus – und nehmt dem Ganzen dadurch die Stigmatisierung.
„In meiner Arbeit und meinen Texten geht es vielfach um Selbstfindung und Akzeptanz“, erzählt der Autor. Er versuche immer herauszufinden, warum jemand so ist, wie er ist. Und es gehe ihm darum aufzuzeigen, dass es ein konkretes Problem gebe – und dafür gleich die eine oder andere Lösungsmöglichkeit mitzuliefern.
Sebastian schöpft oft aus dem selbst Erlebten, um anderen Menschen eine Hilfestellung anzubieten. „Als Jugendlicher hätte ich mich gefreut, wenn jemand über all diese Themen geschrieben und seine eigenen Gedanken mit mir geteilt hätte“, erklärt er – gerade, weil es damals kein sichtbares schwules Leben in seiner Umwelt gegeben habe. Und weil niemand davon erzählt habe, wie es ist, persönlich immer wieder eine Homophobie zu erfahren, die Leib und Seele verletzt.
»Vielerorts ist es für queere Jugendliche immer noch scheiße.«
Aus diesem Grund macht es ihn auch immer noch wütend, wenn er an die vielen Nachrichten denkt, die er von einigen queeren Jugendlichen aus Drensteinfurt nach der Veröffentlichung seines Heimat-Artikels erhalten hatte. „Die Kids haben sich bei mir bedankt, dass ich das mal aufgeschrieben habe.“ erzählt er. „Denn scheinbar hat sich da in all den Jahren nichts verändert. Und so ist es heute vielerorts: für queere Jugendliche immer noch scheiße.“
Drensteinfurt, das stellt dieser überaus wache und engagierte Mann immer wieder heraus, ist nichts anderes als ein Synonym – und zwar für eine Umwelt, die Menschen ausgrenzt, statt sie zu integrieren. Die diskreditiert statt respektiert. Die attackiert statt umarmt. Und die findet man, auch heute noch, überall in Deutschland, egal ob 400 oder vier Millionen Einwohner. Provinz ist kein Ort. Sondern ein Zustand, eine Geisteshaltung. Und meistens eine bewusste Entscheidung.
Aus diesem Grund richtet Sebastian mittlerweile in seinen Artikeln den Fokus immer seltener auf die eigene Biographie, sondern schreibt vielmehr aus einer allgemeinen Perspektive gegen die gesellschaftlichen Zustände unserer Zeit an. Dass er dabei vor allem auf großen Plattformen wie Vice, Spiegel oder Tagesspiegel veröffentlicht, hat seinen Grund: „Ich sehe mich in der Verantwortung, für eher heteronormativ geprägte Medien zu schreiben, damit dort queere Themen endlich vermehrt stattfinden.“
»Queere Themen gehen alle an – auch Franz und Hannelore auf dem Dorf.«
Dass dazu aus dem eher konservativen Lager nicht unbedingt Beifall zu erwarten ist und solche Themen gerne als Nischenprobleme einer schrillen urbanen Minderheit verspottet werden, ist für Sebastian ein Zeichen, dass hier noch viel Aufklärungsarbeit geleistet werden muss.
„Queere Themen sind unzähligen Menschen in diesem Land ein wahnsinniges Anliegen“, bekräftigt er und unterstreicht: „Diese Themen gehen alle an – auch Franz und Hannelore auf dem Dorf. Denn gerade bei denen ist es wichtig, dass sie ein Verständnis für queere Menschen entwickeln.“ Sebastian überlegt einen Moment, dann fügt er hinzu: „Wir leben in einer Gesellschaft, die alles dafür tut, dass sich Heterosexuelle ordentlich entwickeln. Alle anderen bleiben dabei auf der Strecke. Das muss sich ändern.“
An Drensteinfurt selbst ging Sebastians Vice-Artikel übrigens nicht ganz spurlos vorüber, nachdem er Ende 2019 veröffentlicht wurde. In dem kleinen Städtchen war der Text tagelang Gesprächsthema, auch weil die Westfälischen Nachrichten daraus zitierten und in Sebastians alter Schule einige Schüler befragten. „Mein Artikel hat eine kleine Welle losgeschlagen“, berichtet er mit einem nicht übersehbaren Grinsen auf dem Gesicht. Und er ergänzt: „Auch in Hamm und Münster war das Thema in der Presse. Und sogar 1LIVE kam auf mich zu. Mein Text hat also ein bisschen was bewirkt – und genau das war auch meine Intention.“
»Ich mochte Schwule nicht, weil ich in Drensteinfurt gelernt hatte, Schwule nicht zu mögen.«
In seiner journalistischen Arbeit prangert Sebastian übrigens nicht nur die Homophobie anderer an, sondern auch die eigene. Vor einigen Jahren, so erzählt er, sei ihm bewusst geworden, dass er persönlich ein Problem mit eher feminin wirkenden Männern hatte – er habe sie regelrecht abgelehnt.
„Jungs mit gebrochenen Handgelenken habe ich lange Zeit eher abfällig belächelt“, gesteht er. Und er erinnert sich, dass er anfangs immer nur einen bestimmten Typus Mann gedatet habe: „Das waren immer Jungs, die über weiblich auftretende Männer genauso verächtlich geredet haben wie ich – und die irgendwie mit sich selbst absolut nicht im Reinen waren.“
Als auch er von diesen Männern irgendwann so abwertend behandelt wurde, wurde er stutzig und sah sich genötigt, sich mit seiner eigenen, subtilen Homo-Feindlichkeit auseinanderzusetzen. Er fragte sich: „Wenn ich mir so einen abwertenden Typus Mann aussuche, trage ich diese Eigenschaft vielleicht auch in mir selbst?“
Er stellte fest, dass er von Kindesbeinen an mit einer familiär und gesellschaftlich anerzogenen Homophobie aufgewachsen war, die er tief verinnerlicht hatte – wie übrigens viele von uns. Psychologen sprechen hier von „internalisierter Homonegativität.“ In seinem Artikel „Schwuler Junge auf dem Land“ schreibt Sebastian: „Ich mochte Schwule nicht, weil ich in Drensteinfurt gelernt hatte, Schwule nicht zu mögen. Mir waren homosexuelle Männer immer etwas peinlich und unangenehm.“
Um mit dieser angelernten Haltung zu brechen, sah er nur einen Weg: die Flucht nach vorne. Sebastian suchte gezielt den Kontakt zu jenen Männern, die er vorher abfällig betrachtet hatte, tauchte in ihre Lebenswelten ein und entwickelte sogar einen eigenen Dragqueen-Charakter namens Dicki Minarsch. „Dickie ist zwar mittlerweile in Rente gegangen und befindet sich sauber zusammengefaltet in einer H&M-Tüte,“ lässt er uns wissen, „Aber wenn heute jemand zu mir sagt, er würde nur maskuline Männer daten, lässt das bei mir gleich drei Alarmglocken läuten.“
»Man kann gesellschaftliche Stigmata nur abbauen, wenn man sich zeigt.«
Warum die Äußerung, nur maskuline Typen attraktiv zu finden, in der schwulen Welt keine unbekannte ist, dafür hat Sebastian eine Theorie. Er glaube, dass gerade homosexuelle Männer einer falschen Männlichkeit hinterherliefen, die sehr heteromaskulin geprägt sei. „Ich habe die Vermutung“, erklärt er, „dass viele Typen, die so reden, sich für ihre eigene feminine Seite schämen und zur Kompensation völlig überzeichnete, archaische Männerbilder suchen – im Sinne von: viele Muskeln, dicker Schwanz, ich baller‘ dich drei Stunden durch.“
Wichtiger als heroisierte Männerbilder, so erzählt Sebastian, sei es ihm ohnehin, dass sich mehr queere Vorbilder zu erkennen gäben, und zwar durch alle Altersklassen und Gesellschaftsschichten hindurch – ein Wunsch, den er schon als Jugendlicher in Drensteinfurt hatte.
Dieses Anliegen richtet er vor allem an Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen und über eine gewisse mediale Reichweite verfügen. „Natürlich soll das jeder so machen, wie er meint,“ sagt er. „Aber gerade, wenn man als queerer Mensch eine gewisse Prominenz hat, bedeutet das auch eine besondere Verantwortung. Man kann gesellschaftliche Stigmata nur abbauen, wenn man sich zeigt.“
»Die Entscheidung dieser 185 Leute gibt anderen Menschen genau die Vorbilder, die mir als Jugendlichem gefehlt haben.«
Dass sich vor kurzem im Magazin der Süddeutschen Zeitung 185 deutsche Schauspieler*innen gemeinschaftlich geoutet haben, sieht Sebastian als gutes Zeichen für eine Veränderung in der Gesellschaft. „Besonders Schauspieler*innen haben häufig Probleme mit diesem Thema, weil ihnen dann weniger Jobs angeboten werden“, erklärt er und ist überzeugt: „Die Entscheidung dieser 185 Leute, öffentlich über ihre Sexualitäten und Identitäten zu sprechen, gibt anderen Menschen nun genau die Vorbilder, die mir als Jugendlichem gefehlt haben.“
Allerdings weist Sebastian auch ausdrücklich darauf hin, dass dieses so prominent an die Öffentlichkeit getragene Thema nicht nur ein Anliegen queerer Schauspieler*innen sei, sondern alle Berufe in der Branche betreffe. Als Beleg dafür nennt er die im Jahr 2019 gegründete Queer Media Society. Das bundesweite Netzwerk, in dem er selbst auch Mitglied ist, setzt sich gegen die Diskriminierung von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans*, inter* und nicht-binären Menschen in den Medien ein und hat sich darüber hinaus zum Ziel gesetzt, für mehr Vielfalt in der Berichterstattung zu sorgen.
»Wir möchten alle abholen: Queere, Angehörige, Heterosexuelle.«
Über queere Menschen zu schreiben bedeutet auch, ihre ganz persönlichen Coming-out-Geschichten zu erzählen – und zwar nicht aus Gründen des Sensationalismus, sondern weil gerade diese Geschichten greifbar machen, was es für ein Individuum bedeutet, in unserer Gesellschaft offen zu erklären, nicht heterosexuell zu sein.
Für sein neues Buch „Coming-out“, das am 23. Februar erscheint, hat Sebastian Goddemeier 18 Prominente zu ihren jeweiligen Coming-outs interviewt und diese Geschichten aufgeschrieben. Die Kapitel, so erklärt er uns, seien teils traurig und teils lustig, aber immer so verfasst, dass den Leser*innen die Möglichkeit geboten werde, sich damit zu identifizieren. Und er fügt hinzu „Wir möchten mit dem Buch alle abholen: Queere, Angehörige, Heterosexuelle.“
In seinem Buch kommen schwule, lesbische, bisexuelle und transidente Menschen zu Wort. Bei der Auswahl der Gesprächspartner*innen habe es allerdings die eine oder andere Schwierigkeit gegeben, sagt Sebastian: „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass insbesondere lesbische Frauen in der Öffentlichkeit nicht gerne über ihre Sexualität sprechen. Das kann ich nachvollziehen. Ich hoffe, dass wir irgendwann an einen Punkt kommen, an dem sich Frauen freier äußern.“
Einen transidenten Mann zu finden, sei ebenfalls schwer gewesen, berichtet Sebastian – zumindest einen, der öffentlich sprechen wollte. Mit dem Buch, so hofft er, könne er zusammen mit den 18 Interviewpartner*innen andere dazu inspirieren, ihre eigenen Geschichten offen zu erzählen.
Hatte sich Sebastian als Jugendlicher noch nach queeren Vorbildern in seinem Leben gesehnt, fallen ihm heute gleich mehrere Namen ein. Die französischen Autoren Édouard Louis und Didier Eribon etwa gehören dazu, die mit „Das Ende von Eddy“ beziehungsweise „Rückkehr nach Reims“ zwei beeindruckende autobiografische Romane verfasst haben.
»Die Welt braucht nicht noch eine Reisereportage von irgendwelchen Redakteur*innen, die in einem Fünf-Sterne-Hotel absteigen.«
Auch wenn es wahrscheinlich etliche Teenager gibt, die froh wären, jemanden wie Sebastian als besten Freund oder großen Bruder an ihrer Seite zu haben, sieht er sich selbst nicht als Vorbild. „Mit diesem Begriff tue ich mich wirklich schwer“, erklärt er und ergänzt: „Dafür stehe ich einfach zu wenig in der Öffentlichkeit. Ich würde mich eher als ein gutes Beispiel beschreiben – zumindest jetzt, wo ich nicht mehr in den Clubs versacke.“
Wenn er „in seinem kleinen Kämmerchen“ sitze und einen Text schreibe, denke er außerdem gar nicht darüber nach, wer sein Werk letztendlich lesen werde. „Ich versuche einfach das zu machen, wofür mein Herz schlägt und worauf ich Bock habe“, sagt Sebastian, „und manchmal ist das einfach, den Leuten vor die Füße zu pissen.“
Der Journalist macht eine kleine Atempause, dann fügt er hinzu: „Wenn ich irgendwann auf mein Leben zurückblicke, habe ich lieber etwas Ehrliches geschrieben, was einen anderen Menschen wirklich bewegt hat, als irgendeinen Kack. Die Welt braucht nicht noch eine Reisereportage von irgendwelchen Redakteur*innen, die in einem Fünf-Sterne-Hotel absteigen. Damit wird nichts bewegt, höchstens Buchungszahlen.“
»Der Goddemeier ist wieder da!«
Wenn Sebastian so etwas wie einen Reisebericht verfassen würde, würde der sich wahrscheinlich eh um seine Fahrten nach Drensteinfurt drehen. Bereits in „Schwuler Junge auf dem Land“ hatte er anklingen lassen, wie seltsam es sich anfühlt, an jenen Ort zurückzukehren, dem er als 19-Jähriger entflohen war.
Doch dieses Gefühl hat sich grundlegend verändert: „Ich kann mittlerweile ganz entspannt nach Drensteinfurt fahren“, sagt Sebastian, auch wenn ihm dort die Leute, wie er lächelnd berichtet, nach wie vor im Supermarkt hinterherschauen würden, leise zischend: „Der Goddemeier ist wieder da!“ Nicht erst durch seine Vice-Artikel hat er es in dem 16.000-Seelen-Städtchen zu einer gewissen Bekanntheit gebracht. Dabei dachte er noch bis vor kurzem, die Drensteinfurter würden gar nicht mitbekommen, was er tue und schreibe.
Wenn er heute den Ort besucht, an den er so viele negative Erinnerungen hat, tut Sebastian das ohne Bitterkeit. „Für mich ist das ein Stattfinden im Jetzt“, erklärt er. „Ich gehe da als die Person hin, die ich heute bin – und nicht als der Teenager, der ich damals war. Soll heißen: Heute bin ich nicht mehr hilflos und kann eine Situation verlassen, wann immer ich möchte.“
»Es war nicht cool, aber ich glaube, die anderen wussten es auch nicht besser.«
Das Wichtigste, was er in den letzten Jahren habe lernen müssen, sagt Sebastian, sei es, Leuten, Orten und Gegebenheiten zu verzeihen. „Das mache ich nicht für die anderen, sondern für mich – um meinen Frieden zu finden.“ Er kann das, was in der Vergangenheit passiert ist, mittlerweile annehmen, und klingt dabei überaus versöhnlich: „Es war nicht cool, aber ich glaube, die anderen wussten es auch nicht besser. Wir waren Kinder und die Zeit war, wie sie war.“
Inzwischen ist Drensteinfurt ein Ort, den er trotz aller Widrigkeiten mit dem Begriff Heimat verbindet. „Ich fahre da tatsächlich gerne hin und freue mich, durch dieses Kaff zu laufen,“ gesteht er.
Doch wirklich lange hält es Sebastian nie in dem kleinen Städtchen. Als Jugendlicher stieg er nach der Schule oft in die Bahn und fuhr in das gut 20 Kilometer entfernte Münster. Ein kleines Ausbrechen, das er auch heute noch pflegt, wenn er in Drensteinfurt seine Familie besucht. „Ich bin eben ein Großstadtkind“, sagt er. „Das war ich schon immer, auch auf dem Dorf.“
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Mehr von und über Sebastian Goddemeier:
Text: Jonas Meyer
Fotografie: Maximilian König
Jannik Schümann
Interview — Jannik Schümann
Kunst in kürzester Zeit
Mit dem Film »Deine Farbe« veröffentlicht Amazon Prime eines der ungewöhnlichsten Projekte, an dem Schauspieler Jannik Schümann je mitgewirkt hat. Warum dem so ist, erzählt uns der 28-Jährige im exklusiven MYP-Interview. Ein Gespräch über permanentes Improvisieren, gesellschaftlichen Aktivismus und einen mysteriösen Bart.
14. Februar 2021 — MYP N° 30 »Gemeinschaft« — Interview: Katharina Weiß, Fotografie: Maximilian König
Der Film „Deine Farbe“, der ab dem 22. Februar auf Amazon Prime zu sehen sein wird, ist so ungewöhnlich wie seine Entstehungsgeschichte. Geschrieben wurde er von Maria Diane Ventura, einer philippinischen Regisseurin, die in ihren Zwanzigern in die Vereinigten Staaten immigrierte und dort eine Story über Freundschaft im Kontext jugendlicher Träume und gesellschaftlicher Limitationen verfasste.
In „Deine Farbe“ hat sie diese Geschichte nun zum Leben erweckt – und zwar auf besondere Art und Weise. Die Mittdreißigerin versetzt in ihrem Debütfilm nicht nur ihre persönlichen Migrationserfahrungen in ein völlig neues Setting. Sie gießt auch ihre philippinisch-US-amerikanische Perspektive in den Plot zweier deutscher Jungs, die nach ihrem Schulabschluss aus der deutschen Provinz in die spanische Partymetropole Barcelona ziehen.
Karl und Albert, gespielt von Jannik Schümann und Nyamandi Adrian, stammen zwar aus unterschiedlichen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen. Doch sie verbindet der Wunsch, ihrem Heimatland zu entfliehen und auf der Suche nach einem glücklicheren Leben nach Spanien zu ziehen. Mit ihrem gemeinsamen Sinn für Humor und provokanten Ideen beschließen sie, ihre jugendlichen Abenteuer, privaten Gespräche und Gefühle zu dokumentieren – mit dem Traum, eines Tages in der Lage zu sein, ihre Leidenschaften öffentlich zu teilen und möglicherweise die Stimme ihrer Generation zu sein.
Die innige Beziehung der beiden ist mit der Bindung von Zwillingen zueinander vergleichbar. Doch es gibt einen Unterschied: Der eine Zwilling ist weiß, der andere Schwarz. Die damit verbundene Diskrepanz ihrer gesellschaftlichen Privilegien bestimmt den Weg der jungen Männer durch die fremde Großstadt.
Der Reiz von Sonne, Sex und Drogen wird bald von pragmatischeren Herausforderungen des Alltags abgelöst. Während sich der ambitionierte Karl schnell an die vorgegebenen Umstände anpasst, kämpft Freigeist Albert mit dem Druck, den die neugewonnene Selbständigkeit mit sich bringt – und schlägt einen gefährlichen Weg ein. Unbemerkt von Karl kämpft er zunehmend mit persönlichen Problemen, doch der Stolz und die Angst, seine Geheimnisse vor seinem engsten Freund zu verraten, treiben ihn in die Enge. Was ursprünglich als harmlose Idee gedacht war, wird zu einem Instrument der Selbstzerstörung, als Albert sein eigenes tragisches Exposé dokumentiert.
„Es geht darum, Teile meiner eigenen Geschichte zu erzählen“, sagt Ventura über ihren Debütfilm. Diese Geschichte spiegele sich in den fiktiven Figuren und Umständen wider, die sie geschaffen habe. „Ich habe keine Autorität über die Moral“, erklärt sie. „Ich bin selbst ein komplexer, fehlerhafter Mensch, der nur versucht, sich selbst und die Welt zu verstehen, und dabei hoffentlich den zivilisierten Diskurs fördert.
Da die Regisseurin zurzeit in den USA weilt, um dort ihr nächstes Spielfilmprojekt „Luz Oscura (Dark Light)“ zu realisieren, hat sich Schauspieler Jannik Schümann spontan zu einem persönlichen Gespräch bereit erklärt – in einer farblosen, coronakalten Landschaft zwar. Aber dafür nicht minder ausführlich.
»Die Casterin findet mich, ich finde zu Diane – und das Abenteuer beginnt.«
Katharina Weiß:
„Deine Farbe“ ist ein sehr spezieller Film – die Erzählweise der Regisseurin ist für das europäische Auge zunächst etwas ungewöhnlich. Wie war es, sich auf so ein unkonventionelles Projekt einzulassen?
Jannik Schümann:
Das Unkonventionelle zog sich durch alle Bereiche – angefangen bei dem verrückten Mut, mit dem Diane das Projekt angeschoben hat: Eine Frau kommt nach Europa und hat ihre beste Freundin als Produzentin sowie ein Drehbuch im Gepäck. Sie kennt den deutschen Markt nicht ansatzweise, vertraut sich hier aber einer Casterin an, die ihr in diesem fremden Land die richtigen Schauspieler für ihr Herzensprojekt suchen soll. Diese Casterin findet mich, ich finde zu Diane – und das Abenteuer beginnt.
»Bei den Dreharbeiten wurden wir jeden Tag aufs Neue ins kalte Wasser geschmissen.«
Katharina Weiß:
Was genau war so anders an diesem Dreh?
Jannik Schümann:
Ich wusste, dass „Deine Farbe“ eine kleine, aber internationale Produktion wird. In der Regel bedeutet das: ausbrechen aus dem üblichen Konstrukt, bei dem von der Maske über die Mittagspause bis zum Szenenplan alles durchgetaktet ist. Hier war es völlig anders: Bei den Dreharbeiten wurden wir jeden Tag aufs Neue ins kalte Wasser geschmissen. Es herrschte ein kreatives Chaos, da man jeden einzelnen Tag mit der Herausforderung konfrontiert war, so viel wie möglich in den Kasten zu bekommen und je nach Wetterlage und Teamstärke zu improvisieren. Bis auf die Außenaufnahmen haben wir alles in einem Berliner Reihenhaus gedreht, das Diane für 14 Tage gemietet hatte. Zum Vergleich: Eine hochprofessionalisierte Produktion wie beispielsweise der ARD-Tatort ist mit etwa 21 Drehtagen angesetzt – und das ist erfahrungsgemäß schon viel zu wenig.
»Wie zur Hölle wollen die es schaffen, dass es hier morgen so aussieht, als hätte da 18 Jahre lang jemand gelebt?«
Katharina Weiß:
Wie verwandelt man ein Haus innerhalb so kurzer Zeit in etwa ein Dutzend verschiedene Kulissen?
Jannik Schümann:
Ich habe keine Ahnung. Manchmal stand ich am Tag davor in einem leeren Raum und habe mich gefragt: Wie zur Hölle wollen es Diane und Co-Produzentin Chloe schaffen, dass es hier morgen so aussieht, als hätte da 18 Jahre lang jemand gelebt – und das mit den einfachsten Mitteln, von Ikea und Bauhaus?
Konkret sah das dann manchmal so aus: Oben im Dachgeschoss befand sich an einem Drehtag Karls Zimmer in seinem deutschen Zuhause. Im ersten Stock wiederum war Alberts Kinderzimmer angelegt. Kam man ins Erdgeschoss, fand man ein Loft im Barcelona-Stil vor, und im Keller waren ein Schießstand und ein Club aufgebaut. Im Garten wurde eine große Outdoor-Party mit spanischem Flair inszeniert. Daran nahmen übrigens auch einige Bekannte von mir teil, die ich vorher per Facebook mit Freibier angelockt hatte. Neben meiner besten Freundin Zoë, mit der ich auch den Adventschallenger betreibe, war unter anderem Maria Dragus mit an Bord, die für „Das weiße Band“ schon mit dem deutschen Filmpreis ausgezeichnet wurde. In „Deine Farbe“ ist sie als Gastgeberin der Party zu sehen.
»Innerhalb kürzester Zeit Kunst zu machen, das war der experimentelle Geist dieses Projekts.«
Katharina Weiß:
Wenn es schon in der Umgebung von Berlin so spannend für Dich war, wie hast Du dann den Dreh in Barcelona empfunden?
Jannik Schümann:
Da erlebten wir ein fantastisches Freiheitsgefühl. Drehgenehmigung? Was ist das! Wenn wir durch die Straßen gefahren sind und einen schönen Ort gefunden haben, sind wir immer wieder spontan aus dem Auto gesprungen, weil Diane rief: „Hier können wir nochmal drehen!“ Gerade jetzt, im Corona-Winter, habe ich richtig Fernweh im Gedanken an Sonne und Sangria.
Aber ganz abgesehen davon muss ich noch eine generelle Feststellung loswerden: Das Schöne an diesem kurzen Projekt war, dass ich mich wieder wie ein kleiner Junge fühlen durfte, der mit seinen Freunden ein Theaterstück erarbeitet und es am Ende des Tages den Eltern vorführt. Innerhalb kürzester Zeit Kunst zu machen, das war der experimentelle Geist dieses Projekts – und das fasziniert mich immer noch.
»Wenn man Diane in eine Bar schleppt, geht sie mit jeder Menge neuer Handynummern nach Hause.«
Katharina Weiß:
Maria Diane Ventura scheint eine herausragende Persönlichkeit zu sein, die dieses verrückte Selfmade-Projekt mit ihrer Visionskraft zusammenhielt. Welche Rolle spielte Freundschaft, das Hauptmotiv des Films, bei der Realisation des Films?
Jannik Schümann:
Das größte Geschenk dieses Projekts ist die ungewöhnlich enge Freundschaft, die dort zwischen mir und Diane begann. Sie zog im Anschluss für über ein Jahr nach Berlin und gehört wirklich zu meinem inner circle. Ihre positive Verrücktheit zeigt sich auch dadurch, dass sie alles für ihre Freunde tun würde. Als ich einmal Kummer hatte und in New York strandete, flog sie – ohne viele Fragen zu stellen – für fünf Tage von Los Angeles an die Ostküste, nur für mich.
Obwohl ich es genieße, so eine besondere Beziehung zu ihr zu haben, finde ich es großartig, dass ihr Bekanntenkreis so divers ist. Das kommt daher, dass sie sich mit jeder Person, die sie trifft, ein zweites Mal verabredet. Wenn man Diane in eine Bar schleppt und sie Menschen vorstellt, dann geht sie mit jeder Menge neuer Handynummern nach Hause. Egal, wie irrwitzig es in ihrem eigenen Nomadenleben manchmal zugeht: Sie hat eine immense therapeutische Wirkung auf andere. Und eine enorme Kraft.
»Mit einem Fernsehabend auf der Couch kann man Kino nicht ersetzen.«
Katharina Weiß:
Aufgrund von Corona läuft der Film nun nicht im Kino, sondern auf der Prime-Plattform des Streaming-Giganten Amazon an. Siehst Du das als Chance oder Herausforderung?
Jannik Schümann:
Grundsätzlich finde ich es schade, dass man den Film nicht zusammen mit anderen im Kino ansehen kann. Ich liebe und vermisse das Kino! Der Gedanke, dass ich fast ein Jahr lang nicht im Kino war, macht mich gerade wirklich traurig. Kino ist Treffpunkt mit Eventcharakter und Herzklopfen – das kann man mit einem Fernsehabend auf der Couch nicht ersetzen. Trotzdem ist es genial, dass wir in einer Zeit, in der wenig los ist, weiterhin neuen geistigen Input und Kultur über solche Streamingplattformen erhalten. Auch dass „Deine Farbe“ nun am 22. Februar einen weltweiten Start hat, finde ich schön. So etwas kann das Kino aktuell nicht leisten.
»Zum Glück kommt man nicht mehr darum herum, sich selbst zu hinterfragen.«
Katharina Weiß:
„Deine Farbe“ nähert sich auch dem Thema Rassismus. Wie hast Du dich als weißer Schauspieler in diesem Kontext hinterfragt?
Jannik Schümann:
Zum Glück kommt man nicht mehr darum herum, sich selbst zu hinterfragen. Da bin ich selbst keine Ausnahme. Die letzten Jahre haben mir viele Denkanstöße gegeben und zu vielen weiteren Gedanken geführt. In Buchhandlungen gehe ich zurzeit immer zuerst zum Stapel von aktivistischen Autor*innen. Das Buch „Americanah“ der nigerianischen Autorin Chimamanda Ngozi Adichie etwa oder „The Hate U Give“ von Angie Thomas haben mich sehr beeindruckt. Und gerade liegt „Der Wassertänzer“ von Ta-Nehisi Coates auf meinem Nachttisch.
Als ich kürzlich nochmal die finale Fassung von „Deine Farbe“ gesehen habe, fiel mir auf, wie subtil und komplex darin das Thema Rassismus angeschnitten wird. Zudem wurde mir bewusst, dass ich persönlich viel sensibler geworden bin. Als wir den Film vor drei Jahren gedreht haben, war beispielsweise das diskriminierende Wort „M*kopf“, das in der ersten Szene fällt, noch nicht so wuchtig, wie es mir heute erscheint. (Warum dieses Wort nicht mehr verwendet werden sollte, könnt Ihr hier nachlesen.)
»In den letzten Jahrzehnten sind Menschen dafür auf die Straße gegangen, dass ich mein Leben so leben kann, wie ich es jetzt gerade tue.«
Katharina Weiß:
Unsere Generation scheint ohnehin eine Aufbruchsstimmung in Diskriminierungsfragen zu verspüren. Erst vor Kurzem machte die Süddeutsche Zeitung international Schlagzeilen mit dem Titelblatt „Wir sind schon da“. Darin hieß es: „185 lesbische, schwule, bisexuelle, queere, nicht-binäre und trans* Schauspieler*innen outen sich – und fordern mehr Anerkennung in Theater, Film und Fernsehen. Mit der Initiative #actout und einem gemeinsamen Manifest wollen sie eine Debatte anstoßen.“ Du warst ebenfalls auf dem Cover zu sehen – allerdings hattest Du bereits ein paar Wochen zuvor einen Instagram-Post abgesetzt, auf dem Dein Freund dich küsst. Wie beurteilst Du die politische Komponente dieser Bewegung?
Jannik Schümann:
Ich bin dankbar, als Aktivist diese Möglichkeit zu bekommen. In den letzten Jahrzehnten sind Menschen dafür auf die Straße gegangen, dass ich mein Leben so leben kann, wie ich es jetzt gerade tue. Davor habe ich einen unglaublichen Respekt, denn die Zeiten waren oft gefährlicher als unsere. Doch leider sind wir 2021 immer noch nicht so weit, dass für alle verständlich ist, wie divers die Liebe ist. Es erfüllt mich mit Stolz, dass ich aktiv voranschreiten und etwas bewegen kann, damit nachfolgende Generationen vielleicht gar nicht mehr um dieses Thema kämpfen müssen.
»Meine Rolle ist genderfluid angelegt – es hat Spaß gemacht, eine Figur zu spielen, die so frei ist.«
Katharina Weiß:
Du wirst dieses Jahr zusammen mit Deinem Spielpartner Nyamandi Adrian aus „Deine Farbe“ auch in der Netflix-Produktion „Tribes of Europa“ zu sehen sein. Was erwartet uns da?
Jannik Schümann:
Die Story spielt in der Zukunft, genauer gesagt im Jahr 2074, und es geht darum, dass die verschiedensten Stämme miteinander kämpfen. Ich bin der Lieblings-Sexsklave von Lord Varvara, doch Emilio Sakraya, ein neuer Verschleppter, will mir die Gunst der Herrscherin streitig machen. Meine Rolle ist übrigens genderfluid angelegt – es hat Spaß gemacht, eine Figur zu spielen, die so frei ist.
Katharina Weiß:
Willst du uns verraten, für welches Projekt Du diesen schicken Bart wachsen lässt?
Jannik Schümann (grinst):
Nur soviel: Der Bart dient einem royalen Zweck.
Katharina Weiß:
Lieber Jannik, vielen Dank für das Gespräch!
#jannikschümann #deinefarbe #katharinaweiss #mypmagazine
Mehr von und über »Deine Farbe«:
Mehr von und über Jannik Schümann:
Interview & Text: Katharina Weiß
Fotografie: Maximilian König
Levin Liam
Portrait — Levin Liam
Für sich selbst
Mitte 2020 trat der 21-jährige Levin Liam zum ersten Mal mit seiner Musik ins Licht der Öffentlichkeit, jetzt folgt mit »For Myself« seine allererste EP. Die Platte ist nicht weniger als ein feinsinniges, gefühlvolles und sehr modernes Stück Musik, mit der er nicht nur uns beschenkt, sondern auch sich selbst. Dabei hätte die Welt fast nichts von seinen Songs erfahren.
30. Januar 2021 — MYP N° 30 »Gemeinschaft« — Text: Jonas Meyer, Fotografie: Nis Alps
Eigentlich gibt es keinen Grund, noch ein einziges Wort über das vergangene Jahr zu verlieren. Haken dran, nach vorne schauen. Besser so.
Eigentlich. Denn hätte es dieses 2020 mit seinem über viele Wochen eingefrorenen Alltag nicht gegeben, hätten wir wohl kaum erfahren, dass Levin Liam, 21 Jahre alt und bisher maximal als Nachwuchsschauspieler aus dem deutschen TV bekannt, Musik macht.
Klar, machen andere auch. Aber alleine die drei Tracks, mit denen sich Levin im zurückliegenden Jahr der Öffentlichkeit vorgestellt hat, sind nicht weniger als eine wundervolle, feinsinnige und erfrischende Bereicherung dessen, was man so landauf, landab in seinen Platten- und Playlistsammlungen hortet. Songs, bei denen man neugierig gefragt wird, welcher Künstler das denn sei, wenn man sie unbekannten Ohren vorspielt.
»Mit meiner Musik an die Öffentlichkeit zu gehen, war etwas, was ich bewusst immer zurückgehalten hatte.«
Doch der Reihe nach. Denn wie bereits erwähnt, wäre es beinahe nicht dazu gekommen, zumindest nicht in 2020. „Mit meiner Musik an die Öffentlichkeit zu gehen, war etwas, was ich bewusst immer zurückgehalten hatte“, erklärt uns Levin im Interview. Zwar produziert er bereits seit 2013 Musik, und das in nicht geringem Maße. Aber damit auch nach außen zu treten, sprich das eigene musikalische Werk fremden Menschen zu präsentieren, dieses Bedürfnis habe er nie empfunden, gesteht er. Ein bisschen zu unsicher sei er gewesen. Und ein bisschen Scham habe dabei gewiss auch eine Rolle gespielt.
Ohnehin wirkt dieser junge Mann eher zurückhaltend in seiner Art und noch behutsamer in der Wahl seiner Worte, wie sich im Gespräch mit ihm immer wieder herausstellt. Manche würden so einen Charakter landläufig als hanseatisch bezeichnen. Und in der Tat: Levin ist zwar in Berlin geboren, aber in Hamburg aufgewachsen und sozialisiert. Seit 2018 studiert er Schauspiel an der Hamburger Hochschule für Musik und Theater.
»Durch den Lockdown habe ich viel mehr Mucke gemacht als vorher.«
Doch als im März 2020 wegen Corona das öffentliche Leben mehr oder weniger zum Erliegen kam, verbrachte er seine Zeit wie Millionen anderer Menschen erst mal zuhause. Und da seine Hochschule massiv Unterrichtsstunden reduzierte, hatte Levin plötzlich sehr viel Zeit. „Durch den Lockdown habe ich viel mehr Mucke gemacht als vorher,“ erzählt er und ergänzt: „Das wurde immer mehr – und irgendwann hatte ich das Gefühl, dass ich vielleicht doch mal etwas davon zeigen könnte.“
Ende Mai schließlich veröffentlichte er mit „Either Way“ seine allererste Single: ein melancholischer Track, auf dem er Hiphop-Elemente mit klassischen Klavierklängen kombiniert und immer wieder zwischen Gesang und Rap wechselt – ein Vorgeschmack auf die kompositorische Vielfalt, die in den nächsten Monaten folgen sollte.
»All die Jahre habe ich Musik nur für mich alleine gemacht.«
„Ich hatte keinerlei Erwartungen, das Ganze war ein Ausprobieren ins Blaue,“ erinnert er sich an die Veröffentlichung seiner ersten Single. Und so war es für ihn auch ein absolutes Novum, von anderen Menschen Feedback zu seiner musikalischen Arbeit zu erhalten. Ganz im Gegensatz übrigens zu seiner Schauspielerei: Levin steht vor der Kamera, seit er zwölf ist. „All die Jahre habe ich Musik nur für mich alleine gemacht und sie maximal ein paar engen Freunden gezeigt, von denen ich weiß, dass sie mir ohnehin gut gesonnen sind,“ verrät er. „Dass mir Leute, die ich nicht kenne, so positives und nettes Feedback geben, hat nach wie vor etwas sehr Beflügelndes. Es war eine wunderschöne Erfahrung, zum ersten Mal von extern zu hören: Es gefällt mir, was Du machst.“
Im August erschien mit „Break Me“ Levins zweite Single. Im Gegensatz zu „Either Way“ wird der Song im Wesentlichen getragen von einer sehr eingängigen, aber gleichzeitig fast verletzlich wirkenden Pianomelodie, die er mit seinem Gesang kombiniert. Spannend dabei ist, wie sich zu dem anfänglich eher klassischen, balladenartigen Charakter des Songs mit der Zeit immer mehr Beat- und Autotune-Fragmente mischen. Das macht „Break Me“ zu einem sehr modernen Stück Musik. Erfreulicherweise sind diese Fragmente mit so viel Feingefühl in die Komposition eingearbeitet, dass man den Song all den Menschen wärmstens empfehlen kann, deren Ohren von jener üblen Autotuneritis geschädigt sind, die in den letzten Jahren vor allem in der deutschen Musikbranche ihr Unwesen getrieben hat.
Im November schließlich folgte Single Nummer Drei. „Clouds“ ist – ähnlich wie „Break Me“ – ein feinsinniger, fast träumerischer Song, der ebenfalls von einer sehr ohrwurmigen Klaviermelodie lebt, aber noch stärker Levins Gesang in den Vordergrund stellt.
Levin kombiniert nicht nur unterschiedlichste Musikstile – er kuratiert sie regelrecht.
Vergleicht man die drei Singles insbesondere in Bezug auf die Präsenz des Gesangs und hinsichtlich der Melodieentwicklung, scheint es ein wenig so, als hätte Levin Liam im Laufe des Jahres immer mehr musikalischen Mut entwickelt. Gut so, denn das macht Lust auf mehr.
Und mehr gibt es auch, und zwar seit dem 29. Januar. Da ist mit „For Myself“ die erste EP des Musikers erschienen, auf der er sechs weitere Songs versammelt hat.
Hört man die Platte zum ersten Mal, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sich dabei heimlich, still und leise ein Lächeln auf das eigene Gesicht legt. Denn erstens kombiniert Levin auf „For Myself“ nicht nur unterschiedlichste Musikstile – er kuratiert sie regelrecht. Und zwar so, als würde er für ein Abendessen mit unterschiedlichsten Gästepersönlichkeiten die Sitzkärtchen verteilen, um bei Tisch möglichst interessante Konversationen zu provozieren. Seine drei Debütsingles aus dem vergangenen Jahr hatten darauf ja bereits einen ersten Vorgeschmack gegeben.
Zweitens – und das ist der vielleicht viel wichtigere Aspekt – hantiert Levin innerhalb der einzelnen Songs so spielerisch mit verschiedenen Tempi, Rhythmen und Stimmungen, dass immer wieder ganz besondere Momente der Überraschung entstehen. Ein Mechanismus, den man auch so erleben kann, wenn man zum ersten Mal etwa mit den frühen Werken der Foals in Berührung kommt.
»Ich wollte einfach erreichen, dass ich es persönlich geil finde.«
So ergibt sich insgesamt ein musikalischer Stil, der seinen Vergleich eher auf der internationalen als auf der nationalen Bühne sucht. Das liegt wahrscheinlich daran, dass Levin seine Musik über die letzten acht Jahre des privaten Produzierens akribisch entwickelt hat – nur dass man von diesem Evolutionsprozess einfach nichts mitbekommen hat, da Levin bis Mai 2020 nie etwas publiziert hatte.
„Ich habe mich in all den Jahren in etlichen Bereichen ausprobiert, etwa in Neoklassik- oder reinen Klavierkomposition,“ erzählt er. „Daneben habe ich aber auch viel Hiphop produziert. So konnte ich mich ganz entspannt darauf konzentrieren, wie ich genau die Musik erschaffen kann, die ich selbst auch höre oder hören will – allerdings ohne dabei die Barriere im Kopf zu haben, eine ganz bestimmte Form finden zu müssen.“ Oder kurz gesagt: Er wollte einfach erreichen, dass er es persönlich „geil“ findet.
»Wenn man als Jugendlicher noch sehr in der Selbstfindung steckt, ist das Singen nicht selten mit einer gewissen Scham behaftet.«
Auch wenn die Anfänge von Levins musikalischer Arbeit bereits acht Jahre zurückreichen, hat er erst relativ spät damit begonnen, zu seinen rein instrumentalen Produktionen auch Texte zu schreiben – und diese auch selbst zu singen. Das war für ihn alles andere als selbstverständlich: „Bevor ich angefangen habe zu studieren, habe ich zwar immer schon gerne gesungen, aber damit bin ich nie in irgendeiner Form laut geworden. Ich habe das eher für mich ergründet,“ gesteht er und ergänzt: „Wenn man als Jugendlicher noch sehr in der Selbstfindung steckt, ist das Singen nicht selten mit einer gewissen Scham behaftet.“
Geholfen dabei habe ihm, so erzählt er, das Studium an der Hochschule. „Diese Ausbildung hat in erster Linie einen grundsätzlichen Anteil daran, wie ich mich in den letzten Jahren als Mensch entwickelt habe. Der Unterricht hat mir sehr viel Sicherheit gegeben.“ Dann zögert Levin für einen Moment und fügt hinzu: „Die persönlichen Erfahrungen und Entwicklungen, die man dort über die Zeit macht, sind allgemein sehr prägend für alle Richtungen, die man bei seinem künstlerischen Schaffen einschlägt.“
Am Ende sei es die beste Entscheidung gewesen, sich auch an das Texten und Singen zu wagen, erzählt er: „Dadurch wurde etwas völlig Neues zu dem addiert, was schon eine ganze Weile bestand. Ich glaube, das ist der Hauptgrund, warum meine Songs letztendlich so viele verschiedene Formen angenommen haben.“
»Ich kann nicht wirklich abschalten, wenn ich in einem Song meine Sprache höre.«
Dass er dabei ausschließlich Englisch singt, liegt keineswegs an einem angelsächsischen Familienhintergrund, wie man vielleicht vermuten würde. Bei so einem Namen schlägt das Hirn ja gerne eine gedankliche Brücke zu einem der Gallagher-Brüder, zumindest bei Menschen, die sich noch an die Musik der Neunziger erinnern können. Liam ist Levins zweiter Vorname, auf seinen Nachnamen verzichtet er im öffentlichen Auftreten, seit er als Kind in der internationalen Produktion „Wolfskinder“ die Hauptrolle spielte und man ihm riet, sich dadurch vor allzu großem Presserummel zu schützen.
„Ich persönlich tue mich schwer mit der meisten deutschsprachigen Musik,“ sagt er und erklärt: Ich kann nicht wirklich abschalten, wenn ich in einem Song meine Sprache höre.“ Außerdem, so ergänzt er, tue er sich schwer mit vielen deutschsprachigen Künstlern, die englische Texte machten: „Leider wirkt es oft so, als hätte man etwas auf die Musik draufgestülpt, das nicht zu ihr gehört.“
»Für mich braucht Musik eine in sich geschlossene Sprache, die sich von der distanziert, in der man sich unterhält.«
Dass Levin dennoch für seine eigenen Songtexte die englische Sprache gewählt hat, liegt in erster Linie daran, dass er selbst fast nur englischsprachige Musik hört. „Für mich ist das fast wie eine eigene Sprache, in der man sich ganz automatisch die jeweiligen Slangs und Tonalitäten abschaut,“ erzählt er. So lässt sich zumindest das Schnelle, Fließende erklären, womit er seine Texte in die Songs einarbeitet und damit nicht weniger als eine Art Diffusion erzeugt.
„Mir ist es immer sehr wichtig, dass die Musik, die ich persönlich höre, eine eigene Sprache hat“, hebt er hervor. „Für mich braucht Musik eine in sich geschlossene Sprache, die sich von der distanziert, in der man sich unterhält. Und die auch nicht die Absicht hat, etwas konkret zu beschreiben.“
»Wenn ich mich an deutschen Texten versuche, komme ich schnell an einen Punkt, an dem für mich alles zu konkret und naturrealistisch klingt.«
Levin würde es nicht ausschließen, in Zukunft auch mal einen deutschen Text zu schreiben. „Aber wenn ich mich daran versuche, komme ich schnell an einen Punkt, an dem für mich alles zu konkret und naturrealistisch klingt und mich gleich rausreißt aus meinem eigenen Erleben als Zuhörer,“ gesteht er.
Fragt man den jungen Mann nach der Musik, die ihm selbst in den letzten Jahren emotional am nächsten stand, die ihn begleitet hat im Alltag wie in besonderen Momenten, versteht man ein bisschen besser, warum seine eigenen Songs so geworden sind, wie sie sind. Von Schubert und Chopin redet er dann, genauso wie von Nils Frahm und Chilly Gonzalez. Aber auch von Kanye West und dessen fünftem Studioalbum „My beautiful dark-twisted fantasy“. Und hört man in das Intro seiner ersten EP oder in den Song „So Sure“ hinein, würde man zudem wetten, dass der Junge bestimmt schon mal über Guns N‘ Roses beziehungsweise Charlie Cunningham gestolpert ist.
Vielleicht ist diese gehörte Vielfalt auch dafür verantwortlich, dass es in Levins eigener Musik immer wieder positive Störer gibt, die sie eher ungeeignet machen für die Einkaufsradio-Beschallung deutscher Supermärkte.
»Was ich sehr mag an Musik, ist ein intensives Zusammenspiel aus Harmonie und Melodie.«
Pop nach Schema F können und wollen Levins Songs auch gar nicht liefern. Dazu gerieren sie sich viel zu sehr wie flüchtige Momentaufnahmen von Gedanken und Gefühlen, an denen man in der einen Sekunde noch sehr schwer trägt, an die man sich aber bereits in der nächsten Sekunde kaum mehr erinnern kann.
„Die Musik, die ich selbst höre, geht auch eher in eine dunkle, aber warme Richtung,“ erklärt Levin. „Das löst am ehesten etwas in mir aus – etwas Träumerisches, Düsteres.“ Und er fügt hinzu: „Was ich sehr mag an Musik, ist ein intensives Zusammenspiel aus Harmonie und Melodie. Das findet sich in etlichen Genres wieder: In seiner Grundform in der Klassik, aber genauso auch in moderner Musik, sogar im Hiphop. Wenn Harmonie und Melodie intensiv zusammenspielen, dann löst das etwas aus in mir.“
»Die Gefahr ist viel zu groß, dass man in eine Gemütlichkeit gerät, in der man sich nicht mehr beweisen muss.«
Ist das letztlich der Grund, warum er seiner EP und einem der neuen Songs den Titel „For Myself“ gebeben hat? Man fühlt unweigerlich an die Worte von Rainer Maria Rilke erinnert, die er in seinen Briefen einem um Rat suchenden jungen Dichter richtet:
„Muß ich schreiben? Graben Sie in sich nach einer tiefen Antwort. Und wenn diese zustimmend lauten sollte, wenn Sie mit einem starken und einfachen ich muß dieser ernsten Frage begegnen dürfen, dann bauen Sie Ihr Leben nach dieser Notwendigkeit; Ihr Leben bis hinein in seine gleichgültigste und geringste Stunde muß ein Zeichen und Zeugnis werden diesem Drange.“
Und tatsächlich: Als Künstler, so erklärt uns Levin, strebe er nach einem Zustand, in dem er sein Schaffen so weit wie möglich abschirmen kann von jedweder Beeinflussung oder Bewertung von außen. „Die Gefahr ist viel zu groß, dass man bei viel positivem Feedback in eine Gemütlichkeit gerät, in der man sich nicht mehr beweisen muss,“ sagt er und ergänzt: „Bisher hatte ich das große Glück, dass ich in den letzten acht Jahren alleine aus der Motivation heraus Musik machen konnte, mich künstlerisch weiterzuentwickeln – und es so klingen zu lassen, wie ich es selbst als Hörer auch hören will.“
»Vieles, was wir im Film zeigen, kann ich in ganz persönlichen Situationen und Momenten meines Lebens verorten.«
Mit dem Release der EP am 29. Januar hat Levin auch einen knapp achtminütigen Film veröffentlicht. Das Besondere an diesem Streifen ist, dass es sich dabei um ein songübergreifendes Video handelt. Zusammen mit dem Regisseur Malte Thomsen hat er darin die Tracks „Lotto“, „For Myself“ und „So Sure“ zu einer Art audiovisuellen Traumsequenz verwoben.
Der gefühlvolle Film, für dessen Realisation die beiden unter anderem den Kameramann Philip Jestädt und die Schauspielerin Joyce Sanhá gewinnen konnten, entstand Mitte letzten Jahres im ländlichen Mecklenburg-Vorpommern und an der dänischen Küste. „Die Bilder basieren auf dem, was Malte und ich gemeinsam an Inhalten und Bedeutungsebenen aus meinen Songtexten herausgearbeitet haben,“ erzählt Levin und lässt uns wissen: „Vieles, was wir im Film zeigen, kann ich in ganz persönlichen Situationen und Momenten meines Lebens verorten. Das wiederum hat Malte als Basis genommen, um daraus etwas ganz Eigenes zu machen.“
»Durch den Film darf ich meine Lieder auf eine neue, ganz andere Weise sehen und erleben.«
Das Video, so erklärt uns der junge Musiker, hätten die Songs für ihn selbst nochmal auf eine andere inhaltliche Ebene gehoben: „Die Lieder sind ja ursprünglich aus ganz persönlichen Erfahrungen und Gefühlen entstanden. Durch den Film darf ich sie jetzt als externer Beobachter auf eine neue, ganz andere Weise sehen und erleben.“ Lieder, von denen er vor genau einem Jahr noch gar nicht gedacht hätte, dass sie überhaupt mal existieren würden.
Und so ist jenem schicksalhaften Jahr 2020 am Ende doch noch etwas Gutes abzugewinnen, denn es hat uns die Musik von Levin Liam beschert – angespült wie eine Schatzkiste am Strand, die man dringend öffnen sollte, um sich selbst ein kleines Geschenk zu machen.
#levinliam #formyself #jonasmeyer #nisalps #mypmagazine
Mehr von und über Levin Liam:
Text: Jonas Meyer
Fotografie: Nis Alps
Flynn
Interview — Flynn
Of Faith, Fear, and Fishing
Facing the end of 2020, we should only talk about the good and beautiful things in life. Music is an essential part of it, and for quite a few people, fishing. Irish singer-songwriter Flynn lost his heart to both of them. We met the young musician for a very personal chat about his first EP, the significance of faith in his music, and the hidden insecurities of many musicians, including himself.
20. Dezember 2020 — MYP N° 30 »Community« — Interview: Katharina Weiß, Photography: Frederike van der Straeten
In the midst of all the news and prophecies of an imminent Armageddon, there is always a part of the world’s population that additionally has to deal with the matter of coming of age.
Listening to “One Of Us,” the first EP of Irish singer-songwriter Flynn that was released in the midst of this turbulent year, reflects on that very issue—because the record is unpolitical in a pure sense. Its youthfulness comes from the everlasting topics of the first love, the first losses, and the adventurous journey of growing up.
Flynn himself was born and raised in Mullingar, a small town 80 kilometers west from Dublin. The young man, who was given a guitar by his stepfather at the age of 17, started where most musicians start: from scratch. Trying to make a living as a street musician a couple of years ago, he sometimes slept on a park bench or on a friend’s couch to make ends meet.
Flynn’s breakthrough came through a songwriting competition in Ireland, which brought him local fame and notoriety. A friend had signed him up for the competition without telling him. Although Flynn didn’t win, his videos went viral afterward and the press became aware of him—as well as his today’s manager.
His talent took the young man from Mullingar to L.A., where he worked with renowned producers such as Blair MacKichan and Toby Scott. In early 2019, Flynn was featured on the song “Recognise” by Belgian DJ and producer Felix De Laet aka Lost Frequencies—a collaboration that not only brought him onto the stages of Tomorrowland and Parookaville but also to more than 40 million streams on Spotify.
In his private life, the Irish singer-songwriter prefers to take it easy: He loves fishing—a hobby that seems to be a little unusual for someone his age. But Flynn himself says that fishing calms him down and he very much enjoys the peace that comes with it. Maybe we should try that too, sometime.
»I seem to be always drawn to things that aren’t good for me.«
Katharina:
I heard that the ballad “I Don’t Wanna Love You” is your favorite song on your EP. Why’s that?
Flynn:
I seem to be always drawn to things that aren’t good for me. In this song’s case, it’s about a person I was seeing for longer than I should have been. I guess writing and releasing this one helped me put the whole experience behind me and just move on.
Katharina:
Have you ever played the song to the person who inspired you to it?
Flynn:
No, not yet—it’ll be a big surprise!
»I want my songs to resonate with other people.«
Katharina:
While trying to make it in the music industry, you were sometimes sleeping on a park bench. What made all the effort worth it?
Flynn:
Working with Felix from Lost Frequencies was huge for me. Having such a large number of people around the world reacting to our song gave me the confidence that I needed to keep going and releasing more of my own stuff, I guess. Working with Felix was a great experience, he’s a lovely guy!
Katharina:
If you could count on endless resources, what would be your artistic vision?
Flynn:
My artistic vision is to stay true to myself, to always write from the heart, and to be honest. I want my songs to resonate with other people because I don’t just write them for me: I write music for everyone.
»I enjoy exploring my own head for new ideas when I’m alone.«
Katharina:
How will that reflect in your live shows, which will hopefully take place again when the pandemic is over?
Flynn:
For me, playing live is the most important part because you can feel that real connection with your fans. I like to make it as exciting as possible for them. My gigs are upbeat and fun but also serious, I try to show a lot of variations.
Katharina:
What social spaces make you most creative?
Flynn:
I am a collaborative person. I love to write with other people who encourage me to get the best out of my music. That’s the usual process. But I am very introverted as well, so I also enjoy exploring my own head for new ideas when I’m alone.
»Deep down, some of us aren’t as self-assured as people expect us to be.«
Katharina:
You mentioned that you consider yourself an introvert, which is what many artists use to say. Why do creative people so often tend to confront themselves with the fear of being in the center of attention?
Flynn:
I personally think this gives us the confidence that we really need in life. Deep down, some of us aren’t as self-assured as people expect us to be. And the performance side of our lives really helps us believe in ourselves. It gives us the courage to move on with our lives. Additionally, the loneliness can help to get rid of distractions that block creative processes.
»I wouldn’t walk into my local pub like I would walk onto stage.«
Katharina:
You sound like you try to explore yourself a lot. Which demons of yours have you met so far?
Flynn:
Quite a few. I faced a lot of struggles with anxiety. The pressure of the music industry is exciting, but it can be quite overwhelming at times too. It is a very competitive industry and that brings many fears to the surface. But overcoming them gives you a great feeling of strength. I also have a hard time with people’s perception of me. It’s very easy to identify me with the appearance I put out on social media and forget that this is my work mode—and that there’s a private life behind that artistic expression. The opposite of my experiences in the music industry is what happens in my hometown in Ireland. I wouldn’t walk into my local pub like I would walk onto stage, for example.
»A conversation with me during a fishing trip could really be about anything but music.«
Katharina:
If I would join you on a fishing trip, which is a beloved hobby of yours, what would we talk about?
Flynn:
Usually just fishing talk. And about nature. I love nature!
Katharina:
And dinner afterward?
Flynn:
In Ireland, I fish on canals and lakes and the species of fish I catch aren’t exactly edible. We catch them for fun and let them back in the water to live their lives. A conversation with me during a fishing trip could really be about anything but music. That’s my meditation. I like to think about any other topic than work.
»It felt good to slow down for a while.«
Katharina:
What happened in your life during the lockdown?
Flynn:
I was back home with my mom, stepdad, and my sister. I tried to follow the formula fit body, fit mind, so I spent a lot of time on my rowing machine. Besides that, I drank a little too much red wine in the evenings and spent too long on my Playstation! But overall, I just really enjoyed the step back. It felt good to slow down for a while.
»Faith, in a more abstract way, is a part of my music.«
Katharina:
Your lyrics are very general, it’s pop in the best sense: After listening to the EP, I absolutely don’t have a clue what political party you vote for or if you are religious. What are the philosophical cornerstones of your identity?
Flynn:
Faith and religion are an important part of Irish culture. My parents are quite religious, and I went to a catholic school. Faith, in a more abstract way, is a part of my music. But what really drives my music are everyday observations and coming-of-age experiences. I try to really live in the sense that I put myself in difficult situations. I don’t back out because, without these experiences, there isn’t really much to talk about.
#flynn #community #katharinaweiss #mypmagazine
More about Flynn:
Interview & text by Katharina Weiß:
Photography by Frederike van der Straeten:
Toby Binder
Photo series — Toby Binder
Wee Muckers
For his book »Wee Muckers – Youth of Belfast« photographer Toby Binder documented the everyday life of teenagers in Northern Ireland's troubled capital. Although the peace agreement between Protestants and Catholics dates back more than 20 years now, Belfast is still a place where it’s hard to grow up. On both sides.
8. Dezember 2020 — MYP N° 30 »Community« — Photography: Toby Binder
»If I had been born at the top of my street, behind the corrugated-iron border, I would have been British. Incredible to think. My whole idea of myself, the attachments made to culture, heritage, religion, nationalism, and politics are all an accident of birth. I was one street away from being born my ‘enemy’.«
— Paul McVeigh, Belfast-born novelist
Photographer Toby Binder has been documenting the daily life of teenagers in British working-class communities for more than a decade. After the Brexit referendum, he focused his work on Belfast in Northern Ireland where Protestant Unionists and Catholic Nationalists live in homogeneous neighborhoods that are divided by walls till today. But the problems they struggle with are similar—no matter which side of the Peace Walls they live on.
The open border between Northern Ireland and Ireland was a major condition for the Good Friday Peace Agreement 1998 — after 30 years of civil war. But after the Brexit in January 2020, and its actual implementation after the end of the transitional period at the end of the year, Northern Ireland also had to leave the European Union. There is great concern that a “hard” border could revive the Northern Ireland conflict. The sectarian separation also continues to this day. As a result, for the young generation there is no chance of growing up unencumbered in Belfast — on either side.
Armed conflicts are something that all teenagers in Northern Ireland today know only from the stories of the older generation. But if the border with the Republic of Ireland were to become a “hard” external border of the EU again, it is feared that this could be a blow to the still fragile peace process in Northern Ireland.
The majority in Catholic-nationalist neighbourhoods voted to stay in the EU, most people in Protestant-loyalist neighbourhoods voted for Brexit. This referendum result made very clear how different the vision of Northern Ireland’s future is in these two camps and how deep the resentment of the past lies.
The economic disadvantages of leaving the European Union without follow-up economic agreements are likely to affect mainly socially deprived neighbourhoods. It is therefore feared that the violence in the traditional working-class districts — the former strongholds of the IRA on the Republican side and the UVF on the Loyalist side — could flare up again.
#tobybinder #weemuckers #belfast #community #mypmagazine
Photography & text: Toby Binder
Toby Binder: “Wee Muckers – Youth of Belfast”
Text by Paul McVeigh
Designed by Birthe Steinbeck
Hardcover, 24 x 17,5 cm, 120 pages, 87 duotone ills.
ISBN 978-3-86828
signed and numbered (500)
€ 35
Rachel & David Hermlin
Portrait — Rachel & David Hermlin
Retro in die Zukunft
Mit Durchhaltevermögen durch die Krise: Die Musiker Rachel und David Hermlin streamen seit über 250 Tagen aus ihrem Wohnzimmer. Ein Gespräch über eine schillernde Familiengeschichte, das Kribbeln des Swing und die digitale Community der »Hermlinvillers«.
29. November 2020 — MYP N° 30 »Gemeinschaft« — Text: Katharina Weiß, Fotografie: Frederike van der Straeten
Aufgeweckt, unverbraucht, schillernd: Wenn Rachel und David Hermlin auf der Bühne stehen, dann weht das Flair einer längst vergangenen Ära durch den Raum, das auch Menschen aus dem 21. Jahrhundert tief berühren kann. Vor allem in einer Zeit, in der Tanzverbot auf öffentlichem Parkett herrscht, zeigen Vintage-Virtuosen wie The Swingin‘ Hermlins, wie gut historische Ästhetik manchmal mit dem Lebensgefühl der eigenen Epoche korrespondieren kann: Der Swing war der Soundtrack der Großen Depression in den 1930er Jahren. Er lenkte die Menschen von ihrer Verzweiflung ab.
Heute hilft Swing vor allem gegen Einsamkeit. Seit Beginn der Coronakrise streamen die musikalischen Geschwister aus ihrem Wohnzimmer. Die Idee dazu hatte ihre Mutter, Joyce Hermlin. Sie erkannte bereits in den ersten Tagen der Pandemie, dass das Internet eine passable Ausweichplattform sein kann, wenn die große Bühne erst mal ausfällt – übrigens nicht nur für ihre Kinder, sondern auch für ihren Mann Andrej Hermlin, dem Leiter des Berliner „Swing Dance Orchestra“.
Während vor allem in den ersten Wochen der Krise noch relativ viele Künstler diesen Ort für improvisierte Auftritte nutzten, sich dann aber mit der Zeit immer mehr in Unregelmäßigkeiten verloren, sind die Hermlins nach wie vor am Ball und streamen munter weiter.
Dass dies seit über 250 Tagen so gut funktioniert, liegt auch an der faszinierenden Kulisse, aus der die Familie sendet. Ihr Haus wurde in den 1920er Jahren erbaut und ist im Stil des Art Déco eingerichtet. Die Alliierten überließen Großvater Stephan Hermlin, einem kommunistischen Juden und berühmten Schriftsteller, nach Kriegsende die Stadtvilla im Bezirk Pankow. Seit 1947 wohnte die Familie dort zur Miete, Andrej Hermlin kaufte das Haus später.
»Unser Urgroßvater war sehr gut mit Max Liebermann befreundet, der unsere Urgroßmutter mehrfach gemalt hat.«
An den Wänden hängt Kunst aus der Vorkriegszeit, vor allem die Original-Skizzen des berühmten Malers Max Liebermann machen Besucher neugierig. „Unser Urgroßvater David Leder, ein Textilfabrikant, war sehr gut mit Max Liebermann befreundet, der unsere Urgroßmutter Lola mehrfach gemalt hat. Hier hängt sie“, erklärt David Hermlin und zeigt auf eine Replik an der Wand. Das Originalgemälde seiner Urgroßmutter befindet sich seit langem in Privatbesitz.
Zur Familiengeschichte der Hermlins gehört auch eine russische Großmutter, die im Souterrain des Anwesens wohnt. Darüber hinaus deuten viele bunte Statuen auf die Einflüsse der kenianischen Mutter von Rachel und David hin. Große Fußstapfen, doch der 17-jährigen Rachel und dem 20-jährigen David merkt man schon jetzt ihre Furchtlosigkeit und vor allem die Abenteuerlust an.
»Als Schwarze hätten wir damals nicht viele Privilegien gehabt.«
„Mich hat stets diese Eleganz fasziniert. Ich verbinde die Swing-Musik, die ich spiele, gerne mit der Kleidung. So kann ich nachspüren, wie das damals gewesen sein muss. Zudem liegt in dieser Ästhetik eine gewisse Haltung, die mich anzieht“, sagt David. Er und seine Schwester betonen aber, dass sie sich voll und ganz dem Slogan vintage fashion, not vintage values verschrieben haben. „Wir lieben die Filme, die Musik, die Architektur, die Kleidung“, erklärt Rachel. „Aber unsere Zeit ist auch die der Smartphones und wir nutzen sehr viel Social Media – das ist nun mal die Welt, in der wir leben.“ Und ihr Bruder David fügt hinzu: „Wir sind auch ganz froh, dass wir in dieser Zeit leben. Als Schwarze hätten wir damals nicht viele Privilegien gehabt.“
»Ich dachte: Wow, erst durch diese Situation nehmt Ihr mich jetzt wahr.«
Eines der Nebenphänomene der Black Lives Matter-Bewegung in diesem Jahr war die Aufklärungsarbeit, mit der Schwarze Vintage-Fans auf einmal an Instagram- oder Pinterest-Communitys herangetreten sind: Auch wenn es in den 1920er und 1930er Jahren überaus viele Schwarze Künstler gab, sind viele von ihnen in der Reimagination historischer Kontexte in Vergessenheit geraten. Das führt dazu, dass gegenwärtige Illustratoren in ihrer Darstellung der Gatsby-Ära eher auf Weißes Personal zurückgreifen. Viele Schwarze Dandys und Diven aus der Gemeinschaft der Vintage-Virtuosen haben in diesem Zuge auf diese Schieflage hingewiesen.
Dass dies gefruchtet hat, merken David und Rachel zum einen an viel neuer Kunst mit Schwarzen Körpern, die daraufhin auf Instagram immer sichtbarer wird. Zum anderen schossen bei vielen nicht-Weißen Mikro-Influencern aus der Vintage-Sphäre die Followerzahlen in die Höhe. Diese Entwicklung ist auch an Rachel nicht vorbeigegangen: „Einerseits habe ich mich gefreut. Anderseits war ich verwundert, weil ich dachte: Wow, erst durch diese Situation nehmt Ihr mich jetzt wahr.“
Rachel hat sich vor zwei Jahren dem Retro-Stil verschrieben und fing kurz danach auch mit dem Singen an. Wenn sie sich nicht um die Pflege ihres Pferdes kümmert, das auf einem Reiterhof im Norden Pankows steht, tauscht sie sich mit anderen begeisterten Swing-Liebhabern im Internet über Frisurentipps oder Secondhand-Shopping aus. Vor kurzem hat Rachel ihren Realschulabschluss gemacht. Als sie noch zur Schule ging, stand sie jeden Tag um 5:30 Uhr auf, um ihre Haare im Look der Dreißigerjahre zu stylen. Als Ikone nennt sie die US-amerikanische Sängerin und Schauspielerin Lena Horne, zudem ist sie von der Jazzsängerin Ivie Anderson inspiriert.
»Das Ziel des Swing ist es, Menschen eine Freude zu machen.«
Das Vergnügen, das die Geschwister in ihrer Swing-Szene finden, erfasse den ganzen Körper, erzählen sie. „Was ich verspüre, wenn ich diese Musik interpretiere, ist ein gigantisches Kribbeln,“ sagt Rachel. Dieses Kribbeln übertrage sich auch auf die Zuschauer, hält David fest und ergänzt: „Das Ziel des Swing ist es, Menschen eine Freude zu machen.“ Die Energie der Musik komme besonders gut im Rhythmus zum Ausdruck, weshalb David auch Schlagzeug spielt.
»Ohne Kultur, das wissen wir alle, ist das Leben schrecklich langweilig.«
Den beiden fehlen ihre großen Live-Auftritte. In ihren Streams erklären sie daher immer wieder, dass es wichtig sei, dass man auch Künstler als Risikogruppe begreife. „Die Existenz von Menschen, deren Lebensaufgabe darin besteht, vor großen Menschenmengen aufzutreten, ist gerade sehr gefährdet. Und ohne Kultur, das wissen wir alle, ist das Leben schrecklich langweilig“, sagt David.
»Wir blühen in der Krise auf.«
Nicht nur das ZDF heute-journal, sondern auch die Los Angeles Times und The Guardian haben bisher über die Vehemenz berichtet, mit der die Familie Hermlin ihre Shows ins Digitale zu übersetzen versucht. „Wir blühen in der Krise auf“, erklärt David mit ehrlicher Verwunderung. Swing-Liebhaber und andere Vintage-Virtuosen aus dem Cyberspace hätten sich im Laufe der Monate zu einer Community zusammengefunden, die sich selbst „Hermlinville“ taufte. Die Beständigkeit tue den Menschen gut, denn die kleine Band aus Berlin biete Anlass für Austausch und neue Motivation, erzählen Rachel und David.
Und so hören die Geschwister immer wieder erstaunliche Geschichten: Wie etwa die eines amerikanischen Zuschauers, der nach 30 Jahren seine Trompete entstaubte, weil ihn „The Swingin‘ Hermlins“ so inspiriert haben. Good ol‘ Internet, Du bist ja doch für etwas gut.
#davidhermlin #rachelhermlin #katharinaweiss #mypmagazine
Mehr von und über David Hermlin:
davidhermlin.com
swingdanceorchestra.de
@daveetheewave
bandcamp.com
Mehr von und über Rachel Hermlin:
Interview & Text: Katharina Weiß
Fotografie: Frederike van der Straeten
Joesef
Interview — Joesef
A Sense for Community
With his second EP »Does it Make You Feel Good,« Scottish singer Joesef has released a soulful and intimate piece of music—once again. The 25-year-old musician talks with us about the essence of Glasgow, the benefit of sadness in music, and what kids shouldn’t learn from him.
13. November 2020 — MYP N° 30 »Community« — Interview & text: Jonas Meyer, Photography: Maximilian König
Visiting Glasgow for the very first time in your life can be a very strange experience. People there are incredibly friendly and not so easily bothered, an abrupt change for those who are—at least in their own hometowns—used to a harsh tone and rushed attitude (we won’t name any cities in particular).
Glaswegians care in a calm but obliging way: about friends and strangers, guests and family, young and old. They are a sometimes odd yet open-minded community, with a good sense for the common good, and for music.
One of the latest, most noteworthy children of Glasgow is Joesef, a 25-year-young musician now based in London. His soulful songs sound like he has already lived a very long life and seen the entire world, carrying all its pain on his tongue. But he only released his first EP last year, “Play Me Something Nice,” and he has the habit of producing all his music from his bedroom.
But what does this mean in times when an American presidential candidate manages his election campaign from his basement? And students around the globe try to change the world from their childhood bedrooms, not just on Fridays? Joesef and his audience came together through social media—and it seems that this won’t be a short-term relationship.
A few days ago, the warm-hearted but somewhat shy singer released his second EP, “Does it Make You Feel Good.” We meet him for an interview on a sunny autumn day in Friedrichshain—a Berlin district with also a special tone and attitude, by the way.
»In a bad situation, there can always be something good, even if it's just a song.«
MYP Magazine:
People like to describe you as a “sadboy.” Is that a title you can relate to? Or is it something that annoys you more and more?
Joesef:
I feel that this word is something that was mentioned in the past—and it kind of stuck. But it doesn’t bother me, honestly. It’s just that people are more or less surprised when they meet me because they expected I was sad as fuck. So, I think it’s kind of funny.
MYP Magazine:
But I suspect that even you feel sad from time to time…
Joesef:
Aye!
MYP Magazine:
What is the benefit of an emotion like sadness in terms of being creative and writing a song?
Joesef:
Sadness and loneliness are the worst emotions ever, they make you feel you’re the only person in the world. But they are also kind of unifying in terms of music. If you can hear yourself in a song and you can relate to that, you feel a little less alone. That’s the positive aspect of it. In a bad situation, there can always be something good, even if it’s just a song.
»Glaswegians can smell bullshit. That’s what made me be more honest to myself and my mates.«
MYP Magazine:
I personally have a very touristy, romanticized image of Glasgow. How do you see your hometown yourself?
Joesef:
I’m from the East End of Glasgow which is probably the roughest part of the city…
MYP Magazine:
… a “concrete jungle” as you said in another interview.
Joesef (smiles):
Yes. But even at the East End of Glasgow, everybody is so welcoming and has a strong sense of community. You can stand at a bus stop and the person next to you will speak to you, just ask how you’re doing and what you’re up to. I think that’s something you can’t get anywhere else—this city is like my favorite place in the world! At some point I’ll go back there, have my cats and raise a family. I’m born in Glasgow and I definitely will die in Glasgow. The weather is fucking shit, but the people are amazing.
MYP Magazine:
How did this environment support you in your development as an artist?
Joesef:
People in Glasgow are all working class. They teach you that you need to put yourself forward because you usually don’t get a second chance. I think that’s the reason why I’ve become a very passionate do-or-die person. And besides that, Glaswegians can smell bullshit. That’s what made me be more honest to myself and my mates.
»When I was really young, I remember that being gay was a bad word, even in Glasgow.«
MYP Magazine:
You are very open about your sexuality, personally and in your music. Imagine if you had grown up in Glasgow a few decades earlier–or today in Russia, for example–at a time or in a place where this kind of openness would not be possible. Do you think you would have become a musician at all?
Joesef:
If I had lived in the 80s, for example, I think I would have become a singer anyway. But due to the fact that people like George Michael were absolutely hell-of frightened by the press for being gay and stuff, it would have made me think twice of being totally honest in my music and opening up like I obviously do today. That would definitely have caused a serious backlash to my career.
I’m so lucky to be born in this time, my generation seems to be very progressive. But when I was really young, I remember that being gay was a bad word, even in Glasgow.
MYP Magazine:
Do you feel kind of a responsibility enjoying this freedom?
Joesef:
Nah, I don’t really feel responsible, not actively. I’m just living my life and when anybody can see themselves in my music which makes them feel more comfortable, that can eventually be a good thing.
»When there’s just one guy who can see himself in me and my life, that’s class!«
MYP Magazine:
What can queer kids around the world learn from you?
Joesef (smiles):
When I was young, I’ve never seen someone like me from a housing estate who was talking about boys and stuff all the time. When there’s just one guy who can see himself in me and my life, that’s class!
MYP Magazine:
And what should kids better not learn from you?
Joesef:
I mean, I definitely drink too much. So, don’t get drunk, kids! Besides that, I’m a very standard guy.
»I’m not that kind of person who tells people my secrets.«
MYP Magazine:
Your music is very personal and emotional—something a lot of people can relate to. At the same time, you’re a person who describes yourself as being uncomfortable with sharing personal aspects of your life. How did you resolve this contradiction?
Joesef (laughs):
It’s very weird. I’m actually not that kind of person who tells people my secrets. But when you put a beat and a melody behind it, it somehow seems a lot easier to let it out. I really don’t know why.
MYP Magazine:
You’ve just released your new EP, “Does it Make You Feel Good.” In an interview with Dork magazine, you said that if your first EP, “Play Me Something Nice,” felt more hopeful, the second one would be the “end game.” What exactly did you mean by that?
Joesef:
That statement is a bit nostalgic. I feel like I was a young boy in the first EP, it was all about my first relationship that eventually broke. It went so bad and was so frustrating and poisonous, it left both of us with pure anger. My hope was that, in the future, we would be able to sort things out. The second EP is written from a more grown perspective. I feel I know myself a bit better and I try to make sure that something like this never happens again… By the way, we’re together again, but just fuckin’ (smiles).
»When you’re growing up in the East End of Glasgow, you’re catching up on so much shit at a young age that you think this is normal.«
MYP Magazine:
You’re such a young person, but your music sounds like you’ve already lived a very long life and you’ve seen the entire world, carrying all its pain on your tongue. Have you ever wondered if you had lived a life before your current one?
Joesef:
I know that people used to say that I’m an old soul. But when you’re growing up in the East End of Glasgow, you’re catching up on so much shit at a young age that you think this is normal.
MYP Magazine:
Let’s stick with the present. At the moment, Joe Biden is campaigning from his basement, the Fridays for Future kids are trying to change the world from their childhood bedrooms, and you’re writing and producing your entire music more or less from your bed. Would you say your example is part of a new normal?
Joesef:
I am very lucky that I was always able to make music in my bedroom. This room is my office, that’s where I work. But I think it’s more of a funny accident than part of the so-called new normal in these times.
»You make less compromises when you’re by yourself.«
MYP Magazine:
Are you a loner when it comes to work matters?
Joesef:
I would say yes. You take more risks and make less compromises when you’re by yourself. You can do whatever you want, and I have to confess that I’m a control freak. But I think I’m now more open to cooperating than I was before.
MYP Magazine:
You’ve released two EPs now. Are you going to work on an album some day? Or do you feel that’s a relic from the old music world?
Joesef:
I’m such an album boy, I love albums! When I think of the music that has come to me all my life, it has always been albums. I feel like I caught my whole life in vinyl. I’m quite traditional in that sense, it’s such an emotional thing. So, I am definitely going to work on my own.
»I hope people can escape a little bit through my music when they get set back.«
MYP Magazine:
Speaking of emotions: What feelings could your new EP evoke in its listeners? What do you wish for?
Joesef:
I hope people can escape a little bit through my music when they get set back, that’s my goal.
MYP Magazine:
When you played your first gig ever at King Tut’s last year, it was sold out before you even released a single track. Does such an experience give you hope for the future, especially in such strange times like we’re facing right now?
Joesef:
I always have hope for the future. This shit isn’t gonna last forever. The last gig I played was in the Oslo club in London. It was a perfect show, the crowd was acting like crazy, they were singing every word, everybody was buzzing. I think I will get back to that again—we will get back to that again. Things will get back to normal.
#joesef #glasgow #community #jonasmeyer #maximiliankoenig #mypmagazine
More about Joesef:
Interview & text by Jonas Meyer:
Editing by Benjamin Overton:
Photography by Maximilian König:
Production assistance by Stefan Hobmaier:
Manuel Puhl
Photo series — Manuel Puhl
Where Strangers Meet
In July 2019, photographer Manuel Puhl traveled through Japan. He was particularly fascinated by the capital Tokyo—mainly because of the anonymity with which it envelops its residents. A film-like night stroll through one of the world's largest cities.
29. Oktober 2020 — MYP N° 30 »Community« — Photography & text: Manuel Puhl
I love the bizarre feeling of living in a city where you don’t even know your neighbor, especially at night when everything seems to melt into a kaleidoscope of near and far-away lights—a place where strangers meet.
Anonymously we grow on ourselves, solely defined by our ups and downs. Living life. Knowing there is more to come. Or hoping, at least.
I’ve always expected to find someone, but I’ve never expected to find you.
Happy me.
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Photography & text: Manuel Puhl