LIAS
Interview — LIAS
»Ich hatte immer den Impuls wegzulaufen«
Domsingknabe in Augsburg, BWL-Student und Investmentbanking-Praktikant in München und jetzt Vollblutmusiker in Berlin: Das Leben nimmt bisweilen ungewöhnliche Routen, insbesondere das von Elias Wuermeling aka LIAS. Gerade hat der Singer-Songwriter seine Debut-EP »Run Boy Run« veröffentlicht. Im Interview spricht er über falsche Glaubenssätze, deutsches Schubladendenken und die Bedeutung der Klassik für die heutige Popmusik.
23. Mai 2022 — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotografie: Juliusz Gastev
Mit dem Land der Dichter und Denker ist es so eine Sache: Man sonnt sich allzu gern in dem, was einst vor grauer Zeit geschaffen wurde. Doch das reicht leider nicht mehr aus. Der Titel, so das Gebot der Logik, lässt sich nur dann beanspruchen, wenn man weiterhin für Nachwuchs sorgt. Und, ganz nebenbei, auch all die Dichter:innen und Denker:innen inkludiert, die es auch noch gibt.
Doch in vielen Familien, so scheint es fast, hat man das mit dem Nachwuchs noch nicht so ganz durchdrungen. Zwar schaut man fleißig Netflix und TV, erfreut sich an Spotify und Radio, geht ins Theater und Ballett und frisst sich durch Bücher aller Art. Doch das eigene Kind, bitte schön, das möge doch beruflich etwas anderes machen als Schauspiel, Musik oder Schriftstellerei. Lieber was Handfestes und Sicheres. Was mit Perspektive.
Die Eltern von Elias Wuermeling, 30 Jahre alt und hauptberuflich Musiker, sind eigentlich von einem anderen Schlag. Mit fünf Jahren schickten sie den Jungen zum klassischen Klavierunterricht, wenig später folgte die musikalische Früherziehung bei den Augsburger Domsingknaben. Mit neun wurde er vollwertiges Mitglied des Chors. Dort sang er– mit kurzer Stimmbruch-Pause – als Solist bis zum Abitur, reiste um die Welt und trat auf den großen Klassik-Bühnen auf.
Doch eine Musikerkarriere startete er dann trotzdem nicht – sondern entschied sich, BWL zu studieren. Zu sehr, so wird er uns im Interview erzählen, hätten ihn die Erwartungen anderer zurückgehalten. Zu schwer hätten all die bekannten Glaubenssätze gewogen, nach denen es das Wichtigste im Leben sei, „was G’scheites“ zu machen.
Es brauchte eine Reise um die Welt, ein Praktikum im Investmentbanking und den Job in einem Berliner Start-up, bis er merkte, dass er in seinem Leben nichts anderes machen will als Musik. Da das Geld für so einen Neubeginn eher knapp war, starte er 2020 eine Crowdfunding-Kampagne, mit der er etwa 6.000 Euro für die Realisation seiner Debut-EP einsammelte. Der Titel der Aktion: „Vom Büro auf die Bühne“. In diesem Zuge warf er auch den ersten Buchstaben seines Vornamens über Bord. Das E musste weichen, so sagt er, weil es ihn zu sehr and das Wort eigentlich erinnere. Soll heißen: keine Kompromisse mehr.
Dass LIAS das Ruder in Richtung Vollzeitmusiker herumgerissen hat, war wahrscheinlich die beste Entscheidung seines Lebens. Und auch uns, dem Publikum, kann das nur gelegen kommen, denn LIAS‘ Musik ist vielschichtig und einfühlsam, kraftvoll und verletzlich, akribisch arrangiert und gleichzeitig überaus klar. Sein Repertoire reicht dabei von den schmerzhaft-melancholischen Indie-Tracks „Home“ und „Lost“ über den balladigen Folk-Song „Run Boy Run“ bis zu „Hide and Seek“, eine Uptempo-Nummer, die er mit vielen elektronischen Elementen auflädt. Und dazu gibt’s mit „Let Me Down Easy“ eine eher neosoulige Nummer, bei der man sich an Marla Glen oder Michael Kiwanuka erinnert fühlt.
Im Hackbarth’s in Berlin-Mitte, einer seiner Lieblingsbars, treffen wir LIAS zum Gespräch. Und wir haben ein kleines Geschenk dabei: den Roman „Hard Land“ von Benedict Wells.
»Ich hatte in meinem Leben immer die Tendenz, einen Fluchtinstinkt zu entwickeln, wenn die Dinge schwierig wurden.«
MYP Magazine:
Bei Deinem Song „Run Boy Run“ fühlen wir uns sehr an dieses Buch erinnert: „Hard Land“ ist eine liebevoll erzählte Coming-of-Age-Story, die Mitte der 1980er Jahre im mittleren Westen der USA spielt und die mit ihren musikalischen Referenzen den Sound eines ganz bestimmten Lebensgefühls beschreibt. Welche Bilder hattest Du selbst im Kopf, als Du den Song geschrieben hast?
LIAS:
So ein Feedback freut mich riesig! Es ehrt mich sehr, wenn meine Musik etwas mit einer Person macht und es da irgendeinen Anknüpfungspunkt gibt, der ganz bestimmte Emotionen auslöst. Mit den Bildern, die ich selbst vor Augen hatte, ist das allerdings so eine Sache. Wenn ich schreibe, bin ich meistens nicht so visuell unterwegs. Es ist eher so, dass ich vor mich hinmurmele und daraus irgendwann eine Zeile entsteht. Und daraus wiederum entwickelt sich Stück für Stück eine Songidee – denn oft versteckt sich allein in dieser einen Zeile ein Gefühl, das ich als Basis nehmen und alles darum herumbauen kann.
Bei „Run Boy Run“ geht es um einen Blick auf mich selbst. Ich hatte in meinem Leben immer die Tendenz, einen Fluchtinstinkt zu entwickeln, wenn die Dinge schwierig wurden oder es eine Situation gab, mit der ich nicht klarkam. Kurz gesagt: Ich hatte immer den Impuls wegzulaufen, zumindest in der Vergangenheit.
MYP Magazine:
Kannst Du ein Beispiel für eine solche Situation nennen?
LIAS:
Etwa, nach dem Abitur, bevor ich in München meinen Bachelor hatte. In dem Moment war ich mit dieser einen großen Frage konfrontiert: Was fange ich mit meinem Leben an? Ich bin mit dem Glaubenssatz aufgewachsen, dass es im Leben wichtig ist, „was G’scheites“ zu machen, etwas mit Fundament. Und da war Kunst und Kultur als Beruf eher keine Option. Da bin ich vor mir selbst in etwas vermeintlich „Sicheres“ weggelaufen. Und so fiel ich immer in ein riesiges Loch, wenn ich nicht wusste, was der nächste Schritt sein könnte.
Nach dem Bachelor wieder das Gleiche: Statt mich mit dieser Frage mal zwei, drei Wochen ordentlich auseinanderzusetzen, gab es in mir nur diesen Fluchtinstinkt. Mir wurde alles zu viel, ich wollte einfach nur raus. Also habe ich mich entschieden, ein paar Wochen lang zu jobben und mit dem verdienten Geld um die Welt zu reisen. Vier Monate lang war ich unter anderem in Südafrika und Südostasien unterwegs.
Im Jahr 2020 schließlich, als ich nach meiner Zeit in der Berliner Start-up-Welt die Entscheidung getroffen hatte, mich voll der Musik zu widmen, kam völlig unerwartet und zu allem Überfluss Corona um die Ecke. Wie viele andere Leute hatte auch ich plötzlich mit Mental-Health-Problemen zu kämpfen. Ich war sehr depressiv und wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte. Mein Impuls war, alles von mir zu stoßen: Menschen, Beziehungen, einfach alles, was mein bisheriges Leben ausgemacht hatte. Das war ein radikaler Befreiungsschlag. „Run Boy Run“ – erst mal von allem weg und mit sich selbst klarkommen.
»Mach doch was Vernünftiges!«
MYP Magazine:
Du warst viele Jahre Solist bei den Augsburger Domsingknaben und bist auf den großen Bühnen dieser Welt aufgetreten, in Ecuador und sogar an der Seite von José Carreras. Hat Dir das nicht bewiesen, dass Musiker auch ein „g’scheiter“ Beruf sein kann?
LIAS:
Nach dem Abi – da war ich gerade aus dem Chor ausgeschieden – hatte ich mich tatsächlich gefragt, ob ich nicht vielleicht Sänger werden wollte. Dennoch war die Entscheidung, professionell Musik zu machen, erst mal sehr weit weg. Ich glaube, ich war einfach zu stark geprägt von meiner Erziehung. Zwar war meinen Eltern eine musikalische Grundausbildung bei ihren Kindern sehr wichtig, aber dennoch wollten sie nie, dass einer von uns das hauptberuflich macht. Mein Vater war Wirtschaftslehrer, meine Großeltern eher konservativ geprägt, da war das keine Option. Vor allem für mich als Ältesten hieß es: „Mach doch was Vernünftiges!“ Daher habe ich angefangen, BWL zu studieren. Lustigerweise ist einer meiner Brüder heute Opernsänger und unsere Eltern finden unsere Berufe gut. Aber damals war das einfach kein Thema. Vielleicht täusche ich mich auch komplett und ich habe mir den Druck immer nur eingeredet.
»Es ist im Leben auch wichtig, dass man merkt, was man nicht will.«
MYP Magazine:
Bevor Du Vollzeitmusiker geworden bist, hast Du zwischenzeitlich noch Musikmanagement studiert und im Investmentbanking sowie bei einem Streamingdienst für klassische Musik gearbeitet. Bereust Du diesen Umweg?
LIAS:
Manchmal schaue ich auf mich selbst und frage mich, warum ich das mit der Musik nicht schon vorher gemacht habe. Warum ich dieser künstlerischen Seite in mir nicht mehr Raum gegeben habe, um wirklich das zu sein, was ich bin, nämlich Musiker. Und dann blicke ich auf diesen „Umweg“ und denke mir: Ohne diese vielen Stationen wäre ich jetzt nicht an dem Punkt, an dem ich bin – mit mir selbst, mit dem, was ich erlebt habe, und mit den Aussagen, die ich mit meiner Musik mache. All das gehört einfach zu meiner Geschichte dazu, all das hat zu der Reise beigetragen. Daher gibt es keinen Grund für mich, irgendetwas zu bereuen. Ganz im Gegenteil: Es ist im Leben auch wichtig, dass man merkt, was man nicht will.
»Leider haben wir in Deutschland immer den Drang, Musik in eine bestimmte Ecke zu stellen.«
MYP Magazine:
Mit den Songs, die Du bisher veröffentlicht hast, machst Du eine große musikalische Spannweite auf: Von Indie über Folk und Dance bis zu Neoklassik bietest Du in diversen Genres etwas an. Bist Du noch auf der Suche nach einem eigenen Stil?
LIAS (lächelt):
Nein, ganz im Gegenteil. Mein Stil ist es, einen Song nicht eines bestimmten Genres wegen zu schreiben, sondern der ersten inhaltlichen Idee erst mal einen gewissen Raum zu geben, aus dem sich heraus der Sound entwickelt. Ich habe immer Musik gemacht, die aus dem Herzen kommt und in dem Moment durch mich spricht. Und diese Musik habe ich so stehen lassen, ausproduziert und veröffentlicht.
Davon abgesehen ziehe ich meine Inspiration ohnehin aus den unterschiedlichsten Bereichen. Auf der einen Seite bin ich intensiv mit klassischer Musik aufgewachsen, was nach wie vor ein großer Einflussfaktor ist, gerade wenn es um Melodien geht. Auf der anderen Seite bin ich ein großer Blues-Fan und mag Künstler wie John Mayer oder BB King total. Und auch in Soul und Jazz bin ich super gerne unterwegs.
Ich mag diese Vielfalt sehr und finde es schön, dass ich das für mich zulassen kann. Leider haben wir in Deutschland immer den Drang, Musik in eine bestimmte Ecke zu stellen. Wenn man nach Amerika schaut, kann man als Künstler in der einen Single rappen und im nächsten Release singen. The Kid Laroi zum Beispiel ist eigentlich Rapper, aber haut dann mit Justin Bieber einen poppigen Dance-Hit wie „Stay“ raus – einfach, weil die beiden Bock haben, miteinander geile Musik zu machen.
MYP Magazine:
Warum glaubst Du, dass das in Deutschland so ist?
LIAS:
Vielleicht war ich da jetzt auch zu gemein. Aber ich habe das Gefühl, dass wir in Deutschland mit einem sehr traditionellen und sicherheitsbezogenem Wertesystem ausgestattet sind, das dieses Schubladendenken geradezu erzwingt und nicht so viel Freiraum für Entwicklungen zulässt, die vielleicht in eine ganz andere Richtung gehen. Ich glaube, das kommt sehr aus unserer Sozialisierung und der Art und Weise, wie wir aufwachsen.
»Was die Melancholie angeht, bin ich vielmehr bei Chopin.«
MYP Magazine:
In einem Artikel der Augsburger Allgemeinen heißt es über Dich: „Wenn er aber an seinen Songzeilen schreibt, denkt er auch immer an Augsburg zurück – und an die Musik lang vergangener Epochen, an die Bachs und Mozarts, die so gar nichts mit den Ed Sheerans von heute am Hut zu haben scheinen.“
(LIAS lacht)
MYP Magazine:
Ist es erstens nicht so, dass die Musik von Ed Sheeran ohne Bach und Mozart gar nicht möglich wäre? Und wäre es zweitens in Deinem Fall nicht eher jemand wie Mahler, an den Du zurückdenkst, weil er Dir in der Melancholie seiner Musik viel näher ist als Bach oder Mozart?
LIAS:
Erstens: Das gilt nicht nur für Ed Sheeran: Nichts von dem, was wir heute musikalisch machen, gäbe es ohne die Klassik. Das alles ist eine ganz natürliche, zusammenhängende Entwicklung, Musik entsteht nie im luftleeren Raum. Man verarbeitet immer das, was einen inspiriert oder was man irgendwo gelernt hat, arbeitet es für sich mit seinem eigenen Können um und produziert daraus etwas Neues. Der Kanon in D-Dur von Johann Pachelbel aus dem 17. Jahrhundert etwa ist in allen möglichen Popsongs verwendet worden, die Melodien findet man auch nach 300 Jahren noch überall.
Und zu dem zweiten Punkt: Mahler hat als Komponist gar keinen so großen Einfluss auf mich. Was die Melancholie angeht, bin ich da vielmehr bei Chopin. Schon als Kind habe ich im Klavierunterricht sehr viel Chopin gespielt. Die Nocturnes zum Beispiel liebe ich sehr und spiele ich heute noch immer wieder.
»Ich glaube nicht, dass es gut ist, beim Songwriting zwanghaft mit dem Ziel zu starten, eine catchy Hook zu entwickeln.«
MYP Magazine:
Was hast Du durch Deine klassische Musikausbildung über die Funktionsweise von Songs gelernt? Wie muss man einen Track bauen, damit er bei den Hörenden eine Emotion auslöst und im Kopf bleibt?
LIAS:
Das Wort Funktionsweise klingt sehr technisch, daher gebe ich eine andere Perspektive darauf: Als Künstler muss man das machen, was einen selbst beschäftigt und bewegt. Und wenn man es schafft, genau das in seine Musik zu übersetzen, passiert es ganz automatisch, dass es in einem anderen Menschen ein Bild auslöst und ihm eine emotionale Bandbreite bietet, mit der er sich verknüpfen kann. Ich glaube nicht, dass es gut ist, beim Songwriting zwanghaft mit dem Ziel zu starten, eine catchy Hook zu entwickeln und davon ausgehend den Rest des Songs zu schreiben. Viel wichtiger ist es doch, in seiner Musik mit den eigenen Emotionen und Erlebnissen eine authentische Aussage zu treffen, eine Verbindung zu sich selbst herzustellen und damit in der Konsequenz auch zu anderen. Wenn man das irgendwie erreichen kann, ist es etwas Wunderbares. Und das ist der Kern dessen, was ich persönlich schon von klein auf in der Klassik gelernt habe.
»In Billy Joels Verbundenheit zur Klassik habe ich auch immer wieder mich selbst erkannt.«
MYP Magazine:
Ein Künstler, der Dich in besonderer Weise inspiriert, ist Billy Joel. Was verbindet Dich mit seiner Musik?
LIAS:
Als Kind bin ich mal an einem Nachmittag, an dem mir langweilig war, habe ich mal im CD-Schrank meiner Eltern eine Billy-Joel-CD entdeckt und sie gespielt. Seitdem begleitet mich diese Musik, vor allem in den letzten Jahren habe ich seine Songs wieder für mich entdeckt und durchgehört. Ich bin fasziniert von seinem Writing, seiner Stimme und dem Ausdruck, der in seinen Liedern liegt. Und für sein Album „Turnstiles“ hat er mit „Prelude / Angry Young Man“ ein Klavier-Präludium geschrieben, einfach so. In Billy Joels Verbundenheit zur Klassik habe ich auch immer wieder mich selbst erkannt.
Solche Elemente findet man auch bei vielen anderen Künstlerinnen und Künstlern, man muss nur mal genauer hinhören. Das Debütalbum von Alicia Keys zum Beispiel, „Songs In A Minor“, ist mit dem prägnanten Piano stark an Chopin angelegt. Ein Song wie „Fallin‘“ fängt klassisch an, dann kommt da irgendwann der Beat rein – großartig! Wenn man so etwas hört, wird einem bewusst, dass diese Schubladen, in denen man gerne denkt, de facto nicht existieren.
MYP Magazine:
Wenn Du einen Song von Billy Joel offiziell covern dürftest, welcher wäre das?
LIAS:
Auf jeden Fall „New York State of Mind“! Das ist ein Song, den ich sehr gerne spiele, der mich tief berührt und seit Jahren schon in meinen Fingern steckt. Den würde ich sofort covern, ein krass guter Song!
»Ich glaube, wir müssen uns mehr trauen.«
MYP Magazine:
Du scheinst nach einem langen, kurvigen Weg endlich dort angekommen zu sein, wo Du immer hinwolltest. Wie geht Deine Reise weiter? Hast Du konkrete Pläne oder Wünsche für die Zukunft?
LIAS:
Da gibt es so viele Ebenen, auf denen man das beantworten kann. Ich habe vor allem Lust, weiter die Musik zu machen, die ich liebe und in der auch andere Menschen etwas sehen. Ich habe Lust, weiter auf der Bühne stehen. Und ich habe Lust – weil es mich aus meiner eigenen Geschichte heraus antreibt –, die Leute dazu zu bringen, dass sie öfter mal sagen: „Scheiß drauf, ich mach’s jetzt einfach.“ Ich glaube, wir müssen uns mehr trauen. Das fände ich wahnsinnig schön.
Mehr von und über LIAS:
Interview & Text: Jonas Meyer
Fotografie: Juliusz Gastev
My Girl is a Boy
Photo series — Melissa Ianniello
My Boy is a Girl
With her photo series, »My Girl is a Boy«, Italian photographer Melissa Ianniello captures the ongoing process of self-determination of her partner Davide who identifies as a trans man. Melissa's work challenges the social construct of love—not least because she, who is a lesbian, suddenly finds herself loving a boy.
19. Mai 2022 — Photography: Melissa Ianniello, Text: Melissa Ianniello & Chiara Pirra
“My Girl is a Boy” is a photo series about Davide, a trans boy, shot as our common love story is ending up. As a trans person, when your appearance is still corresponding to the sex you were assigned at birth, society automatically identifies you with that sex, without respecting the self-determination of your gender identity. As long as Davide does not look canonically masculine, society will continue to identify him as a girl. But for him, society isn’t needed to confirm his identity: He is and always has been a boy.
Hence the title, which can also be read in another, complementary sense, ironically highlights the fact that labels often collapse in the face of the complexity of real life, in a short-circuit of the system with which we perceive love: Me who is a lesbian and my girlfriend who is in fact a boy.
Davide who re-discovers and recognizes himself is in the midst of his self-determination—an identity regeneration that I observe. I am convinced that I am continuing the path with him, but it slowly becomes clear that our roads are separating: Sometimes it is not enough to love each other in order to stay together.
This may seem bitter. But actually, it is only the prelude to a new beginning: “My Girl is a Boy” thus becomes a manifesto for love, an anthem to the freedom of loving oneself. Because only by loving yourself and allowing others to love themselves for who they are, can we love someone.
Erroneously we tend to think that love is something that ties two people together eternally to make them complete of all the missing parts, like Plato’s Symposium. But Davide’s story teaches us that eternal love can be reached by accepting ourselves as a whole being made up of all our dualisms, which are complementary: to expose ourselves and hide; the masculine and the feminine; joy and pain; the relationship between love and suffering for ourselves; the need to close up and open up to the outside; to step into the light and disappear at the same time. The perfect precarious balance of all these parts—this is love.
Photography & text: Melissa Ianniello
Text: Chiara Pirra
Gleb Kovalski
Interview — Gleb Kovalski
»Norms are always an instrument of oppression«
The queer activist Gleb Kovalski had to first flee from Belarus into political exile in Kyiv, then from the Russian war in Ukraine. Since then, the 27-year-old is stranded in Berlin. In an extended interview, Gleb tells us about the dangerous situation for queer people in Belarus, why their mother was sentenced to 15 days in prison, and how living in exile actually feels.
23. April 2022 — Interview: Katharina Viktoria Weiß, Photos: Frederike van der Straeten
After coming out at their school in Vitebsk, a city of 350,000 inhabitants in northern Belarus, classmates threatened Gleb Kovalski with a beating every day—because Gleb didn’t want to live and love heteronormatively. Teachers and adults looked away. Over the years, the once-endangered child became a brave activist, using underground queer parties to create secret spaces of safety and support for vulnerable LGBTQIA* youth.
But this fragile progress was shattered by the re-election of Alexander Lukashenko in 2020, who has ruled Belarus as a self-styled dictator since 1994 under the protection of Russian President Vladimir Putin. In the run-up to the presidential election—which was denounced internationally as neither free nor fair—opposition candidates were arrested, and votes were manipulated. The mass protests that followed ended with bloodshed, and since then the regime has been trying even more mercilessly to assert its claim to power. Gleb Kovalski and most of their fellow artists were forced into political exile due the intimidation by the Belarusian intelligence service, the KGB.
The 27-year-old lived in Kyiv for a year until violence forced them to relocate again. Since the beginning of the war, Gleb has been living in Berlin on their best friend’s couch. Our editor-in-chief, Katharina Viktoria Weiß, met the artist in Berlin at bar and restaurant Café Margarete, which is located in the same building as the Documentation Centre for Displacement, Expulsion, Reconciliation close to Anhalter Bahnhof.
»Men were forced to admit on camera their participation in the protests and their homosexuality.«
MYP Magazine:
Gleb, what can you tell us about the current situation for queer people in Belarus?
Gleb Kovalski:
After the protests in 2020, the government has destroyed all NGOs, including LGBTQ initiatives, and all the independent media that had raised LGBTQ topics. They haven’t taken away the internet from people yet, but the atmosphere in Belarusian media, cultural and educational fields has rolled back a dozen years. I’m afraid it affects the safety of queer people a lot.
MYP Magazine:
Do the police also pose a threat?
Gleb Kovalski:
Of course, especially when cops make public outings of homosexual men who attended the protests against Lukashenko with recorded videos of their “penances” obtained under pressure. In these clips, men were forced to admit on camera their participation in the protests and their homosexuality.
»After school there were crowds of teenagers who wanted to beat me up.«
MYP Magazine:
How was it for you growing up as a queer kid in Belarus?
Gleb Kovalski:
I was born and raised in Vitebsk, a mid-sized city in northern Belarus. My teenage years fall at the end of the 2000s. It was a time when social networks were just gaining popularity. At that time, there were no dating apps like Grindr or Hornet, which are popular now among non-heterosexual men. It was mostly possible to meet a guy through mutual acquaintances only, but most guys preferred to hide their sexual orientation even from other men they knew to be gay themselves.
MYP Magazine:
How do you remember your coming out?
Gleb Kovalski:
From day one, it attracted tremendous attention towards me. Not only at school, but all over the city. It also discouraged other gay or bisexual men to get in touch with me because everyone was afraid of being outed. I had big conflicts with both my classmates and teachers. After school there were crowds of teenagers who wanted to beat me up and the school administration barely managed to resolve this conflict. Instead, they accused me of provoking the aggression of those dudes by being open about my sexual orientation. And, of course, they also considered this orientation to be wrong and deviant, not worthy of talking about publicly.
»The world collapses because of creatures with unlimited power—not because of queers.«
MYP Magazine:
Why exactly did people feel so offended by you?
Gleb Kovalski:
I started just wearing elements of “female” clothing, which might seem not so remarkable in a global context, quite risky though for Belarus in 2008. And by such a violation of the “traditional” gender order, I questioned not only gender stereotypes but also broader constructs. I wanted people to ask themselves: What if I don’t do what I’m supposed to do? What if I do what I just want to do? Would the world collapse? As we can see now, the world, unfortunately, still collapses because of creatures with unlimited power—not because of queers.
MYP Magazine:
How did you find friends in this system of oppression?
Gleb Kovalski:
Those were the darkest days of my growing-up—but, at the same time, the best ones. Because being infamous in a way helped other people to find out about my existence. People who needed me as much as I needed them, and I was eventually lucky to be surrounded by the most open-minded, craziest, and sincerest people.
MYP Magazine:
Do you remember a beautiful moment of queer self-expression from your youth?
Gleb Kovalski:
My friends and I went to different schools, but after class we would meet in parks or someone’s flat when our parents weren’t home. We would get drunk on gin and tonics and go to emo band concerts, forge documents to get into night parties, fall in love, argue. But we were together to fight against a conventional world full of oppression and injustice. And I’m often nostalgic about that time because when it seems like the whole world is against you, moments of support and care from even quite random people you experience much more deeply and joyfully.
»You risked getting beaten up on the street for wearing jeans that were too tight.«
MYP Magazine:
Can you describe these feelings of unity?
Gleb Kovalski:
In Belarus, at those times, you risked getting beaten up on the street for wearing jeans that were too tight or the “wrong” length of hair. But when you hang out with your true soulmates drinking vodka on the bank of the Dvina River and singing along to insanely kitschy Katya Sambuca songs, united by the euphoria of existing in spite of all that persecution, everything else becomes irrelevant.
MYP Magazine:
How does love develop under these circumstances?
Gleb Kovalski:
I think it’s pretty cool to be able to hold hands with the person you love in a public place, or to easily have a quick but intense one-night stand—as it’s possible here in Berlin. But that can’t be compared to the feeling when you kiss your love in an abandoned humid building on the outskirts of your city late at night, where you two escaped from all eyes at least for an hour just to be close to each other without a need to hide your feelings in public. You just feel that you can’t be happier than at that moment, and that you are so far away from any countries, regimes, societies. Everything just ceases to exist.
MYP Magazine:
Do you know at what point you got into activism?
Gleb Kovalski:
In Vitebsk I was dating a guy for three years. We posted our love story pics on the internet and didn’t hide our relationship. I think this relationship can be considered as the beginning of my activism because I can’t remember anyone else doing the same back then. It was important for me to show that this relationship exists and that it’s right here among you. And that we’re, by the way, quite awesome. (smiles)
»We tried to create spaces for those identities that are also excluded from the sometimes very homonormative LGBT community.«
MYP Magazine:
You used to work for a Belarusian state TV channel. What did you experience there?
Gleb Kovalski:
In Belarus, if you study at a university at the expense of the state budget, you are obliged to work for two years after your studies at the company which you are assigned for by your university. In my case, it was the main Belarusian state TV channel. I can’t say that everything was great, but it wasn’t as awful as it seems when you watch Belarusian television now.
MYP Magazine:
How did your employment end?
Gleb Kovalski:
I got fired for supporting the national strike after the elections 2020. After that, I focused on the queer techno party series Petushnia, which I organized together with LGBTQIA* activist Andrei Zavalei in Minsk. We tried to create spaces for those identities that are excluded not only from the heterosexist world but also from the sometimes very homonormative LGBT community.
»The Belarusian electronic scene is quite male-dominated as elsewhere.«
MYP Magazine:
How can we imagine the scene in Minsk you were moving in?
Gleb Kovalski:
Realizing that the Belarusian electronic scene is quite male-dominated as elsewhere, we also intended to give a platform for self-realization of queer people, to support aspiring female and non-binary DJs. We wanted to make a melting pot where the most emancipated club kids met with peerless queer artists, musicians, and activists from different fields as well.
MYP Magazine:
Are you still in contact with your colleagues from the underground?
Gleb Kovalski:
Unfortunately, almost all of them are now scattered around the world, some are in prison. Only a very small part of our петушиного community has remained in Belarus.
»I’m just a human who tries to do less evil.«
MYP Magazine:
What role did you have in this community?
Gleb Kovalski:
I’m just a human who tries to do less evil. I don’t always succeed. I’m not sure I can make the world a better place, but I try at least to make it funnier, more exciting and worth living in, through art, texts, DJ sets, or just by me going to an agricultural state fair on high heels and in an extremely short skirt. Sometimes I feel like everything I do follows the aim to feel less lonely and maybe make someone else feel less alienated too.
MYP Magazine:
Can you tell us about a project that was very close to your heart?
Gleb Kovalski:
After a gay party in 2014, a young man named Mikhail Pischevsky was killed in a homophobic attack. My colleague Andrei Zavalei launched a public campaign called “Delo Pi_” in memory of him—because it was about much more than just one particular family’s tragedy. This case showed us how indifferent the society is and how, in Belarus, neither the law nor the justice works.
MYP Magazine:
Can you transfer that to your activism in Berlin?
Gleb Kovalski:
This story is the basis of the performance we’re working on with the HUNCHtheatre for the last two years. During the preparation of this show, we experienced lockdown, multiple emigration and the beginning of a full-scale war. At this point, we are working with an international cast along with other Belarusians. All of us are in different parts of the world, and we are trying to reflect on how ignoring one death could affect what is happening to us now, from the revolution in Belarus to the Russian invasion to Ukraine. The performance premiered at HAU Berlin on April 21, 2022. Our next show will be on April 30 at Hellerau in Dresden.
»It is very difficult—though quite exciting—to have a longing for freedom in a society that is not free.«
MYP Magazine:
How did you experience your last few months in your home country?
Gleb Kovalski:
The last year in Belarus was very significant for me as a DJ. While the whole world was in lockdown, terrible things were happening in Belarus itself. The more the political situation was getting worse, the more people were wanting to escape to the alternative nightlife world where there was no violence, no abuse, no injustice; where they could feel pleasure again, feel unity with others without the risk of being detained or killed as it happened on the streets in the daytime during the protests. For many people, parties became the source for recovery and the tool of resistance at the same time.
MYP Magazine:
How did you find the courage to face such a dangerous situation?
Gleb Kovalski:
I don’t tolerate normativity because norms are always an instrument of discrimination and oppression. On top of that, I am a very freedom-loving person. And it is very difficult—though quite exciting—to have a longing for freedom in a society that is not free. So, it has always been my pure selfish interest to take some steps in order to make people around me more free.
»I have lived in constant tension and fear, often waking up in a panic from noises on the stairwell.«
MYP Magazine:
What happened before you went into exile?
Gleb Kovalski:
I never thought that I would leave Belarus for long because I always felt needed in this place. I wanted to influence many things and I thought I knew how to do it. I couldn’t imagine what exactly was going to happen that would make me emigrate. Since August 2020, like many people, I have lived in constant tension and fear, often waking up in a panic from noises on the stairwell, never picking up the intercom, and often looking out from the window to be sure no one’s there before leaving the house. At the same time, I had no idea that this could be a reason for emigration; I perceived it as temporary precautions while the political regime was changing.
MYP Magazine:
How did the authorities increase the tension?
Gleb Kovalski:
One of our team members was visited by KGB officers at their flat in Minsk. The officers presented a huge folder with personal information including details about our theatre activities. They asked about previous and upcoming shows, about the actors’ political views, and their possible attendance in protests. In the end of that “home interrogation” they “warned” them of consequences of any further activity by our team. I think that day can be considered as the end of the Belarusian branch of HUNCHTheatre because after that, we’ve never met again in Belarus all together.
»When you live in this hell every single day, you get used to it.«
MYP Magazine:
Why and when did you have to leave your home country?
Gleb Kovalski:
The overall situation in the country abruptly deteriorated in February when searches began to take place in the flats of my close friends, including the most apolitical ones or those who do not even live in Belarus. Then it became clear that the darkest times had come, and I agreed to an offer from my friends to wait out a month or two in Kyiv. I left taking with me a pair of sweaters and underpants, in absolute confidence that this was just a temporary measure, but I never returned to Belarus again.
MYP Magazine:
How did you feel in these first months in exile?
Gleb Kovalski:
Every day the situation in Belarus was getting worse and worse. When you live in this hell every single day, you get used to it—and hell seems tolerable. But when you look at it from the outside, being in a more or less safe place, coming back seems just suicidal. So, I didn’t really have a choice.
»Your brain still refuses to even allow the fact you might not return to the place that has become your home.«
MYP Magazine:
How did you experience the outbreak of the war?
Gleb Kovalski:
In the last few months in Kyiv, I was going through a severe depressive episode related to losing my home, feeling displaced, and having a lack of old close friends around. On February 23, 2022, when all the people in Ukraine were talking only about the potential threat of a full-scale Russian military invasion and were endlessly posting stories with maps of bomb shelters, I posted on Instagram an apology for feeling absolutely nothing about the war and not being able to get involved in this information flow because of my depressed state. The next morning a full-scale war began.
MYP Magazine:
How did you react?
Gleb Kovalski:
I tried to leave the same day. There was no panic, it was calm in Kyiv, and I didn’t think about whether it would be as calm in the next few days. I just wanted to calm down my mother who was calling me hysterically every hour from Belarus, so I decided to go to my friends in Warsaw or Berlin for a week or more until it became clear what was going on. The funny thing is: I barely filled my suitcase because I had no doubt that I was going away for a short period of time. A year ago, when I was leaving Belarus, it was the same. And now even with such a fresh experience under your belt, your brain still refuses to even allow the fact you might not return to the place that has become your home. I didn’t have that option in my mind.
MYP Magazine:
What happened during your flight?
Gleb Kovalski:
I succeeded to leave only the next day. The road was literally burning behind me. We would pass some towns that were quiet and peaceful and then, one hour later, we would read on the news that a bridge had been blown up or bombed. I was lucky to get from Kyiv to Warsaw in only 28 hours. Many of my friends spent days at the border and still couldn’t get into the EU. From Warsaw, I went straight to Berlin because my best friend Jan and his husband were waiting for me there, ready to provide accommodation and a cozy atmosphere and to take care of me.
»My mother and thousands of people like her are stranded in a country where their own state is at war against them.«
MYP Magazine:
What happened next?
Gleb Kovalski:
I slept well for the first time in three days and decided to call my mother in the morning. She didn’t answer the phone. A few minutes later my cousin texted me that my mom had been detained on the street by the police. She is not a civic activist and has never participated in public political rallies. On that day she simply went out in the street wearing a mask marked “Stop War,” because she wanted to do something, even the very least, so that maybe she could deal with her own pain and helplessness. She was sentenced to 15 days in jail. This is all you need to know about the level of repression in Belarus.
MYP Magazine:
How do you look upon the role of Belarusian citizens in the context of war?
Gleb Kovalski:
When rockets were flying from Belarus to Ukraine, many Ukrainians called on the Belarusians to stop it and overthrow the dictator. Many called us accomplices of the Russian government. But the story of my mother and thousands of Belarusians shows that in Belarus, just going out of your home is enough to be sent to jail. Nevertheless, Belarusians have paralyzed the railways to stop the movement of Russian military forces to the border of Ukraine. They are risking the death penalty and endure tortures every day in prison for this. And Belarusians abroad create volunteer military units and fight on the side of Ukraine against the Russian occupiers. Hundreds of Belarusians create organizations, volunteer at the borders, evacuate Ukrainians, and organize humanitarian aid.
MYP Magazine:
Why is it so important to highlight that?
Gleb Kovalski:
It hurts watching how countries of the EU are closing their borders with Belarus and denying visa applications from Belarusians, or at least making the process as complicated as possible. My mother and thousands of people like her are stranded in a country where their own state, not an external one, is at war against them. And they are losing their last chance to save themselves.
»Coming to Berlin to hang out at a club is not the same as running away from the war.«
MYP Magazine:
Has living in Berlin changed some of your values or views on the world?
Gleb Kovalski:
I can’t say that I live in Berlin, as in live a real life. Everything is quite surreal at the moment, and I don’t feel I belong to any place. I first visited Berlin six years ago and since then, I’ve been here many times on different occasions. But coming to Berlin to hang out with friends at a club is not the same as running away from the war and getting into the total unknown and uncertainty of my future.
MYP Magazine:
How are you trying to deal with that displacement?
Gleb Kovalski:
I force myself to enjoy the beautiful people around me, the wonderful parks, the unusual and pleasant atmosphere of the neighborhood I’m staying in. But I feel almost nothing. My body is here, but I live in my trauma, my soul is endlessly flitting between Vitebsk, Minsk, Kyiv, and Berlin, sometimes getting stuck for several days in Bucha, in a bomb shelter in Kharkiv, in broken Mariupol.
MYP Magazine:
What can you tell us privileged people about the emotions of exile?
Gleb Kovalksi:
A forced escape is not a planned emigration when you move into a bright clean apartment and shelve your favorite stuff in pleasant anticipation of a new life. A forced escape, no matter from what country, is destruction, pain, and fear.
#glebkovalski #hunchtheatre #mypmagazine
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instagram.com/hunchtheatre
Next show on April 30 at Hellerau, Dresden
Photography: Frederike van der Straeten
Interview & text: Katharina Viktoria Weiß
Editing: Benjamin Overton
Salomé Balthus
Interview — Salomé Balthus
»Ich bin sehr empfindlich, wenn mich jemand emotional erpressen will«
Salomé Balthus ist Autorin und Prostituierte. Im Interview spricht sie über ihre kontroversen Kolumnen, blickt auf die Erotikbranche nach Corona und erklärt, inwiefern die Sexarbeit ihre Unkorrumpierbarkeit als Schriftstellerin fördert.
19. April 2022 — Interview: Katharina Viktoria Weiß, Fotografie: Uwe Hauth
Salomé Balthus ist Sexarbeiterin, auch wenn ihr selbst der Begriff Hure besser gefällt. Als Studentin der Philosophie und Literaturwissenschaft erlebte sie ihr erstes Mal: Auf der Toilette der Humboldt Universität zog sie sich die Pumps an und stöckelte von dort ins Luxushotel Regent, wo ein Kunde sowie eine Kollegin auf sie warteten. Die Ménage-à-trois war ihre erste Prostitutionserfahrung.
Seitdem machte Salomé Balthus unter dem Spitznamen der „kindlichen Kaiserin im Bordell Europas“ Kurtisanen-Karriere und gründete 2016 das feministische Highclass-Escort-Portal Hetaera. 2018 ging sie mit ihrem bürgerlichen Namen Hanna Lakomy an die Öffentlichkeit.
Manche Medien bezeichnen Salomé als „Deutschlands bekannteste Prostituierte“, ihre Stimme als Aktivistin für die Rechte von Prostituierten hat international Gewicht. Abseits der Erotikbranche schreibt die 38-Jährige die Kolumne „Nachtgesichter“ und die Portraitreihe „Berlin.Exotherm“ für die Berliner Zeitung. Darin hielt sie unter anderem ein Plädoyer für die feministische Journalistin Kübra Gümüşay und portraitiert Künstler*innen wie Bildhauer Hans Scheib oder Travestie-Ikone Gloria Viagra.
Darüber hinaus veröffentlicht Salomé Balthus bald ihren ersten Roman. Mit ihren Einblicken in das Stadtgeschehen und ihrem provokanten Blick auf politische Gesellschaftsprozesse gehört sie zu den spannendsten Persönlichkeiten des Berliner Kulturkolorits. Chefredakteurin Katharina Viktoria Weiß hat sie zum Interview getroffen.
»Mir ist durchaus bewusst, dass die meisten Menschen meine Meinung nicht brauchen.«
MYP Magazine:
Im vergangenen Monat hast du zwei sehr kontroverse Artikel veröffentlicht. Einer beschäftigt sich mit der verallgemeinernden Stigmatisierung ehemaliger Stasi-Mitglieder, der andere mit dem Recht auf Fahnenflucht. Bevor wir uns mit beiden Texten inhaltlich beschäftigen: Woher nimmst du den Mut – vielleicht aber auch den Drang – zur Provokation?
Salomé Balthus:
Ich verspüre keinen sozialen Druck, da ich nicht Teil einer Clique von Zeitungsleuten bin. Aus diesem Grund bin ich auch nicht der Angst ausgesetzt, dass diese Kollegen mich nicht mehr zu ihren Kochpartys einladen könnten. Zudem gibt mit die Art, wie ich Geld verdiene, die Möglichkeit, finanziell unabhängig von den Gehältern des Journalismus und von einzelnen Chefredakteuren zu sein. Ich habe aber ein paar wenige, gute Freunde, die von mir verlangen, aufrichtig zu sein. Dabei ist mir durchaus bewusst, dass die meisten Menschen meine Meinung nicht brauchen. Auch was den Ukraine-Krieg betrifft, hätte ich meine Klappe gehalten…
MYP Magazine:
Aber?
Salomé Balthus:
Ich bin auf eine Geschichte gestoßen, bei der ich das Gefühl hatte, sie erzählen zu müssen. Es ging um eine Kollegin aus der Ukraine, eine trans Frau. Sie sollte als Mann im Krieg kämpfen, doch bevor es so weit kam, hat sie sich erschossen. Zuvor wurde sie an der Grenze abgewiesen, als sie fliehen wollte. Ein Umstand, der sie in den Suizid getrieben hat. Dennoch finden viele diesen erzwungen Militärdienst in der Ukraine richtig.
Diese Art von Einforderung von Parteilichkeit hat mir öfter im Leben widerstrebt. Das sind die Momente, wenn sich Regierungsparteien, Opposition und die Mehrheit der Leitmedien einig sind: „Das ist ein Angriff auf unsere Art zu leben.“ Das erste Mal war ich noch Schülerin, da passierte 9/11. Ich stand in der Schweigeminute in der Klasse und fühlte mich eigenartig davon abgekoppelt, diese schreckliche Tat als persönlichen Angriff zu sehen. Dieser gesellschaftliche Imperativ, danach anders denken zu müssen, hat mich gestört.
»Ich war ehrlich an den Reaktionen interessiert und wollte, dass die Menschen mehr als nur die Überschrift lesen können.«
MYP Magazine:
Wir beziehen uns gerade auf deine Kolumne „Lob der Feigheit“ vom 11. März. Sie blickt Richtung Krieg und schaut auf die Nicht-ganz-Freiwilligenarmee der Ukraine. Dazu hast du auf Facebook geschrieben: „Meine neue Kolumne zum Krieg in der Ukraine. Der Titel lobt die Feigheit, aber keine Kolumne hat mich bisher so viel Mut gekostet.“ Ist das Tabu Fahnenflucht so groß? Oder war es die Schwere des Kriegsthemas, das dir als Autorin so viel abverlangt hat?
Salomé Balthus:
Wir leben hier gerade wie in der Fankurve eines Stadions. Alle sollen sich engagieren, mindestens emotional. Da mischt sich Betroffenheit mit Kriegsbegeisterung. Ich will das in der Tiefe gar nicht bewerten, aber den Hinweis setzen: Bei jedem Krieg, zumindest in modernen Demokratien, wurde den beteiligten Menschen von offizieller Seite verkauft, er sei für etwas Gerechtes.
Übrigens haben auch Richard David Precht und der intellektuelle Filmemacher Alexander Kluge eine abweichende Meinung geäußert und wurden wegen Defaitismus gebrandmarkt. Einlenken wird aktuell mit Empörung gekontert. Dieser Zustand hat mich interessiert, aber natürlich empfindet man vor so einer Veröffentlichung auch Anspannung. Ich habe die Redaktion der Berliner Zeitung extra gebeten, den Artikel nicht hinter die Payroll zu legen. Denn ich war ehrlich an den Reaktionen interessiert und wollte, dass die Menschen mehr als nur die Überschrift des Artikels lesen können, um sich ein umfassendes Bild zu machen.
MYP Magazine:
Wie sind die Reaktionen schließlich ausgefallen?
Salomé Balthus:
Zum allerersten Mal in meiner Tätigkeit als Autorin habe ich über 15 Leserbriefe bekommen. Keine kurzen Kommentare, sondern formvolle Auseinandersetzungen mit dem Inhalt. Das hat mich sehr gerührt. Aber natürlich konnte ich in den vielen Kommentaren auch eine Welle der Ablehnung lesen.
Eine spannende Situation ergab sich überdies vor Kurzem in meiner Lieblingslokalität in Mitte, der Bar Freundschaft. Ich traf mich mit einer jungen Frau, die Teil meines feministischen Hurenkollektivs Hetaera werden wollte. Der Bewerbungsprozess war mit diesem Treffen abgeschlossen und ich suchte nach einem Stift, um feierlich die Dokumente zu unterzeichnen. Also wandte mich an einen Tisch mit anderen Gästen, an dem oft Kollegen einer großen deutschen Tageszeitung sitzen. Einer der Männer erkannte mich wohl, gab mir seinen Kugelschreiber und sagte: „Damit Sie wieder schreiben können, dass die Ukraine kapitulieren soll.“
»Ich kenne das Gefühl zu deutlich, wenn jemand etwas von mir will, das meine Grenzen überschreitet.«
MYP Magazine:
Wie hast du darauf reagiert?
Salomé Balthus:
Ich bin sehr empfindlich, wenn mich jemand emotional erpressen oder manipulieren will. Vielleicht – daran dachte ich heute Nacht – liegt das auch an meinem Beruf als Hure. Ich kenne das Gefühl zu deutlich, wenn jemand etwas von mir will, das meine Grenzen überschreitet. Im Sexuellen ist das oft am deutlichsten: Wenn mir einer erklärt, warum wir doch eigentlich kein Kondom benutzen müssen und wie sehr ich ihn damit kränken würde. Oder wenn jemand mit Hundeblick sagt, dass meine Weigerung, sein Sperma zu schlucken, ein Signal der Verachtung in seine Richtung sei. Das ist in der Sexarbeit so herrlich simpel und wunderbar leicht zu bewerten und zu beobachten. Diese Prozesse geschehen auf vielen Ebenen, nur kann man sie in ihrer Komplexität dann oft nicht so leicht entlarven. Und dieses Gefühl im Sinne von „Bleib mir vom Leib, beeinflusse mich nicht mit unlauteren Mitteln“ verspüre ich auch bei der Lektüre vieler Massenmedien und Social-Media-Kampagnen.
»Ich bin viele Jahre mit den Strom geschwommen und wollte nun mal eine Geschichte mit differenzierter Sichtweise erzählen.«
MYP Magazine:
In deinem Text „Ende des Stasi-Stigmas: Meine Erfahrung mit der ostdeutschen Identität im Wandel der vergangen dreißig Jahre“ war zu lesen: „Heute gibt es drei Dinge in Deutschland, die einen Menschen moralisch unmöglich machen, ihn nicht allein den Job kosten, sondern nachhaltig ins gesellschaftliche Aus befördern können: Erstens Pädophilie bzw. Kinderschändung – eine Differenzierung dieser durchaus verschiedenen Phänomene findet oft nicht statt, die große Öffentlichkeit interessiert es nicht. Zweitens, wenn man Nazi war oder Neonazi ist. Und drittens, wenn man bei der Stasi war. Das dritte unterscheidet sich von den ersten beiden insofern, als es sich nur auf die Vergangenheit bezieht und in dieser keine Straftat, ja für manche nicht einmal eine moralische Verfehlung war. Außerdem besteht, anders als bei den ersten beiden, die Möglichkeit, dass man zu dieser Tätigkeit genötigt, gar erpresst wurde. Natürlich hat man immer eine Wahl, aber das sagt sich leicht, so aus der historischen Distanz.“ Welche Resonanzen gab es auf diesen Text?
Salomé Balthus:
Besonders kontrovers waren die Rückmeldungen gar nicht. Ich weiß, dass der Text in der Redaktion recht beliebt war. Und viele Ossis fanden den auch gut. Wessis haben sich darauf gar nicht so richtig gemeldet. Vielleicht auch, weil sie mich nicht als einer Antwort würdig erachtet haben. Als jemand, der mit dem Thema aufgewachsen ist, hat mich lange die Art und Weise gestört, wie verallgemeinernd über Menschen gesprochen wurde, die mal für die Stasi gearbeitet hatten. Ich bin viele Jahre mit den Strom geschwommen und wollte nun mal eine Geschichte mit differenzierter Sichtweise erzählen.
»Es war klar, dass ich mich selbst outen muss, wenn ich diesen Schritt nicht der Bildzeitung überlassen will.«
MYP Magazine:
Du bist die Muse und Geliebte von Künstler Florian Havemann, ihr beide seid auf der Ostseite der Mauer aufgewachsen. Florians Vater war ein bekannter DDR-Regimekritiker, und den Namen deines Vaters Reinhard Lakomy kannte im Osten auch jeder. Er war ein berühmter Komponist und schrieb unzählige Kinderlieder. Sind Florian und du euch auch deshalb nahegekommen, weil ihr beide in einem ähnlichen künstlerisch-kulturellen Milieu sozialisiert wurdet?
Salomé Balthus:
Über das Dilemma, mit dem Flori und ich seit unserer Teenagerzeit umgehen – nämlich das Kind berühmter Eltern zu sein –, wurde unter anderem schon im Cicero einiges geschrieben. Manchmal war diese öffentliche Verhandlung auch schmerzhaft. Wir haben beide unabhängig voneinander Lebenswege gewählt, die bewusst eine andere Richtung einschlagen als die unserer Eltern – um nicht auf peinliche Weise von deren Ruhm zu profitieren und als „Tochter/Sohn von“ durch die Welt zu gehen.
MYP Magazine:
Du hast dich für einen Beruf entschieden, bei dem dir dein berühmter Nachname nichts bringt: Dein Outing fand erst 2018 statt, davor kannten dich deine Kunden nur unter Pseudonym. Warum hast du dich überhaupt dafür entschieden, an die Öffentlichkeit zu gehen?
Salomé Balthus:
Ich tat es, damit Prostitutionsgegner nicht mehr behaupten können, ich sei gar nicht real und es gäbe leidenschaftliche Prostituierte wie mich in Wirklichkeit nicht. Darum habe ich mein Gesicht in der ZEIT gezeigt, die hat eine Millionenauflage. Und weil dieses Gesicht wiederum dank meiner Eltern in der Boulevardpresse bekannt ist – und mein Klarname außerdem im Handelsregister steht –, war klar, dass ich mich selbst outen muss, wenn ich diesen Schritt nicht der Bildzeitung überlassen will.
»Am Ende ist man allein beim Denken. Das ist wichtig für mich.«
MYP Magazine:
Dir wird sicher häufiger die Frage gestellt, ob es für Männer schwierig ist, eine Beziehung mit dir einzugehen, weil du Prostituierte bist. Aber vor dem Hintergrund deiner Autorinnentätigkeit und deiner komplexen Verbindungen zum Kulturgeschehen drängt sich doch eher die Frage auf: Fällt es Menschen schwer, eine Beziehung zu dir aufzubauen, weil du als Künstlerseele wahrgenommen wirst?
Salomé Balthus:
Ich habe wenige Freunde, aber viele Bekannte. Ich hätte nichts dagegen, viele Freunde zu haben – es ist nicht so, dass ich mich abgrenze. Aber als Schülerin war ich einfach nicht so beliebt. Und jetzt haben wir gerade eine Pandemie hinter uns, da verlieren sich auch viele Kontakte. Für mich lässt sich das Gut der Freundschaft aber mit einem Satz zusammenfassen: Freunde sind jene, die einen nicht schonen. Je härter das Feedback ist, desto besser. Menschen, mit denen man sich ausdauernd streitet und die auch nach einer langen Auseinandersetzung noch darauf beharren, dass es eine Bindung gibt. Am Ende ist man aber allein beim Denken. Das ist wichtig für mich.
MYP Magazine:
Muss das so sein?
Salomé Balthus:
Ja, diese wertvolle Zeit hat Priorität. Ich schreibe auch sehr viel in der Einsamkeit. Deshalb habe ich auch so viel Verständnis für Flori. Ich weiß, dass die Arbeit das Allerwichtigste für ihn ist. Und er schenkt mir auch sehr viel Flexibilität in meinen Prioritäten. Deshalb kann ich nur mit einem Mann wie ihm zusammen sein: ein Mann, der nicht von mir verlangt, zu einem Weibchen zu werden.
MYP Magazine:
Also führst du eine offene Beziehung mit einem Mann und seiner Kunst?
Salomé Balthus:
Ja, oder mit seinem Genius oder seiner Ambition. Bei meinen Eltern war das ähnlich: Aufgrund des gegenseitigen Betrügens und der vielen Spannungen, die es in der Ehe gab, hätten sie nicht unbedingt zusammenbleiben müssen. Aber sie konnten über diesen kleinbürgerlichen Konflikten stehen, um weiter gemeinsam Kunst zu machen. Es gab Wichtigeres.
»Die Art von Prostitution, die wir anbieten, lässt sich nie digitalisieren.«
MYP Magazine:
Ich habe als Kulturanthropologin eine Studie zum Thema digitale Sexarbeit erhoben, diese fiel durch Zufall mit dem Beginn der Pandemie zusammen. Über die Monate des ersten Lockdowns hinweg stellte sich heraus, dass nun notgedrungen auch viele analoge Sexarbeiter*innen aus der Escortbranche in das Cam-Geschäft einsteigen mussten. Wie hast du die Corona-Pandemie erlebt und welche Perspektive hast du auf den aktuell stattfindenden Wandel hin zur digitalen Sexarbeit?
Salomé Balthus:
Wir haben zum Beispiel ein Telefonsex-Paket angeboten. Man bezahlt ganz entspannt im Voraus und dann gibt es zwei schöne Stunden, bei denen sich die Hetäre auch selbst befriedigt – denn es herrscht eine gewisse Dürre, wenn man davor an regelmäßigen beruflichen Sex gewöhnt war. (Anm. der Redaktion: Der Begriff Hetäre bezeichnet eine (in der Antike) meist hochgebildete, oft politisch einflussreiche Freundin oder Geliebte bedeutender Männer).
Doch das Telefonieren habe ich nur wenige Male gemacht, obwohl es sehr schön war. Die Nachfrage war einfach nicht so groß. Die Kunden waren zwar zu Hause, der Rest der Familie aber auch. Ansonsten haben mich nette Kunden mit Spenden unterstützt. In unserem Kollektiv ist aber deutlich geworden, dass sich die Art von Prostitution, die wir anbieten, nie digitalisieren lässt. Das sind einfach zwei komplett unterschiedliche Ansätze. Digitale Sexarbeit ist ein Fulltime-Job und etwas völlig anderes als analoge Sexarbeit. Um diese Inhalte zu erstellen, zu kuratieren und zu verbreiten, braucht man extrem viel Zeit und ein wachsendes Set an technischen Fähigkeiten. Meine Arbeit ist viel zwischenmenschlicher. Es geht darum, mit einem Fremden eine besondere Atmosphäre zu erschaffen. Da ist sehr viel Aufregung, sehr viel Abenteuer im Spiel.
MYP Magazine:
Du bist seit über einer Dekade in der Escortbranche tätig und arbeitest dort im absoluten Luxussegment. Beobachtest du dort bestimmte Trends?
Salomé Balthus:
Als ich anfing, hatte ich eher ältere Kunden. Die bleiben gerade etwas aus. Vielleicht hat die Generation zwischen 60 und 80 momentan noch zu viel Angst wegen Corona. Ich merke da eine gewisse Lücke, die verstärkt von jungen Männer geschlossen wird, die zu mir kommen. Teilweise sind sie erst 21, haben zum Beispiel reich geerbt und wollen jetzt Erfahrungen machen. Ich merke, dass es entgegen allen Prophezeiungen für diese jüngeren Männer weniger Probleme mit ihrer Männlichkeit gibt. Im Vergleich zu einigen älteren Kunden fühlen die sich ganz wohl damit, sich nicht als Herren der Welt aufspielen zu müssen. Sie können ihre Gebrochenheit wie auch ihre Stärke gut mit dem Respekt gegenüber Frauen vereinen. Die Männlichkeit stirbt nicht aus, das kann ich bestätigen.
»Wir befinden uns in zwei verschiedenen Lagern, die um ihre jeweiligen Perspektiven kämpfen – und in meinem Fall um die Existenz.«
MYP Magazine:
Du sprichst oft davon, Feinde zu haben. Wer sind deine Feinde? Oder anders gefragt: Warum bist du zur Feindin von Menschen geworden?
Salomé Balthus:
Das sind die Leute, die mit juristischen oder politischen Mitteln meine Lebensweise, also die Prostitution, abschaffen wollen. Das sind die Gruppen, die behaupten, alle Frauen, die das freiwillig machten, würden lügen oder seien krank. Ich habe ihnen öffentlich widersprochen und sie auch ganz offiziell zu meinen Feinden erklärt. Auch wenn wir uns persönlich nichts getan haben, befinden wir uns in zwei verschiedenen Lagern, die um ihre jeweiligen Perspektiven kämpfen – und in meinem Fall um die Existenz. Dazu gehört zum Beispiel Inge Bell, Vize-Chefin der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes, die mich bereits juristisch belangt hat. Oder die SPD-Abgeordnete Leni Breymaier. Wer übrigens mehr über meine Position erfahren möchte, kann mal meine Kolumnen „Unsere Neopuritaner“, „Freier, am freiesten“, „Gesetz als Geißel“ oder „Die Menschenwürde“ lesen. Da gehe ich sehr dezidiert darauf ein, warum die Bestrafung von Freiern eigentlich die Bestrafung von Prostituierten bedeutet. Es ist ein Verbot durch die Hintertür.
»Stell dir vor, man würde die Veröffentlichung, den Verkauf sowie den Konsum des Mediums verbieten, für das du schreibst.«
MYP Magazine:
Wie kann man sich das konkret vorstellen?
Salomé Balthus:
Ein Beispiel für dich: Ersetze doch mal „Sexkauf“ durch „Textkauf“. Der Text ist deine Arbeit, deine Dienstleistung. Du weißt, das ist nicht gerade für jeden was, aber es ist genau dein Ding. Du bist aber auf andere Leute und Institutionen angewiesen, um dein Produkt unter die Leute zu bringen. Diese Leute beuten andere Journalistinnen oft aus, das weißt du, auch wenn es dich nicht betrifft. Aber der Gesetzgeber schafft es nicht, zwischen legaler Textproduktion und kriminellem Textehandel zu differenzieren. Stell dir vor, man würde dir deinen Job als Journalistin zwar nicht verbieten, aber die „ausbeuterischen“ Herausgeber kriminalisieren und die Veröffentlichung, den Verkauf sowie den Konsum des Mediums verbieten, für das Du schreibst. Euer MYP Magazine zum Beispiel dürfte keine Homepage haben, der Host würde sich strafbar machen. Natürlich dürfte es auch keinen Zeitschriftenhandel geben, Kioskbesitzer, Zeitungsverkäufer und sogar Zeitungsausträger würden kriminalisiert.
MYP Magazine:
Dann könnten wir unsere Texte nur noch selbst ausgedruckt unter der Hand an die Leute verkaufen…
Salomé Balthus:
…die dann aber, sollte man sie damit erwischen, bestraft werden. Und du dürftest deine Texte auch nicht in Innenstädten, Kleinstädten oder in der Nähe von Kitas, Schulen oder Kirchen feilbieten. Eigentlich nur in Industriegebieten, im Wald oder im Darknet. Und die Kunden, die trotz Verbot geil sind auf deine Texte, sind dann Leute, die sich nicht abschrecken lassen von der Vorstellung, Straftaten zu begehen. Wenn sie dir den Text einfach klauen, könntest du sie nicht wegen Diebstahl anzeigen, weil der Kauf ja gar kein legales Geschäft ist. Abgesehen davon werden sie dir ihre Namen unter diesen Umständen wohl kaum nennen. Und wenn dann einer von denen nicht nur deinen Text kauft, sondern ihn dir in den Mund stopft, dich angreift, vergewaltigt oder erniedrigt, ist das alles keine andere Straftat als nur „Textkauf“. Außerdem wirst du, da du dein Geld mit Texten verdienst, stigmatisiert: „Wer kauft sowas?“, „Mit welchen Leuten gibst du dich da ab?“, „Die ist ja selbst schuld, wenn dann am Ende…“ Und wenn du es trotzdem schaffst, in dem Job glücklich und erfolgreich zu sein, dann bist du immer noch „Profiteurin der Textindustrie“.
»Ich brauche Alice Schwarzer für meinen Feminismus nicht.«
MYP Magazine:
Auch das Magazin EMMA macht gerne gegen dich Wind. Dabei steht Alice Schwarzer, die Herausgeberin der Zeitschrift, selbst im Zentrum der Kritik vieler junger Feministinnen. Und auch von anderer Stelle musste sie in den letzten Jahren zunehmend Kritik an ihrer Person erfahren. Schmerzt es dich, wenn so eine Lichtgestalt der Frauenbewegung ins Straucheln gerät?
Salomé Balthus:
Da merkt man, dass du einen westdeutschen Hintergrund hast. Für uns in Ostdeutschland war Alice Schwarzer vollkommen irrelevant. Ein Gender-Pay-Gap gab es im Sozialismus nicht. Und ob Frauen einen BH trugen, war ihre persönliche Entscheidung. Meine Großmutter, die Hebamme war, und meine ebenso berufstätige Mutter haben die Frauen im Westen bemitleidet und den Kampf von Alice Schwarzer, die für uns eine Randerscheinung war, höchstens belächelt: Abtreibung war seit den 1970er Jahren im Osten legal, meine Mutter hat offen mit mir über ihre Schwangerschaftsabbrüche gesprochen. Ich brauche Alice Schwarzer für meinen Feminismus nicht. Für mich sind Frauen wie Simone de Beauvoir, Rosa Luxemburg, Fanny Mendelssohn und Alma Mahler viel relevanter.
»Viele sind immer ganz interessiert an den Namen und an den Machtpositionen der Männer, mit denen ich schlafe.«
MYP Magazine:
Als Sexworkerin unterliegt man der Schweigepflicht. Wer nicht diskret ist, verliert seine Kunden. Ärgert es dich manchmal, dass du von deinen Erfahrungen im Detail nicht öffentlich erzählen kannst? Oder genießt du das Geheimnis?
Salomé Balthus:
Es gibt keine Schweigepflicht, nur die Datenschutzgrundverordnung. Und ich finde durchaus Wege, meine Beobachtungen zu teilen. Zudem gibt es zum Beispiel kaum Politiker, die in unserem Milieu unterwegs sind. Weil sie sich als Person öffentlichen Interesses sehen – und vielleicht auch zu Recht zu große Angst haben. Der Chef eines DAX-Unternehmens ist da wesentlich entspannter. Der hat gar nicht die Zeit nachzuschauen, was ich in meiner Kolumne so schreibe. Viele Interviewer sind zudem immer ganz interessiert an den Namen und an den Machtpositionen der Männer, mit denen ich schlafe. Aber… Achtung, Provokation! Ob ich jetzt mit dem Chef von Einhorn-Kondome oder einem Waffenhändler schlafe, ist für mein Gewerbe am Ende egal. Schließlich sind es auch nur menschengroße, hautwarme Dildos, die via Blutkreislauf betrieben werden.
MYP Magazine:
Im Rahmen einer Fotostrecke von Künstler Uwe Haut hast du dich in Venedig fotografieren lassen. Eine Stadt, die man mit Casanova und Gondolieren, mit Thomas Mann und Maskenbällen verbindet. Wofür steht Venedig für dich?
Salomé Balthus:
Venedig ist für mich vor allem die Stadt von Veronica Franco. Während der italienischen Renaissance war sie eine der bekanntesten Kurtisanen ihrer Zeit, die sich als Kunstmäzenin in gebildeten Kreisen der Gesellschaft bewegte. Auf eine Art steht Venedig für mich über der Welt, weil die Schönheit der Stadt so zeitlos ist – obwohl sie ständig im Meer zu versinken droht. Ewig und zerbrechlich zugleich. Ein Wunsch, den ich immer in Bezug auf Venedig hatte, war es, einmal im Luxushotel Danieli zu übernachten. Dort sind auch viele der Bilder entstanden.
MYP Magazine:
Beenden wir unser Gespräch mit der sinnlichen Frage nach guter Lebensführung: Was bedeutet sie für dich?
Salomé Balthus:
Viel Schlaf. Die Möglichkeit zu haben, zehn Stunden zu schlafen, wenn man will. Und die innere Freiheit, abweichende Positionen zu vertreten – dazu gehört natürlich nicht nur die innere, sondern auch die äußere Freiheit.
#salomebalthus #hannalakomy #mypmagazine
Mehr von und über Salomé Balthus:
Interview & Text: Katharina Viktoria Weiß
Fotografie: Uwe Hauth
Paula Hartmann
Interview — Paula Hartmann
»Ich lasse auch schwierigen Emotionen ihren Raum«
Mit ihrem Debütalbum »Nie verliebt« hat Musikerin und Schauspielerin Paula Hartmann gerade eine Platte veröffentlicht, die vor allem wegen ihrer klugen und feinsinnigen Texte im Gedächtnis bleibt. Doch auch musikalisch fühlt man sich gut aufgehoben, denn der Sound ist erfrischend klar, reduziert und präzise – und ein bisschen melancholisch. Ein Gespräch über emotionale Offenheit, den Reiz des Alleinseins und einen Horrordreh im strömenden Regen.
15. April 2022 — Interview: Paul Sundheim, Fotografie: Steven Luedtke
Es gibt Tage, da hat man von allem die Nase voll. Der Himmel ist grau, die Stimmung auch, und alles im Leben ist irgendwie nur lästig. Jackpot. Für solche Tage gibt es die Wohnzimmer Bar im Prenzlauer Berg: ein Ort wie eine Kuscheldecke, in die man sich tief verkriecht, wenn man sich der Welt da draußen mal wieder entziehen will.
Seit vielen Jahren schon gilt die beliebte Bar am Helmholtzplatz als verlässlicher Partner in Sachen Alltagseskapismus. Das liegt vor allem an der ungewöhnlichen Einrichtung. Hier hatte nicht Tine Wittler ihren Einsatz in vier Wänden, sondern eher das Seniorenwerk Berlin: Überall stehen schwere Polstermöbel, antike Tischchen und schrullige Hocker. Die Tapeten sehen aus wie in Opas Partykeller. Und die vielen Leuchter und Lämpchen hüllen die gesamte Bar in ein wohlig-schummriges Licht. Ne, wat schön!
Wer an einem jener stimmungsgrauen Tage den Weg in den Prenzlauer Berg scheut oder sich erst gar nicht aus dem Bett bewegen will, dem sei „Nie verliebt“ ans Herz gelegt. Das Debütalbum von Musikerin und Schauspielerin Paula Hartmann versprüht genau das richtige Maß an Melancholie: Einerseits ist es in der Lage, einem mit seinen dunklen Beats und nachdenklichen Texten die Seele zu streicheln. Andererseits ist der Sound so präzise, zeitgeistig und nachdrücklich, dass man sich dann doch mal aus dem Bett bequemt. Und sich mit der Welt da draußen irgendwie versöhnt.
Kurz vor der Veröffentlichung von „Nie verliebt“ am 8. April haben wir die 21-jährige Berlinerin in der Wohnzimmer Bar zum Interview getroffen.
»Ich möchte mich nicht irgendwelchen Inhalten verschreiben, denen ich dann gerecht werden muss.«
MYP Magazine:
Du giltst in der deutschen Hip-Hop-Szene als etablierte Künstlerin und erhältst Props von Rappern wie Haftbefehl, Casper oder Disarstar. Gleichzeitig bilden Deine Texte ein Gegengewicht zum teilweise toxisch-maskulinen Hip-Hop-Wortschatz vieler Deiner Kollegen. Beispiele hierfür sind Zeilen wie „zum Glück nichts im Getränk, für drei Minuten flenn“ aus dem Song „Truman Show Boot“ oder „Nachts alleine U-Bahn fahren, der dritte Typ versucht es mal / Dinge, die nur Mädchen kennen, Heimweg, immer letzte Meter rennen“ aus dem Track „Kein Bock“. Warum ist es Dir so ein Bedürfnis, diese Dinge zu thematisieren?
Paula:
Diese weibliche Perspektive ist nichts, worauf ich meinen Fokus gelegt habe. Oder anders gesagt: Es ist kein Ziel von mir, feministische Zeilen zu texten. Ich möchte mich nicht irgendwelchen Inhalten verschreiben, denen ich dann gerecht werden muss. Ich will einfach nur Geschichten erzählen, die von meinem Leben und meiner Realität inspiriert sind. Und da kommt es natürlich immer wieder zu solchen Zeilen. Es wäre doch komisch, wenn ich den Leuten in meiner Musik von meinen drei G-Klassen oder so erzählen würde. Das ist nicht meine Realität, dazu habe ich keinen persönlichen Bezug.
MYP Magazine:
Ist es nicht trotzdem interessant, dass Deine Texte so einen Anklang finden, insbesondere in der Hip-Hop-Welt?
Paula:
Klar! Es ist spannend zu sehen, wer alles meine Musik teilt. Aber auch überraschend. Denn für mich persönlich sind weder die von Dir zitierten Zeilen aus „Truman Show Boot“ noch die aus „Kein Bock“ die tragenden Textstellen des jeweiligen Songs. Da sind mir andere Lyrics deutlich näher.
»Es gibt einen Punkt, ab dem ich Geschichten erzählen möchte, die über meine eigene Autobiografie hinausgehen.«
MYP Magazine:
Bleiben wir bei „Truman Show Boot“. In diesem Song geht es um eine toxische Beziehung – und darum, dass eine Person die andere innerlich zerstört. Inwiefern bedienst Du dich bei solchen Themen im Regal der eigenen Erfahrungen und Erlebnisse?
Paula:
Die Emotionen, die meinen Songs zugrunde liegen, stammen tatsächlich oft aus eigenen Erfahrungen. Aber es gibt auch einen kreativen Punkt, ab dem ich Geschichten erzählen möchte, die weit über meine eigene Autobiografie hinausgehen. Ab diesem Punkt möchte ich einfach meine Fantasie weiterspielen lassen.
MYP Magazine:
Wofür steht in dem Song die Zeile „Doch mein Truman Show Boot fährt im Sonnenuntergang / Gegen eine Wand“?
Paula:
Für einen Realitätscheck. Und das Zweifeln an eben dieser Realität. Mir hat erst gestern noch jemand geschrieben, dass sich für ihn alles so anfühle, als wäre man in einer Simulation gefangen. Und dass diese Vorstellung echt lustig wäre, wenn alles gerade nicht so traurig wäre. Manchmal hat man so einen Moment, in dem man denkt: Alles ist anders, als ich es dachte, und wirkt im eigenen Kopf völlig überzeichnet. Ich finde, dieses Momentum bringt dieser Satz auf dem Punkt.
MYP Magazine:
Die zentrale Figur des Films „Die Truman Show“ ist der Versicherungsangestellte Truman Burbank, der, gespielt von Jim Carrey, der Hauptdarsteller einer beliebten Fernsehserie ist, ohne selbst davon zu wissen. Geht es Dir manchmal auch so wie ihm? Dass Du in einer Situation denkst, das kann doch kein Zufall sein?
Paula:
Nein, ich habe wirklich überhaupt keine Angst, dass sich die ganze Welt um mich dreht. Vielleicht spielen die anderen Menschen um mich herum auch einfach so gut, dass ich es nicht merke. Aber im Ernst: Ich glaube, dass bestimmte Zufälle einfach passieren, weil es so sein soll.
»Ich wusste nicht mehr, was man so macht, wenn man allein ist.«
MYP Magazine:
Deine Songs wirken wie ein Spiegelbild der Gefühlswelt junger Menschen. Welche dieser Themen spielen in Deinem persönlichen Leben eine Rolle?
Paula:
Jeder meiner Songs stammt aus einer ganz eigenen Konfliktschublade – wobei er sich nicht immer auch um einen konkreten Konflikt dreht. Daher weiß ich nicht, ob ich die Frage wirklich beantworten kann. Ganz allgemein würde ich aber sagen, dass sich das Thema des Alleinseins als roter Faden durch meine Songs zieht.
MYP Magazine:
Bist du gerne allein?
Paula:
Ich fühle mich manchmal allein, aber ich bin nicht einsam. In den letzten drei Jahren habe ich nur gearbeitet. Und wenn ich mal Zeit hatte, habe ich versucht, andere Leute zu sehen. Im Januar gab es mal ein paar Abende, an denen ich allein zuhause war. Einer dieser Abende war der 6. Januar, daran erinnere ich mich noch genau: Ich war allein in meiner Wohnung in Hamburg und wusste nicht mehr, was man so macht, wenn man allein ist. Schaue ich einen Film? Koche ich mir was? Packe ich meinen Koffer? Ich war richtig überfordert mit der Situation. Aber nach drei Tagen fand ich‘s richtig toll, ich wollte nur noch allein sein. Mittlerweile weiß ich, dass ich es genauso liebe, allein zu sein wie unter Menschen. Wahrscheinlich bin ich einfach hypersozial. Deshalb komme ich selten in die Situation, Zeit allein zu verbringen.
»Mit schwierigen Emotionen offen umzugehen ist ein schöneres Ventil, als die Verdrängung zu wählen.«
MYP Magazine:
Deine Songs klingen stellenweise recht depressiv. In „Fahr uns nach Hause“ etwa singst Du: „Zieh uns ne Plastiktüte übern Kopf und geh dann mit mir unter“. Was möchtest Du damit verarbeiten?
Paula:
Ich höre tatsächlich oft von Freunden, dass ihre Eltern fragen, ob ich ein trauriger Mensch sei – oder ob ich mal mit jemandem reden wolle. (lacht) Aber ich kann ihnen und allen anderen die Angst nehmen, im Grunde bin ich eine sehr zufriedene und glückliche Person. Dennoch lasse ich in meinem Leben auch schwierigen Emotionen ihren Raum. Damit offen umzugehen ist ein schöneres Ventil, als die Verdrängung zu wählen. Irgendwann kommt ohnehin alles wieder ungewollt hoch.
MYP Magazine:
Das Cover Deines neuen Albums ist im Stil einer Retro-Kinderkassette gestaltet. Was ist die Idee dahinter?
Paula:
Ich habe mir letztes Jahr ein Tape Deck gekauft und angefangen, darauf Kassetten zu spielen. Dadurch habe ich dieses Medium für mich wiederentdeckt – und musste aufs Neue lernen, wie so ein Gerät überhaupt funktioniert. Ich habe sogar ein altes Band gefunden, auf das ich als Kind gesprochen habe. In dem Alter wusste ich noch ganz intuitiv, wie ich mir meine Märchen- oder Gute-Nacht-Geschichten anmachen kann… Naja, so ist auf jeden Fall die Idee mit dem Märchenbezug entstanden.
»Ich erzähle sehr gerne gute Geschichten.«
MYP Magazine:
Du bist nicht nur Musikerin, sondern auch Schauspielerin. Wie lassen sich für Dich beide Berufe miteinander vereinen?
Paula:
Die lassen sich sehr gut vereinen – weil Schauspielerei und Musik für mich zwei vollkommen unterschiedliche Welten sind. Dennoch haben beide Berufe gemeinsam, dass man mit ihnen Emotionen professionell aufbereiten und gute Geschichten erzählen kann. Ich persönlich erzähle sehr gerne gute Geschichten.
MYP Magazine:
Hast Du manchmal das Gefühl, dass eine der beiden Passionen zu kurz kommt?
Paula:
Nein, ganz im Gegenteil. Ich habe in den letzten zwei Jahren nicht nur wahnsinnig viel Musik gemacht, sondern auch mehr gedreht als je zuvor.
»Ständig hielten Autos an, weil die Leute dachten, ich hätte einen Unfall gehabt.«
MYP Magazine:
Apropos Schauspielerei: Wieso liegst du in deinen Musikvideos so oft auf dem Boden?
Paula: (lacht)
Tue ich das?!
MYP Magazine:
Ja, zum Beispiel im Video zum Song „Fahr uns nach Hause“.
Paula:
Stimmt. Diese Szenen waren übrigens der absolute Horror – weil uns nach Drehschluss auffiel, dass bei den Aufnahmen etwas mit dem Licht nicht stimmte. Und das eine Woche vor Veröffentlichung! Also haben wir uns spontan entschieden, die entsprechenden Szenen nachzudrehen. Dummerweise hat es an diesem Tag nur geschüttet. Ich hatte schon acht Hosen übereinander an und es war immer noch irre kalt. Und da ich im strömenden Regen auf dem nassen Boden lag, hielten ständig Autos an, weil die Leute dachten, ich hätte einen Unfall gehabt. Das Licht der Scheinwerfer hat permanent die Aufnahme gestört, daher mussten wir alles ewig wiederholen. Am Ende war ich echt fertig mit den Nerven und bin mit Tränen in den Augen zum nächsten Termin gefahren. Da stand ich dann auch noch mal bis 23 Uhr in der Kälte.
»Natürlich gibt es immer wieder Momente, in denen man sich außerhalb der eigenen Komfortzone begibt.«
MYP Magazine:
Ist in Deinem Leben eigentlich Lampenfieber ein Thema? Bist Du nervös vor einem Live-Auftritt oder Dreh?
Paula:
Wenn ich wüsste, dass ich bis an mein Lebensende immer so nervös sein würde wie vor meinem letzten Auftritt, würde ich aufhören, live zu spielen. Bei der Schauspielerei ist das das absolute Gegenteil. Null vergleichbar. Ich hatte vor einer Szene noch nie das Gefühl, ich müsse jetzt sofort nach Hause. Aber natürlich gibt es immer wieder Momente, in denen man etwas Stressiges spielt oder sich in einer Szene außerhalb der eigenen Komfortzone begibt. Aber da empfinde ich in Sachen Nervosität vielleicht ein Hundertstel von dem, was ich vor meinen Live-Auftritte fühle. Dafür sind aber auch die Emotionen nach einer Show immer ganz besondere: Ich stolpere von der Bühne und will sofort alles noch mal neu machen.
MYP Magazine:
Junge Menschen wie wir werden gerne gefragt, wo sie sich in fünf Jahren sehen. Hast Du einen Wunsch für die Zukunft?
Paula:
Ich will einfach weiterhin das machen, worauf ich Lust habe. Und ich würde mir wünschen, dass ich mich in fünf Jahren meiner selbst so sicher fühle, dass ich nur noch Schritte gehe, weil ich sie wirklich gehen will.
#paulahartmann #nieverliebt #mypmagazine
Mehr von und über Paula Hartmann:
Interview: Paul Sundheim
Fotografie: Steven Lüdtke
Assistenz: Julian Noah Probst
Lektorat: Jonas Meyer & Katharina Viktoria Weiß
Ann Sidorenko
Reportage — Ann Sidorenko
»Manchmal möchte ich vor Machtlosigkeit schreien«
Ann Sidorenko harrte mit ihrer Mutter zwei Wochen lang in der südukrainischen Stadt Mykolajiw aus, dann flohen die beiden vor den russischen Bomben nach Berlin. Im persönlichen Gespräch berichtet die 21-jährige Studentin von den traumatischen Erlebnissen der letzten Wochen – und von der großen Hoffnung, die alle eint, die aus der Ukraine geflohen sind: möglichst bald wieder in ihre Heimat zurückzukehren.
5. April 2022 — Text: Katharina Viktoria Weiß, Fotografie: Steven Lüdtke
»Ich bin froh, dass ihr nicht wisst, wie es ist, in einem Keller zu schlafen.«
„Ich wünsche euch Deutschen, dass sich jeder von euch daran erfreuen kann, dass ihr in einem Land lebt, in dem es keinen Krieg gibt. Ich bin froh, dass eure Kinder den Krieg nicht gesehen haben. Ich bin froh, dass ihr nicht wisst, wie es ist, in einem Keller zu schlafen. Ich bin froh, dass ihr nicht wisst, wie es ist, eine Sirene zu hören und in den Keller zu rennen, um dort zu sitzen und zu beten.“
Die 21-jährige Studentin Ann Sidorenko ist immer noch traumatisiert. Gut zwei Wochen hatte die junge Frau in der Stadt Mykolajiw im Süden der Ukraine ausgeharrt, obwohl diese von schweren Luftangriffen erschüttert und die Versorgungslage immer dramatischer wurde. Der russische Angriffskrieg sprengte alles auseinander, was Anns Leben bis dahin ausgemacht hatte: das Wirtschaftsstudium in Kiew, die Stadtspaziergänge mit ihrem Freund Sergej, die Perlensticker-Nachmittage, die Abende im nahegelegenen Fitnessstudio oder in der Karaoke-Bar.
»Wir waren davon überzeugt, dass sich das Ganze höchstens ein paar Tage hinziehen würde.«
Ann erzählt, wie sie am frühen Morgen des 24. Februar von der Attacke auf ihr Land erfuhr: „Ich wachte vom Geräusch der Flugzeuge auf, die über unser Haus flogen. Es war so ohrenbetäubend, dass ich nicht mehr einschlafen konnte. Ich griff nach meinem Handy und sah die vielen Nachrichten meiner Freunde, die alle nur eines sagten: Kyiv bombed.“
In diesem Moment habe es ihr den Boden unter den Füßen weggezogen, berichtet sie. „Ich wusste nicht, was ich tun sollte, und war schrecklich verwirrt. Meine Mutter machte sich gerade für die Arbeit fertig, als ich ihr erzählt habe, dass die Ukraine bombardiert wird. Genau wie ich hatte sie nicht sofort verstanden, was los war. Zuerst waren wir davon überzeugt, dass sich das Ganze höchstens ein paar Tage hinziehen würde und dann alles wieder normal würde.“
»Das Flugzeug flog so tief, dass die Sirene nicht funktionierte.«
Ann und ihre Mutter Hanna beschlossen, vorsorglich Lebensmittel für ein bis zwei Wochen zu besorgen. „Wir wollten vorbereitet sein, falls die Versorgung mit dem Nötigsten zusammenbricht“, erzählt sie. Als am Freitag, den 25. Februar, auch die ersten Luftangriffe auf Mykolajiw begannen, wollten die beiden Frauen ihre Heimatstadt erst mal nicht verlassen und entschieden, in ihrer Wohnung zu bleiben. Doch als am 15. März morgens um acht ein Flugzeug direkt über ihr Haus donnerte und ein paar Sekunden später eine starke Explosion zu hören war, änderte sich die Situation schlagartig: „Das Flugzeug flog so tief, dass die Sirene nicht funktionierte. Sie schlägt nur ab einer bestimmten Höhe Alarm“, sagt Ann. „In diesem Moment wurde uns klar, dass wir jederzeit angegriffen werden können – ohne die Zeit zu haben, schnell aus dem Haus zu fliehen.“
Die Studentin erklärt, dass man in der Not schnell herausfinde, welche Informationen man brauche: „Wir mussten feststellen, dass es in der Nähe unseres Hauses keinen Luftschutzbunker gab. Der nächste Keller, den man als Unterschlupf nutzen konnte, lag 500 Meter entfernt. Da sind wir hingerannt. Auf einmal gab es keinen Alltag mehr.“
»In dem Brief stand, welche Bäckerei hier leckere Brötchen backt.«
In den folgenden Stunden recherchierte Ann, wie sie sich und ihre Mutter aus der Kriegssituation befreien könnte. Auf einer Vermittlungsplattform für Unterkünfte fand sie die Anzeige von Samuel und seiner Frau Debora. Das Paar lebt aktuell in der Schweiz, verfügt aber auch über eine Wohnung in Berlin-Friedenau. Diese stellten sie den beiden ukrainischen Frauen gerne zur Verfügung. „Samuel und Debora sind wunderbare Menschen, die uns bei unserer Ankunft einen Brief hinterlassen haben“, sagt Ann. „Darin stand, wo man hier man am besten einkaufen kann oder welche Bäckerei leckere Brötchen backt.“
Auch wenn sie sich in Deutschland sicher fühle und etwas ruhiger geworden sei, habe sie immer noch Angst, sagt Ann: „Das Grauen ist nicht ganz verschwunden. Es schmerzt mich jedes Mal, die Nachrichten zu sehen. Es bricht mir das Herz, dass Stand jetzt fast zweihundert Kinder ermordet wurden. Es tut mir weh zu erkennen, dass mein Land zerstört ist.“
»Das Leben einer jeden Ukrainerin und eines jeden Ukrainers hat sich durch den russischen Angriff für immer verändert.«
Ann schweigt für einen Moment, dann schiebt sie hinterher: „Das Leben einer jeden Ukrainerin und eines jeden Ukrainers hat sich durch den russischen Angriff für immer verändert. Aber das Leben geht weiter. Bevor ich in Deutschland ankam, musste ich jeden Tag weinen. Ich hatte Angst, dass ich oder meine Lieben jeden Moment sterben könnten. Ich hatte Angst, dass ich meinen Freund niemals wiedersehen würde, genauso wenig wie meine Freundinnen und Kommilitonen.“ Doch gerade bleibe ihr nichts anderes übrig, als einfach abzuwarten und daran zu glauben, dass der Krieg schnell enden werde. Sie glaube an einen Sieg der Ukraine, an Wolodymyr Selenskyj und an Vitali Kim, den Gouverneur des Gebiets von Mykolajiw.
Mit ihrer Flucht hat Ann nicht nur ihre Heimat hinter sich gelassen, sondern auch ihren Vater, der getrennt von ihrer Mutter lebt. Außerdem die 75-jährige Großmutter, die ihr Land nicht verlassen will. Dazu ihren Freund Sergej, der sie am Telefon immer zum Lachen bringe, wie sie sagt. Und der sich nicht erlaube, vor ihr irgendeine Form von Angst oder Verunsicherung zu zeigen. Darüber hinaus ihre vielen Freundinnen und Bekannte.
»Mit jedem Tag, den dieser Krieg andauert, entfernen wir uns weiter voneinander.«
„Die Hälfte von ihnen ist in der Ukraine geblieben – zum Glück leben alle noch. Die andere Hälfte ist mittlerweile über ganz Europa verteilt, in Polen oder Italien. Von ihnen bin ich die einzige hier in Berlin. Mit jedem Tag, den dieser Krieg andauert, entfernen wir uns weiter voneinander. Deshalb spreche ich mit Journalistinnen und Journalisten: um zu erklären, wie sich mein Leben verändert hat und wie sich meine Generation fühlt. Ich hoffe, wir werden gehört.“
Kurz nachdem Ann in Berlin ankam, postete sie ein Bild von sich vor dem Brandenburger Tor. Darunter notierte sie: „Manchmal möchte ich vor Machtlosigkeit weinen und schreien. Während der Reise von der Ukraine nach Deutschland habe ich viele Geschichten gehört, aber ich möchte euch von einem Gespräch im Zug mit einer Familie aus Kharkov erzählen.“ Und dann berichtet sie von Menschen, deren Heimatstadt von den Russen in Schutt und Asche gelegt wurde. Von Krankheit, Furcht und Ungewissheit. Und von der Hoffnung, die alle Ukrainerinnen und Ukrainer in diesen Zeiten eint: bald wieder nach Hause zurückkehren zu können, zurück in ihr altes Leben.
Hinweis:
Über die Erlebnisse von Ann Sidorenko und ihrer Mutter Hanna berichtet unsere Chefredakteurin Katharina Weiß auch in einem Artikel auf t-online.
Interview & Text: Katharina Viktoria Weiß
Fotografie: Steven Lüdtke
Josef Hader
Interview — Josef Hader
»Bei alten weißen Männern gibt’s oft kein Happy End«
Ein alter weißer Mann, der im Suff das Leben und die Welt bejammert: Mit »Hader On Ice« ist der österreichische Kabarettist Josef Hader seit Anfang des Jahres wieder mit einem eigenen Bühnenprogramm unterwegs. Im Interview erklärt er, warum ihn graue Herren nerven, was Jörg Haider posthum im Teleshop zu suchen hat und wieso Europa ein Konstrukt ist, zu dem man keine rein enthusiastische Beziehung haben kann.
26. März 2022 — Interview: Jonas Meyer, Fotografie: Maximilian König
Ein bisschen Alkohol, sagt man, lockert die Zunge. Die Gedanken fließen, die Stimmung steigt, und man kann endlich sagen, was man schon immer sagen wollte. Die Konsequenzen: völlig egal. Jetzt red‘ ich! Und nach mir die Sintflut. Doch kaum setzt die Ernüchterung ein, wird vielen klar: Si tacuisses – wenn du doch geschwiegen hättest.
Den älteren Herrn, den der österreichische Kabarettist Josef Hader in seinem neuen Programm „Hader On Ice“ spielt, wird diese Erkenntnis so schnell nicht ereilen. Haders Protagonist, der mit weit aufgeknöpftem Hemd und gelb getönter Brille seiner Jugend nachzutrauern scheint, beginnt die Show bereits beschwipst, geht noch angeheiterter in die Pause und beendet den Abend mit ordentlich Promille im Blut. Der beste und wahrscheinlich einzige Freund an seiner Seite ist dabei ein edler Rum, nachhaltig erzeugt und mit dem Segelboot nach Europa verschifft. Man muss sich ja was gönnen.
Der Herr, so merkt man schnell, hat Redebedarf. Und zwar großen. Mit seinen Ausführungen, die der zwei Stunden lang über das Publikum ergießt, streift er inhaltlich so ziemlich alles, an dem man sich heutzutage stoßen kann – zumindest, wenn man als „alter weißer Mann“, wie Josef Hader gerne sagt, die Welt betrachtet. Und einfach ignoriert, was man nicht begreifen will.
Damit ist diese Figur so ziemlich das Gegenteil ihres Erschaffers. Hader, Jahrgang 1962, beobachtet seit vielen Jahrzehnten akribisch die Gesellschaft und genießt es, deren Eigenarten, Skurrilitäten und Schrulligkeiten zu sezieren – mal als Schauspieler, mal als Regisseur, mal als Kabarettist. Mit „Hader On Ice“ hat er nach etlichen Jahren wieder ein eigenes Bühnenprogramm aufgelegt, mit dem er aktuell auf Tour ist – und das ihm prompt den Deutschen und Österreichischen Kabarettpreis 2022 eingebracht hat.
Am Morgen nach seinem Auftritt im Berliner „Babylon“ und wenige Tage vor seinem 60. Geburtstag haben wir ihn zum Gespräch getroffen.
»Jemand wie Strache inspiriert mich nicht.«
MYP Magazine:
Herr Hader, wir haben gestern Abend in Ihrer Show ein neues Wort gelernt: Reparaturseidl. Klären Sie uns auf, was ist das?
Josef Hader:
In Österreich meint man mit Seidl ein kleines Bier, etwa 0,3 Liter. Und ein Reparaturseidl ist ein Bier, das man an einem verkaterten Morgen zu sich nimmt. In Deutschland würde man Konterbier sagen.
MYP Magazine:
Seit 2019 kennen wir noch eine weitere österreichische Redewendung: „a besoffene G’schicht“. Mit diesen Worten hatte Hans-Christian Strache versucht, seine Ausfälle im legendären Ibiza-Video zu entschuldigen. Hat Sie das zu Ihrem neuen Programm inspiriert?
Josef Hader:
Nein, jemand wie Strache inspiriert mich nicht. Ich habe mit dem Schreiben des Programms begonnen, als gerade die Ära Trump auf dem Höhepunkt war. Ich hatte das Gefühl, dass man gegen so jemanden mit moralischem Kabarett nichts ausrichten kann, daher habe ich so eine Person wie Trump einfach auf die Bühne gestellt – aber als mich selbst: als einen Josef Hader, der offenbar eine schlimme Entwicklung genommen hat.
Eine andere Inspiration war Dean Martin. Der war auch ein alter weißer Mann, aber ziemlich charmant dabei. Und das wollte ich natürlich auch sein, sonst rennen mir ja die Leute aus der Vorstellung. Dean Martin war einer der letzten, die auf der Bühne das gute alte Stilmittel des drunken act eingesetzt haben. Dabei geht es darum, dem Publikum eine leichte Betrunkenheit vorzutäuschen und damit den Spielraum zu erweitern: Man kann Dinge sagen, die sich sonst eher verbieten würden.
»Einem Betrunkenen verzeiht man bestimmte Grenzverletzungen.«
MYP Magazine:
Sie spielen einen beschwipsten Herrn Ende 50. Glaubt man einem alten Sprichwort, sagen Kinder und Betrunkene immer die Wahrheit.
Josef Hader:
Vielleicht kann man die bittere Wahrheit tatsächlich leichter nehmen, wenn sie von einem Kind oder einem Betrunkenen ausgesprochen wird. Zumindest wird in beiden Fällen das Gesagte eher toleriert. Das ist auch der Gedanke hinter dem drunken act. Entstanden ist diese Form der Comedy um 1900 in den USA, inmitten einer äußerst regressiven Gesellschaft, in der man auf der Bühne noch bis in die 1950er Jahre nicht alles sagen konnte, was man sagen wollte. Wichtig beim drunken act ist, nie wirklich betrunken zu sein, weil man die Leichtigkeit beherrschen muss. Dean Martin war da ein Großmeister. Leider hat es später mit ihm ein schlimmes Ende genommen, durch Rauchen und Trinken – wie bei vielen alten weißen Männern.
»Alkohol ist kein guter Freund, wenn es einem richtig schlecht geht.«
MYP Magazine:
Ihr Protagonist versteht die Welt und unsere Zeit nicht mehr. Also greift er zur Flasche. Sind manche Zustände nur noch im Suff zu ertragen? Man denke nur an die DDR, die in den Jahren vor dem Mauerfall den höchsten Spirituosenverbrauch der Welt hatte.
Josef Hader:
Hm, ich trinke jetzt erst mal einen Kaffee. Das ist eine so schwierige Frage, da muss ich mir kurz eine Auszeit nehmen.
Josef Hader lacht, steht auf und bedient sich an der Kaffeemaschine. Dann kommt er zurück.
Ich denke, dass Alkohol kein guter Freund ist, wenn es einem richtig schlecht geht. Aber für alle Zustände der Wehleidigkeit und des Jammerns auf hohem Niveau ist er durchaus ein guter Begleiter. Ich meine damit Momente, in denen das Leid nicht existenziell ist und man sozusagen genussvoll leidet. Folgt man dieser Logik, war es damals in der DDR gar nicht so schlimm. Manche dort behaupten ja, es wäre heute schlimmer. (grinst)
MYP Magazine:
Ihre Bühnenfigur hat auch mit der jungen Generation so ihre Probleme. Aus Studien der letzten Jahre wissen wir, dass Jugendliche immer weniger Alkohol konsumieren. Ist das vielleicht der wahre Grund, warum sich Jung und Alt nicht mehr verstehen – weil sie nicht mehr auf dieselben Rauschmittel zurückgreifen?
Josef Hader:
Jung und Alt haben sich noch nie verstanden, das wäre auch ein geradezu seltsamer und absurder Zustand. Die Jungen versuchen immer, sich von den Älteren abzuheben. Das heißt für unsere Zeit: Wenn die letzte Generation so eine richtige Säufergeneration war, bleibt für die Jungen als einzige Distanzierungsmethode, wesentlich weniger zu trinken.
»Das Testosteron lässt nach und die Angst nimmt zu.«
MYP Magazine:
Im Film „Nevrland“ aus dem Jahr 2019 spielen Sie den Vater eines unter Angststörungen leidenden Teenagers. Der Vater ist absolut unfähig, eine gewisse Empathie für die Gefühlslage seines Sohnes zu entwickeln. Sehen Sie dieses Problem auch in der Realität? Gibt es ein emotionales Gap zwischen den Generationen?
Josef Hader:
Ja, aber auch das war schon immer so. Jede Generation versucht doch, nicht die Fehler zu wiederholen, die sie von der vorangegangenen erlitten hat. Aber dafür macht sie wieder eigene Fehler. Kinder, die nicht in der Lage sind, sich irgendwann mal von ihren Eltern zu distanzieren, werden keine glücklichen Menschen. Die alte Generation muss das aushalten und soll nicht so rumjammern.
Überhaupt dieses Rumjammern! Etwa darüber, dass man nicht mehr Zigeunersauce sagen darf. Das ist so seltsam und weltfremd. Gerade als älterer Mensch – ich selbst werde bald 60 – hat man doch einen gewissen Überblick und weiß, dass sich Sprache ständig ändert und das etwas völlig Natürliches ist. Man weiß doch, dass man selbst damals Dinge anders gesagt hat als die Elterngeneration und die das scheiße fand.
Ich frage mich immer, warum dieselben Leute, die auch mal jung waren und gewusst haben, wie alte Leute ticken, heute wollen, dass die Welt so bleibt, wie sie ist. Warum sie dieses wertvolle Wissen aus der Jugend nicht konserviert haben, um es jetzt im Alter nutzbar zu machen und zu sagen: So ein Trottel möcht‘ ich nicht werden. Es passiert leider nicht. Vielleicht hat das hormonelle Gründe. Das Testosteron lässt nach und die Angst nimmt zu – vor der Welt und vor der Zukunft. Das ist eh eine interessante Sache: dass die Leute, die am wenigsten Zukunft haben, nämlich die Alten, am meisten Angst vor ihr haben. Das ist in meinen Augen nur mit Testosteronmangel erklärbar.
»Jeder, der einen Beruf ergreift, in dem er allein auf der Bühne steht, hat einen kleinen Sozialdefekt.«
MYP Magazine:
In Ihrem Film „Wilde Maus“, in dem Sie die Rolle des arbeitslosen Musikkritikers Georg spielen, gibt es eine Szene, in der Sie zuhause auf der Couch sitzen und sagen: „Seit ich auf der Welt bin, sind andere Menschen für mich wie Außerirdische. Ich weiß nicht, wie sie funktionieren. Ich fühle mich wie eine Insel, wo rundherum Wasser ist, und keiner kann mir helfen.“ Wieviel Ihrer eigenen Persönlichkeit steckt in Georgs Worten?
Josef Hader:
Generell hat jeder, der einen Beruf ergreift, in dem er allein auf der Bühne steht und mit dem Publikum redet, einen kleinen Sozialdefekt, gepaart mit ordentlich Narzissmus. Da bin ich keine Ausnahme.
MYP Magazine:
Haben Sie eine Vermutung, wie es bei Ihnen zu diesem Sozialdefekt kam?
Josef Hader:
Ich bin als Kind auf dem Bauernhof meiner Großeltern aufgewachsen. In der Nachbarschaft gab es keine anderen Kinder. Und so etwas wie einen Kindergarten hatte man damals auch noch nicht. Ich hatte also bis zu meinem sechsten Lebensjahr kaum Kontakt zu Gleichaltrigen – bis dann der Schock der Grundschule über mich hereinbrach. In den ersten Jahren dort hatte ich tatsächlich das Gefühl, um mich herum seien lauter Außerirdische.
»Ich mag Städte, in denen das Fortschrittstempo nicht ganz so hoch ist.«
MYP Magazine:
Sie haben Ihre Heimatstadt Wien mal als einen Ort bezeichnet, an dem sich so wenig tue und von dem so wenig Aufbruch in irgendeine Richtung ausgehe, dass man weder ablehnen noch zustimmen könne. Warum kehren Sie der Stadt nicht den Rücken? Oder steigen zumindest öfter in den Nachtzug nach Rom, wie Sie dem Tagesspiegel verraten haben?
Josef Hader:
Naja, auch in Rom tut sich nicht viel, zumindest nicht, wenn man New York oder Berlin als Maßstab nimmt. Aber das ist auch ok so. Ich mag Städte, in denen das Fortschrittstempo nicht ganz so hoch ist. Städte, in denen man nicht ständig Angst haben muss, dass der eigene Bezirk gentrifiziert wird, die Mieten um das Fünffache steigen und alle alten Geschäfte durch irgendwelche Boutiquen und Nachtbars ersetzt werden. Für mich ist Wien wie ein stilles, tiefes Gewässer, in dem seltsame Wesen mit Tentakeln leben, die anderswo von der Strömung abgerissen werden würden. Berlin dagegen ist wie ein schneller, flacher Bach, in dem man stromlinienförmig gestylt sein muss, um sich zu halten.
»Es gibt nichts Internationaleres als Provinz.«
MYP Magazine:
In Ihrem aktuellen Programm geht es neben Wien auch immer wieder um das Weinviertel. Diese eher landwirtschaftlich geprägte Region im äußersten Nordosten Österreichs wird von Ihrem Protagonisten als ausgesprochen provinziell dargestellt. Darauf könnte man mit einem Zitat antworten, das Manfred Rommel zugeschrieben wird: „Provinz ist kein Ort, sondern eine Geisteshaltung.“
Josef Hader:
Der Kabarettist Sigi Zimmerschied hat schon 20 Jahre zuvor gesagt, dass Provinz kein geografischer Begriff sei. Und das stimmt auch. Mein Protagonist spielt eher darauf an, dass es auf dem Land andere Regeln und Gewohnheiten gibt als in der Großstadt. Und das gilt nicht nur für Österreich. Wenn ich beispielsweise in deutschen oder italienischen Dörfern unterwegs bin, merke ich immer wieder, dass es auf dem Land stets dieselben Regeln gibt: wie man sich verhält, wie man grüßt, wie man miteinander umgeht. Es gibt nichts Internationaleres als Provinz.
»Durch die 68er-Bewegung konnte das, was wir heute liberale Demokratie nennen, überhaupt erst entstehen.«
MYP Magazine:
Sie beobachten unsere Gesellschaft seit vielen Jahrzehnten sehr genau. Haben Sie den Eindruck, dass wir eher provinzieller statt progressiver geworden sind in unserer Weltanschauung und Moral?
Josef Hader:
Als Küchenhistoriker könnte ich die Theorie aufstellen, dass das Pendel kontinuierlich hin- und herschwingt, weil sich aufeinanderfolgende Generationen immer aneinander reiben. So folgten beispielsweise auf die dunkle Nazizeit und die piefigen Nachkriegsjahre der Rock’n’Roll und schließlich die 68er-Bewegung, durch die das, was wir heute liberale Demokratie nennen, überhaupt erst entstehen konnte. Und aktuell gibt es dazu wieder eine entsprechende Gegenbewegung, die glaubt, dass liberale Demokratie scheiße ist. Ich hoffe, dass diese Leute in der Minderheit bleiben.
»Österreich ist schon ein besonders abgründiges Land – das sage ich auch mit einem gewissen Stolz.«
MYP Magazine:
In vielen Interviews mit Ihnen hat man den Eindruck, Sie müssten uns Deutschen ständig die Politik Österreichs erklären, insbesondere wenn das Pendel mal wieder nach rechts schwingt.
Josef Hader:
Das liegt an den Fragen. Ich werde da oft als Ethnologe verwendet, dagegen kann man nichts machen.
MYP Magazine:
Wäre es nicht an der Zeit, sich mit dem Problem rechten Gedankenguts auf gesamteuropäischer Ebene auseinanderzusetzen, statt sich nur an den Skurrilitäten Österreichs abzuarbeiten?
Josef Hader:
Satire funktioniert nur, wenn sie nahe am Menschen bleibt, also beschäftige ich mich mit den Österreichern, die kenne ich am besten. Dass menschliche Schwächen keine nationalen Eigenheiten sind, ist ja eh klar. Aber es gibt auch Unterschiede, jedes europäische Land hat seine ganz eigene Geschichte. So hat beispielsweise Österreich seine Nazi-Vergangenheit kaum aufgearbeitet, während das in Deutschland sehr ausführlich passiert ist. Österreich ist schon ein besonders abgründiges Land – das sage ich auch mit einem gewissen Stolz. Dadurch haben wir immer so interessante Künstler gehabt. Und eine Form von Kabarett, die sich nicht an Politikern abarbeitet, sondern am Menschen an sich – so böse, wie das in einer Unterhaltungsform möglich ist.
»Jörg Haider konnte auf äußerst charmante Weise richtig böse Botschaften verkaufen. Da reichen die Nachfolger nicht heran.«
MYP Magazine:
Gestatten Sie uns dennoch eine Frage zu Jörg Haider, dem ehemaligen FPÖ-Vorsitzenden und Kärntner Landeshauptmann, der 2008 tödlich verunglückt ist. Im Januar 2009 wurde über einen deutschsprachigen Teleshopping-Kanal eine CD-Kollektion mit österreichischen Volksliedern verkauft, gesungen von Haider höchstpersönlich. Angepriesen wurde dort „die weltexklusive Dr.-Jörg-Haider-in-memoriam-Collection, ein Highlight für alle Haider-Fans und Liebhaber der österreichischen Volkskultur“, moderiert vom ehemaligen RTL-Mann Walter Freiwald. Wenn es Rechtspopulisten in das Programm von Teleshopping-Sendern schaffen, ist das der Anfang vom Ende des Kapitalismus?
Josef Hader:
Nein, es ist absolut typisch für den Kapitalismus, wenn so etwas zu Geld gemacht wird. Es würde mich interessieren, welche Lieder das sind. Jörg Haider hat sehr gerne diese langsamen, melancholischen Kärntner-Lieder gesungen – er war ein sentimentaler Mensch. Der Mann konnte auf äußerst charmante Weise richtig böse Botschaften verkaufen. Da reichen die Nachfolger nicht heran, muss man sagen.
»Europa ist ein Konstrukt, zu dem man keine rein enthusiastische Beziehung haben kann.«
MYP Magazine:
Im Jahr 2016 haben Sie im Film „Vor der Morgenröte“ den jüdischen Autor Stefan Zweig gespielt, der 1934 vor den Nazis ins Ausland geflohen ist. An einer Stelle sagt Zweig: „Ich glaube an ein freies Europa. Ich glaube, dass Grenzen und Pässe eines Tages der Vergangenheit angehören.“ In Ihrem aktuellen Programm geht es unter anderem um ertrinkende Menschen im Mittelmeer sowie rechte Arme, die überall wieder nach oben zucken. Denken Sie bei diesen Bildern, die ein Symptom für den Zustand Europas im Jahr 2022 sind, oft an Stefan Zweig zurück?
Josef Hader:
Wie Stefan Zweig mag auch ich die Idee von Europa wahnsinnig gern. Ich mag es, dass all diese Länder, die früher aufeinander geschossen haben, heute etwas gemeinsam wollen und bestimmte Werte teilen. Das ist ein großer zivilisatorischer Fortschritt. Aber gleichzeitig ist es auch ein großer Schmerz, wie verlogen die Sache eigentlich ist. Wie in fulminanten Sonntagsreden betont wird, dass Europa nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft, sondern auch eine Wertegemeinschaft sei. Am Ende werden diese Reden aber nur dafür benutzt, um den ganz argen Ausreißern eine Moralpredigt zu halten. Und meistens betrifft das osteuropäische Staaten wie Ungarn oder Polen.
Dabei sind wir Westeuropäer auch nicht in der Lage, diese Werte mit Leben zu füllen. Wir schotten uns ab und haben keine Strategie, wie man mit Menschen auf der Flucht umgeht und welche Möglichkeiten man all jenen bietet, die wirklich verfolgt sind. Es gibt kein gemeinsames, funktionierendes System, das kann es nur geben, wenn alle Länder solidarisch sind. Sind sie aber nicht. Das macht Europa zu einem Konstrukt, zu dem man keine rein enthusiastische Beziehung haben kann.
»Mich haben diese älteren grauen Herren so genervt, die das Ende der Welt heraufbeschworen haben.«
MYP Magazine:
Es gibt hier in Berlin einen Künstler namens Eike König, der mal in einer Ausstellung den Werdegang der Menschheit knapp zusammengefasst hat: „Das Feuer das Auto das Internet das Ende.“ Schauen Sie persönlich etwas optimistischer in die Zukunft?
Josef Hader:
1963, da war ich gerade ein Jahr alt, wäre es beinahe zu einem Atomkrieg gekommen. Die gesamte Menschheit stand kurz davor, sich selbst per Knopfdruck auszulöschen – und da war das Internet noch gar nicht erfunden. Die atomare Gefahr war für mich in den 1970ern und 1980ern allgegenwärtig. Trotzdem hat mich die ständige Bedrohung nicht daran gehindert, meine Zukunft gestalten zu wollen. Auch, weil mich diese älteren grauen Herren so genervt haben, die das Ende der Welt heraufbeschworen haben. Es ist mir daher sehr unsympathisch, irgendeine Zukunftsangst zu verbreiten – obwohl wir Menschen gerade alles dafür tun, den Planeten absolut unbewohnbar zu machen, und überall staatliche Strukturen zusammenbrechen. Diese Kombination könnte sich möglicherweise als die größte Gefahr herausstellen, die noch auf uns wartet.
»Ich weiß nicht, welchen Blödsinn ich noch mache.«
MYP Magazine:
Im Jahr 2009 wurden Sie in einem Interview gefragt, wie Sie auf Ihr bisheriges Leben blicken. Sie sagten, dass Sie nicht zufrieden damit seien, wie sie gealtert seien. Sie seien schlecht mit der Zeit umgegangen, hätten die falschen Sachen gemacht, hätten mehr schreiben und sich neu entdecken sollen…
Josef Hader:
Das klingt nach einer Midlife-Crisis.
MYP Magazine:
Sehen sie das heute, 13 Jahre später, anders?
Josef Hader:
Ja, ich glaube, aus dieser Krise bin ich draußen. Möglicherweise bin ich heute eine kleine Spur zufriedener mit dem Leben. Aber das kann sich jederzeit ändern. (grinst) Ich weiß ja nicht, welchen Blödsinn ich noch mache.
»An meinem Geburtstag könnte ich ein bisschen auf dem Heuboden mithelfen.«
MYP Magazine:
In „Vor der Morgenröte“ sagt Ihre Figur Stefan Zweig zu einem Begleiter: „Wissen Sie, was Tolstoi sagt? Jeder Mann mit 60 soll sich im Dickicht verkriechen wie die alten Tiere.“ Nun werden Sie selbst bald 60 Jahre alt. Was haben Sie vor? Verkriechen Sie sich im Dickicht oder steigen Sie in den Nachtzug nach Rom?
Josef Hader:
Ich schätze Tolstoi sehr und stimme ihm da gerne zu. Ich werde mich an meinem Geburtstag tatsächlich ins Dickicht verkriechen wie ein altes Tier. Und die angenehmere Version des Dickichts ist für mich der Nachtzug nach Rom. Das ist auf jeden Fall eine Option. Ich könnte aber auch Urlaub im Waldviertel machen, auf dem Bauernhof meines Bruders. Da könnte ich dann ein bisschen auf dem Heuboden mithelfen. Das ist auch ein Dickicht.
MYP Magazine:
Auf Zweigs Bemerkung antwortet der Begleiter: „Aber Tolstoi ist doch über 80 geworden!“ Und Zweig entgegnet: „Vielleicht hat er sich im Dickicht wohlgefühlt.“
Josef Hader:
Tolstoi ist ein schlechtes Beispiel. Der hat am Schluss sehr unter seiner Frau gelitten – und sie unter ihm. Der Lebensausklang war kein Happy End, wie meistens bei diesen alten weißen Männern. Ich fürchte, ich werde da keine Ausnahme sein.
#josefhader #haderonice #mypmagazine
Mehr von und über Josef Hader:
Interview & Text: Jonas Meyer
Fotografie: Maximilian König
Assistenz: Stefan Hobmaier
Geflüchtete am Berliner Hauptbahnhof
Reportage — Geflüchtete am Berliner Hauptbahnhof
»Jeden Tag hoffe ich, dass der Krieg aufhört«
So sieht Flucht vor dem Krieg innerhalb Europas aus: Chefredakteurin Katharina Weiß und Fotografin Frederike van der Straeten haben am späten Abend des 15. März den Alltag am Berliner Hauptbahnhof beobachtet. Dort sind sie mit Menschen ins Gespräch gekommen, die der russische Angriffskrieg aus der Ukraine getrieben hat. Und mit Menschen, die vor Ort sind, um zu helfen.
18. März 2022 — Text: Katharina Weiß, Fotografie: Frederike van der Straeten
Helfer*innen, deren Wangen vor Solidarität und dem Gefühl glühen, die Situation für Geflüchtete ein kleines bisschen erträglicher zu machen. Pop-up-Infostände, die speziell für BPoc, LGBTIQ* und andere diskriminierte Menschengruppen da sein wollen, aber von behördlichen Strukturen eher vernachlässigt werden. Und Kuscheltierberge für geflüchtete Kinder, denen in den letzten Tagen ein großes Stück ihrer Kindheit genommen wurde. Das ist aktuell die Situation am Berliner Hauptbahnhof.
Dazu kommen Wärmedecken-Lieferungen, die wegen Brandschutzbestimmungen nicht angenommen werden dürfen. Durchsagen, die nach vermissten Minderjährigen suchen – dieses Mal ist es ein Mädchen, das anscheinend Irina heißt. Und der ständige Mangel an Sandwiches, Wasserflaschen oder Hygieneartikeln.
»Die Regierende Bürgermeisterin hätte sich für eine Nachtschicht am Hauptbahnhof eintragen können.«
Während Franziska Giffey am 14. März im Kraftwerk Berlin die Fashion Week eröffnete, stand Studentin Marina Laschke (26) vier S-Bahn-Stationen weiter vor dem Hauptbahnhof, um den aus der Ukraine geflüchteten Menschen Transporte zu vermitteln. In einer Pause sah sie auf Instagram, wie die Regierende Bürgermeisterin die Fragen einer Fashion-Influencerin beantwortete. „Das waren Fragen wie Was würden Sie Putin gerne sagen? oder so“, erinnert sich Marina. „An sich ja ok, auch die Designer haben ihre Presse verdient. Aber die Bürgermeisterin hätte ja zuerst dort Champagner trinken und sich im Anschluss für eine Nachtschicht am Hauptbahnhof eintragen können. Aber hier ist es vermutlich nicht so glamourös. Dafür…“, sie sucht nach Worten, „fühlt es sich hier bedeutend an.“
»Jeden Tag hoffe ich, dass der Krieg aufhört.«
Wer mit den Ankommenden, vor allem sind es Frauen, ins Gespräch kommt, der versteht sofort, was Marina meint. Aliona Rybak (37) zum Beispiel versucht, sich nach Düsseldorf durchzuschlagen. Als wir sie im Zelt der Berliner Stadtmission treffen, unterhält sie sich gerade mit einem Mädchen, das nur wenig älter ist als ihr Sohn. 17 Jahre ist er alt, deshalb durfte er ausreisen. Im Oktober wird er 18 – ein paar Monate, die vielleicht sein Leben gerettet haben. Sein Vater musste zurückbleiben, um zu kämpfen. „Schon in den Tagen, bevor der Krieg ausbrach, konnte ich schlecht schlafen. Und jetzt spüre ich immerzu diese Angst. Jeden Tag hoffe ich, dass der Krieg aufhört.“ Ihr Mann verfolgt die Nachrichten kaum noch. Sie hingegen liest und liest und liest. Die Informationsflut ändert nichts an ihrem festen Glauben daran, schon bald in ihre Heimat zurückkehren zu können. Eine Wunschvorstellung, die aus der Perspektive vieler Helfer*innen für die meisten dieser Menschen wohl eher nicht so schnell zur Realität werden wird.
Aliona Rybak (37) ist mit ihrem 17-jährigen Sohn aus der Ukraine geflohen. Ihr Ziel: Düsseldorf.
»Mein Herz blutet, ich vermisse meinen Mann so sehr!«
Ein paar Meter weiter lernen wir Marina Usik (41) kennen, die aus verständlichen Gründen nicht fotografiert werden will: Ihr Kajal ist leicht verwischt – von der Erschöpfung, vielleicht auch von den Tränen. Neben ihr sitzt eine fahle, ältere Dame. Mit eingefallenen Wangen und müdem Blick hört sie ihrer Tochter beim Reden zu: „Mein Herz blutet, ich vermisse meinen Mann so sehr. Ich bin mir meiner Mutter und meiner Tochter hier und warte ungeduldig auf den Frieden.“ Wie die meisten Ankommenden bedankt sie sich für die Hilfe. Volontäre hätten ihr gestern ein Hotelzimmer organisiert, sagt Marina, nun wartet sie auf ihre Weiterreise nach Frankreich.
Immer wieder betont sie, wie sehr sie sich Frieden wünscht. Angesichts der Nachrichtenlage fällt es einem schwer, danach zu fragen, für wie realistisch sie diese Entwicklung hält. Wäre der Krieg nicht über sie hereingebrochen, hätte sie in diesen Tagen eine Feier für ihre Tochter ausgerichtet, die nach Abschluss der 9. Klasse auf eine weiterführende Schule gekommen wäre. „Und ich hatte auch geplant, Urlaub zu machen und zu verreisen“, lässt sie uns wissen. Dann blickt sie sich im Zelt der Stadtmission um und sagt zynisch: „Aber nicht auf diese Weise.“
Einer, der seit wenigen Tagen Verantwortung an zentraler Stelle übernimmt, ist Robert Michaelis (41). Als Schichtleiter koordiniert er unter anderem die ankommenden Gruppen von Geflüchteten, die Arbeit der vielen Freiwilligen sowie all die Sach- und Lebensmittelspenden, die täglich am Hauptbahnhof abgegeben werden. Darüber hinaus ist er dafür verantwortlich, die vor dem Zelt stehenden Journalist*innen in Empfang zu nehmen und sie inhaltlich in die Lage vor Ort einzuführen. Das britische Fernsehen war heute schon zu Besuch. Wie die Deutschen mit der Geflüchteten-Situation umgehen, interessiere mittlerweile viele ausländische Medien, sagt Robert.
»Wir versuchen, die Menschen individuell abzuholen.«
Auch wenn die Herausforderungen nicht weniger würden, sei er stolz auf die vielen Ehrenamtlichen, lässt uns Helfer Robert wissen. „Wir versuchen, die Menschen individuell abzuholen.“ Aktuell gäbe es aber noch Probleme mit der Weiterverteilung. „Es mangelt vor allem an Übernachtungsplätzen. Viele wollen gar nicht dauerhaft in Berlin bleiben, benötigen aber bis zur Weiterreise eine Unterkunft. Wir mussten jetzt schon mehrmals Menschen für eine Nacht in die Messe zur Übernachtung bringen. Dort haben sie keine Duschen“, sagt Robert, während wenige hundert Meter entfernt im Untergeschoss gerade drei Aufenthaltszüge geparkt sind, in denen weitere Reisende versorgt werden.
„Zum Glück können wir mittlerweile auch mit Hotels wie dem Estrel oder dem Sheraton kooperieren“, fügt er an. Dennoch benötige die humanitäre Lage vor Ort weiterhin jede Menge Engagement von Privatpersonen. Dabei könne sich jede Person individuell und dem eigenen Zeitplan entsprechend einbringen. Viele Ehrenamtliche, mit denen wir an diesem Tag sprechen, sind selbst zum allerersten Mal dabei.
Allmählich ordnet sich auch das strukturlose Chaos, mit dem die Ersthelfer*innen zu Beginn der ersten Geflüchteten-Züge noch klarkommen mussten. Das liegt insbesondere an der verstärkten Präsenz diverser Institutionen: Dutzende Bahner*innen, BVG-Sicherheitsleute und Vereine sind zusammen mit vielen Partnern rund um die Uhr im Einsatz, um die ankommenden Ukrainer*innen zu unterstützen.
Durch diese verstärkte Präsenz wird allerdings auch der Zugang für Berichterstatter*innen in gewisser Weise eingeschränkt. Für die Presse ist es vor Ort nicht mehr ohne Weiteres möglich, sich in allen Bereichen frei zu bewegen, wie es noch vor wenigen Tagen der Fall war. Dabei liegt es im Interesse der Öffentlichkeit, genau zu beobachten, wie die involvierten Institutionen mit so vulnerablen Gruppen wie Frauen und Kindern umgehen.
Spendenkonto der Berliner Stadtmission:
IBAN: DE63 1002 0500 0003 1555 00
BIC: BFSWDE33BER
Bank für Sozialwirtschaft
Ansprechpartnerin für Geldspenden:
Ute Rastert
Telefon (030) 690 33-405
urastert@berliner-stadtmission.de
Mehr von und über die Berliner Stadtmission:
berliner-stadtmission.de
facebook.com/berlinerstadtmission
instagram.com/berliner_stadtmission
Interview & Text: Katharina Weiß
Fotografie: Frederike van der Straeten
Familie Hulievych
Reportage — Familie Hulievych
»Mama, der Krieg ist hier!«
Auf der Flucht vor dem Krieg in der Ukraine mussten Inna Hulievych und ihre Tochter Sofia nicht nur ihre Wohnung zurücklassen, sondern auch den 20-jährigen Sohn Vlad. Untergekommen sind sie vorerst bei Daniel Heinz, dem ehemaligen Tutor des Sohnes aus Studienzeiten. Zusammen mit seiner guten Freundin Ilona Naydyonova hat er Mutter und Tochter in der Slowakei abgeholt und nach Berlin gebracht. Vor wenigen Tagen haben wir alle vier zu einem Gespräch in Daniels Wohnung getroffen.
11. März 2022 — Text: Katharina Weiß, Fotografie: Frederike van der Straeten
Inna Hulievych (40) ist mit ihrer Tochter Sofia (13) aus Kiew nach Berlin geflohen.
Für die Woche, in der Wladimir Putins Truppen in die Ukraine einmarschierten, hatte Familie Hulievych aus dem Zentrum Kiews eigentlich andere Pläne. Anstatt mit notdürftig gepackten Rucksäcken und Koffern die Flucht aus der ukrainischen Hauptstadt anzutreten, hatte sich die 13-Jährige Sofia auf eine ruhige Woche mit coronabedingtem Online-Unterricht eingestellt. Student Vlad, 20 Jahre alt, schrieb zum Zeitpunkt, als die ersten Bomben fielen, gerade an seiner Bachelorarbeit. Sein Thema: deutsche Erinnerungskultur mit Schwerpunkt Sowjetunion. Der Abgabetermin stand kurz bevor. Und Inna, die 40-jährige Mutter der beiden, hatte sich mit ihren Kolleginnen aus der Zahnarztpraxis zum frühmorgendlichen Sport verabredet. Ein Ritual unter Freundinnen, die einmal pro Woche zuerst ins Fitnessstudio, dann zum Kaffeeklatsch und anschließend gemeinsam zur Arbeit gingen.
Untergekommen sind Inna und Sofia in der Wohnung eines Freundes in Berlin-Friedrichsfelde.
»Wir müssen sofort hier raus.«
In den Stunden, bevor der Alltag dieser drei Menschen in sich zusammenfiel und ihr an Freude und Freundschaft reiches Leben plötzlich ein anderes war, scheiterte ein Versuch des ukrainischen Staatspräsidenten Wolodymyr Selenskyj, den russischen Präsidenten telefonisch zu erreichen. Noch während der UN-Sicherheitsrat tagte, hielt Putin seine Rechtfertigungsrede. In dieser erklärte er unter anderem die „Entnazifizierung“ des „faschistischen, neonazistischen Regimes“ des jüdischen Wolodymyr Selenskyj zum Kriegsziel, der im Jahr 2019 demokratisch gewählt worden war.
Ab dem frühen Morgen, gegen fünf Uhr ukrainischer Zeit, waren die ersten Explosionen zu hören. Und das – zur Überraschung der Ukrainer*innen und der Weltbevölkerung – nicht nur im Donbas, sondern auch bei Odessa, Charkiw oder Kiew. Um sechs Uhr wurde Inna Hulievych von ihrem Sohn geweckt: „Mama, der Krieg ist hier!“, rief Vlad. „Wir müssen sofort hier raus.“
»Ich habe zuerst den Abwasch gemacht.«
Halb verschlafen und eher ungläubig trat Inna auf ihren Balkon. In der Ferne sah sie den Funkenflug und hörte das Dröhnen der Bomben. Während ihre Kinder sofort mit dem Packen begannen, dachte sie im ersten Moment an das schmutzige Geschirr, das sich vom Abend vorher noch in der Küche stapelte: „Ich habe zuerst den Abwasch gemacht. Mein Kopf war irgendwie leer – ich konnte das alles kaum begreifen.“
Danach eilte Inna zu einer nahgelegenen Bank, vor der sich bereits eine lange Schlange an Menschen gebildet hatte. Alle wollten so schnell wie möglich an Bargeld kommen. Doch wie etliche andere Leute wartete sie umsonst, denn die meisten Automaten gaben kein Geld mehr aus. Also hastete Inna wieder nachhause.
Daniel Heinz (25) hat Mutter und Tochter in der Slowakei abgeholt.
»In so einem Moment denkt man weder an den Schmuck noch an irgendwelche Wertsachen.«
„Ich wurde schon ein paar Mal gefragt, an welche Dinge ich sofort gedacht habe, als klar wurde, dass wir fliehen müssen“, berichtet sie. „Doch wie viele andere, mit denen ich auf der Flucht darüber gesprochen habe, denkt man in so einem Moment weder an den Schmuck noch an irgendwelche Wertsachen oder die Lieblingsklamotten. Man wirft einfach irgendwelche Sachen in die Koffer.“
Der Plan der kleinen Familie war, zunächst zu einer Verwandten im Westen der Ukraine zu fliehen. Sie kontaktierten Freunde aus Browary, einer Vorstadt im Osten Kiews, da diese im Gegensatz zu den Hulievychs ein Auto besitzen und ohnehin in die Innenstadt fahren wollten. Aus Browary braucht man an einem geschäftigen Tag um die 45 Minuten bis zum Stadtzentrum. Doch auf den Straßen herrschten Massenstaus, alles wirkte wie ein einziges Chaos. Und so brauchten die Freunde mit dem Auto ganze sechs Stunden, bis sie die Wohnung von Familie Hulievych im Zentrum Kiews erreicht hatten.
Studentin Ilona Naydyonova (24) ist gebürtige Ukrainerin und hilft der Familie unter anderem mit Übersetzungen.
»Neben den PKW rollten massive Panzer über den Beton.«
Mit jeder Menge schwerem Gepäck verfrachteten sich Inna, Sofia und Vlad ins Auto und baten ihre Freunde, sie zur nächsten U-Bahn-Station zu bringen. Doch statt der üblichen zehn Minuten dauerte die Fahrt über anderthalb Stunden. Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fuhren die Drei bis zur Stadtgrenze. Von dort aus liefen sie eine Stunde zu Fuß zu einer Autobahnraststätte. „Neben den PKW rollten massive Panzer über den Beton“, erzählt Inna. Sie schafften es zu einem Teil ihrer Familie in Chmelnyzkyj.
Kurz darauf gab die ukrainische Regierung bekannt, dass alle gesunden Männer zwischen 18 und 60 das Land nicht mehr verlassen dürfen. Eine furchtbare Nachricht für Inna, die sich zum einen um den Vater ihrer Kinder sorgt, von dem sie seit mehreren Jahren getrennt lebt. Noch viel größer ist ihr Kummer, wenn sie an ihren Sohn denkt. Denn auch für Vlad schlossen sich nun alle Fluchttüren. Dabei hatte er bereits Kontakt mit seinem deutschen Freund Daniel Heinz aufgenommen, um eine mögliche Flucht in die Bundesrepublik vorzubereiten.
»Es war uns bewusst, dass es das letzte Mal sein könnte, dass wir uns in den Armen liegen.«
Vlad und Daniel hatten sich 2021 beim Studium an der Justus-Liebig-Universität Gießen kennengelernt, der heute 25-jährige Daniel war damals sein Tutor. Er bot sofort an, die dreiköpfige Familie in seiner Wohnung in Berlin-Friedrichsfelde aufzunehmen. Nun drängte Vlad darauf, wenigstens seine Mutter und seine Schwester in Sicherheit zu bringen.
Am Mittwoch, den 2. März, verabschieden sich Inna und Sofia von Vlad. „Es war uns bewusst“, sagt Inna, „dass es das letzte Mal sein könnte, dass wir uns in den Armen liegen – auch wenn man das eigentlich nicht begreifen kann.“
Mit dem Zug fuhren Inna und Sofia von Winnyzja zur Grenzstadt Uschgorod. Von dort aus liefen sie zu Fuß über die Grenze zur Slowakei. „Bereits in diesem Moment durchströmte mich ein Gefühl der Sicherheit: Nun waren wir in einem Land, dass gerade nicht im Krieg war“, erzählt Inna. Zudem warteten auf der andere Seite zwei Engel aus Berlin: Freunde sammelten die beiden Frauen mit ihrem Auto ein und transportierten sie nach Berlin, wo sie von Daniel Heinz und Ilona Naydyonova auf Russisch empfangen wurden.
»Es ist unfassbar, welche Geschichten ein Mensch in 30 Minuten erzählen kann.«
Daniel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fachhochschule Potsdam und darüber hinaus Referent für Antidiskriminierung an der Bildungsstätte Anne Frank. Seine Großeltern sind in der ukrainischen Hafenstadt Odessa geboren und wurden von Stalin nach Sibirien deportiert. In den 1990er Jahren migrierten seine Eltern als Spätaussiedler in die Bundesrepublik. Er hat in Kiew studiert und mehre deutsch-ukrainische Jugendbegegnungen zwischen Berlin und Chernigiv organisiert.
Die Fluchtauswirkungen erlebte Daniel von Anfang an hautnah mit, da er seit Kriegsbeginn ehrenamtlich am Hauptbahnhof arbeitet. „Ich habe dort in den letzten Tagen viel übersetzt, um ankommenden Personen dabei zu helfen, ihre Weiterreise zu planen. Es ist unfassbar, welche Geschichten ein Mensch in 30 Minuten erzählen kann. Das hat mich sehr betroffen gemacht, aber auch in meinem Aktivismus gestärkt.“ Als wir ihn vergangenen Samstag in seiner Berliner Wohnung treffen, betont Daniel, dass es vor Ort am Hauptbahnhof keine behördlichen Strukturen gegeben hätte.
„Alle Arbeitsgruppen und Angebote werden von Privatpersonen und Aktivist*innen der ukrainischen Widerstandsbewegung in der Diaspora organisiert,“ berichtet er und hebt dabei den Verein „Vitsche“ hervor, der sich über Telegram und andere Social-Media-Kanäle abstimmt: „Ich habe gestern einen Aufruf auf Instagram gestartet, wir benötigen mehr Übersetzer für den Bahnhof. Es haben sich über 50 Leute gemeldet, die heute mitgeholfen haben. Aktuell fühlen sich weder die Deutsche Bahn noch die Bundespolizei verantwortlich und sind zudem wenig kooperativ. Nur dank der vielen zivilen Freiwilligen sind wir überhaupt in der Lage, die Ankunft der Menschen aus der Ukraine zu stemmen.“
»Meine Cousine sagt mir jeden Tag am Telefon unter Tränen, dass sie einfach nicht mehr kann.«
Während wir unsere Fragen stellen, frühstückt Daniel gerade mit Inna und Sofia. Auch seine Bekannte Ilona Naydyonova ist dabei und gießt den beiden Frauen frischen Orangensaft nach. Ilona studiert in Münster. Als sie in den ersten Tagen des Krieges über die Demos und Hilfsprojekte der ukrainischen Community in Berlin erfuhr, buchte sich die 24-Jährige sofort ein Zugticket nach Berlin.
Sie selbst zog bereits vor 16 Jahren mit ihren Eltern von der Krim nach Deutschland. „Meine Tante und meine Cousine sind immer noch in der Ukraine“, sagt sie mit kämpferischer Mine. „Sie mussten bereits 2014, als die Russen zum ersten Mal in den Donbas einmarschiert sind, nach Kiew fliehen. Die Ukraine war ein armes Land, die Zustände waren prekär. Sie haben so viel verloren, aber nicht aufgegeben. Als sich die Lage etwas beruhigt hat, beschloss meine Tante, in ihre Heimat zurückzukehren und alles wieder aufzubauen. Vor kurzem konnten sie es sich endlich leisten, neue Fenster in ihr kaputtes Haus einzubauen. Ich würde mir so sehr wünschen, dass meine Cousine nach Deutschland kommt, aber sie sagt mir jeden Tag am Telefon unter Tränen, dass sie einfach nicht mehr kann.“
Ilona, die besser Russisch und Ukrainisch spricht als Daniel, übersetzt unsere Interviewfragen und die Antworten von Inna. Sofia, die immer noch geschlaucht wirkt, zieht sich zum Musikhören zurück. Typisch Teenager, könnte man denken. Doch was kann überhaupt noch typisch und normal sein im Leben eines Teenagers, wenn man solche Dinge erlebt hat wie Sofia in den letzten Tagen?
»Ich kann meiner Familie mit gutem Gewissen sagen: Kommt her!«
Der einzige Trost, den die geflüchteten Frauen finden, ist die Herzlichkeit, mit der sich Daniel und Ilona um sie kümmern. Gemeinsam essen, sich beim Nachrichtenschauen die Hände halten, ukrainische Musik hören und sich laut den Frust von der Seele singen – was Daniel und Ilona in den letzten Tagen getan haben, war eine 24-Stunden-Betreuung, um den Schock, in einem fremden Land neu anfangen zu müssen, so gut wie möglich abzufedern.
Ilona weiß, wie es ist, in Deutschland erst mal eine Fremde zu sein. Sie kennt die Diskriminierung und den Rassismus, mit dem osteuropäische Frauen hier konfrontiert werden. „In einer Männergruppe habe ich ein Posting gesehen nach dem Motto: ‚Jetzt kann sich jeder eine günstige ukrainische Schlampe vom Hauptbahnhof mitnehmen.‘ Ekelhaft. Genau wie das Klischee, dass wir alle Alkoholiker wären.“
Dies sagt Ilona nur auf Deutsch und übersetzt es nicht. Warum auch, aktuell hat Inna einen guten Eindruck von den Deutschen. „Die Leute waren unfassbar nett und hilfsbereit.“ Eine Perspektive, die angesichts der überall entstehenden Hilfsprogramme auch von vielen anderen ankommenden Ukrainer*innen geteilt wird. Daniel und Ilona wollen alles dafür tun, dass sich die deutsche Zivilbevölkerung die momentane Stimmung und den Tatendrang bewahren. „Ich kann meiner Familie mit gutem Gewissen sagen: Kommt her, hier ist es definitiv besser als im Donbass. Es gibt hier Menschen, die euch helfen wollen und werden.“
»Viele junge Leute haben noch immer keine Chance, sich einbürgern zu lassen.«
Daniel stimmt dem grundsätzlich zu, versucht aber jetzt schon, die kommenden Problematik mitzudenken: „In Berlin überlegen jetzt viele, zuhause bei sich ukrainischer Geflüchtete aufzunehmen. Das ist erst mal großartig, aber man sollte sich davor überlegen, ob man noch eine andere Person zur Betreuung organisieren kann, die vielleicht ein bisschen Russisch oder Ukrainisch spricht.“
Daniel und Ilona sind sich einig: Viele Geflüchtete werden von den Dokumentenbergen der deutschen Bürokratie im ersten Moment überfordert sein. „Ich bin sehr wütend auf die deutsche Politik,“ sagt Daniel. In der Regel spricht er sehr sanft, wechselt hier aber tatsächlich seine Stimmlage. „Wir haben nicht erst seit letzter Woche Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland. Viele junge Leute, die teilweise sogar noch vor dem Kriegsbeginn 2014 in die Bundesrepublik migriert sind, haben noch immer keine Chance, sich einbürgern zu lassen.“
»Wir brauchen jetzt dringend ein unbürokratisches und zugängliches Verfahren für Sozialhilfen.«
Sein Blick auf die Situation wird nicht von der akuten Hilfswelle verklärt. Trotz der immensen Solidarität in der Zivilgesellschaft sähe er auf struktureller und institutioneller Ebene nach wie vor unnötige Hürden für Migrant*innen aus Osteuropa und dem postsowjetischen Raum. „Wir brauchen jetzt dringend ein unbürokratisches und zugängliches Verfahren für Sozialhilfen. Wir können uns nicht darauf verlassen, dass auch nächste Woche noch so viele freiwillige Helfer*innen an Start sein werden. Der Staat muss jetzt handeln.“
Während Daniel erzählt, sucht Inna auf ihrem Handy nach den Aufnahmen aus der Ukraine. Selbst gedrehte Videoclips, die schwere Panzer und hochbewaffnete Soldaten zeigen. Schüsse, die zu hören sind, und ein feuerverfärbter Horizont. Das liegt nun hinter ihr. Aber was liegt vor ihr und ihrer Tochter?
Für die nächsten Schritte in Deutschland werden Mutter und Tochter weiterhin Hilfe brauchen. Entscheidend wäre die Einrichtung von offiziellen Stellen, die ihr die Frage beantworten, wie sie sich finanzieren kann. Wie Deutschkurse zu belegen sind. Und wie ihre Tochter wieder in ein Schulsystem integriert werden kann. Hilfe, die jeder Mensch, der so brutal aus seinem Leben gerissen wird, auch verdient.
Hinweis der Redaktion: In einer früheren Version dieses Artikels haben wir das Alter des Sohnes mit 23 Jahren angegeben. Korrekt ist allerdings, dass Vlad 20 Jahre alt ist. Wir bitten diesen Fehler zu entschuldigen.
Wenn Ihr der Familie Hulievych helfen wollt, könnt Ihr das direkt über die Aktionsseite auf Gofundme tun:
Mehr von und über den Verein Vitsche:
Interview & Text: Katharina Weiß
Fotografie: Frederike van der Straeten
Mavi Phoenix
Interview — Mavi Phoenix
Songs aus einem neuen Leben
Mit seinem zweiten Studioalbum »Marlon« präsentiert Mavi Phoenix eine Platte, die rotzig ist und verträumt, energiegeladen und melancholisch. Die insgesamt 15 Songs streifen immer wieder die Musikgeschichte der letzten Jahrzehnte, haben nicht selten Ohrwurm-Potenzial und sind inhaltlich das Intimste, was Mavi Phoenix bisher zu erzählen hatte. Ein Gespräch über das ewige Thema Liebe, den großen Falco und das Gefühl, nicht genug zu sein für diese Welt.
1. März 2022 — Interview: Jonas Meyer, Fotografie: Maximilian König
Als Jan Böhmermann am 7. Mai 2021 in seinem „ZDF Magazin Royale“ den musikalischen Gast des Abends ankündigte, folgte für das Publikum das, was es seit Jahren gewohnt ist: gute Musik in den Schlussminuten, mal präsentiert von einem Newcomer, mal von einer nationalen oder internationalen Größe, und in der Regel unterstützt vom Rundfunktanzorchester Ehrenfeld.
Doch für Mavi Phoenix, den Act des Abends, war die Performance seines Songs „Nothing Good“ alles andere als Routine. Nicht, dass er vorher nicht auf einer Bühne gestanden hätte. Ganz im Gegenteil: Der 1995 in Linz geborene Künstler macht seit fast einer Dekade Musik. Und sogar in Böhmermanns Show hatte er bereits gespielt, 2018 war das. Doch da stand Mavi Phoenix auf jener Bühne noch als Frau. Und nun, am Abend des 7. Mai 2021, als Mann.
Es war sein erster öffentlicher Auftritt nach der Transition. Mitte 2020 hatte sich Marlon Nader, wie Mavi Phoenix heute mit bürgerlichem Namen heißt, ins Private zurückgezogen, um sich erstens seiner körperlichen und mentalen Veränderung zu widmen und sich zweitens damit zu beschäftigen, welchen Einfluss diese Transition auf seine Musik haben würde.
Die Songs, die seitdem entstanden sind, hat Mavi Phoenix nun auf einem Album zusammengefasst. Die Platte mit dem Titel „Marlon“ ist eine Kollektion eindrücklicher Tracks, die allesamt von der Gitarre aus entwickelt wurden und sich emotional zwischen rotzig-energiegeladen und melancholisch-verträumt bewegen – und das nicht selten mit Ohrwurm-Potenzial. Das Besondere an den insgesamt 15 Songs ist, dass man darin immer wieder beiläufig auf Stilelemente stößt, die man aus den letzten drei bis vier Jahrzehnten Musikgeschichte kennt. Das löst interessante Erinnerungseffekte aus – zumindest bei jenen Menschen, die diese Zeit bewusst erlebt haben.
Inhaltlich hat sich Mavi Phoenix mit seinem neuen Album ganz und gar den Themen Liebe, Sex und Beziehung verschrieben. Damit öffnet sich der trans Mann in intimer Art und Weise allen, die ihm zuhören – und bereichert gleichzeitig die Musikwelt mit einer Perspektive, bei der es höchste Zeit ist, sie zu erzählen.
MYP Magazine:
Vor knapp zwei Jahren hast Du dich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, um Dich deiner Transition zu widmen und Dich gleichzeitig auch musikalisch zu verändern. Braucht es für so eine „doppelte Transition“ auch einen doppelten Kraftaufwand?
Mavi Phoenix:
In meinem Fall haben es mir die körperlichen und psychischen Veränderungen eher erleichtert, mich auch künstlerisch neu zu erfinden – etwas anderes blieb mir auch gar nicht übrig. Aufgrund der Hormone war meine Stimme plötzlich eine komplett andere und ich musste schauen, wie ich damit umgehe. Musikalisch haben sich dadurch einige Türen verschlossen, aber dafür auch viele neue aufgetan. So gingen am Ende beide Transitionsprozesse Hand in Hand und haben sich sogar gegenseitig befruchtet.
»Einer Frau hat man es wohl nicht zugetraut, dass sie selbst auch Songs schreibt und produziert.«
MYP Magazine:
Hattest Du in dieser Zeit ein konkretes musikalisches Ziel vor Augen, das Du unbedingt erreichen wolltest?
Mavi Phoenix:
Naja, in erster Linie wollte ich der Welt mal zeigen, dass ich ein ernsthafter Musiker bin. Vor meiner Transition sind die Leute nie wirklich darauf eingegangen, dass ich selbst auch Songs schreibe und produziere – das hat man einer Frau wohl nicht zugetraut. Sexismus pur, könnte man sagen. Es musste sich also dringend was ändern. Was ich mir dabei allerdings bewahren wollte, ist die Rotzigkeit meiner Musik. Das gehört einfach zu mir und mag ich immer noch sehr.
MYP Magazine:
Der erste Track, den Du 2021 nach Deiner Transition veröffentlicht hast, ist „Grass And The Sun“. Die Melodie des Songs hat absolutes Ohrwurm-Potenzial. Wie bist Du auf dieses eingängige Gitarrenlick gekommen, das den Song so charakteristisch macht?
Mavi Phoenix:
Zu dem Zeitpunkt, als der Song entstanden ist, war ich alles andere als ein guter Gitarrist. Trotzdem hatte ich immer wieder dieses Instrument in der Hand und wollte ausprobieren, was zu diesem Pad passte, das es bereits gab. So ist am Ende die Melodie entstanden – durch bloßes Herumspielen.
»Bei meiner Musik war es schon immer Fluch und Segen zugleich, dass man sie nicht einordnen kann.«
MYP Magazine:
Wenn man Dein neues Album „Marlon“ durchhört, entdeckt man immer wieder stilistische Elemente aus den letzten drei bis vier Jahrzehnten Musikgeschichte. Mal fühlt man sich an Crowded House oder Cigarettes After Sex erinnert, mal hat man das Gefühl, Du hättest dich von Mura Masa oder Tyler, The Creator inspirieren gelassen. Zusammengenommen erzeugt das eine große musikalische, aber auch emotionale Spannweite. Warum war es Dir wichtig, so viele Elemente aus unterschiedlichen Epochen miteinander zu verknüpfen?
Mavi Phoenix:
Ganz einfach: weil ich es gar nicht anders kann. Bei meiner Musik war es schon immer Fluch und Segen zugleich, dass man sie nicht einordnen kann. Fluch deshalb, weil man bei der Konzeption einer Platte immer das Ziel haben sollte, dass sich die Zusammenstellung der Songs nach einem echten Album anfühlt – und nicht nach einer zerfahrenen Ansammlung von Einzeltracks. Und in Zeiten von Spotify und seinen Algorithmen ist es ohnehin nicht das Schlechteste, wenn man sich als Musiker halbwegs einer bestimmten Richtung zuordnen lässt.
Auf der anderen Seite ist es für mich ein großer Segen, so viele stilistische Elemente miteinander vereinen zu können. Damit entspricht meine Musik eins zu eins meinem Wesen. Dass sich das im Laufe der Jahre so entwickelt hat, liegt wahrscheinlich daran, dass ich selbst ein riesiger Musikfan bin und alles aufsauge, was ich gut finde – und das kann wirklich vieles sein. Mein langjähriger Produzent Alex The Flipper, der auch einer meiner engsten Freunde ist, tickt da ganz genauso. Das neue Album kann man daher als ein Spiegelbild unserer gemeinsamen musikalischen Philosophie begreifen. Und ganz ehrlich: Ich glaube, dass es trotzdem super stimmig geworden ist.
»Mit dem Thema Liebe wollte ich mich musikalisch nie befassen. Aber jetzt auf einmal schreibe ich fast nur noch über Sex!«
MYP Magazine:
Auf dem Album geht es hauptsächlich um die Themen Liebe, Sex und Beziehung. Das ist für Musiker*innen erst mal nichts Neues. Neu ist aber, dass die Songs aus der Perspektive eines heterosexuellen trans Mannes geschrieben sind. Hast Du das Gefühl, dass Du damit einen Schleier lüftest, der über der Musikbranche lag, insbesondere über dem Genre, in dem Du dich bewegst?
Mavi Phoenix:
Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass das Thema Liebe eigentlich immer eines war, mit dem ich mich musikalisch nie befassen wollte – weil das so gut wie jeder macht. Aber durch die Transition hat sich in meinem Leben so viel verändert und Themen wie Liebe, Sex oder Beziehung wurden plötzlich so präsent, dass ich den Drang hatte, all das auch in meiner Musik zu verarbeiten. Und das konnte nur gelingen, weil ich mich mittlerweile absolut frei fühle und fein mit mir bin.
Interessanterweise hat mein Produzent Alex früher immer gesagt: „Mavi Phoenix ist komplett asexuell.“ Aber jetzt auf einmal schreibe ich fast nur noch über Sex! Erst durch die Transition konnte ich darüber wirklich frei nachdenken, erst durch die Transition konnte ich diese spezifischen Gefühle überhaupt nachempfinden. Auch wenn diese Thematik uralt ist, hoffe ich, dass sich die Songs trotzdem fresh genug anhören, (lächelt)
»Für mich sind Leute, die sich heute mit 15, 16 Jahren outen, die wirklichen role models.«
MYP Magazine:
In den letzten Jahren haben sich immer mehr queere Künstler*innen im Musikbusiness sichtbar gemacht, national wie international. Menschen wie Lil Nas X oder Tyler, The Creator ist es sogar gelungen, die archaisch geprägte Rapszene aufzubrechen. Würdest Du von Dir sagen, dass Du ebenfalls ein Wegbereiter bist, vielleicht sogar ein Vorbild?
Mavi Phoenix:
Ich merke immer wieder, dass viele meiner Fans und Follower dieselben Themen haben wie ich. Und da ich als Künstler diese Themen in die Öffentlichkeit tragen kann, habe ich auch ein bisschen das Gefühl, ein role model zu sein. Was soll ich auch anderes machen, diese Rolle wurde mir ja geradezu auferlegt. Das war auch vor der Transition schon so: Da galt ich für viele als Wegbereiterin, weil ich ein weiblicher Rapper war. Aber damit habe ich mich überhaupt nicht wohlgehfühlt. In der Rolle, die mir mittlerweile zugeschrieben wird, gehe ich dagegen wesentlich mehr auf. Das ist jetzt tatsächlich mein Thema.
Übrigens: Für mich persönlich sind Leute, die sich heute mit 15, 16 Jahren outen, die wirklichen role models. Ich finde das in dem Alter absolut bemerkenswert. Hätte ich selbst damals schon YouTube oder Instagram gehabt, wäre ich vielleicht viel früher darauf gekommen, dass ich trans bin – und hätte mich schon mit 14 geoutet statt mit 24.
MYP Magazine:
Hast Du Sorge, dass Deine Musik durch dieses Thema in den Hintergrund rückt?
Mavi Phoenix:
Das ist tatsächlich ein schwieriger Spagat für mich. Auf der einen Seite möchte ich öffentlich darüber sprechen, trans zu sein. Auf der anderen Seite möchte ich aber auch nicht darauf reduziert werden, sondern einfach meine Musik in die Welt tragen. Am Ende hat man es eh selbst in der Hand, wieviel man darüber spricht und postet.
»Ich hatte mein ganzes Leben lang das Gefühl, nicht genug zu sein.«
MYP Magazine:
In Deinem Song „Nothing Good“ gibt es die bemerkenswerte Zeile: „Nothing is ever right with you / nothing is ever good with you”. Was macht es mit einer Person, wenn sie immer wieder das Gefühl hat, mit ihr sei nichts richtig, mit ihr sei nichts gut?
Mavi Phoenix:
Damals, als ich diese Zeilen geschrieben habe, hatte ich eine bestimmte Person vor Augen. Und heute frage ich mich, wie ich es mir überhaupt anmaßen konnte, solche Worte einem anderen Menschen in den Mund zu legen. Mittlerweile bin ich mir sicher, dass ich die Passage unterbewusst an mich selbst gerichtet habe, denn ich hatte mein ganzes Leben lang das Gefühl, nicht genug zu sein. Alles fühlte sich so an, als würde es nicht zusammenpassen. Und, als müsse ich dringend irgendetwas tun, um glücklich zu werden.
MYP Magazine:
Auch bei den anderen Songtexten weiß man nie so richtig, ob Du gerade Dich selbst, die Zuhörer*innen oder eine dritte Person meinst. Was reizt Dich so an diesem feinen Spiel mit Sprache?
Mavi Phoenix:
Ich würde das gar nicht als Spiel bezeichnen. Wenn ich heute einen Songtext schreibe, weiß ich eigentlich nie, wen ich da gerade im Kopf habe. Zwar ist das neue Album inhaltlich sehr nah an mir dran – vielleicht sogar näher, als viele vermuten – und verfügt über eine klare, direkte Sprache. Aber gleichzeitig stellt sich beim Hören auch dieses Gefühl ein, dass man nie wirklich weiß, wer gerade gemeint ist. Diesen Effekt mag ich sehr.
»Mit Falco fühle ich mich auf eine seltsame Art verbunden.«
MYP Magazine:
Apropos Songtext: In „So happy I’m useless“ gibt es die Zeile „Everything right / Mister Kommissar“. Man kann gar nicht anders, als diese Stelle als einen kleinen Gruß an den legendären Falco zu verstehen. Welchen Bezug hast Du zu dem 1998 verstorbenen Künstler, der bis heute als einer der kreativsten und erfolgreichsten deutschsprachigen Musiker gilt?
Mavi Phoenix:
Mit Falco fühle ich mich auf eine seltsame Art verbunden – wahrscheinlich, weil auch er ein sehr unsicherer Mensch war und vieles von dem zu kaschieren versucht hat, was wirklich in ihm vorgegangen ist. Ich vermute, dass Johann Hölzel, wie er mit bürgerlichem Namen hieß, immer das Gefühl hatte, selbst nicht gut genug zu sein. Nicht auszureichen. Nicht prickelnd oder cool zu wirken. Und so hat er mit Falco eine Kunstfigur erschaffen, die all das vermochte. Davon abgesehen ist es für uns Österreicher ohnehin crazy, weil Falco bis heute der Einzige ist, der weltweit was gerissen hat.
»Das einzig Wichtige ist, dass ich hungrig bleibe.«
MYP Magazine:
Neben Falco scheinen auch River Phoenix und Drake eine besondere Bedeutung für Dich zu haben.
Mavi Phoenix:
Absolut! River Phoenix hat mich zu meinem Künstlernamen inspiriert. Er war einfach ein cooler Typ, das hat mir imponiert. Ich wünschte, ich selbst wäre so cool. Auf ihn gestoßen bin ich durch meinen Vater, der immer viel von ihm erzählt hat. Leider ist River Phoenix sehr jung verstorben, eine wirklich tragische Geschichte. Aber mit „Stand By Me“ hat er sich eh unsterblich gemacht.
Und was Drake angeht, ist er wahrscheinlich der Künstler, dessen Musik ich in den letzten zehn Jahren am meisten gehört habe. Mittlerweile habe ich zwar ein paar Hemmungen, das zuzugeben, weil er als Person ein wenig cringy geworden ist, aber seine Songs mag ich nach wie vor sehr.
MYP Magazine:
Blicken wir in Deine musikalische Zukunft: Was kommt nach „Marlon“?
Mavi Phoenix:
Dieses Album habe ich weitgehend von der Gitarre aus entwickelt, das war nach dem letzten Album absolut neu für mich. Aber jetzt habe ich voll Lust, wieder etwas komplett anderes zu machen. Ich würde gerne noch Etliches ausprobieren, von dem ich aktuell denke, darin nicht so gut zu sein. Und ich möchte auf jeden Fall mehr rappen. Mal sehen. Das einzig Wichtige ist, dass ich hungrig bleibe und weiter Bock habe, Musik zu machen. Dann kommt am Ende eh irgendwas dabei heraus.
#maviphoenix #marlon #mypmagazine
Mehr von und über Mavi Phoenix:
Fotografie: Maximilian König
Interview: Jonas Meyer