Britta Heitkamp

Submission — Britta Heitkamp

Zeitwohlstand

26. September 2022 — Text: Britta Heitkamp, Fotografie: Tânia Ribeiro

Wie sähet ihr wohl aus, du und dein Leben
würdet ihr nicht viel zu oft
zu viel Zeit für Geld hergeben?
Müsstet ihr nicht täglich rechargen,
fundamentale Reserven aufladen,
müssten nicht immer Leerstellen und Müßiges
ganz unten auf einer to-do list landen?
Wurdet ihr etwa so designt? Als Batterie,
als Kollektiv an Arbeitskraft und Energie?
Dabei diskutiert die Welt bedingungsloses Grundeinkommen.
Ich wär‘ zunächst schon dankbar,
– und für mich liegt’s irgendwie auf der Hand –
hätten wir, mal ganz hypothetisch angenommen,
ein Gesetz für Zeitwohlstand.
Zeitwohlstand für alle.

Wir müssten nicht mehr jedes Jahr
in Neujahrsvorsätzen niederschreiben,
wer wir waren, nur mehr davon zu leben,
was wir lieben, um uns mehr Zeit dafür zu geben:
für mehr Frühlingsgefühle im Winter,
Akrobatik im Kopf und die Welt sehen wie Kinder.
Für mehr headspace für dich, im Herzen mehr Licht,
mehr inneres Klippenspringen, mehr Herzklopfen für mich.
So, als wär’s das Neujahr, das uns Renaissance,
das your best self verspricht.

Ich denke, gerade haben viele das Gefühl,
die Welt kämpft um sich an jeder Front,
mit uns an erster Stelle,
und schreibt dabei die Verantwortung
auf unsere Agenda.
Und wir nehmen sie an, die Last dieses Planeten,
als hätten wir’s gewollt, selbst um die Krise gebeten.
Doch wir, die Zukunft, scheinen trotzdem nie genug.

Sind mangelhaft, nicht engagiert, nicht motiviert genug.
Und so werden wir leise laut.
Fragen, nicht überall, doch immer öfter sicherlich:
Wie sieht’s mit mir aus, der Verantwortung für mich?
Und mit meinem Leben, meiner Zeit?
Wer, wenn nicht ich bestimm‘,
was davon am Ende bleibt?

Ja, die Zeit, lass uns darüber sprechen.
Zunächst eine Prämisse: Zeit ist knapp.
Hat Meister Hora per Definition wohl mal so gesagt.
Doch Zeit ist keine Ressource, wie Kohle oder Öl.
Zeit verändert nicht die Substanz, liegt nie brach,
Zeit ist nicht pflanzbar, wächst nicht nach.
Zeit lässt sich nicht sammeln, stehlen oder sparen
– du weißt schon, wie’s die grauen Männer sagen,
die in Geschichten unserer Zeit nachjagen.
In Wahrheit fließt die Zeit stetig weiter,
ohne Besitzer, unbeeindruckt,
ist subjektiv fühlbar, mal lauter und mal leiser.
Dennoch: Zeit ist schlichtweg endlich
und sie verschwenderisch zu nutzen
leider allzu menschlich.

Als nächstes also der Appell:
Hey du, geh achtsam um
mit den Ressourcen unserer Welt.
Auch das Leben lässt sich nachhaltig konsumieren.
Fang an bei dir und deiner Zeit,
da hast du gerade am meisten zu verlieren.
Verbuch es als achtsame Zeitökologie.
Nein, nicht Zeitmanagement oder Effizienz,
keine life optimisation Kompetenz.
Gemeint ist aktives Nichtstun und Genuss.
Nimm dir Zeit, die frei dir gehört,
du nichts und niemandem verpflichtet widmen musst.
Ja, gib Acht auf unseren Planeten.

Aber gib genauso Acht auf dein Leben.
They say, there is no plan(et) B.
Gab‘s – weder für die Erde oder für dein Leben –
noch nie.


Erik Lemke

Interview — Erik Lemke

»Ich weigere mich, aus meinen Protagonisten Opfer zu machen«

Mit seinen Dokumentarfilmen eröffnet Erik Lemke seinem Publikum einen unverstellten, nahbaren und nicht selten humorvollen Blick auf die Lebenswirklichkeit von Menschen, die unsere Nachbarn sein könnten – und über die wir doch so wenig wissen. Als feinsinniger Beobachter stellt er stets die individuellen Perspektiven seiner Protagonisten dar, aber diese niemals bloß – auch nicht bei seinem jüngsten Film, dem Diskursstück »Homöopathie unwiderlegt?«. Darin dokumentiert er eine Parallelwelt zur Schulmedizin, die als Relikt vorwissenschaftlicher Zeiten bis heute fortbesteht. Im Interview erzählt er, wie er als Kind Veronica Ferres begegnet ist, was er auf der Filmschule in Sankt Petersburg gelernt hat und warum es mal sein größtes Glück war, dass das gesamte Material eines Films im Kopierwerk verloren ging.

15. September 2022 — Interview: Katharina Viktoria Weiß, Fotografie: Frederike van der Straeten

MYP Magazine:
„Zuschauer sind Fremde, die man mit allen Mitteln cineastischer Verführungskunst in Freunde verwandeln möchte“, schrieb der bekannte deutsche Filmproduzent Günter Rohrbach vor einigen Jahren in einem Artikel für den Spiegel. Teilst Du diese Einschätzung, Erik?

Erik:
Was mir an dem Satz gefällt, ist das Selbstverständnis, für die Zuschauer zu arbeiten. Außerdem klingt die Formulierung „mit allen Mitteln cineastischer Verführungskunst“ ein bisschen nach Blockbuster-Filmen. In solchen Produktionen ist für jeden was dabei, da man versucht, mit einem möglichst breiten Publikum die hohen Investitionen wieder reinzubekommen. In diesem Bereich bewege ich mich nicht. Gerade bei meinem Homöopathie-Film habe ich mich nur sparsam aus dem filmischen Werkzeugkasten bedient.

»So schön lebten in der Gegend fast nur NVA- und Stasi-Offiziere, auch mein Opa gehörte zu dieser Nomenklatura.«

MYP Magazine:
Du bist in Dresden geboren und aufgewachsen. Welche Erinnerungen hast Du an Deine Kindheit?

Erik:
Meine Träume finden bis heute im Haus meiner Kindheit statt, einer Villa mit großem Garten, die im Dresdener Waldschlösschenviertel liegt. Dort haben meine Eltern und ich in den Achtzigern bei meinen Großeltern gewohnt. Der Ort war so ziemlich das Gegenteil vom Zentrum Berlins, ich konnte im Garten stundenlang den Pflanzen beim Wachsen zuschauen. Sogar aus dem Mauerwerk wuchsen Bäume und ich stellte mir vor, wie die Natur uns Menschen langsam verdrängt und sich ihren Lebensraum zurückholt. Die Zeit schien stillzustehen.

MYP Magazine:
Dieser Eindruck hat sich wahrscheinlich irgendwann korrigiert.

Erik:
Ja. Ich habe begriffen, dass es nicht üblich ist, so zu wohnen. So schön lebten in der Gegend fast nur NVA- und Stasi-Offiziere, auch mein Opa gehörte zu dieser Nomenklatura. Und Putin hatte sein KGB-Büro drei Häuser weiter. Nach der Wende hielten dann große Mercedes mit Münchner Kennzeichen in der Straße und die Villen wurden verkauft. Unser Haus ging an einen Chemiefabrikanten. Mittlerweile wohnen dort Kinder und Jugendliche in einem Wohnprojekt zusammen, was für mich eine schöne Vorstellung ist.

»Neulich wurde ich gefragt, wann ich mal einen ›richtigen‹ Film mache.«

MYP Magazine:
Wann hast Du dich erstmals mit Film auseinandergesetzt?

Erik:
Als Mitglied der Kinderjury auf dem Geraer Filmfestival „Goldener Spatz“ im Jahr 1995. Da habe ich gelernt, wie man über Filme spricht und sie bewertet. Alles stand unter dem Motto „100 Jahre Kino“. Die abstrakte Filmwelt wurde für mich fassbar und ich begriff, dass man in diesem Bereich auch arbeiten kann. Besonders gut verstand ich mich mit einer Frau aus der Erwachsenenjury, die sich als Schauspielerin vorstellte. Ihr Name: Veronica Ferres.
Langspielfilme waren für uns in der Kinderjury die Königskategorie. Darauf haben wir uns besonders gefreut. Diese Hierarchisierung von Filmgattungen erlebe ich übrigens immer noch. Neulich wurde ich gefragt, wann ich mal einen „richtigen“ Film mache.

MYP Magazine:
Warum hast Du dich in Deiner Arbeit auf den Dokumentarfilm fokussiert?

Erik:
Diesen Fokus hatte ich zunächst gar nicht. Nach dem Wehrersatzdienst in Russland stand ich irgendwann im Staatlichen Institut für Film und Fernsehen in Sankt Petersburg vor Wiktor Semenjuk, dem Leiter des Fachbereichs Regie. Der sagte, dass sie schon Spielfilm-Interessenten wie Sand am Meer hätten. Wenn ich durch die Aufnahmeprüfung käme, könnte ich aber bei seinem Kollegen Wiktor Kosakowski Dokumentarfilm lernen.
Kosakowski erinnerte sich, dass er mal beim Leipziger Dokumentarfilmfestival von meinem Vater interviewt worden war, was sich möglicherweise günstig auf meine Bewerbung ausgewirkt hat. Er suchte sich acht Studenten aus – und ward danach nie mehr gesehen. So wurde der damals noch relativ junge Dmitri Iwanowitsch Sidorow unser Dozent.

»Eine wichtige Lehre war, niemals einen Film zu machen, wenn man nicht eine unbedingte Notwendigkeit dafür spürt.«

MYP Magazine:
Du hast ihm Deinen ersten Langfilm „Berlin Excelsior“ gewidmet. Was hast Du von ihm gelernt?

Erik:
Sidorows Witwe meinte zu mir, er habe geflucht, dass wir nie seine Monologe mitstenografiert hätten. Eine ganze Filmtheorie hätten wir herausbringen können. Ich habe ihn geliebt.
Schwerpunktmäßig hat er uns mit der Arbeitsweise der „Leningrader Schule“ am früheren Leningrader Studio für Dokumentarfilm bekannt gemacht. Interviews und Monologe waren darin verpönt. Diese und andere Beschränkungen haben mein Co-Autor André Krummel und ich uns auch für „Berlin Excelsior“ auferlegt. Deshalb die Verbeugung vor meinem Lehrer im Abspann.

MYP Magazine:
Was würdest Du als essenziell in der Ausbildung an einer Filmschule bezeichnen?

Erik:
Ich kenne nicht genug Filmschulen, um das zu beantworten. Ich weiß nicht, ob mich eine andere Filmschule besser vorbereitet hätte. Eine wichtige Lehre war, niemals einen Film zu machen, wenn man nicht eine unbedingte Notwendigkeit dafür spürt. Und wer dieses dringende Bedürfnis spürt, kann auch quereinsteigen ins Filmgeschäft.

»Meine Botschaft an Russland wäre, die Ukraine zu verlassen.«

MYP Magazine:
Entschuldige, aber diese Frage drängt sich jetzt auf: Wie wirkt sich der russische Überfall auf die Ukraine auf Deine Russophilie aus, die ich Dir mal unterstelle.

Erik:
Es schockt mich. Ich kann es nicht mit dem zusammenbringen, was ich selbst erlebt habe. Ich war von 2003 bis 2007 in Russland und habe eine kontinuierliche Annäherung an Europa erlebt. Ich habe überhaupt kein Verständnis für die russischen Invasoren, würde aber auch selbst nicht die Waffe in die Hand nehmen zur Verteidigung. Ich scheue keine Auseinandersetzungen, aber bei körperlicher Gewalt steige ich aus.

MYP Magazine:
Wenn Du eine Botschaft an die Kriegsparteien übermitteln könntest, was würdest Du sagen?

Erik:
Meine Botschaft an Russland wäre, die Ukraine zu verlassen. An die Ukrainer hätte ich keine Botschaft, weil jede Entscheidung zu folgenschwer ist. Ich persönlich würde die weiße Fahne raushängen, emigrieren, in die innere Emigration gehen im Falle einer Diktatur – alles wäre mir lieber als Gewalt. Das hat noch nicht mal was mit Pazifismus zu tun, sondern einfach mit dem Wissen, dass ich vieles ertragen könnte, auch Unfreiheit. Kaum etwas ist so wichtig im Leben, dass ich den Tod vorziehen würde. Aber das ist keine Botschaft. Das ist nur, wie ich selbst handeln würde.

»Das Filmmaterial ging im Kopierwerk verloren – ich konnte mein Glück kaum fassen.«

MYP Magazine:
Du bist 2008 nach Toulouse gegangen und hast an der dortigen Filmschule ESAV Dein Studium abgeschlossen. Macht man sowas nicht mit einem Diplomfilm?

Erik:
Oh je, können wir das Kapitel bitte überspringen?

MYP Magazine:
Nein.

Erik:
Ich habe 2008 mit einem Szenenbildner einen Auszug aus Boris Vians „Der Schaum der Tage“ verfilmt. Es war ein reiner Atelierfilm und das Szenenbild war großartig. Nur mit meiner Inszenierung bin ich gescheitert. Dann passierte etwas Einmaliges: Das Filmmaterial ging im Kopierwerk verloren – ich konnte mein Glück kaum fassen. Ich würde immer sagen können, dass der Film ein Meisterwerk war, weil es sich nicht mehr nachprüfen ließ. Leider tauchte das Material nach ein paar Monaten wieder auf. Da hatte ich schon ersatzweise einen dreiminütigen Trashfilm als Diplomarbeit abgeliefert.

MYP Magazine:
Das wurde akzeptiert?

Erik:
Sie mussten es akzeptieren. Höhere Gewalt und so. Es war trotzdem ein Desaster. Der Film hieß auf Deutsch „Keine halben Sachen“. Der Schuldirektor Guy Chapouillé sagte dazu, das seien keine halben Sachen, das sei die Hälfte von nichts. Es war ein Western-Klamauk, ebenfalls mit tollem Szenenbild, verlebten Gesichtern und einem relativ großen Stab umgesetzt. Der Lehrer, der mich dazu ermutigt hatte, hieß Helmut-Ulrich Weiss. Er sah aus wie Obelix. Während alle im Kinosaal sich aufregten, wie man nur so einen schlechten Film machen kann, habe ich überlegt, wie ich aus der Situation wieder rauskomme. Endlich erhoben sich die Zuschauer und gingen. Da kam der liebe Obelix zu mir vor und ich dachte: „Nein, bitte nicht. Nicht jetzt trösten kommen. Nicht mit den Armen…“ Aber da legte er schon seine dicken Arme um mich und sagte, dass er den Film gut fand. Und da habe ich geweint.

MYP Magazine:
So schlimm war das für dich?

Erik:
Damals ja.

»Ob man Akademiker ist oder nicht, interessiert doch in meinem Metier keinen.«

MYP Magazine:
Auf diese Weise auf Deinen Beruf vorbereitet bist Du dann nach Deutschland zurückgekommen.

Erik:
Ja, ich bin meiner Liebe nach Köln gefolgt, kannte dort aber weiter niemanden. Ich wusste nicht, wie man als Regisseur Arbeit findet. Kleiner Spoiler: Das weiß ich auch heute noch nicht. Also habe ich erst mal Hartz IV beantragt und dann bei Studentendrehs mitgemacht. Nach einem Jahr war ich so lange arbeitslos, dass besondere Förderprogramme griffen und ich als Animator eine Festanstellung in einem Trickfilmstudio in Dresden bekam.

MYP Magazine:
Warte mal, versucht man Lücken im Lebenslauf nicht zu kaschieren?

Erik:
Mache ich sonst auch. Aber spielt es eine Rolle? Auch, ob man Akademiker ist oder nicht, interessiert doch in meinem Metier keinen. Außer einmal in der Jugendarbeit. Da haben sie darauf Wert gelegt.

MYP Magazine:
Wie war es damals für Dich, Angestellter zu sein?

Erik:
Ich habe mich zum ersten Mal als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft gefühlt und denke gerne daran zurück – denn wenn ich wie jetzt freiberuflich arbeite, wird das von vielen nicht ernstgenommen. In deren Augen ist das so: Entweder man faulenzt, wenn lange nichts geschieht, oder man hat durch Talent und Glück plötzlich unverdienten Erfolg. Dass beide Phasen zusammenhängen, ist weniger offensichtlich.

»Film ist für mich destilliertes, auf das Wesentliche reduziertes und in Form gebrachtes Leben.«

MYP Magazine:
Warst und bist Du immer informiert über aktuelle Tendenzen im Dokumentarfilm?

Erik:
Kennt man die Filmgeschichte und aktuelle Tendenzen, kann man bekannte Fehler vermeiden. Man läuft nicht Gefahr, filmische Gestaltungsmittel zu verwenden, die bereits abgenutzt sind. Ansonsten gehe ich ohne besondere Recherche-Interessen ins Kino. Natürlich gibt es Filme, die mich besonders inspirieren…

MYP Magazine:
… die da wären?

Erik:
Das sind meistens Filme mit einer überschaubaren Anzahl an Charakteren, die in einem nachvollziehbaren Setting angesiedelt sind. Die Spielregeln müssen klar sein. Aus der Beschränkung heraus entstehen bei mir die besten Ideen. Das Gegenteil dazu sind beispielsweise Filmepen wie „Vom Winde verweht“. Da ist der Name Programm und ich kann meine Gedanken nicht mehr zusammenhalten.
Film ist für mich destilliertes, auf das Wesentliche reduziertes und in Form gebrachtes Leben. Unser menschliches Talent, Chaos und Zufall mit einem Sinn und einer Dramaturgie zu versehen, ist beim Dokumentarfilm zugleich Vorteil und Gefahr.

MYP Magazine:
Wie meinst du das?

Erik:
Wenn ich mir aus Menschen und ihren Geschichten einen Dokumentarfilm forme, riskiere ich immer, ihnen nicht gerecht zu werden. Das muss man als Zuschauer wissen. Ein Dokumentarfilm kann nicht die Funktion einer soziologischen Studie erfüllen.

»Niemand von ihnen will für immer in einem kleinen Apartment ohne Balkon ausharren.«

MYP Magazine:
Lass uns als Beispiel Deinen Dokumentarfilm „Berlin Excelsior“ nehmen. Darin hast Du die Menschen im sogenannten Excelsiorhaus im Berliner Stadtteil Kreuzberg portraitiert. Das ist ein etwas in die Jahre gekommenes Hochhaus, das wenige hundert Meter südlich des Potsdamer Platzes liegt – und in dem Du selbst wohnst. Wie bist Du da vorgegangen?

Erik:
Mein Co-Autor André Krummel und ich haben uns gefragt, unter welchem Leitmotiv man das Leben in diesem Gebäude zusammenfassen könnte. Schon das ist gewissermaßen Manipulation am Objekt und an den Menschen, man nennt es auch „die Autorensicht“. Ausgehend von den Menschen, mit denen ich am meisten Kontakt hatte, und sicher auch von meiner eigenen Situation wurde das dominante Thema „Leben in der Warteschleife“: Alle im Film haben Pläne, die sie verfolgen, niemand von ihnen will für immer in einem kleinen Apartment ohne Balkon ausharren.

MYP Magazine:
Ich kann mir in der Tat vorstellen, dass sich viele Bewohner des Excelsiorhauses nicht mit diesem Lebensgefühl identifizieren.

Erik:
So ein Leitfaden oder eine Botschaft wird nicht direkt kommuniziert im Film. Uns hat es geholfen, in der Vielseitigkeit der Biografien und Ereignisse nicht den Überblick zu verlieren. Es gibt dem Film, der ganz viele Menschen zeigt und vier davon eine Zeit lang durchs Leben begleitet, eine innere Geschlossenheit. Außerdem verhandelt man damit auch ein gesamtgesellschaftliches Thema. Den Zuschauern, die tiefer in die Analyse einsteigen wollen, muss der Film genug Material liefern. Wer keine Lust auf eine tiefere Beschäftigung hat, sollte wenigstens gut unterhalten werden. Deshalb ist mir der Unterhaltungswert wichtig.

»Ich weigere mich, aus meinen Protagonisten Opfer zu machen. Das käme einer Entmündigung gleich.«

MYP Magazine:
Ich habe mich bei jedem Deiner Dokumentarfilme sehr amüsieren können, sogar bei „Mich vermisst keiner!“, einem Halbstünder, den Du 2016 auf dem Festival „DOK Leipzig“ vorgestellt hast. Wie gelingt es, selbst in den traurigsten Lebensgeschichten noch diese humoristischen Momente einzufangen?

Erik:
Zuerst einmal, weil ich mich weigere, aus meinen Protagonisten Opfer zu machen. Das käme einer Entmündigung gleich. Dann auch, weil Menschen nicht permanent nur belastet und leidend sind, sondern stellenweise über sich stehen und die eigene Situation ironisch kommentieren können. Diese Gabe zeichnet etwa Rentnerin Evelin in „Mich vermisst keiner!“ aus. Ohne Beine lebt sie seit Jahren eingesperrt in ihrer Neubauwohnung ohne Fahrstuhl. Wenn ich ein solches Schicksal erzähle, muss ich darunter nicht noch einfühlsame Musik legen oder sie von oben herab einen „ganz besonderen Menschen“ nennen. Der Humor entsteht einfach durch die Situationskomik. Deshalb markiere ich während der Filmmontage komische Momente und versuche sie um jeden Preis zu bewahren.

MYP Magazine:
Und das machen andere Dokumentarfilmregisseure nicht so?

Erik:
Viele organisieren ihr Material rein inhaltlich. In unserem Berufsverband „AG DOK“ tauscht man sich ständig darüber aus, welche Spracherkennungssoftware denn nun die beste wäre zur Transkription von Interviews. Die entsprechenden Dokus entstehen zuerst am Schreibtisch und nicht am Schnittplatz. Das Ergebnis ist auf der Informationsebene makellos. Ich will aber unterhalten! Und viele Zwischentöne, feiner Witz, auch nonverbal, entgehen der Spracherkennungssoftware.

»Man kann die Homöopathie jahrzehntelang praktizieren und nicht mitbekommen, wie man sich in die eigene Tasche lügt.«

MYP Magazine:
Auch Dein Film „Homöopathie unwiderlegt?“ wirkt recht kurzweilig, obwohl dort 86 Minuten lang nur gesprochen wird. Damit erzählst Du aber erstmals keine (Lebens-)Geschichte, sondern behandelst ein konkretes Thema. Das passt doch nicht zu Dir.

Erik:
Jein! Auch in diesem Film nehme ich mir ein exakt umrissenes Stück der Realität vor und dokumentiere es akribisch. Nämlich die Homöopathie in den Köpfen derer, die damit Geld machen. Es handelt sich dabei um eine 200 Jahre alte Pseudolehre, die auf geniale Weise natürliche Genesungsprozesse als eigene Erfolge ausgibt. Man kann sie jahrzehntelang praktizieren und nicht mitbekommen, wie man sich in die eigene Tasche lügt. Um das verstehbar zu machen, exploriert der Film weniger auf der bildlichen, sondern mehr auf der Wortebene.

MYP Magazine:
Du hättest in „Homöopathie unwiderlegt?“ auch Patienten beobachtend dokumentieren können…

Erik:
Klar. Ich hätte mir sogar diejenigen rausfischen können, die scheinbar von der Methode profitieren. Es gibt aber keinen validen Hinweis auf eine arzneiliche Wirksamkeit der Homöopathie, das bestätigen in meinem Film sogar jene Fürsprecher der Behandlungsmethode, die die Studienlage kennen.

»In der Homöopathie gibt es diesen Willen zur Fehlerkorrektur nicht.«

MYP Magazine:
Glaubst du, dass Dein Homöopathie-Film etwas gesellschaftlich verändern kann?

Erik:
Ich glaube nicht daran, dass jemand als glühender Verfechter der Homöopathie ins Kino geht und durch meinen Film ernsthaft ins Zweifeln kommt. Ich erlebe aber positive Entwicklungen, was unsere Fehlerkultur angeht, auch im Zuge der Corona-Pandemie. Da wurde transparent erlebbar gemacht, wie Wissenschaft funktioniert. Mit dem Zuwachs an Erkenntnissen mussten Entscheidungen angepasst werden, Zulassungen für Impfstoffe wurden teilweise zurückgenommen und all das war gut nachvollziehbar und wurde offen kommuniziert. In der Homöopathie gibt es diesen Willen zur Fehlerkorrektur nicht. Noch nie wurde ein Homöopathikum wieder aus dem Arzneischatz entfernt, negative Studienergebnisse bleiben ohne Konsequenz. Ein unaufgeregter Umgang mit Irrtümern und kontinuierliche Aufklärung sind auf lange Sicht fruchtbar.

MYP Magazine:
Gab es Reaktionen auf den Film, die in die von Dir erhoffte Richtung gehen?

Erik:
Gefreut habe ich mich über einige Homöopathie-Patienten, die durch den Film neugierig geworden sind, was denn am Ende gewirkt haben könnte, wenn es die homöopathischen Mittelchen definitiv nicht sein können. Diese Frage darf auch erst mal offenbleiben. Wenn sich die ideologische Versteifung auf die Dogmen der Homöopathie wenigstens etwas lockern würde, wäre das bereits sehr positiv.

»Don’t be a director! Be an audience!«

MYP Magazine:
Hast Du konkrete Pläne für die Zukunft?

Erik:
Auf jeden Fall. Aber wenn Du einen neuen Langfilm meinst, spüre ich im Moment noch nicht die Dringlichkeit. Es fehlt nicht an guten Filmen, es fehlt an Zuschauern. „Don’t be a director! Be an audience!“ Ich stelle mich als Zuschauer zur Verfügung und wenn ein notwendiger Film partout nicht gemacht wird, dann mach‘ ich ihn.

Streaming:

„Homöopathie unwiderlegt?“ von Erik Lemke kann aktuell auf Vimeo angesehen werden, die Filme „Berlin Excelsior“ und „Mich vermisst keiner“ gibt’s beim Streamingdienst Sooner.

Kinovorführungen im ACUD Berlin:

03.11.22, 19:00 Uhr: „Homöopathie unwiderlegt?“
in Anwesenheit von Erik Lemke

Kinovorführung im B-Movie Hamburg:

08.11.22 Homöopathie unwiderlegt?
in Anwesenheit von Erik Lemke


Emily Roberts

Interview — Emily Roberts

»Ich werde noch den letzten Song über die Liebe schreiben«

Emily Roberts ist eine poetische Biografin, die ihre Leidenschaften konsequent in ihren Songs nachzeichnet. In ihrer Popmusik verleiht sie großen und kleinen Lieben ein Stück Ewigkeit – und versprüht dabei ein unwiderstehliches Selbstbewusstsein. Ein Gespräch über Aufrichtigkeit, sexy Feminismus und das Abschütteln von Vaterkomplexen.

28. August 2022 — Interview: Katharina Viktoria Weiß, Fotografie: Ansgar Schwarz

Die fürchterlich-fabelhafte Welt der Emily Roberts: Wenn es eine Künstlerin versteht, Kraft aus der Ambivalenz zu schöpfen, dann die 28-jährige Singer-Songwriterin. Dennoch war es Zufall, dass ausgerechnet ein Elektro-Cover des The Verve-Klassikers „Bitter Sweet Symphony“ zu ihrem ersten großen Hit wurde. 21 Wochen lang stand der Titel in den deutschsprachigen Airplay-Charts und erreichte dort Goldstatus. Ambivalent und bittersüß sind auch ihre selbst verfassten Texte, die oft vor Frühlingsgefühlen pulsieren und gleichzeitig jede Menge Weltschmerz hinausschreien.

Der Ort, an dem wir uns mit Emily zum Interview treffen, scheint ganz und gar zu diesen großen Gefühlen zu passen: Das 21 Gramm in Neukölln ist ein Kleinod. Die Räumlichkeiten des Cafés dienten einst dem benachbarten Friedhof als Leichenhalle. Heute mischen sich Berliner Angehörige, die ihre Verstorbenen besuchen, ebenso unter die Gäste wie zugezogene Hafermilch-Fans. Heute ist das Café unter der Leitung von Jenny Kasten vor allem ein Brunch-Hotspot.

Auch Emily Roberts wohnt um die Ecke, ihre WG im Neuköllner Kiez ist zugleich Homeoffice und oft auch Musikvideo- und Fotokulisse ihrer Kreativprojekte. Die gebürtige Hamburgerin schreibt seit über einer Dekade brutal ehrliche Popsongs. Ihre Geschichten sind wunderschön, weil sie die Liebe in den Zwanzigern so herrlich prachtvoll einfangen und dabei das Drama der hormongebeutelten Fallhöhe nicht scheuen. Irgendwie schafft sie es, dabei vielleicht kitschig, aber nie klischeehaft zu klingen. So sind die Songs manchmal süß, aber nie peinlich. Und in den ganz großen Titeln spürt man die Unendlichkeit mancher Leidenschaften so intensiv, dass man entweder eine eigene verflossene Liebe anrufen oder sich sofort neu verknallen möchte. Wenn das kein Grund für ein ausführliches Interview ist…

»Das Leben passiert uns allen – und ohne Ehrlichkeit ist es noch anstrengender.«

MYP Magazine:
Deine EP „Thank You For Leaving“ hast Du über das Verlassenwerden und Verlassen geschrieben. Dabei wirst Du sehr konkret – man merkt, dass die Lieder über Dein Lieben und Leiden erzählen. Braucht man viel Mut, um so schonungslos autobiografisch zu texten und sich nicht hinter abstrakten Fabeln zu verstecken?

Emily Roberts:
Ich schreibe sehr viel über meine zwischenmenschlichen Beziehungen. Häufig bringe ich dabei Insider unter, die nur mein Gegenüber versteht und diese Person ganz genau weiß, dass es – meistens – um ihn geht. Das empfinde ich aber gar nicht als Mut. Ich bin ein offenes Buch und vertraue fremden Menschen sehr schnell. Andersherum erzählen mir die Leute auch häufig sehr intime Dinge, da kann ich aber gut die Klappe halten. Auch in meiner Musik sehe ich es als meinen Auftrag, Menschen zu verbinden, damit wir uns alle weniger allein fühlen. Denn das Leben passiert uns allen – und ohne Ehrlichkeit ist es noch anstrengender. Wer das nicht aushält, hält mich im Gesamten nicht aus.

MYP Magazine:
Ist das mal schiefgelaufen?

Emily Roberts:
Es gab immer wieder unangenehme Situationen, in denen ich mir selbst das Leben schwer gemacht habe, weil ich so offene und spezifische Texte geschrieben habe. Eine Beziehung habe ich mir auf jeden Fall aufgrund eines Songs auf dieser EP richtig kaputt gemacht. Aber wenn ein Lied für das Ausmaß dieser Zerstörung ausreicht, dann soll es vielleicht so sein.

»Ich war meinem Exfreund fast schon dankbar, dass er mich durch die Hölle geschickt hat.«

MYP Magazine:
Dein Song „Radio“ versteckt dagegen ganz und gar nicht, dass Du damit einem Ex eine Rachebotschaft sendest.

Emily Roberts:
Stimmt, das ist der klassische „Schau mal, wie gut es mir ohne dich geht“-Song. Ich singe: „You’re the best mistake that I’ve made.“ Die Situation dazu war folgende: Nach einer schrecklichen, kurzen Beziehung habe ich jemand ganz Tollen kennengelernt, der mich völlig gegensätzlich als die Person davor behandelt hat, nämlich nur gut. Streit war kein Thema mehr in meinem Leben. Als ich das erleben durfte, war ich meinem Exfreund fast schon dankbar, dass er mich durch die Hölle geschickt hat, da ich diesen neuen Mann in meinem Leben vielleicht nur deshalb so grundlegend wertschätzen konnte. Dieser neue Mann war so unfassbar nett – früher hätte mich das beinahe abgeturnt. Aber durch diesen Kontrast konnte ich einsehen: „Ja, das verdiene ich jetzt.“

»Meine Neigung zu Arschlöchern hängt definitiv mit meinem Vater zusammen.«

MYP Magazine:
In „Hemingway“ spielst Du auf die komplexe Beziehung zu Deinem Vater an: „You were nothing but my daddy issue“. Hat Dein Vater deinen Männergeschmack geprägt?

Emily Roberts:
Ja, meine Neigung zu Arschlöchern hängt definitiv mit ihm zusammen, denn das war die einzige Liebe, die ich kannte. Danach brauchte ich eben den einen Mann, der das Fass zum Überlaufen bringt, um die Vaterkomplexe abzuschütteln.

MYP Magazine:
Bist Du bei dem netten jungen Mann geblieben?

Emily Roberts:
Solange es nett war, waren wir zusammen. Ich empfinde Trennungen aber gar nicht als etwas so Dramatisches. Disney hat uns zwar gelehrt, dass wir mit der richtigen Person für immer zusammenbleiben, aber ist das noch zeitgemäß? Das Leben ist lang, hört man oft – aber das Leben ist auch kurz. Vieles hat ein Ablaufdatum. Und wir Menschen verändern uns ständig. Deshalb finde ich diesen sehr unromantischen Begriff Lebensabschnittsgefährte tatsächlich mehr oder weniger korrekt: Für den Abschnitt, in dem ich damals steckte, war genau dieser Mensch perfekt. Und dann hat es mich woanders hingezogen, auch körperlich: Ich wollte und musste ganz viel reisen. Und das geht leider am besten, wenn man Pläne allein macht. Die Trennung war deshalb sehr friedlich und einvernehmlich.

»Ein Song über die Liebe zu schreiben, ist für mich das spannendste Spiel mit einem Gegenüber.«

MYP Magazine:
Das heißt, die kommenden Songs werden vielleicht verstärkt von Solo-Abenteuern handeln und weniger von Liebhabern?

Emily Roberts: (lacht)
Ich schreibe so gerne über die Liebe. Ich habe meinen ersten Song über die Liebe geschrieben und werde vermutlich auch meinen letzten Song über die Liebe schreiben. Es ist für mich das spannendste Spiel mit einem Gegenüber – wie eine gute Partie Tennis.

MYP Magazine:
Ein Lied, das mir besonders gut gefällt, heißt „Lipstick Stains“. Welche inneren Konflikte bespricht es?

Emily Roberts:
Zwei Tage nach der Trennung, die ich in diesem Song verarbeitet habe, war ich im Studio. Und ich habe mich nicht getraut, Mascara zu tragen, weil ich in den 24 Stunden davor sehr viel geweint habe. Aber ich trug den Lippenstift, um den es geht. Der hatte eine sehr echte Rolle in dieser Trennung. Und wenn man „Lipstick Stains“ hört, ist es ein bisschen so, als wäre man an diesem Abend dabei gewesen, weil ich diesen Mann oft zitiere: „You say you‘re scared of ending up in a song / Scared of me writing it down and moving on.“ Das hat dieser Mensch so zu mir gesagt.

MYP Magazine:
Was hast Du ihm in dieser Situation entgegnet?

Emily Roberts:
Sowas wie: „Ja, vielleicht mache ich das. Du weißt, dass es das ist, was ich immer mache. Und ich dachte, du wärst anders. Und nicht nur ein bis drei Songs.“ Mittlerweile sind wir aber sehr gute Freunde. Das können wir richtig gut, auf diese Art und Weise haben wir unser Happy End gefunden. Wir haben ganz viel Liebe füreinander, auch wenn wir einfach nicht in eine Beziehung gehören.

»Ich hatte in L.A. mit einem viel stärkeren Kampf gerechnet, den ich von der Ellenbogengesellschaft in Deutschland gewohnt war.«

MYP Magazine:
Dafür scheinst Du ganz neue Zugehörigkeiten entdeckt zu haben, etwa was die USA und Großbritannien betrifft. Dort bist du zurzeit viel unterwegs. Gibt es in diesen Ländern einen anderen Vibe in der Unterhaltungsindustrie, als du ihn in Berlin erlebst?

Emily Roberts:
Alle meine Freundinnen machen Deutschpop – ich kann nie mit ihnen zusammenarbeiten, weil wir eine Sprachbarriere haben. Deshalb fühle ich mich hier manchmal wie ein Alien. Aber da ich halbe Britin bin, liegt mir diese Sprache künstlerisch einfach näher. Zudem habe ich seit meinen beruflichen Reisen in die USA den Eindruck, dass das Miteinander dort offener ist. Da hängen Grammys an der Wand und trotzdem sind die Menschen total motiviert, mit mir zu arbeiten. In Los Angeles konnte ich viel mehr ich selbst sein. Dabei hatte ich dort mit einem viel stärkeren Kampf gerechnet, den ich von der Ellenbogengesellschaft in Deutschland gewohnt war.

MYP Magazine:
Der Stadt Berlin hast Du einen Großteil deiner wilden Zwanziger gewidmet. Was ist Dein Fazit dieser Jugend aus kreativer Perspektive?

Emily Roberts:
Wild war es wirklich. Ich bin nach Berlin gezogen und habe gefühlt gar nicht mehr geschlafen. Ich habe hier superviele neue Freundinnen kennengelernt und auch beruflich haben sich ganz neue Welten eröffnet. Davor steckte ich leider in einem Exklusivvertrag und durfte nur mit einem einzigen Produzenten arbeiten, was ein absoluter Witz war. Aber als das endlich hinter mir lag, habe ich mich extrem ausgetobt und über alle Genres hinweg mit verschiedensten Leuten gearbeitet, bis ich endlich zu dem Sound gefunden habe, den ich jetzt verfolgen möchte. Auf diesem Weg hat Berlin mich maßgeblich geprägt.

»Würde ich Kohle machen wollen, hätte ich Investmentbanking gelernt.«

MYP Magazine:
Was sind die Unterschiede zwischen Berlin und Deiner Heimstadt Hamburg?

Emily Roberts:
In Hamburg herrscht eher eine Nase-hoch-Attitüde gegenüber Popmusik. Mir wurde vorgeworfen, dass ich kommerzgeil sei und deshalb diese Art von Liedern schreibe. Aber wenn ich unbedingt Kohle machen wollte, hätte ich Investmentbanking gelernt und keine Musikkarriere gewählt. Das ist ein sehr steiniger Weg.

MYP Magazine:
Du wirst oft als Singer-Songwriterin bezeichnet. Was bedeutet dieser Begriff für Dich?

Emily Roberts:
Für mich heißt das ganz klassisch: Ich bin Sängerin und ich schreibe meine Lieder selbst. Womit ich mich allerdings schwertue, ist diese Idee, dass man als Künstler:in nicht zusammen mit anderen Menschen an den eigenen Liedern arbeiten darf. Wenn man offen darüber spricht, gibt es Leute, die finden, dass man an Authentizität verliere. Dabei kann es sehr spaßig sein, mit Co-Writer:innen zu arbeiten. Für mich funktioniert dieses Bild sehr gut: In einer Großküche hast du auch jemanden, der die Karotten schneidet und das Nudelwasser aufsetzt. Aber wenn du der Chefkoch bist, hast du das Menü kreiert und trägst auch die Verantwortung dafür.

»Einen Song spiele ich nicht mehr, weil daran ein Täter mitgewirkt hat.«

MYP Magazine:
Du bist eine scharfe Beobachterin der Entertainment-Branche und äußerst Dich häufig öffentlich zu gesellschaftlich wie politisch relevanten Themen. So etwa zum Fall Luke Mockridge, der von seiner Ex-Partnerin Ines Aioli wegen Vergewaltigung angezeigt wurde. Warum ist Dir das so ein Bedürfnis?

Emily Roberts:
Gerade im popkulturellen Umfeld erlebe ich immer wieder, dass in Situationen, in denen Frauen öffentlich machen, was ihnen zugestoßen ist, die Leute erst mal auf Abstand gehen und sagen: „Ob das so wirklich so passiert ist, wissen wir nicht, wir waren ja nicht dabei.“ Natürlich waren sie nicht dabei. Aber die Frauen, die Betroffenen, die waren dabei. Und es kostet sie gerade eine enorme Überwindung und sehr viel Mut, uns davon zu berichten – und zwar öffentlich. Ines Aioli zum Beispiel ist eine Freundin von mir. Und ich kann nicht verstehen, warum so viele Leute einen mutmaßlichen Täter auf Social Media bis aufs Blut verteidigen, nur weil sie mal über einen Witz von ihm gelacht haben. Gleichzeitig ärgert es mich, dass es für viele Täter immer noch so wenige Konsequenzen gibt.

MYP Magazine:
Aus genau diesem Grund hast Du einen Song aus Deinem Repertoire genommen…

Emily Roberts:
Es gibt einen veröffentlichten Song von mir, den ich nicht mehr spiele oder bewerbe, weil daran ein Täter mitgewirkt hat. Weder ich noch dieser Täter sollen an dem Lied noch einen Cent verdienen. Meine Werte stehen immer über allem, sogar über der Kunst.

»Ist es politische Musik, die nicht erwünscht ist, oder feministische?«

MYP Magazine:
Hast Du aus der Musikindustrie mal die Ansage bekommen, dass Du zu laut bist?

Emily Roberts:
Ich habe von jemandem mal das Feedback bekommen, dass politische Musik so nicht erwünscht ist. Doch die Situation gestaltete sich so, dass ich mir die Frage gestellt habe: Ist es politische Musik, die nicht erwünscht ist, oder feministische? Als wolle man die Leute im Radio an einem sonnigen Nachmittag nicht daran erinnern, dass die Welt scheiße ist.

MYP Magazine:
Wie gehst Du mit dieser Ausgangssituation als Künstlerin um?

Emily Roberts:
Man muss einen schmalen Pfad finden, ich nenne meinen immer „sexy Feminismus“. Weil ich eine absolute Feministin bin und eine sehr feminine Frau. Ich fühle mich gerne super weiblich. Mein Weg ist es, politische Themen ein bisschen in Zuckerguss zu verpacken, damit wir gemeinsam darüber reden können und sich niemand vor den Kopf gestoßen fühlt – obwohl ich gerne alle mit dem Zaunpfahl abschlachten möchte, so wichtig ist mir das Thema. Aber ich weiß, dass wir als Gesellschaft noch nicht so weit sind.

»Die Schwangerschaft war das Resultat meines absoluten Kontrollverlusts.«

MYP Magazine:
Vor kurzem hast Du auf Instagram die politischen Entwicklungen in den USA mit einer persönlichen Abtreibungsgeschichte kommentiert. War das befreiend?

Emily Roberts:
Ich habe darüber acht Jahre nicht gesprochen, vor allem, weil ich es meiner Mutter nie erzählt hatte. Damals als junges Mädchen war ich in einer furchtbaren Beziehung und die Schwangerschaft war das Resultat meines absoluten Kontrollverlusts in diesem Liebesverhältnis. Meine Mutter fand den Jungen ohnehin echt scheiße. Ich habe mich also aus vielen Gründen so sehr geschämt, dass das passiert ist. Der Abbruch geschah dann im Nebel eines eingesetzten Überlebensmodus. Aber diese ganze Situation und das Stigma drumherum waren extrem schmerzhaft für mich. Dieses Erlebnis jetzt endlich mit anderen Menschen teilen zu können, hat sich wirklich gut angefühlt. Würden wir viel offener über das Thema Abtreibung sprechen, hätten die USA jetzt vielleicht eine andere Rechtslage erwirkt.

»Ich will, dass die Menschen wissen, dass ich eine Frau bin, die einen Schwangerschaftsabbruch durchgemacht hat.«

MYP Magazine:
Denkst Du manchmal daran, wie dein Leben verlaufen wäre, wenn das nicht möglich gewesen wäre?

Emily Roberts:
Ja. Und ich will, dass die Menschen, die auf meine Konzerte kommen, weil sie meine Musik mögen, wissen, dass ich eine Frau bin, die einen Schwangerschaftsabbruch durchgemacht hat. Wenn ich mit 20 ein Kind bekommen hätte, hätte ich mich wahrscheinlich nicht so konsequent meiner Musikkarriere widmen können. Und dazu hätte ich immer diesen schrecklichen Menschen als Vater des Kindes in meinem Leben. Jetzt habe ich den Luxus, dass ich nicht einmal mehr an ihn denken muss. Das hätte mich komplett unglücklich gemacht.

Katharina Weiß:
Die freie Wahl hat Dir die Möglichkeit gegeben, nun auf andere Weise zu erschaffen. Wie werden Deine Song-Babys geboren?

Emily Roberts:
Ich bin die obsessivste Demo-Hörerin. Wenn ich die Aufnahme nicht direkt danach aus dem Studio mitnehmen kann, werde ich irre. Häufig höre ich das Lied hunderte Male nacheinander an. Manchmal gefällt es mir dann immer besser, manchmal nicht. Auf jeden Fall versuche ich, meine Lieder immer so schnell wie möglich fertigzustellen. Ansonsten brennt mir das offene Projekt auf der Seele. Leider dauert es oft ewig von der Aufnahme bis zur Veröffentlichung. Das finde ich immer schlimm, ich bin da total ungeduldig. Oft finde ich den Song, den ich als letztes geschrieben habe, am geilsten.

»Wenn es mir schlecht geht, ziehe ich meine pinkfarbene Jogginghose an.«

MYP Magazine:
Die Sprache in Deinen Songtexten ist sehr bildhafte, ähnlich verhält es sich auch mit Deinem Klamottenstil. Wie hat sich diese besondere Outfit-Ästhetik entwickelt?

Emily Roberts:
Ich liebe einfach Dinge. Und ich finde es toll, Gegenstände aus ihrem Kontext zu entfremden, gerade in der Mode. Ich habe zum Beispiel Ohrringe in Form von angezündeten Zigaretten oder Transformers-Miniaturen. Das macht dem Kind in mir großen Spaß. Auch meine Wohnung ist superbunt und lebensbejahend. Kürzlich ist mir zudem aufgefallen, dass ich oft versuche, mit Gegenständen meine Stimmung zu beeinflussen. Wenn es mir schlecht geht, ziehe ich meine pinkfarbene Jogginghose an und schaue, ob es hilft. Manchmal klappt es.


Máni Orrason

Interview — Máni Orrason

»Every single person that I’ve tried to be has felt strange«

For many years, Máni Orrason had a reputation as a cute youngster who talks openly about his emotional state and wraps it up in pleasing pop music—a role he had given himself. With his new album, »The World Is Big And You Will Never Find Me,« he not only shows several new musical facets of himself, but the young man also seems to have grown up to be a little more at peace with himself. We met with him for a very personal interview about self-acceptance, his obsession with nostalgia, and the idea of torturing himself in a video.

19. August 2022 — Interview & Text: Jonas Meyer, Photography: Juliusz Gastev

It is remarkable how differently people deal with the past. Some mourn their old selves, others want nothing more to do with them, and still others have made their peace with the person they used to be, celebrating the progress they’ve made and the wisdom they’ve gained.

Máni Orrason does a little bit of everything. The 24-year-old musician who was born in Iceland, lived in Spain for a long time, and moved to Berlin a few years ago, has just released a new album that is the best proof of this. With “The World Is Big And You Will Never Find Me,” on the one hand, he distances himself from his self-assigned role as a cute youngster making pop music. At the same time, the new album feels like a tribute to all the music that has inspired Máni throughout his life, especially his teenage years.

With the anthemic and energetic sound of tracks like “Dreama,” for example, he takes us back to the nineties and the peak times of garage rock. Then there are songs like “Death By Head” that with their dreamy and ballad-like sound seem to come directly out of a love drama, whereas pieces like “I Just Can’t Have It All” could be part of a soundtrack for a high school series.

The new album is by no means something to erase the past, but Máni uses it to document the significant personal progress he’s made, musically and emotionally. And what is most important: This thoughtful young man still speaks so openly and sincerely about his flaws, demons, and insecurities that he continues to create a safe space for his audience with his music.

A couple of weeks before the album release, we met the sensitive and candid musician for an interview at Berlin Funkhaus Nalepastraße, a huge building complex under monument protection where the GDR’s state radio once had its headquarters. Today it is abuzz with countless creatives, including musical artists who have set up their studios here—including Máni Orrason. What an inspiring example of honoring the past!

»I’ve always presented a pre-defined, stylized version of how I wanted to be perceived.«

MYP Magazine:
Máni, in the press kit for your new album you say: “So much of the new album is me trying to hide in public or run away from something.” We were wondering what part of your personality you are talking about, because you used to speak very openly about your feelings, fears, and weaknesses—as for example a video interview with Diffus. Can you explain this supposed contradiction?

Máni Orrason:
I’m aware of the fact that I give a lot of different signals through the new album. In its various tracks I sometimes put myself into the role of a big rockstar who’s not giving a fuck, and sometimes it happens that I seem to be the complete opposite—which means I’m depressed and don’t want to live on this planet anymore. For me, listening to the record feels like I’m not defining a certain vision or idea of myself—you just can’t pinpoint me. I think that’s because in the past, I struggled so much with my performed identity, as I used to call it.
I’ve always had the feeling that, no matter how much I tried to be myself, I was just performing something. I’ve always presented a pre-defined, stylized version of how I wanted to be perceived. With the new album I try to show that I don’t want to define myself anymore. I simply just can’t—because that would cause many existential feelings like, for example, being a fraud, a liar, or something else. That’s why I really wanted to hide in public, just releasing all the songs and letting all the different facets of me exist together.

»Today I really try to keep doing music in a form that doesn’t feel insane or fraudulent.«

MYP Magazine:
Was this “performed identity” one that you had defined yourself? Or was it created by someone else?

Máni Orrason:
It has always been me. But…

(Máni ponders)

MYP Magazine:
… you had put yourself in a position you didn’t like anymore.

Máni Orrason:
Yes, in a way. I always struggled with the characters I presented. But today I’ve come to a point where I really try to find a way to be happy—and to keep doing music in a form that doesn’t feel insane or fraudulent. I know that these two words sound extreme, but I had so many weird identity issues throughout my life when it comes to myself and my music that every single person that I’ve tried to be has felt strange somehow. Maybe it’s all part of growing up and getting rid of all childhood delusions—fantasies you once needed to survive and to picture a future for yourself. Of course, I wanted to be a rockstar, I’ve lived like a rockstar, I’ve seen myself as a rockstar—but all that in a way that I maybe pictured as a kid.
I see so many artists who seem so stable and so okay with differentiating their artistry from themselves. On the one hand, they have their own identities including their own families and friends, and on the other hand there’s this second world with their music. I personally have never been able to live like that. My music has always been an extension of me and such an important way to express and define myself. That’s why I live very quietly now, especially on Instagram or other platforms. I don’t like to say so much anymore, I don’t like to give so much away. That makes me feel safer and more creative.

»I just wanted to go pop, look cute, shake my butt, and smile pretty.«

MYP Magazine:
In contrast, you tell a lot about yourself in your music—in the song “Coffin,” for example, which in places sounds like an inventory of your state of mind, with lyrics like Baby Angel on the run / See the ticking of the clock / Don’t know what I’m running from / I’ve been stuck in between / Where I don’t know anyone. From what emotional place did you write this track?

Máni Orrason:
There was a moment a few years ago when I almost signed with a British major label. I flew to London, had a meeting with 20 people in a boardroom, got the contract offers, and had negotiations with some lawyers afterwards. One of these people told me: “If you do this, you have to be ready. You should talk to your friends, to your family, and especially to yourself to find out if you’re really ready to commit to this—because it’s forever.”
But I wasn’t ready. When I made the “Baby Angel” EP, it was clear for me that I just wanted to go pop, look cute, shake my butt, and smile pretty. It was just fun. But then a little after, when I had the negotiations with the label, the music I was making in the meantime was very far away from this. So, I started to feel very anxious about the deal and decided not to sign with them. I just backed out.

This is kind of where “Coffin” comes from. The song describes the feeling of really being stuck in my destiny. With the lyrics I got my jacket from Lou Reed / My coats are not my own / I’m a ghost in leather jeans, I’m characterizing a vapid star of the show business who’s sold to the devil; a situation that’s like shooting yourself in the foot.

»I had to learn again to accept parts of myself that I had long found so cringe and embarrassing.«

MYP Magazine:
With its anthemic and energetic sound, your album really took us back to the nineties here and there. The song “Dreama” for example reminds us of the peak times of garage rock. “Death By Head” has a very ballad-like sound that could come directly out of a love drama. And your track “I Just Can’t Have It All” could be part of a soundtrack for a high school series. What musical world did you want to create with “The World Is Big And You Will Never Find Me?”

Máni Orrason:
A collage, basically! It took me about two and a half years to make it—the album went through so many different stages. There was so much time to get lost in different worlds and then, somehow, to find the link between everything. At a point for example I was really attracted to these larger-than-life music styles. I guess that’s why many songs sound so huge, cinematic, and diverse.

(As we sit talking by the water, a small boat passes us by, loudly blaring the song “Sugar, Sugar” by The Archies.)

Máni Orrason (smiles):
Oh, I love these party boats—but not when they play terrible music! But let’s get back to the new album: When I was working on it, I felt in many ways that I was really coming back to a teenage part of myself. It was going full circle because I had to learn again to accept parts of myself that I had long found so cringe and embarrassing. I like this idea that bad things are good, that’s a really self-accepting and emotional way to make a pop punk song out of it.
Besides that, a lot of the new album’s songs are very dreamy and nostalgic. With “Seven” or “White Slugs,” for example, I wanted to create an instant nostalgia for myself. During the last two years, I had so much time to question the past, my relationships, and other experiences. There was a moment when I said: Oh my God, I was once in L.A., doing mushrooms in the forest, and now I’m in my parents’ basement making an album…

MYP Magazine:
… and now you have a studio in the former broadcasting headquarter of the GDR.

Máni Orrason (laughs):
Exactly! So, it seems that I’m constantly living in the past, fetishizing nostalgia and memories. I think this is one of the main reasons why things are so far away from reality on the album. It’s so dreamy, weird, and over the top.

»Green Day opened a whole world for me when I was a kid living on a farm, starting a band out of a cowshed.«

MYP Magazine:
But why this fetish for the 90s? In your music videos for “Change The World” or “Coffin” it seems that you’ve fallen in love with this decade—with all its visualities, fashion statements, and an internet that was still in its infancy. You yourself were born in 1997 and probably have no personal memories of the 90s. What fascinates you so much about it?

Máni Orrason:
The reason why I play guitar at all is Green Day. This opened a whole world for me when I was a kid living on a farm, starting a band out of a cowshed. When I was growing up, I didn’t have a lot of people showing me music and other pop culture things. When I came across Green Day and other bands of this time, it opened a universe for me that I really loved—and that I still associate with my youth.
Two years ago, I got a book called Our Band Could Be Your Life, which is about this Indie-Punk-DIY scene in the America of the 80s and 90s and its specific aesthetics with two-tone posters, Xerox prints, and all this stuff made of a DIY mentality. I’m highly attracted to that world, both sonically and visually. And even if I think my new album is more a pop record, I loved playing with these themes. It’s definitely a reference to that special time.

»Me being tortured? My haters will love it!«

MYP Magazine:
There’s another video—for the song “Just Can’t Have It All”—where you play two characters and torture yourself. What does this self-harm stand for?

Máni Orrason:
My original idea was just me hanging super high up from the ceiling. But you can’t do that for three minutes in a music video. (laughs) So, the director Andjani Autumn Gatzweiler developed the concept of torture; I had told her about how living in the past—in memories and regrets—can feel like a form of torture because you can’t let go, you can’t forgive, you’re in a constant cycle. From this was born the idea that I subjectify it and relieve it again and again—and torturing myself was just the most extreme way to visualize it.

MYP Magazine:
Hard stuff…

Máni Orrason (smiles):
…but it’s funny though! And to be honest: When I saw the concept for the video for the very first time, I thought: Me being tortured? My haters will love it!

MYP Magazine:
When you released your album „I Woke Up Waiting” in 2018, it was about personal experiences with bulimia, depression, and anxiety disorders. This album came out of a heavy and dark personal state, as you said at the time. How are you today? What is your relationship with yourself?

Máni Orrason:
Definitely much better. I accepted a lot of things about myself. Today I’m a very different person than I was. For example, I’ve become super social and open in comparison to how I used to be. I was so shy for the first 22 years of my life, basically. Although I feel that I’m still in a constant struggle, there are a lot of things today that have filled the void in my heart that I felt once. I mean, just look at all the friends I have now in my life.

»When I’m broke, he feeds me, and when he’s broke, I feed him.«

MYP Magazine:
One of these friends is the German producer and musician Yann Lauren who also plays an important role in your life professionally. In the video for “Change The World,” for example, we can see him at your side as a guitarist. How did you guys meet? And what does he mean to you?

Máni Orrason:
In March 2020, when the first Covid lockdown was looming, I went back to Spain where my parents live. They called me to fly over because they didn’t want me to stay alone in my tiny apartment. I literally caught the last flight to Spain—and stayed there until August. During that months-long period, I reevaluated my life, processed a very long relationship I had just gotten out of, and let time pass. When I returned to Berlin, it felt that I had very little to come back to. I didn’t have many people to work and feel connected with anymore, so I really started questioning being here in Berlin. But then I thought that I needed to find my people here because I knew somehow that they were out there.

Then something extremely random happened. I was going to have a session together with an artist called Alina. A few days before she asked me if I would mind if Yann joined us. He was producing her EP or something. It turned out that the session was in his apartment, so I went there, to this crazy guy with long hair who had two big speakers in his bedroom. I sat down, picked up a guitar, and started playing. Yann suddenly looked at me and said: “You really play guitar! Okay…” After the session with Alina, we started playing his music, the stuff he was working on—and that was one of the most insane things.
I was so inspired by him and became so interested in this guy that in the time that followed he totally drew me into his world, musically and privately. All his friends became my friends, and slowly we became really close. Now we make so much music together, are best friends, and have our studios across from each other. For me, it’s such a profound type of relationship that I never had in my life before. When I’m broke, he feeds me, and when he’s broke, I feed him. I have so much love and admiration for him.

»It was a horrible time—and I’m definitely not going back to that.«

MYP Magazine:
In the music video for “Change The World,” you and Yann show yourselves as two hungry little caterpillars, accompanied by lyrics like To picture a dream and then conceive it / to say what you are and then believe it / You don’t hate your body / just what you feed it. Is the eating disorder still something you’re suffering from? Are you mocking that to free yourself?

Máni Orrason:
No, these lines are a direct reference to the bulimia and body dysmorphia I was suffering from. Back then, I had such horrific feelings about myself, eating just felt like torture. It was a horrible time—and I’m definitely not going back to that, just like I sing in the song. I am not this person anymore, I really let this part of myself go.

MYP Magazine:
Many thanks that you’re so open about this topic and share your experiences with us! It’s not something that a lot of people talk about.

Máni Orrason:
Today, I feel comfortable talking about it. Talking to people helps.

»My anger was always expressed in sadness.«

MYP Magazine:
Listening back to the last seven years, it seems that one can hear less anger and more serenity and self-confidence in your voice today. Do you also perceive it that way?

Máni Orrason:
Actually, no! I’ve really never been angry. My anger was always expressed in sadness. But I feel like I’m just becoming a person that can be comfortable with being angry. Maybe it’s expressed less in my music, but as a person, I feel I can stand up for myself now and am much more confident. (smiles)

»Baby Angel is just a nice ideal to be aspired to.«

MYP Magazine:
On a trip through Texas with your ex-partner a couple of years ago, you got a special necklace—an angel wearing a cowboy hat. From this came the title “Baby Angel” for your 2019 EP. It seems that this term has become an important part of your artistic narrative. You are still playing with it, for example in the video for “Coffin.” What does “Baby Angel” mean in your life today?

Máni Orrason:
When I was very young, at the age of 16 or so, I stuck to my own name. But with the EP, there was suddenly this special feeling inside of me that I liked this alias more than Máni Orrason. So, a little after, I started calling myself “Baby Angel” and got—additionally to the necklace—a tattoo showing a baby angel with a cowboy hat. I love the sweetness of the name, it’s so pure and good in a way. And just a nice ideal to be aspired to.

MYP Magazine:
Only that the baby has grown up a little.

Máni Orrason:
Yeah, exactly. I’m a grown-ass-man angel now. (smiles)


Cuco

Portrait — Cuco

»Meine Generation macht verletzlichere Kunst«

Seine Songs werden millionenfach gestreamt, er selbst bleibt aber ein verträumtes Mysterium: Wir haben den kalifornischen Singer-Songwriter und Produzenten Cuco zum Minigolf getroffen und dabei ein bisschen über seine Musik und das Leben geplaudert. Ein Gespräch über elterliche Sorgen, die Vorzüge des Alleinseins und das seltsame Gefühl, nicht viel zu sagen zu haben.

1. August 2022 — Text: Katharina Viktoria Weiß, Fotografie: Frederike van der Straeten

Er ist ein Sprachrohr seiner Generation, das offensichtlich nicht gerne spricht: Der Singer-Songwriter und Producer Cuco, der mit bürgerlichem Namen Omar Banos heißt und momentan vor allem bei den US-Teens äußerst beliebt ist, verleiht dem Begriff Schlafzimmer-Produzent eine ganz neue Bedeutung – denn der Sound des 24-Jährigen wirkt verspielt bis verträumt, seine verästelten Lyrics gleichen LSD-Trips oder zumindest ausgedehnten Gedanken-Spaziergängen. Und auch Cuco selbst macht eher einen besinnlichen, vielleicht sogar bedröppelten Eindruck. Das jedenfalls könnte man meinen, wenn man das eine oder andere Interview mit ihm gesehen hat – etwa das, wo er auf dem diesjährigen Coachella-Festival von einem menschlichen Gecko befragt wurde.

Doch der Eindruck täuscht. Cuco wirkt überaus wach und ist zudem höflich, entspannt und reflektiert. So jedenfalls nehmen wir den jungen Mann war, als wir ihn im Juli zum Minigolf im Berliner Volkspark Hasenheide treffen. Einen Sinn fürs Optische scheint er auch zu haben: Passend zu seinem senffarbenen 90er-Jahre-Outfit hat er sich gleich einen gelben Golfball geschnappt, mit dem er seine Partie spielen wird.

»Meine Eltern hatten Angst, dass ich niemals Geld verdienen würde.«

Dass der Selfmade-Musiker ein Star mit über einer Million Follower:innen auf Instagram ist, merkt man ihm auf sympathischste Weise gar nicht an (Memo an uns und den Rest der Welt: Vielleicht ist das sowieso auch völlig egal). Was man dagegen deutlich merkt: Cuco wirkt eigentümlich alterslos und vielleicht ein bisschen müde. Wer kann es ihm verübeln: Gestern noch Konzert in Atlanta, heute Promo-Tag in Berlin, morgen geht es weiter nach London.

Ein wilder Ritt für den Sohn mexikanischer Einwanderer, der im Städtchen Hawthorne im Süden von Los Angeles aufgewachsen ist. „Für meine Eltern war es schwer vorstellbar, dass das einzige Kind ausgerechnet Musiker werden will. Gerade in meiner Sparte gibt es kaum mexikanische Künstler. Sie hatten Angst, dass ich damit niemals Geld verdienen würde.“ Doch als Cuco seine Eltern zu seiner ersten ausverkauften Show einlud, änderten sie ihre Meinung – auch wenn die damalige Publikumsgröße mit 350 Personen aus heutiger Sicht eher überschaubar war.

Auch wenn der Kalifornier heute seiner Kleinstadt voll und ganz entwachsen ist und gefühlt die ganze Welt bespielt, ist er seinen spanischsprachigen Wurzeln immer treu geblieben: Cuco, der übrigens Trompete, Gitarre, Keyboard, Schlagzeug, Bassgitarre, Mellophon und Waldhorn spielt, schreibt seine Songtexte mal auf Englisch, mal auf Spanisch – je nachdem, „was sich gerade besser anfühlt und zur Vision der Melodie passt.“

»Manchmal fahre ich acht Stunden durchs Land, nur um am Ende allein in einem Airbnb zu sitzen.«

Mit dem Musizieren fing Cuco an, als er etwa acht war, auf der High School spielte er sowohl in der Schulkapelle sowie in einer Jazz-Combo. Nach dem Schulabschluss machte er auf Youtube mit dem Slide-Guitar-Cover des Songs „Sleep Walk“ von Santo & Johnny auf sich aufmerksam und veröffentlichte erste selbst produzierte Songs auf Soundcloud und Bandcamp. Dort veröffentlichte er im Januar 2015 auch seine erste EP mit dem Titel „Heavy Trip“. In dieser Zeit gab er sich auch den Namen Cuco – so hatte ihn seine Mutter als Kind immer genannt.

Nach dem Release zweier Mixtapes in den Jahren 2016 und 2017 fing der junge Mann an, seine Musik auch vor Publikum zu spielen, und trat in diversen Clubs in Kalifornien auf. 2017 erschien auch seine Single „Lo Que Siento“, die Stand heute knapp 235 Millionen Streams auf Spotify zählt – und die einem schon nach den ersten Sekunden mit ihrer träumerischen Melancholie und südkalifornischen Gelassenheit sehr nah ans Herz rückt. Zwei Jahre später warf er sein erstes Studioalbum auf den Markt: In „Para Mi“ ließ er Body-Nova-Elemente mit psychedelischem Indie-Pop verschmelzen. Dann kam die Pandemie.

Wie für die meisten anderen Menschen auf diesem Planeten war diese Zeit auch für Cuco herausfordernd, zumindest für den Künstler-Part seiner Person. Privat jedoch scheint für Omar Banos die Isolation zu den bevorzugten Aggregatzuständen zu gehören. „Ich bin keiner, der viele verrückte Sachen macht. Wenn ich zuhause bin, schaue ich einfach nur TV“, sagt er und schlägt mit seinem Minigolfschläger den gelben Ball in das Loch mit der Nummer 13. Ganz ohne Pathos und mit etwas Scham ergänzt er: „Ich mache Dinge gerne allein. Ich lebe allein mit meinem Hund, gehe allein klettern, joggen und skaten, gehe allein zum Strand, ins Kino oder essen. Manchmal mache ich sogar Roadtrips allein und fahre acht Stunden durchs Land, nur um am Ende allein in einem Airbnb zu sitzen.“

»Brauche ich das Alleinsein mehr als andere Menschen?«

Etwas hilfesuchend blickt er zu seinem Manager und guten Freund Verne. Der ist gerade sehr mit Ball und Schläger beschäftigt, denn er spielt zum allerersten Mal in seinem Leben Minigolf. „Brauche ich das Alleinsein mehr als andere Menschen?“, fragt Cuco seinen Begleiter und gibt damit an ihn die Frage der Interviewerin weiter. „Ich denke, du bist einfach besser im Alleinsein“, antwortet Verne, während er seinen Ball im Gras sucht. „Dort hast du Ruhe und Frieden, das trägt dich auch mental von der Musikbranche weg. Ich glaube, das ist wichtig für die geistige Gesundheit.“

Für jemanden, der Routinen schätzt, ist so ein Leben, wie Cuco es gerade führt, ziemlich anstrengend. Jeder Tag ist anders, der Druck des Rampenlichts, ständig neue Gesichter, Pressearbeit und wenig Schlaf. „Es ist hart. Aber ich bin sehr dankbar, dass ich an diesem Punkt bin. Nicht viele Musiker dürfen das erleben. Ich versuche durchzuhalten und mein Bestes zu geben.“ Dieser Vibe verkörpert das Gefühl, in unsicheren Zeiten irgendwie in der Luft zu hängen und gleichzeitig einen ungetrübten Schaffenswillen zu verspüren. Das scheint zu verfangen, nicht bei der Fangemeinde.

»Wir haben einfach beschlossen, das gemeinsam durchzustehen, anstatt einsam zu leiden.«

Cuco, dessen Musik auf die erste Note eher nach Feel-Good-Melange als nach innerer Zerrissenheit klingt, hat viele Kämpfe mit seiner Psyche auszutragen: Nachdem er ein wenig aufgetaut ist, erzählt er von „starker anxiety“, die ihn ebenso plagt wie „schlimme Depressionen“. Ein Tabubruch ist die Thematisierung dieser persönlichen Probleme für Künstler aus seiner Generation nicht mehr: „Wir sprechen alle offen darüber. Warum? Ich denke, wir haben einfach beschlossen, das gemeinsam durchzustehen, anstatt einsam zu leiden. Das Resultat ist, dass viele Menschen nun verletzlichere Kunst machen – und dafür auch akzeptiert oder sogar wertgeschätzt werden.“

Mit seinem aktuellen Album „Fantasy Gateway“, das am 22. Juli erschienen ist, hat Cuco einen ganz eigenen Weg gewählt, um sich der Welt mitzuteilen. „Darin kreiere ich ein Universum, das in einer anderen Dimension existiert“, beschreibt er seinen verschachtelten Gedankenpalast. Die neuen Songs sind experimentell und eingängig zugleich. „Er hat sich aus der Deckung hervorgewagt und neue Stilmittel getestet“, kommentiert Verne, der seine College-Karriere abgebrochen hat, um mit Cuco um die Welt zu reisen. Es wirkt ehrlich, wenn der Freund und Manager sagt: „Ich finde, es ist ein Meisterwerk.“ Um Cuco alias Omar Bano besser zu verstehen, lernt er gerade Spanisch. Dabei bedienen sich neue Songs wie „Artificial Intelligence“ oder „Sweet Associations“ einer Sprache, die das Verbale übersteigt.

»Ich habe das Gefühl, nicht viel zu sagen zu haben.«

Es verwundert kaum, dass Cuco kurz vor Ende des letzten Loches nachdenklich auf seinen Schläger blickt. Eine Minute hat er nun über eine Frage nachgedacht, bis er sagt: „Ich habe das Gefühl, nicht viel zu sagen zu haben.“ Dabei trifft er mit dieser Selbstannahme nicht unbedingt ins Schwarze. Er sagt sehr viel in seiner Musik – textlich, instrumental und kompositorisch. Doch ohne es zu beabsichtigen, behält er sich vor, ein Geheimnis zu bleiben.

Am Ende der Minigolf-Partie steht die Frage im Raum, was man von diesem Spiel über das Leben lernen kann. Schüchtern schmunzelnd zieht Cuco an seiner Zigarette und sagt: „Manchmal hat man Glück – und manchmal nicht.“


Elisa Valerie

Interview — Elisa Valerie

»Ich habe ein großes Problem mit Kontrollverlust«

Elisa Valerie kam nach Berlin, um die Popwelt zu erobern. Doch während der Corona-Pandemie eroberte die Singer-Songwriterin erst mal Social Media: Als digitale Entertainerin mit feministischem Unterton folgen über 100.000 TikTok-Follower:innen ihren Postings über misslungene Tinder-Romanzen und mentale Gesundheit. Ein Gespräch über konservative Männer, gestörte Körperbilder und ihre bald erscheinende Debüt-EP mit dem Titel »Spaß und Probleme«.

20. Juli 2022 — Interview: Katharina Viktoria Weiß, Fotografie: Frederike van der Straeten

Das Licht ist abgedunkelt. Ein paar Kerzen brennen, ein Sektglas steht herum. Eine Blondine räkelt sich auf dem Laken – und singt über eine sich anbahnende, erotische Begegnung. Auf den ersten Blick wirkt das etwas austauschbar, das Denglisch in manchen Textteilen etwas zu gewollt. Doch wer aufmerksam hinhört, merkt: Irgendwie ist da doch mehr.

In erfrischend frechen Lyrics, die auch mal darauf verweisen, dass der eigene Therapeut nichts von den nächtlichen Abenteuern erfahren wird, thematisiert „Baby“ selbstbestimmten Sex. Die Künstlerin Elisa Valerie hat Spaß damit, eine weibliche Perspektive zu präsentieren, die selbstbewusst und aufgeklärt ist. Besonders wichtig ist dabei auch der Humor der 25-Jährigen, der ihr auf TikTok über 100.000 Follower:innen beschert hat.

Elisa Valerie ist Sängerin und Songwriterin, aber auch Tänzerin, Online-Persönlichkeit und digitale Entertainerin. Oder allgemeiner gesagt: immer das, wonach ihr gerade ist. Seit drei Jahren wohnt sie in Berlin, in ihren Songs geht es oft um modernes Dating und mentale Gesundheit. Passend dazu trägt ihre Debüt-EP, die am 19. August erscheint, den Titel „Spaß und Probleme“. Letztere bespricht sie eingehend bei ihrer Psychotherapie. Nach den Praxis-Stunden entspannt Elisa Valerie gerne in ihrem Lieblingscafé, dem Greenfinch im Bezirk Prenzlauer Berg. Dort treffen wir sie zum ausführlichen Interview.

»Mich nervt dieses Narrativ, dass sich Frauen immer viel schneller verlieben als Männer.«

MYP Magazine:
Hast Du schon mal ein Date hierhergebracht?

Elisa Valerie:
Ein Date nicht, nein.

MYP Magazine:
Warum hast Du für Deinen allerersten Release mit „Baby“ einen Song über unverbindlichen Sex gewählt?

Elisa Valerie:
Mich nervt dieses vorherrschende Narrativ, dass sich Frauen immer viel schneller verlieben als Männer. Dieses Stereotyp eines Kerls, der sagt: „Mach mal ganz ruhig, Mäuschen, das hier ist nur zum Spaß“, finde ich nicht mehr zeitgemäß. Ob man nach Spaß oder Liebe sucht, hat nichts mit dem Geschlecht zu tun.

»In meiner Berliner Künstler-Blase leben und lieben die Leute in ganz verschiedenen, sehr progressiven Modellen.«

MYP Magazine:
Du hast einen kleinen TikTok-Rap über folgende Situation gemacht: Es ist 1:30 Uhr nachts, er schreibt: „Kommst du noch rum?“ Deine Antwort: „Obwohl ich ihn kaum mag / komm‘ ich rum, wenn er mich fragt“. Deine Zeilen gehen an „alle, die auch nicht immer stark sind“. Denn für ihn gab’s ein erotisches Happy End – und für Dich mal wieder nicht. Wie ist das Dating mit Mitte 20 in Berlin?

Elisa Valerie:
Aufregend. Anders als in der Hamburger Vorstadt, aus der ich komme. In Berlin sind die Menschen sehr edgy und woke. Und sehr experimentell. Das finde ich schön. Hamburg ist dagegen sehr konservativ. Und die Menschen, die ich dort gedatet habe, sind eher traditioneller. Darüber hinaus befinde ich mich hier in Berlin in einer Künstler-Blase. Da leben und lieben die Leute in ganz verschiedenen, sehr progressiven Modellen.

MYP Magazine:
Hat Dich das zu dem Song „Platz für 2“ inspiriert, der sich mit Polyamorie beschäftigt – also einer Beziehungsform, in der man mit mehreren Menschen gleichzeitig körperlich und emotional zusammen ist?

Elisa Valerie:
In meinem Bekanntenkreis gibt es ganz viele offene und polyamore Beziehungen. Damit bin ich nicht aufgewachsen, deshalb finde ich das total spannend. Und ich kenne das Gefühl, dass man in mehr als nur einen Menschen verliebt sein kann.

»Ich finde es super, wenn ein Mann bereits eine Therapie gemacht hat.«

MYP Magazine:
Welche Anforderungen hast Du persönlich an einen Partner?

Elisa Valerie:
Ich finde es super, wenn ein Mann bereits eine Therapie gemacht hat. Außerdem ist mir eine gewisse Offenheit gegenüber vielen Themen wichtig. Darüber hinaus wäre eine feministische Haltung schön – soll heißen: wenn er mich selbst und Frauen generell nicht in eine fixierte Rolle stecken will.

MYP Magazine:
Wurdest Du während eines Dates schon mal auf Deine TikTok-Statements angesprochen?

Elisa Valerie:
Nein, das wäre bestimmt awkward. Wenn ich die Social-Media-Präsenz eines Dates bereits kennen würde, würde ich ihn beim ersten Treffen auch nicht darauf ansprechen.

»Als Teenager habe ich immer Problemlagen identifiziert, die ich mit meinen Freundinnen nicht besprechen konnte.«

MYP Magazine:
Deinen TikTok-Kanal hast Du im ersten Lockdown gestartet. Wie kam es überhaupt dazu?

Elisa Valerie:
Das passierte tatsächlich aus Langeweile. Ich hatte Corona – und zwar ganz zu Beginn der Pandemie. Meine Mitbewohnerin und ich haben uns zwei Wochen in der Wohnung eingesperrt. Und da ich als Musikerin keinen Homeoffice-fähigen Job habe, wurde Social Media zu meiner Hauptbeschäftigung.

MYP Magazine:
Wusstest Du bereits davor, dass Du lustig bist?

Elisa Valerie (kichert leise):
Ja, das wurde mir mal gesagt. Ich bin ein selbstironischer Mensch. Allerdings sehe ich mich nicht als Kabarettistin.

MYP Magazine:
Auf TikTok hast Du ein sehr junges Publikum. Wie warst Du selbst als Teenager?

Elisa Valerie:
Einerseits war ich sehr unproblematisch. Ich war in vielen Sportvereinen und habe immer schnell Anschluss gefunden. Andererseits war ich schon extrem früh in Therapie und daher mental vielleicht schon etwas reifer als andere. Ich habe immer Problemlagen identifiziert, die ich mit meinen Freundinnen nicht besprechen konnte – die konnten das zum Glück gar nicht nachvollziehen und wussten auch nicht, was ich gerade durchmache. Dadurch habe ich mich oft unverstanden gefühlt und mit älteren Menschen darüber gesprochen. Oder ich habe mich meiner Familie anvertraut.

»Kinder finden immer etwas, für das sie dich fertigmachen können.«

MYP Magazine:
Gibt es spezielle Themen, die Du oft mit deinem Therapeuten besprichst?

Elisa Valerie:
Ich habe Angstzustände. Wie mich das in meinem Alltag beeinflusst, ist mir wichtig zu besprechen. Ebenso wie Berufliches, ich bin ja noch nicht lange hauptberuflich Musikerin. Dadurch haben sich meine Strukturen stark verändert, das kann Panikattacken auslösen.

MYP Magazine:
Welche Konflikte aus der Kindheit und Jugend hast Du in dein Erwachsenenleben mitgenommen?

Elisa Valerie:
Mir fällt spontan vor allem einen Konflikt ein, den ich nicht mitgenommen habe: Ich habe es geschafft, mein eigenes Bodyshaming abzulegen – früher habe ich wirklich viel an meinem Körper rumgemeckert…

MYP Magazine:
… obwohl Du sogar als Model gejobbt hast.

Elisa Valerie:
Trotzdem kann man auch als Model das Gefühl haben, zu dünn zu sein oder zu kleine Brüste zu haben. Kinder finden immer etwas, für das sie dich fertigmachen können. Ich persönlich war immer schon sehr dünn und früh sehr groß – also der Spargel der Klasse.

»Ich will mich dagegen wehren, dass mir meine Optik irgendwelche Türen öffnet.«

MYP Magazine:
Du hast mit 18 bei Abercrombie & Fitch gearbeitet. Ein Ort, der auch aufgrund einer kürzlich erschienenen Netflix-Doku stark in der Kritik steht, da vorzugsweise weiße, normschöne und junge Körper eingestellt wurden. Wie denkst Du heute über diesen Job?

Elisa Valerie:
Mit ein paar Jahren Abstand finde ich diesen Job total absurd. Der bestand darin, fünf Stunden lang auf einer Treppe zu tanzen und Besucher mit „Welcome to the pier!“ zu begrüßen. Dass da nur Models eingestellt wurden und man kein auffälliges Make-up tragen durfte, wurde damals nicht hinterfragt. In unserer heutigen Zeit unvorstellbar!

MYP Magazine:
Wie reflektierst Du dein eigenes Privileg der Schönheit?

Elisa Valerie:
Es klingt irgendwie eigenartig zu sagen, dass ich ein „Privileg der Schönheit“ habe. Mir ist auf jeden Fall das Privileg, weiß zu sein, sehr bewusst. Durch die Black-Lives-Matter Demonstrationen habe ich mich sehr stark mit dem Thema auseinandergesetzt, eine weiße Frau zu sein. Ansonsten fällt mir zu deiner Frage gerade eine Anekdote ein: Ich hatte in meiner Jugendzeiten eine beste Freundin, deren Mutter ebenfalls Model war. Wenn wir uns vor dem Ausgehen fertig gemacht haben, hat sie oft zu uns gesagt: „Ach, ihr zwei seid so schön, das wird euch noch so viele Türen öffnen im Leben.“ Mit den Jahren habe ich bemerkt, wie viel Wert in dieser Familie auf das Thema Aussehen gelegt wurde. Irgendwie fühle ich mich damit heute total unwohl und möchte mich auch nicht mehr damit identifizieren. Ich will mich dagegen wehren, dass mir meine Optik irgendwelche Türen öffnet.

»Ich sehe mich nicht dafür verantwortlich, über jedes gesellschaftliche Thema informiert zu sein. Sonst wäre ich Politikerin geworden.«

MYP Magazine:
Verspürst du einen gewissen Druck auf Newcomer-Künstlerinnen, sich mit politischen Themen auseinanderzusetzen und sich zu allem äußern zu müssen?

Elisa Valerie:
Ich persönlich mache mir keinen Druck. Manchmal schreiben mir Leute bei Instagram, warum ich noch kein Statement zu einem speziellen Thema abgegeben habe, etwa vor kurzem zum Jahrestag des Attentats von Hanau. Da habe ich ganz nett zurückgeschrieben, dass ich Musikerin bin und meine Seite kein Newsfeed ist. Manchmal spreche ich über Dinge, zu denen ich etwas sagen kann. Ich sehe mich nicht dafür verantwortlich, über jedes gesellschaftliche Thema informiert zu sein. Sonst wäre ich Politikerin geworden.

MYP Magazine:
Dafür sprichst Du viel über Privates in Deiner Kunst. Welcher Deiner neuen Songs ist der persönlichste?

Elisa Valerie:
„Spaß und Probleme“. Der Text ist wie ein Tagebucheintrag: brutal und ehrlich. Und die Melodie, die zwischen Leichtigkeit und Melancholie schwankt, geht mir auch immer wieder nahe.

»Manche Menschen lieben es ja, wenn alle Hemmungen fallen.«

MYP Magazine:
Zum Schluss ein kleiner Themenwechsel: Studien zeigen, dass immer mehr junge Menschen ohne Alkohol und Drogen feiern gehen. In dieser Hinsicht liegst Du voll im Trend: Du trinkst nicht, Koks ist auch nichts für Dich, und sogar das Koffein im Kaffee ist nicht so Deins. Warum nicht?

Elisa Valerie:
Schon das erste Bier, das ich als Teenager probiert habe, hat mir einfach nicht geschmeckt. Vor allem aber habe ich ein großes Problem mit Kontrollverlust – manche Menschen lieben es ja, wenn alle Hemmungen fallen. Exzessiv zu feiern ist mir persönlich aber wirklich fern. Ich habe keinen Spaß daran, nicht mehr zu wissen, was ich tue. Zusätzlich lassen sich diese ganzen Substanzen nicht so gut mit meiner mentalen Gesundheit vereinbaren. Eine Freundin, die ebenfalls nüchtern lebt, meinte mal zu mir: „Ich finde Leute so mutig, die Drogen nehmen. Ich will gar nicht wissen, wo mein Bewusstsein hinwandern würde, wenn ich mir einen Trip einschmeißen würde. Womöglich würde ich in einem Kindheitstrauma landen und auch noch darin stecken bleiben“. Das fühle ich sehr.

MYP Magazine:
Wenn Du nicht so viel feiern gehst, wie lernt Du dann Männer kennen?

Elisa Valerie:
Die lernen mich kennen. Irgendwie finden sie mich immer.


Cassia

Interview — Cassia

»We’ve become a little braver talking about our emotions«

With their second studio album, »Why You Lacking Energy?«, Cassia present a thoughtful, strong, and mature piece of music that is full of soul. In a personal interview, the three guys from Manchester reveal why they decided to show a completely different side of themselves with this album—musically, lyrically, and emotionally. They also explain why they are trying everything to make the world aware of their music, even if that means they have to join TikTok.

16. Juli 2022 — Interview & text: Jonas Meyer, Photography: Maximilian König

In a time when pretty much everything is considered already said, written or invented, it is not often that people create something unique and distinctive, especially in the music world. But sometimes it does happen. Like in 2019, when the band Cassia from Macclesfield, Manchester released their debut album »Replica«. Back then, vocalist and guitarist Rob Ellis, bassist Lou Cotterill, and drummer Jacob Leff left a musical mark on the world that felt quite new and refreshing.

Cassia’s energetic, vibrant and positive sound is often described as tropical or Afro-Caribbean, which is no coincidence. Both, Rob’s father and grandfather spent many years in Zambia and brought back a lot of music from there. At the family’s house in Macclesfield, there was a large record collection of African music that certainly has modified Rob’s musical genes. When Jacob bought a djembe (an African drum whose body was made of the wood of cassia trees) the band’s name was found.

Now, three years later, after the world has been facing multiple crisis, Cassia present their second studio album, named »Why You Lacking Energy?«. As is often the case when a band has set the bar high with their debut album, album number two will inevitably have fans, critics, and others listen closely to see if the band has firstly, stayed true to themselves and secondly, gone next level. The mechanisms of the market apply, as we all know, also and especially in the music industry. When you are an artist, you have to fulfill expectations—period.

With »Why You Lacking Energy?« Cassia refuse to do that—fortunately! Sure, it would have been easy to just copy the pattern of their first album and stick with what works. But the British band has decided to show a completely different side of itself—musically, lyrically and emotionally.

The new record sounds thoughtful, strong, and mature, sometimes even melancholic: probably because the compositions seem more complex and sophisticated; probably because there is a big portion of soul in it; probably because they open the door to their personal stories and experiences in the lyrics. In any case, it is wonderful to listen to Cassia reveal a previously unknown side and to discover songs whose catchy hooks just stick in your head.

Yes, we know that we may be crossing the line of journalistic objectivity here, but this album just sounds like you are getting to know a new, deeper side of someone you spontaneously made friends with three years ago. But enough said: let Cassia tell you everything else. We met the three guys before a concert at the honored Lido venue in Berlin-Kreuzberg for an interview and photo shoot.

»When you’re in your own bubble, you tend not to see things from anyone else’s perspective.«

MYP Magazine:
Three years ago, you asked your fans on Instagram to preorder your first album »Replica«. You said that the music industry was a tough one to crack and that you guys really wanted your new album to hit the top 10. Have you now, three years later, reconciled with the music industry?

(All three are rolling their eyes)

Rob:
Oh no, I don’t think so. Although we’ve had some lucky breaks and things, making it in the music industry is still pretty hard. That’s exactly why it feels so good for me to play our music live on stage in front of thousands of people and have fun touring the UK and Europe. But we also know in our heads that it’s still a long way to go for us. There’s still a lot to achieve.

MYP Magazine:
With your first album »Replica«, you succeeded in two things: First, you presented a very unique and distinctive sound, and second, you created a couple of songs with real earworm potential. Does that kind of success turn out to be a burden when you start writing a second album?

Rob:
I think it’s more an enabler. »Replica« didn’t really feel super successful to us, that’s why we think we can always go bigger and better…

Lou:
…because when you’re in your own bubble, you tend not to see things from anyone else’s perspective. So, we’re always being under way and working on new music all the time. But my main motivation is to play shows, go see different places, and take something from it for ourselves and the music we create.

»There were so many rejections, we had to work, work, work.«

MYP Magazine:
Rob, you just said that you consider your previous album not super successful. How do you personally measure success?

Rob:
I don’t really know. I mean, you’ve got the charts and stuff. But does that even mean anything? I try to define success more from a musical perspective. For us, »Replica« was a good foundation for our work. It gave us a platform to get out and play live shows. But as musicians—at least it’s like that with us—after every album you ask yourself: What’s the next step?
I remember well the time when we were so far off, shooting our e-mails to get a gig and just start. There were so many rejections, we had to work, work, work. And with »Replica«, we could see the result of this work for the first time.

MYP Magazine:
How many people did you write to back then?

Lou:
Millions! We tried everything to make the world aware of our music.

Rob (smiles):
Absolutely everything! In the end, tons of people bought the album, which was really cool. And over the years, a lot of people have come to see us play, that’s even more exciting.

»We always wanted to write positive music—and we really haven’t stopped doing that.«

MYP Magazine:
In the time between your first and second album, the world seemed to have turned upside down. We experienced Brexit, Corona, and now there’s a war on European soil. To what extent do these events influence your music? Or to put it another way: Would your music sound differently without these world events?

Lou:
Outside influences definitely inspire us to write differently. But I don’t think it fuels the main thing and we go for a musical turnaround. From the beginning, we always wanted to write positive music—and we really haven’t stopped doing that.

Jacob:
I would say the influence of these events has more of a secondary effect on each of us. Also, how can things like Covid or the war pass you by? I’m sure that all of this affects us as human beings in a certain way. But we can’t say how exactly.

»We wanted to spin a bit more of a story through each song.«

MYP Magazine:
Let’s talk about your new album, »Why You Lacking Energy?«. There’s not only a big portion of soul in it, it also feels a little more thoughtful and serious. And especially when it comes to songs like »Colossal Happiness« or »Boundless« there’s some melancholia in the air—kind of like how it feels when summer comes to an end. Is this a new musical and emotional facet that you have discovered for yourselves?

Rob:
I think it’s more because we had a lot of time to create something new—something we wanted to be very proud of. That was the first thing we said when we started writing on it. Lyrically, we definitely worked a little more intense on how the words come across and how we want them to sound to people. We wanted to spin a bit more of a story through each song and went crazy on details and stuff. It’s very cool that you say that you hear a lot of soul in it and that it feels more thoughtful—because that bounces what we really wanted it to be like. It hits a completely different part of our Cassia sound.

Lou:
We put a lot of different moods and emotions into the album. This has not only influenced the sound, but there’s also a depth to the lyrics, that surprised even us, while writing the music. It’s deep shit a lot of the time…

(All laughing)

»We’ve become a little braver talking about our emotions.«

MYP Magagzine:
Sometimes you combine these deep, thoughtful lyrics with a happy song title, such as »Colossal Happiness«.

Rob:
Yeah, we actually like that happy-sad-pairing thing.

Lou:
Our music has changed a lot. We always wanted to make happier music—for sad moments when it’s raining or something like that. But now we create this duality within the songs.

MYP Magazine:
Would you say your music has grown up?

Jacob:
I would rather say that we’ve become a little braver talking about our emotions. When we were working on our first album, we could say relatively easily: this is a Cassia song, and this isn’t—because of the musical aspects of it. That tiny thing has been slightly taken away—not fully, but substantially. In the song »Boundless« for example there is a quite dark piano part, that would never have been on the first album. But at that particular position, this piano part expresses our feelings best. That’s why the new album is much more open—and a song like »Boundless« becomes a Cassia song for that very reason.

»There’s lots of different vague questions and ideas on the new album.«

MYP Magazine:
Your new album is called »Why You Lacking Energy?« What is behind this question?

Lou:
It was a lyric in the song, »16-18«. I don’t know if it was ever meant to be the album title when we wrote it. But listening back to the whole album, this particular line seemed to encapsulate this very introspective thing we built. It is not necessarily asked specifically; it can apply to many things… I really like how that works: There are lots of different vague questions and ideas on the new album and for us, it feels like an exploration of our own emotional state. So, the title »Why You Lacking Energy?« is pretty representative—and I guess the question isn’t answered on the album (smiles).

Rob:
No, never answered!

»Reality is often just completely different than expected.«

MYP Magazine:
In your song »Motions« you deal with the construct of time in a very introspective way. Have you already reached a point where you start looking back at your life?

Lou:
Actually yes. The song »Dreams Of My Past« also deals with that topic, both tracks are tales of going back and forth between the past, the present, and the future. This subject is brought up quite a lot.

MYP Magazine:
Not to sound cheesy, but do you »look back in anger« in the words of Oasis?

Jacob:
Not in anger, more in uncertainty. You always say to yourself: In three or four years, I want to have achieved this or that. And when you hit that point, you start looking back to your idea: where you wanted to be, comparing it with the reality, and with where and who you are today. That’s not so much a matter of better or worse than planned, it’s often just completely different than expected. And this experience always raises the question if it will be going well in the next three or four years to come.

»When we started as a band, we didn’t think about being on a platform like TikTok.«

MYP Magazine:
The video to the song »Motions« opens with the information that it’s 2081, and that information overload has drained people of energy. Would you say that information overload is the greatest threat to the creative output of artists nowadays?

Rob:
Absolutely. This overload really influences you and pulls you in. And you definitely start thinking that you should be doing more of the things that have a higher entertainment factor and attract people’s attention. When we started as a band, we didn’t think about, for example, being on a platform like TikTok, where the audience has an attention span of five or ten seconds. The way people consume media, and therefore music, has completely changed, and you have to adapt to it. That’s crazy. Just too much information!

»We didn’t really think that we would be doing any of this stuff one day.«

MYP Magazine:
In your song »See Myself« you sing the lines »I don’t wanna lose track« What do you do as a band, but also as good friends, in order not to lose track in the future?

Lou:
It’s very simple: we just keep making music together.

(Rob and Jacob agree)

Rob:
And we keep playing shows! This is the one real thing and the whole experience. When we started Cassia, we didn’t really think that we would be doing any of this stuff one day. I remember watching videos of bands, looking all tired on tour, and I thought: Why do you look tired? What you are doing is really cool, you should enjoy this moment. That’s why we wanna crack it as long as we can. It’s just fun—and a very special experience that we can share as friends.


Avi Jakobs

Interview — Avi Jakobs

»Das Feminine in mir habe ich lange unterdrückt«

Als Beauty-Expertin ist Avi Jakobs eines der fünf Gesichter der beliebten Netflix-Serie »Queer Eye Germany«. Ihre mediale Sichtbarkeit nutzt sie dabei konsequent, um die Anliegen von LGBTQIA* Menschen in den Fokus zu rücken. Im Interview spricht sie darüber, warum sie sich lange nicht getraut hat, in der Öffentlichkeit ein Kleid zu tragen, was sie so an Fußballtrainer Nils aus Folge 3 bewundert und weshalb auch die queere Community ein Toleranzproblem hat.

13. Juli 2022 — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotografie: Osman Balkan

Es gibt Phasen im Leben, da kommt man einfach nicht mehr weiter. Alles scheint festgefahren, man greift nur noch ins Leere und der Tag heute ist derselbe wie gestern, wie morgen, wie immer. Bewegung gibt es nur im Hamsterrad und mit jedem Schritt kümmert man sich ein bisschen weniger um sich selbst.

In solchen Momenten braucht es ein paar gute Geister – oder die fünf Coaches von „Queer Eye Germany“. Im deutschen Ableger der erfolgreichen Makeover-Serie aus den USA, zu sehen seit Anfang März auf Netflix, kümmern sich fünf queere Persönlichkeiten um Menschen, mit denen es das Schicksal nicht immer gut gemeint hat. Oder denen die Bedürfnisse anderer wichtiger sind als die eigenen. Oder die vor einer Hürde stehen und nicht wissen, wie sie diese überwinden sollen.

Wie im amerikanischen Original kümmert sich jede:r der Fünf um eine Disziplin, die dem Körper, der Seele und dem Selbstwert schmeichelt, von Netflix beschrieben als „Fashion, Beauty, Life Coaching, Gesundheit und Design/Styling“.

Das Thema Beauty fällt dabei in den Verantwortungsbereich von Avi Jakobs. Die ausgebildete Expertin für Haare und Make-up hat nicht nur ein Händchen für visuelle Generalüberholungen. Sie setzt sich auch mit viel Nachdruck für die Sichtbarkeit queerer Menschen in der Öffentlichkeit ein. Und sie wird nicht müde, analog wie digital immer wieder auf die Sorgen, Wünsche und Anliegen der LGBTQIA* Community hinzuweisen.

Aufgewachsen ist Avi im beschaulichen Aalen auf der Schwäbischen Alb, heute lebt die 31-Jährige in Berlin. Mitten in einer wohl spannendsten Phase ihres bisherigen Lebens haben wir uns mit ihr zum Gespräch verabredet. Denn wie bei den Protagonist:innen, um die sich Avi in „Queer Eye Germany“ kümmert, finden auch bei ihr gerade fundamentale Veränderungen statt.

»Bei ›Queer Eye‹ denken viele an ein rein schwules Format, das finde ich etwas problematisch.«

MYP Magazine:
Avi, mit dem Start von „Queer Eye Germany“ wurdest Du nicht nur zu einer Person der medialen Öffentlichkeit, sondern auch zu einem Sprachrohr der queeren Community. Wie gehst Du mit dieser neuen Rolle um – und all der Aufmerksamkeit sowie den Erwartungen, die damit verbunden sind?

Avi:
In den letzten Monaten gab es durchaus Momente, in denen mich das alles überfordert hat. Und das tut es stellenweise immer noch. Trotzdem freue ich mich riesig über die Sichtbarkeit, die das Format mit sich gebracht hat. Ich merke, dass ich dadurch wesentlich mehr verändern kann als zuvor – nicht nur innerhalb der Community. Uns haben seit dem Start der Serie etliche Nachrichten von Menschen erreicht, die in ähnlichen Lebenssituationen wie unsere Protagonist:innen stecken und sich bei uns bedankt haben. Das hat mir gezeigt, dass „Queer Eye Germany“ einen enormen Impact hat. Dafür bin ich sehr dankbar. Gleichzeitig verspüre ich durch meine neue Rolle aber auch einen gewissen Druck, weil ich mir einbilde, dass mir die gesamte queere Community im Nacken sitzt. Da ich von vielen als Sprachrohr wahrgenommen werde, hab‘ ich wirklich Schiss, nichts Falsches zu sagen – vor allem, wenn ich Auftritte im Fernsehen habe oder vor Kameras spreche. Ich will ja alle irgendwie erwähnen und niemanden ausschließen.

MYP Magazine:
Ist es überhaupt möglich, für die ganze queere Community zu sprechen?

Avi:
Das ist tatsächlich schwierig. Ohnehin denken viele bei „Queer Eye“ an ein rein schwules Format, das finde ich etwas problematisch. Aus diesem Grund versuche ich immer, auch auf die trans Community einzugehen – diese Gruppe ist eher schlecht repräsentiert, nicht nur medial. Das Gleiche gilt übrigens auch für die lesbische Community.

»Ich selbst traue mich erst seit ›Queer Eye Germany‹, in einem Kleidchen vor die Tür zu gehen.«

MYP Magazine:
In „Queer Eye Germany“ helft Ihr anderen Menschen, sich und ihr Leben in positiver Weise zu verändern. Dabei erlebst auch Du selbst gerade eine große persönliche Veränderung, wie Du in einem Deiner jüngsten Instagram-Videos erzählst. Dort sagst Du unter anderem: „Ich fange jetzt erst an, mich so richtig zu akzeptieren.“ Was passiert momentan in und mit Dir?

Avi:
Durch die strikten Coronamaßnahmen während der Produktion hatte ich ein halbes Jahr lang so gut wie kein Leben und war sehr viel allein. In dieser Zeit habe ich oft meditiert und mich intensiv mit mir selbst auseinandergesetzt. Dabei sind diverse Dinge aus meinem bisherigen Leben aufgeploppt – unter anderem die Erkenntnis, dass ich innerhalb der schwulen Community immer das Bedürfnis hatte, fuckable und attraktiv zu sein. Und das insbesondere für Leute, die eine starke Femmephobia in sich tragen. Der Begriff bedeutet, dass man Menschen ablehnt, die eher weiblich wahrgenommen werden oder über Attribute verfügen, die mit Weiblichkeit assoziiert werden. Daher habe ich das Feminine in mir lange unterdrückt und von mir weggeschoben, vor allem beim Dating.

MYP Magazine:
In der queeren Community ist nicht nur die von Dir angesprochene Femmephobia weit verbreitet, auch andere Menschen erfahren immer wieder systematische Ablehnung. Das spiegelt sich unter anderem in Floskeln wie „no fats, no girls, no Asians, no olds“.

Avi:
Schlimm, oder? Ich selbst traue mich auch erst seit „Queer Eye Germany“, in einem Kleidchen vor die Tür zu gehen. Davor habe ich mir das immer untersagt, zumindest in meinem Alltag. Klar, ab und zu ging das mal, etwa in einem Club oder einem anderen Safe Space, aber draußen in der Öffentlichkeit war das für mich tabu. Momentan lege ich all das ab und merke, wie gut mir das tut. Und ich habe beschlossen, mich dabei von einer Therapeutin begleiten zu lassen. Ich will herauszufinden, was ich mir im Laufe meines bisherigen Lebens noch alles so weggedrückt habe und mir bis heute nicht erlaube.

»Wir geben den Leuten super Ratschläge, aber warum nehmen wir die selbst nicht an?«

MYP Magazine
Hat Dich die Netflix-Serie am Ende selbst enabled?

Avi:
Hundert Prozent ja! Wir als Coaches haben alles dafür gegeben, dass die Protagonist:innen begreifen, dass sie ganz sie selbst sein dürfen. Und in dem einen oder anderen Moment habe ich mich sagen hören: Maybe I should do it, too! Das war wie eine Selbsttherapie – und zwar für uns alle. Darüber haben wir uns erst vor kurzem wieder ausgetauscht. Aljoscha zum Beispiel hat sich durch die Serie ebenfalls krass verändert. So erlaubt er sich erst jetzt, seine Nägel zu lackieren. Vorher war das für ihn ein Riesending. Wenn er es in einem seltenen Fall mal getan hatte, zog er in der Öffentlichkeit immer vor Scham die Finger ein. Am Ende war „Queer Eye Germany“ für uns alle ein Safe Space, in dem wir einerseits als Team zusammengewachsen sind und der uns andererseits sehr viel weitergebracht hat in unseren einzelnen Leben. Noch während der Produktion haben wir uns gefragt: „Wartet mal, wir geben den Leuten super Ratschläge, aber warum nehmen wir die selbst nicht an?“

MYP Magazine:
In dem Instagram-Video, über das wir eben gesprochen haben, zeigst Du der Öffentlichkeit eine sehr verletzliche Seite von Dir und teilst intimste Gedanken. Auch Deine amerikanischen Kolleg:innen gestatten dem „Queer Eye“-Publikum immer wieder einen Blick ins Privateste. Etwa Antoni Porowski, der angibt, keinen Kontakt mehr zu seiner Mutter zu haben. Oder Bobby Berk, der von seiner früheren Obdachlosigkeit erzählt. Erleben wir gerade in der Medienlandschaft eine grundlegende Veränderung des Fernsehstar-Typus?

Avi:
Es findet auf jeden Fall eine Vermenschlichung statt. Und das hat aus meiner Sicht viel mit den sozialen Netzwerken zu tun. Die Leute wollen einfach das Nahbare. Sie wollen deinen Alltag sehen und an dem teilhaben, was du so tust. Gleichzeitig gibt es am anderen Ende immer mehr Menschen, die ihre Reichweite nutzen möchten, um anderen Mut zu machen, statt einfach nur ihrem Celebrity-Dasein zu frönen. Früher war es so, dass man als Fernsehgesicht einfach da war, aber nicht anfassbar. Das ist heute anders – und das finde ich gut. Als ich zum Beispiel vor kurzem in der Tram unterwegs war, hat mir danach jemand geschrieben: „Du warst bei mir in der Bahn!“ Was soll ich denn da antworten? Ja, ich fahre Bahn – wie jeder andere Mensch auch. Ich gehe auch kacken. Warum ich jetzt plötzlich diesen Celebrity-Stempel habe, verstehe ich nicht. Ich habe ja nichts anderes getan, als bei so einer Show mitzumachen.

»Wenn dich deine Eltern nicht so akzeptieren, wie du bist, führt das zu Traumata, die dich ein Leben lang begleiten.«

MYP Magazine:
Du redest in Interviews immer voller Bewunderung von Deiner Mutter. Welche Bedeutung hat sie in Deinem Leben?

Avi:
Ich bin in Aalen aufgewachsen, das ist eine schwäbische Kleinstadt (Avi legt den Finger an die Schläfe und gibt sich die Kugel). Meine Mutter war dort mein einziger Rückhalt. Ich hätte als Kind und Teenager nicht gewusst, was ich ohne sie gemacht hätte. Sie hat mir unendlich viel Kraft gegeben, auch wenn wir stellenweise so arm waren, dass es an Weihnachten nur Buchstabensuppe aus der Tüte gab. Und auch wenn es eine Zeit gab, in der wir im Frauenhaus gelebt haben. We come from nothing. Trotzdem hat sie nie aufgehört mir einzutrichtern: „Du kannst alles schaffen.“ Sie hat mich überschüttet mit Liebe und mir immer gesagt, dass ich richtig bin, wie ich bin. Daher war das alles aushaltbar. Und ich glaube, gerade weil ich das selbst von ihr gelernt habe, kann ich das auch so gut an andere geben. Es gibt viele Menschen, die zu Hause nicht diesen emotionalen Rückhalt hatten. Wenn dich deine Eltern nicht so akzeptieren, wie du bist, führt das zu Traumata, die dich ein Leben lang begleiten.

MYP Magazine:
In den einzelnen Folgen von „Queer Eye Germany“ verschlägt es Euch oft in die deutsche Provinz. Waren diese Ausflüge auch immer eine Reise in die eigene Vergangenheit?

Avi (legt ihre Hände vor den Mund):
Oh mein Gott, alles war so triggernd – allein dieses Fußballstadion in der Folge mit Nils, dem schwulen Trainer! Ich habe am ganzen Körper gezittert und war klitschnass. Es gab so viele Situationen, in denen ich mich an mein eigenes Aufwachsen zurückerinnert habe.

MYP Magazine:
Gibt es nicht irgendetwas Positives, das Du dem Leben im ländlichen Raum abgewinnen kannst?

Avi lacht laut und schüttelt den Kopf.

MYP Magazine:
Wir können auch einfach schreiben: „Avi schweigt.“

Avi (lächelt):
Ich hatte dort natürlich ein bisschen Natur um mich herum. Aber ob ich die am Ende zum Glücklichsein gebraucht habe? Ich bezweifle es. Ganz ehrlich: Ich wäre wirklich gerne in einer größeren Stadt aufgewachsen.

»Unsere Gesellschaft legt eine enorme Last auf Männer, und das schon ab dem frühen Kindesalter.«

MYP Magazine:
Vor kurzem hast Du in der Youtube-Serie „Auf Klo“ mit Deiner Kollegin Leni Bolt aufgezählt, wie oft Ihr euch schon offiziell geoutet habt – Leni kam auf insgesamt zwei Outings, Du selbst auf drei. Ist es als queere Person nicht eher so, dass das Outen nie aufhört – weil man immer wieder in Situationen gerät, in denen man darauf hinweisen muss, dass die eigene Sexualität von der normativ angenommenen, heterosexuellen abweicht? Was braucht es aus Deiner Sicht, damit wir in unserer Gesellschaft an einen Punkt kommen, an dem das einfach nicht mehr nötig ist?

Avi:
Eines meiner großen Anliegen ist es, dass es keiner Outings mehr bedarf – weder für irgendeine Sexualität noch für die geschlechtliche Identität. Davon abgesehen müssen wir uns vor allem um das Thema toxische Männlichkeit kümmern. Unsere Gesellschaft legt eine enorme Last auf Männer, und das schon ab dem frühen Kindesalter. Sie werden durch die Art und Weise ihrer Sozialisation in eine Rolle gezwungen, in der weder Schwäche noch Sanftheit erlaubt sind.
Vor kurzem bin ich in einer schwulen Bar mit einem heterosexuellen Mann ins Gespräch gekommen, der sehr offen, gefühlvoll und woke war. Er erzählte, dass er öfter mal in der Bar vorbeischaue, weil er hier mit anderen Männern ganz ungezwungen über seine Gefühle sprechen könne und sich dabei sehr wohlfühle. Mit seinen Kumpels könne er das leider nicht. Das musst du dir mal reinziehen! Es ist immer noch traurige Realität, dass viele Männer befürchten, von ihren Freunden ausgelacht zu werden, wenn sie sich emotional öffnen. Oder noch „schlimmer“: Es könnte ja der „Verdacht“ entstehen, nicht hetero zu sein. Ich finde es zwar total schön, dass dieser Mann für sich einen Safe Space gefunden hat. Gleichzeitig zeigt mir dieses Beispiel aber auch, dass es hier immer noch verkrustete Einstellungen gibt, die schnellstens aufgebrochen werden müssen.

»Es gibt Menschen, die ein anderes Pronomen bevorzugen, als ihr Aussehen vermuten lässt.«

MYP Magazine:
Apropos geschlechtliche Identität: Du machst immer wieder deutlich, wie wichtig Dir die Angabe von Pronomen ist. Kannst Du kurz erklären, warum Du darauf so viel Wert legst?

Avi:
Mir persönlich ist das so ein großes Anliegen, weil ich es unangenehm finde, wenn jemand einem anderen Menschen allein wegen seines Äußeren eine bestimmte Sexualität oder Gender Identity zuschreibt. Das Beispiel ist zwar etwas plump, aber angenommen, du siehst eine von dir als Mann gelesene Person in einem Kleidchen. Allein die Kleidung könnte dir schon signalisieren, dass die Person sich selbst vielleicht nicht ganz so heteronormativ sieht, wie du es selbst gewohnt bist. Hier hilft die Sache mit den Pronomen sehr, denn dadurch hat die Person die Chance, auf die Art angesprochen zu werden, wie sie sich am wohlsten fühlt. Und wenn du dich mit deinen eigenen Pronomen vorstellst oder „Hallo, ich bin der Peter“ sagst, macht es das für dein Gegenüber angenehmer und zu etwas Alltäglichem. Vor allem wir trans Menschen fühlen uns dadurch gesehen und akzeptiert. Bei mir persönlich ist es übrigens so: Um von vornherein zu vermeiden, dass ich misgegendert werde, sage ich meine Pronomen immer gleich am Anfang. Aber vielen Leuten geht das Ganze immer noch gegen den Strich, sowohl in der queeren als auch in der nicht-queeren Welt.

MYP Magazine:
Das heißt?

Avi:
Als ich vor wenigen Tagen zum Thema Pronomen ein Video auf Instagram gepostet habe, gab es einen regelrechten Shitstorm. Die Leute fühlen sich in ihrer Realität immer so angegriffen. Ich wollte lediglich darauf hinweisen, dass es Menschen gibt, die ein anderes Pronomen bevorzugen, als ihr Aussehen vermuten lässt. Und dass Pronomen ein gutes Mittel sind, um eine Umgebung zu schaffen, in der sich mehr Menschen integriert und wohlfühlen.

»Ich habe den Eindruck, dass bei vielen Leuten kein oder kaum Wissen über queere Geschichte vorhanden ist.«

MYP Magazine:
Mit den Pronomen eng verwandt ist ein anderes gesellschaftliches Reizthema, das Gendern. Interessanterweise erlebt man immer wieder – auch innerhalb der queeren Community –, dass viele Menschen gar nicht wissen, was die Idee einer gendergerechten Sprache ist. Da stößt man beispielsweise auf die Annahme, es gehe um eine Zusammenlegung der männlichen und weiblichen Form, zum Beispiel Schaffner:innen als Abkürzung von Schaffnerinnen und Schaffner. Dass durch das Sternchen oder den Doppelpunkt auch Menschen in den Begriff integriert werden sollen, die sich selbst als nicht-binär bezeichnen, also nicht als weiblich oder männlich identifizieren, wissen viele nicht. Wäre die hitzige Diskussion in unserer Gesellschaft nicht viel entspannter, wenn die einen es besser erklären und die anderen sich besser informieren würden?

Avi:
In der Theorie stimmt das. Aber ich muss leider immer wieder erleben, dass viele Leute gar keine Lust haben, sich zu einem Thema schlau zu machen. Oder sich darüber mit anderen auseinanderzusetzen. Dabei ist es doch das Schönste, mit jemandem kontrovers, aber sachlich und auf Augenhöhe zu diskutieren. Ich selbst habe überhaupt kein Problem damit, wenn jemand eine andere Meinung vertritt als ich und sich daraus eine gute Debatte ergibt. Aber viele werden sofort emotional, unsachlich und aufbrausend, das macht das Gespräch echt schwierig.
Darüber hinaus habe ich den Eindruck, dass bei vielen Leuten kein oder kaum Wissen über queere Geschichte vorhanden ist, sowohl außerhalb als auch innerhalb der Community. Ich bin gesellschaftspolitisch auch kein Lexikon. Aber zumindest ein kleines Grundwissen wäre nicht schlecht, wenn man irgendwo mitreden möchte. Das sind wir allein jenen Menschen schuldig, die in den letzten Jahrzehnten für uns und unsere Rechte gekämpft haben.

»Leider bin ich noch nicht so abgeklärt, dass ich auf alles scheißen könnte, was andere sagen.«

MYP Magazine:
Wann hat sich Dein eigenes Verantwortungsgefühl für die LGBTQIA* Community entwickelt?

Avi:
Wenn man gewisse Themen anspricht, eckt man zwangsläufig an, und man muss dann in der Lage sein, damit umzugehen. Dafür habe ich mich lange nicht stark genug gefühlt. Und ich habe mich einfach nicht getraut. Jetzt – mit so viel Reichweite – fühle ich mich da wesentlich sicherer und betreibe das auch aktiver. Aber auch das noch nicht in einem Maß, in dem ich das gerne würde. Dafür fassen mich die Reaktionen der Leute immer noch zu sehr an. Leider bin ich noch nicht so abgeklärt, dass ich auf alles scheißen könnte, was andere sagen. Momentan setzt sich noch jeder Kommentar drei Tage in meinem Kopf fest. Ich bin sehr sensibel, da trifft mich das eine oder andere wirklich stark – auch wenn es oft von Menschen kommt, die keinen Platz in meinem Kopf haben sollten.
Aus diesem Grund bin ich froh, dass endlich diese Show in der Welt ist, weil ich das Gefühl habe, allein durch meine Präsenz dort etwas verändern zu können. Und ich bin froh um jedes Interview. Ich fühle mich immer wieder geehrt, wenn andere Menschen Interesse an mir haben – und an dem, was ich zu sagen habe.

»Ich hätte mich das in dem Alter nicht getraut.«

MYP Magazine:
Einer der beeindruckendsten Protagonisten in „Queer Eye Germany“ ist der Fußballtrainer Nils: nicht nur, weil er den Mut aufgebracht hat, die Sendung für das eigene Outing zu nutzen. Sondern auch, weil seine persönliche Situation eine Lebensrealität abbildet, die es so tausendfach in Deutschland gibt. Und weil da so viele gesellschaftliche Stigmata offensichtlich werden, die seit Jahren einen enormen Druck auf diesen jungen Mann ausüben. Wie hast Du die persönliche Begegnung mit Nils erlebt?

Avi:
Ich selbst bekomme bei der Produktion tatsächlich nur das mit, was in Bezug auf meinen Beauty-Part in der Show zu sehen ist. Das ist bei den anderen Coaches dasselbe. Aber es gibt eine gemeinsame Whatsapp-Gruppe, in der wir uns immer auf dem neuesten Stand gehalten und uns erzählt haben, was bei den jeweils anderen so passiert ist. Von den wirklich krassen Themen in Nils‘ Leben habe ich daher erst per Voicemail erfahren, etwa von der Begegnung mit dem anderen Trainer im Fußballstadion, der ihn vor möglichen Pädophilie-Stigmata warnt. Darüber hinaus hatte ich die Chance, mich mit Nils noch ein wenig bei einem gemeinsamen Essen austauschen. Abseits der Kamera war er viel schüchterner, als es in der Serie den Anschein macht, und hat tendenziell eher weniger gesagt. Daher war ich umso stolzer auf ihn, dass er den Mut aufgebracht hat, das alles öffentlich zu machen. Er hatte ja große Angst, durch sein Outing den Trainerjob zu verlieren. Was für ein krasser, krasser Schritt! Ich hätte mich das in dem Alter nicht getraut.

»Diskriminierung entsteht, wenn man sich selbst besser darstellen und über andere Menschen erheben will.«

MYP Magazine:
Nils thematisiert auch andere Ängste – etwa die Sorge, nicht attraktiv genug zu sein; nicht männlich genug zu wirken; oder „schwul gekleidet“ zu sein und deshalb in irgendeiner Form aufzufallen. Für diese Ängste, so scheint es, braucht es gar kein intolerantes, heteronormatives Umfeld. Allein die schwule Community tut viel dafür, um Menschen auszugrenzen, die keinem bestimmten Ideal entsprechen. Über Floskeln wie „no fats, no girls, no Asians, no olds“ und „just young, fit and masculine“ haben wir bereits gesprochen. Kann man von anderen Menschen überhaupt Toleranz einfordern, wenn man selbst nicht tolerant ist?

Avi:
Eben nicht. Ich hatte eine lange Phase in meinem Leben, in der ich mir gesagt habe: Ich mache nicht mehr mit, I’m not a part of this community anymore, die sind alle schrecklich. Und ein Teil von mir ist immer noch so eingestellt – weil man innerhalb der Community allzu oft Menschen kennenlernt, die Dinge von sich geben, bei denen man sich einfach nur schütteln möchte. Wie kann man, wenn man selbst so viel Intoleranz und Diskriminierung erfahren hat, da noch mitmachen?

MYP Magazine:
Hast Du eine Idee, wie man daran etwas ändern kann?

Avi (lacht):
Ok, wie spirituell darf ich werden? In jedem Glauben ist es doch so, dass es da einen Passus wie „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ gibt. Das Ziel ist also, bei sich selbst anzukommen. Aber viele Menschen sind nicht bei sich. Sie können nicht einmal allein sein – weil sie nicht damit klarkommen, was dann in ihrem Kopf passiert; weil sie oft ihre Traumata nicht auflösen wollen, die sie mit sich herumtragen. Ich glaube, die Welt braucht mehr Spiritualität. Wenn man mit sich selbst cool ist und sich gefunden hat, merkt man, wie sinnlos es ist, andere dumm zu machen. Ich tue gerade so, als wäre ich übelst weise, dabei lerne ich mich auch erst gerade neu kennen. Aber ich habe kapiert: Diskriminierung entsteht, wenn man sich selbst besser darstellen und über andere Menschen erheben will. Aber wenn man sich selbst mag und akzeptiert, braucht man das nicht mehr. Das gilt für alle Menschen, egal ob queer oder nicht.

»Wen und was man attraktiv findet, wird von vielen Faktoren beeinflusst.«

MYP Magazine:
Ein beliebtes Argument in der Community ist es, dass es sich bei den genannten Floskeln nicht um Diskriminierung handele, sondern bloß um die Angabe sexueller Präferenzen. Und die könne man schließlich nicht ändern.

Avi:
Ich glaube, dass auch das ein Konstrukt ist. Wen und was man letztendlich attraktiv findet, wird von vielen anderen Faktoren beeinflusst, etwa von gesellschaftlichen Trends. Beispielsweise galten Frauen mit Kurven und Rundungen lange Zeit als das weibliche Schönheitsideal. Und in der Antike fand man bei Männern eher kleinere Penisse attraktiv.

»Für mich ist Sex mit den Jahren etwas sehr Magisches geworden.«

MYP Magazine:
Welche Bedeutung hat Sex für Dich persönlich?

Ich bin kein wirklich sexueller Mensch. Für mich ist Sex mit den Jahren etwas sehr Magisches geworden. Ich kann auch fremde Menschen nicht so an mich heranlassen, wie es viele in der Community tun – ich meine die Situation, dass da jemand Fremdes bei dir klingelt und man dann sofort miteinander bummert. Eine Zeit lang habe ich das auch mal versucht. Aber das war nie so meine Welt. Es ist für mich einfach schwierig, mich in eine Situation hineinzuversetzen, in der man sehr viel Sex möchte, aber dafür nur den Körper einer anderen Person konsumieren und sie nicht zwangsläufig kennenlernen will. Not my world, find‘ ich kacke.

MYP Magazine:
Kommen wir zurück auf „Queer Eye Germany“. Für die erste Staffel gab es viel Zuspruch und durchweg gute Kritiken. Wann kommt die zweite?

Avi:
Ob und wann es weitergeht, wissen wir nicht – ich glaube, da sind wir Fünf auch so ziemlich die Letzten, die das erfahren würden. Das Ende der Nahrungskette, sozusagen. Die große Promophase ist vorbei, jetzt heißt es jeden Tag hoffen. Es hängt am Ende ja immer davon ab, wie viele Leute die Show tatsächlich schauen. Klar, die queere Community geiert natürlich darauf, aber das ist nur ein kleiner Teil der Gesamtzuschauerschaft. Wir Coaches wünschen uns auf jeden Fall sehr, dass es weitergeht.

MYP Magazine:
Gerade läuft auf Netflix sehr erfolgreich „Heartstopper“, eine queere Coming-of-Age-Serie aus Großbritannien. Ist das nicht Beweis genug, dass auch das Mainstream-Publikum empfänglich ist für queere Themen?

Avi:
Hoffen wir’s! Vielleicht wird dadurch den Leuten ja auch öfter „Queer Eye Germany“ vorgeschlagen und der Algorithmus entscheidet in unserem Sinne. Am Ende ist doch alles nur Rechnerei.


Sera & Claudia Valentina

Interview — Sera & Claudia Valentina

»I wanna make music that people make babies to«

Sera from the Netherlands and Claudia Valentina from the United Kingdom put a more feminine face on international pop music. When they met recently in Berlin, we had the pleasure of having a personal interview with both of them, which turned into a conversation about their artistic visions, the sound-shaping people in their lives, and the great need for empowering women in the music industry.

19. Juni 2022 — Interview & text: Katharina Viktoria Weiß, Photography: Frederike van der Straeten

Music artists Sera and Claudia Valentina at the „Lounge im Turm“ venue

For a very special interview, we have arranged a meeting between two women with opposing styles but a shared love of pop music: Sera, who is already a star in the Netherlands, and Claudia Valentina, who has created a worldwide fan base with her sensual songs, are both ready to hit the ground running in the international music industry—which seems to be working: Claudia Valentina has just been featured by German rapper and singer Cro on his new track “High,” and with “She Kissed Me First,” Sera added another single to her million-click repertoire on Spotify a few weeks ago.

The setting for our conversation is the Lounge im Turm venue at Frankfurter Tor. We look out over Berlin in one of the 9-story towers built from 1950 to 1956 on the rubble of what was once the grand Frankfurter Allee. Their architectural expression testifies to a time of political confrontation and competition in divided Berlin.

But instead of being competitors, Sera and Claudia Valentina are united by the common experience of launching a career after a global pandemic. A conversation about the current pop business and the creative process that shapes the sound of these two energetic artists.

»I didn’t think that I really had what it took to become a singer.«

MYP Magazine:
Claudia Valentina and Sera, you both have great voices as the core of your talent box. How were they discovered?

Claudia Valentina:
Ever since I could talk, the only thing I liked to do was sing. I would lock myself in the basement every day after school and practice for hours. I was never very shy as a child and wanted to get up on stage and perform everywhere.

Sera:
My mom played a huge role in that. I really loved to sing from a very young age, and she always told me that she felt I had something in my voice. Something different, but I just sang for fun and didn’t think that I really had what it took to become a singer.

»Everyone’s life paths are so unique and shape us as people—and as artists.«

MYP Magazine:
You both started making music when the whole world was stuck in Corona lockdown. Through what challenges and opportunities was your path determined?

Sera:
It felt like a blessing and a curse. On the one hand, I had all the time in the world to really dive into the music and songwriting and challenge myself—because it was completely new to me because I had never written a song in my life. On the other hand, I felt like labels and such might not be interested anymore because of COVID, and who knows how long that will last.

Claudia Valentina:
Everyone’s life paths are so unique and shape us as people—and as artists. I’ve always loved the hustle since I was a kid, so for me, my whole life has been about never letting my confidence get touched and always focusing on my dream. I definitely learned that from Bob, my dad.

»I’ve spent a big part of my life hunting the right setup with my team.«

MYP Magazine:
Claudia Valentina, you have a very contemporary and extravagant style. How would you describe the vision you have for your aesthetic?

Claudia Valentina:
Thank you, I like that! I’ve always been into fashion. I like to make mood boards for literally everything—shoots, videos, music, et cetera. I feel like my style says a lot about my music, I like to feel unique and in line with my personality.

MYP Magazine:
How do you ensure that the team you build around you supports you in this vision?

Claudia Valentina:
I am very lucky to have the most incredible people around me. They are all so hungry for the same goal and work insanely hard. I’ve spent a big part of my life hunting the right setup with my team, and I’m very lucky to be able to call them my best friends as well.

»I’m social to a certain extent.«

MYP Magazine:
Sera, you’ve built up a big following in your home country because you make very down-to-earth videos on social media. In the comments, you can read that many of your fans find you really likeable and approachable. How has this community developed?

Sera:
That’s because I present myself very human, I guess?! Hair undone, hoodie, cap on my head. Not because I wanted to stand out or anything, I just wanted to present myself the way I am, so I never have to pretend. I’ve been like this my whole life. I walk around like this 95 percent of the time: ripped jeans, beanie, something hoodie-ish. The other 5 percent I have my hair done and stuff. So, I’m glad that my community accepts me the way I am.

MYP Magazine:
You’ve done projects with a POC gospel collective and many of your posts feature other musicians or friends. You seem to be an incredibly social person. Is that perception true?

Sera:
I love people—wait, let me say that again: I love nice people. If someone is kindhearted and shows it, I love to hang out and be social. If that’s not the case, I’m out. So, I guess I’m social to a certain extent.

MYP Magazine:
And what do you do when you have time to yourself? For example, what are you a total nerd for?

Sera:
I love going on small adventures. That could be a spontaneous trip or a nighttime car ride. Or it could be a hike in the Ardennes. I’m always up for anything. I geek about things frequently. I have what’s called hyperfocus, which I’ve self-diagnosed, and that means I can really fixate on things and know all the details until I do, and then I move on to the next thing. My most recent example was the Rubik’s Cube.

»Stress never made anything better.«

MYP Magazine:
Now it’s possible again to travel and play music live. Right now, we have the chance to meet at a showcase presented by Claudia Valentina in Berlin. And just a few weeks ago Sera played in front of 40,000 people on the Dutch holiday “Koningsdag” (transl. “Kings Day”). How do both of you deal with stage fright?

Claudia Valentina:
I’m still pretty new to performing. I started releasing music at the beginning of the lockdown, so shows were off the table for a long time. It’s a dream come true to be able to perform live now, and yep, I definitely get more nervous than I thought I would, but nerves are good! I love the feeling of adrenaline before I get on stage, it makes me perform better.

Sera:
I tell myself: You just do it! I still have stage fright. It’s getting better, but it’s still there. I think it’s just a matter of not thinking about it; just going with the flow, stress never made anything better; and learning from the mistakes I make while performing. Just keep going and try to get better every time.

»I was frozen, I couldn’t believe what I was seeing.«

MYP Magazine:
Sera, you played at Cristiano Ronaldo’s birthday party. How did that happen? And how was it?

Sera:
That was insane! It was my first ever performance in front of an audience—which is crazy in itself, let alone in front of him and his family. But it was a great experience! They were all so nice to me. I got a direct message from his wife’s assistant telling me that they would like to invite me to his birthday in Turin on February 5 to play some of their favorite songs. They had seen my covers and liked them—so they invited me. I was frozen, I couldn’t believe what I was seeing, but in less than two weeks we were in Turin and it was really happening.

»I finally got to perform live in front of people, which is scary but fun.«

MYP Magazine:
How did the artistic routines of the two of you evolve after Corona?

Claudia Valentina:
It’s so amazing that life is basically back to normal now and I can travel back to Los Angeles to make music. Some of my favorite producers and writers are based there, so getting back to having heavy studio time is exactly what I’ve been longing for.

Sera:
I finally got to perform live in front of people, which is scary but fun. I put a lot of work into my music, and to get back the energy of the audience is incredible. I never had that before.

»I usually get weird comments when I’m surrounded by guys.«

MYP Magazine:
You are both young female artists. Is your gender still relevant when it comes to starting off in the music industry? What experiences have you had with sexism, for example?

Sera:
I haven’t had any experience with sexism in the music industry. I know I’m pretty new, but so far everything is going super well. I feel like the creatives I work with are very chill and accepting. I have a girlfriend, and I usually get weird comments when I’m surrounded by guys—sexism is very real on that note.

Claudia Valentina:
I’m incredibly lucky to be surrounded by strong women, inside and outside the industry. The fact that they guide and empower me on my journey as an artist has really equipped me for anything.

»I love the unsalted opinions of my family.«

MYP Magazine:
What are the most important people in your lives—professionally and privately? And how do they shape your sound?

Sera:
My girlfriend and my family, especially my mom, my siblings, and their kids. And our dog! They are always bluntly honest. They keep me on the ground and always tell me if I’m doing too much vocally or if it sounds nice the way I’m doing it. I love their unsalted opinions.

Claudia Valentina:
I don’t know what I would do without my family and friends. I don’t know how I was lucky enough to have such a loving support system. My parents above all. I really don’t have the words to describe how selfless they are and how much they have pushed me to be the best I can be.

»I wanna make music that people make babies to.«

MYP Magazine:
Claudia Valentina, you were born and raised in Guernsey, an island in the English Channel off the coast of Normandy. How did growing up there influence your music?

Claudia Valentina:
I spent the first nine years of my life there, it’s a beautiful place. It’s in the middle of nowhere and has no music scene, so I had to look all over the world to find who I am. That has helped me in a lot of ways. I get inspired by so many genres of music from different places, and I like to think of my own style as a kind of melting pot of all my experiences with music outside of my hometown.

MYP Magazine:
Speaking of your musical style, you have some really sexy songs in your repertoire. Would you describe yourself as a sensual person? What kind of pleasure is it to sing such songs live?

Claudia Valentina (smiles):
Haha, yeah! I’m 21 and I’ve been working a lot, so I have the sexual frustration of a 16-year-old boy right now. I like to be as honest as possible when I write. I don’t like basic pop lyrics. If I’m being honest: I wanna make music that people make babies to.

»I’m going to get a tattoo of the title.«

MYP Magazine:
I would be delighted if each of you would tell me about one of your songs that you particularly love. What was the creative process that led to that song, and why is it so dear to you?

Claudia Valentina:
I just think of writing one of the songs on my new EP that’s coming out soon, “Sweat.” It’s the lead single on it, and the day of the recording in the studio was the first time I met Tom Mann and Lostboy, which led to them being among my closest friends today. I remember the energy in the room that day when we knew we’d made a great song, and I’ve been just as excited about it ever since.

Sera:
I would say my first single “Only us”—that’s where it all started. It was the first song I ever wrote and also how I met Bas aka Will Grands. He has produced or co-produced all my songs. Having him by my side feels like a luxury. He explained to me how to create melodies and so on. “Only us” takes me back in time—I’m going to get a tattoo of the title. That’s how much it means to me.


Anna-Sophia Richard

Interview — Anna−Sophia Richard

»Menschen müssen kreativ sein, wenn es ums eigene Überleben geht«

In ihrem Dokumentarfilm »Los cuatro vientos« macht Regisseurin Anna-Sophia Richard sichtbar, wie die Arbeitsmigration in den globalen Norden seit Jahrzehnten ein kleines Dorf in der Dominikanischen Republik verändert. Dafür wurde sie gerade mit dem »Young C. Award« des renommierten CIVIS Medienpreises ausgezeichnet. Im Interview erklärt sie, warum in der Dominikanischen Republik ein riesiges Missverständnis über das Leben im Ausland herrscht, was ihre eigene Lebensgeschichte mit dem Film zu tun hat und wieso insbesondere Frauen weder im Exil noch in ihrer Heimat die Anerkennung erfahren, die ihnen zusteht.

6. Juni 2022 — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotografie: Frederike van der Straeten

Der Südwesten der Dominikanischen Republik ist eine Region, die besonders stark von der Auswanderung der einheimischen Bevölkerung geprägt ist. So ist es auch im Dorf Fondo Negro, dessen Bewohner*innen in alle Himmelsrichtungen verstreut leben. Denn im Ausland, so der allgemeine Glaube, lockten neue Perspektiven und vor allem Wohlstand. Und damit eine lukrative Einnahmequelle, um die zurückgelassene Familie zu versorgen.

Doch die Realität ist meistens eine andere: In vielen Fällen hetzen die Menschen im Exil von einer unsicheren, ausbeuterischen Arbeitsstelle zur nächsten – immer mit dem Druck im Nacken, genügend Geld nach Hause zu schicken und das Überleben der Familie zu sichern. Gleichzeitig werden sie im Laufe der Monate und Jahre immer mehr zu Fremden in ihrem Heimatdorf.

Mit den vielfältigen Geschichten jener Menschen aus Fondo Negro befasst sich der Dokumentarfilm „Los cuatro vientos“ von Regisseurin Anna-Sophia Richard, der von der Ludwigsburger Giganten Film produziert wurde und am 4. November 2021 im SWR seine TV-Premiere feierte. „Die vier Winde“, so der deutsche Titel, macht exemplarisch sechs besondere Schicksale sichtbar. So etwa das von Orfedita Herédia, die die erste Frau aus Fondo Negro war, die nach Europa auswanderte. Nach Jahren der Arbeit im Ausland kehrte sie 2010 in ihr Dorf zurück, wo sie kurze Zeit später zur Bürgermeisterin gewählt wurde.

Doch in „Los cuatro vientos“ geht es auch um die Lebensgeschichten und Gefühlswelten von Menschen, die nicht zurückgekommen sind und in New York, Stuttgart oder Madrid feststecken. Dort haben sie nicht nur mit Einsamkeit, Heimweh und Existenzängsten zu kämpfen. Durch ihre ökonomische Lage können sie auch kaum eine freie Entscheidung treffen. Und ihre familiären Beziehungen sind durch die große Distanz permanent bedroht.

Als Tochter eines dominikanischen Vaters und einer deutschen Mutter erlebte die Regisseurin selbst, wie einschneidend die Auswanderung ein Leben verändern kann. Mit sechs Jahren zog Anna-Sophia Richard mit ihrer Mutter und ihrer jüngeren Schwester aus der Dominikanischen Republik nach Deutschland, ihr Vater aber blieb dort. Einige Jahre später versuchte auch er, in Deutschland anzukommen. Doch die Erfahrung von alltäglichem Rassismus und Chancenungleichheiten ließen ihn enttäuscht in die Dominikanische Republik zurückkehren.

Die Erfahrungen aus ihrer Kindheit und Jugend haben Anna-Sophia Richard motiviert zu erforschen, wie sich die Dominikanische Republik durch die Auswanderung so vieler Menschen verändert und wie diese die Folgen von Familientrennung erleben und verarbeiten. Vor wenigen Tagen nun wurden sie und ihr Dokumentarfilm mit dem „Young C. Award“ des renommierten CIVIS Award ausgezeichnet – Europas bedeutendstem Medienpreis für Integration und kulturelle Vielfalt.

»Ich wollte deutlich machen, dass Arbeitsmigrant:innen sehr viel aufgeben, um bei uns ihr Glück zu suchen.«

MYP Magazine:
Anna, was hat Dich motiviert, so einen Film wie „Los cuatro vientos“ zu machen?

Anna-Sophia Richard:
Ich bin in der Dominikanischen Republik zur Welt gekommen und aufgewachsen. Als ich sechs Jahre alt war, ist meine Mutter mit mir nach Deutschland gezogen, mein Vater aber blieb dort. Seitdem hat mich das Thema einer getrennten Familie nicht mehr losgelassen – auch, weil der Rest meiner dominikanischen Verwandten auf der ganzen Welt verstreut lebt. Mit „Los cuatro vientos“ wollte ich verschiedenste Aspekte der Migration sichtbar machen, die ich selbst aus meiner „Kinderperspektive“ noch nicht kannte.
Außerdem hatte ich immer das Gefühl, dass in unserer gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit Migrationsgeschichten die Arbeitsmigration eine geringere Beachtung findet als andere Formen der Migration. Mit „Los cuatro vientos“ wollte ich deutlich machen, dass Arbeitsmigrant:innen sehr viel aufgeben, um bei uns ihr Glück zu suchen. Die Entbehrung und Opfer sind für die ganze Familie schwerwiegend und bedeuten einen großen Verlust.

»Vieles wird sichtbar, was sich die meisten von uns im globalen Norden gar nicht vorstellen können.«

MYP Magazine:
Welche Gefühle hattest Du selbst während der Arbeit an dem Film?

Anna-Sophia Richard:
Sehr gemischte. Als ich angefangen habe, an „Los cuatro vientos“ zu arbeiten, wurde ich öfter gefragt, welche Haltung ich selbst zu diesen Migrationsgeschichten habe; ob ich es als positiv oder negativ empfinde, dass die Leute ihr Dorf und ihre Familien verlassen. Dadurch wurde mir bewusst, dass ich keine wertende Haltung einnehmen wollte. Diese Erkenntnis war sehr wichtig und hat sich im filmischen Prozess verfestigt. Mir wurde durch die Arbeit am Film klar, dass es immer Migration geben wird. Und dass das Leben der Bleibenden auf den ersten Blick glücklicher wirkt, jedoch ohne die Opfer der Auswandernden nicht möglich ist.
Gleichzeitig ist in mir aber auch ein tiefes Gefühl der Bewunderung für diese Menschen entstanden. Wenn man die einzelnen Schicksale aufdröselt, wird vieles sichtbar, was sich die meisten von uns im globalen Norden gar nicht vorstellen können. In mir persönlich hat das tiefe Gefühle von Demut und Traurigkeit ausgelöst – und die Sehnsucht dieser Menschen nach ihrem Herkunftsland habe ich im Laufe der Dreharbeiten immer besser verstehen und nachempfinden können.

»Viele dominikanische Kinder und Jugendliche träumen davon, durch Baseball ihr Glück zu machen.«

MYP Magazine:
Wie hast Du diese Menschen überhaupt gefunden? Und wie ist es dir gelungen, dass sie Dir so persönliche und intime Gedanken anvertraut haben – und das auch noch vor einer Kamera?

Anna-Sophia Richard:
Mein Kameramann Jonas Schneider und ich haben im Vorfeld zwei große Recherchereisen in die Dominikanische Republik unternommen und dabei etliche Interviews geführt, bevor wir schließlich eine Entscheidung für die Protagonist:innen des Films getroffen haben. Das waren stellenweise zehn Gespräche am Tag. Uns war klar, dass wir Migration in all ihren Facetten erzählen wollten, und daher hatten wir sehr klare Vorstellungen von den Perspektiven, die der Film repräsentieren soll.
Für die Perspektive der Kinder hat sich beispielsweise das Thema Baseball angeboten, der Sport hat dort denselben Stellenwert wie in Deutschland der Fußball und ist mit denselben Träumen und Sehnsüchten verbunden. Viele dominikanische Kinder und Jugendliche träumen davon, durch Baseball ihr Glück zu machen, auch wenn am Ende nur sehr wenige von ihnen wirklich schaffen.

»In der Dominikanischen Republik herrscht ein riesiges Missverständnis darüber, wie so ein neues Leben im Ausland aussieht.«

MYP Magazine:
Wie haben die Menschen vor Ort darauf reagiert, dass Du über ihre Situation einen Dokumentarfilm machen wolltest?

Anna-Sophia Richard:
Insgesamt haben sich sehr viele Menschen, mit denen wir ins Gespräch gekommen sind, über unser Filmvorhaben gefreut und uns bereitwillig unterstützt. Dabei war es von Vorteil, dass ich selbst sehr offen mit meiner eigenen Geschichte umgegangen bin und den Leuten viel von meiner familiären Situation erzählt habe. Ich denke, dadurch haben sie sich auf eine besondere Weise mit mir verbunden gefühlt. Überhaupt ist es den Menschen dort wichtig, dass ihre Geschichten erzählt werden. Sie alle erleben Tag für Tag, welche immensen Folgen die Migration auf ihr Leben hat, und sie leiden unter dem Rassismus und den Vorurteilen, mit denen die Leute ihnen in ihrer neuen Umgebung begegnen.
Zudem herrscht in der Dominikanischen Republik ein riesiges Missverständnis darüber, wie so ein neues Leben im Ausland aussieht. Und viele derjenigen, die etwa nach Europa oder in die USA migriert sind, haben ein großes Interesse daran, dass auch ihre Landsleute verstehen, wie hart und entbehrungsreich das neue Leben ist.

»Jede:r von ihnen hat die Hoffnung: Wenn ich es versuche, dann wird sich mein Leben verbessern.«

MYP Magazine:
Die Protagonistin Julia sagt an einer Stelle des Films: „Als ich auswanderte, habe ich nicht darüber nachgedacht, was mich erwarten würde.“ Mangelt es den Menschen in der Dominikanischen Republik an Informationen, wie das Leben ihrer migrierten Landsleute im Ausland tatsächlich aussieht – und welche Widrigkeiten damit oft verbunden sind?

Anna-Sophia Richard:
Jede:r von ihnen hat die Hoffnung: Wenn ich es versuche, dann wird sich mein Leben verbessern. Diese Zuversicht ist ja auch etwas total Menschliches. Das Problem ist nur, dass die, die im Ausland leben, den anderen in der Heimat zeigen wollen, dass es ihnen gut geht; dass sie es geschafft haben; dass ihre Entscheidung richtig war. Und sie möchten, dass sich ihre Familien keine Sorgen machen. Von den Problemen wird dann eher weniger erzählt, vor allem, wenn man gerade auf Besuch in der Dominikanischen Republik ist.

MYP Magazine:
Glaubst Du, dass Dir deine eigene Biografie dabei geholfen hat, diesen Dokumentarfilm zu realisieren?

Anna-Sophia Richard:
Ja, auf jeden Fall. Die Protagonist:innen haben mir schnell vertraut und sich geöffnet, insgesamt habe ich mich in dem Thema sehr sicher gefühlt und dadurch eine große Freiheit bei der Umsetzung empfunden. Für mich ist das eine wichtige Voraussetzung, um ein Filmprojekt umzusetzen. Das half mir auch, mich auf die Sprache des Films zu konzentrieren. Uns ging es darum, mit dem Film Gefühle zu vermitteln und nicht nur durch Fakten aufzuklären.

»Wir wollten die Menschen wertschätzend und würdevoll abbilden und keinen westlichen Armutsvoyeurismus befördern.«

MYP Magazine:
„Los cuatro vientos“ wirkt sehr stimmungsvoll und fast szenisch. Dieser Eindruck entsteht unter anderem durch die langsamen Kamerafahrten, die ungewöhnlichen Bildausschnitte und die cineastischen Farben. Warum haben Dein Kameramann Jonas Schneider und Du auf diesen Stil gesetzt?

Anna-Sophia Richard:
Während unserer vielen Gespräche vor Ort haben wir immer wieder von Menschen gehört, die im Ausland gestorben sind und es nicht mehr geschafft haben, noch einmal ihre Heimat zu sehen. Diese Geschichten haben uns sehr berührt und uns dazu inspiriert, einen sehnsuchtsvollen Blick auf Fondo Negro einzunehmen – einen Blick, der wie die Erinnerung dominikanischer Migrant:innen an ihr geliebtes Zuhause wirkt. Dabei sollte die Kamera immer das Gefühl vermitteln, mehr oder weniger zu schweben – und von den vier Winden getragen zu sein, die für die vier Himmelsrichtungen stehen, in die die Menschen ausgewandert sind. Außerdem wollten wir die Menschen wertschätzend und würdevoll abbilden und keinen westlichen Armutsvoyeurismus befördern. Es ist ohnehin die Frage, wer von den beiden Personengruppen das härtere Los gezogen hat: diejenigen, die im Dorf geblieben sind, oder diejenigen, die weit weg in der Fremde leben und diese große Sehnsucht in sich tragen.

MYP Magazine:
Im Film wirken die Orte der Migration eher dunkel und kühl, während die Szenen in der Dominikanischen Republik durchgehend hell und warm dargestellt sind.

Anna-Sophia Richard:
Das war ein wichtiger Teil unseres Konzepts. Im Film wirkt beispielsweise New York mit seinen riesigen Hochhäusern wie ein Ort, an dem man sich als einzelner Menschen total klein fühlt. Oder Stuttgart, das in unserem Film wie ein Ort der Einsamkeit wirkt. Mir ist es selbst immer wieder passiert, dass ich aus der Dominikanischen Republik nach Deutschland geflogen bin, dann im Auto auf dem Weg nach Hause saß und das Gefühl hatte: Hier ist ja gar nichts los auf den Straßen. Wo sind denn diese ganzen Menschen?

»Als junge Mutter mag ich mir kaum vorstellen, wie schmerzhaft es für Orfedita war, ihre Familie und das Neugeborene zu verlassen.«

MYP Magazine:
Gibt es ein persönliches Schicksal, das Dir im Laufe des Drehs besonders ans Herz gewachsen ist?

Anna-Sophia Richard:
Ich konnte mich insbesondere mit den Frauen sehr gut identifizieren. Ich finde es stark, wie sie sich für ihre Familien aufgeopfert haben und zusätzlich mit einer überaus machistischen Gesellschaft in ihrer Heimat konfrontiert sind. Es ist bemerkenswert, wie viele dominikanische Frauen sich im Ausland fast zu Tode arbeiten und trotzdem zu Hause nicht die Anerkennung erhalten, die sie verdienen.
Und da ich selbst vor kurzem Mutter geworden bin, muss ich immer wieder an Orfedita Herédia denken, die Bürgermeisterin des Dorfes. Sie hatte in den 1980er Jahren als eine der ersten dominikanischen Frauen das Dorf verlassen, ihr Kind war da gerade erst drei Monate alt. Als junge Mutter mag ich mir kaum vorstellen, wie schmerzhaft es für Orfedita war, ihre Familie und das Neugeborene zu verlassen. Die vielen Ängste und Vorwürfe, die sie sich damals gemacht hat, waren unerträglich für sie.
Ganz davon abgesehen gab es in jener Zeit auch noch kein Internet – das heißt, Frauen wie Orfedita sind in ein Land ausgewandert, von dem sie nicht wussten, wie es aussieht und was sie dort erwarten würde. Und sie haben in Kauf genommen, ihre Familie für Monate, vielleicht für Jahre nicht wiederzusehen. Dass es heutzutage möglich ist, täglich über Videoanruf zu kommunizieren, war für sie unvorstellbar.

MYP Magazine:
Warum ist es im Süden der Dominikanischen Republik so, dass so viele Frauen auswandern und so wenige Männer?

Anna-Sophia Richard:
In den 1980er Jahren wurden in Spanien und in anderen europäischen Ländern immer mehr Frauen berufstätig. Und so gab es einen immer größeren Bedarf an weiblichen Haushaltshilfen.

MYP Magazine:
Glaubst Du, dass eine Chance besteht, dass die Männer dort verstehen, welches anachronistische Bild auf Gesellschaft und Mann und Frau sie haben und welche Steine ihnen das letztendlich in den Weg legt?

Anna-Sophia Richard:
Es wäre wünschenswert, wenn das verstanden würde. Aber das ist ein langer Prozess.

»Auch wir in Deutschland haben noch einen langen Weg vor uns, was Aufklärung, Gleichberechtigung und Gender-Themen angeht.«

MYP Magazine:
Im Film wird unter anderem ein Gespräch zwischen der Bürgermeisterin und einem Mann gezeigt. Sie unterhalten sich über eine aus Fondo Negro stammende Frau, die in Madrid von ihrem Ex-Partner ermordet wurde. Die Bürgermeisterin sagt: „Solche Geschichten dürfen nicht vergessen werden. Wir Frauen sind wehrlose Wesen. Am Ende sind wir leichte Beute. Das muss sich ändern.“

Anna-Sophia Richard:
Da hat sie recht. Ich bin mir aber nicht sicher, ob auch andere Frauen das so sehen, wie Orfedita das tut. Und zudem muss man sagen, dass leider die Frauen, die aus der Dominikanischen Republik oft auswandern, auch in ihrem neuen Alltag unter Situationen leiden, in denen sie als Frauen diskriminiert werden. Viele müssen als Putzkräfte arbeiten. Hinzu kommen sexuelle Übergriffe, die migrantische Frauen häufig treffen. Die Realität in Deutschland ist ja nicht so, dass hier unbedingt alles so ist, wie man es sich wünschen würde. Warum ich das so explizit sage: Auf jeden Fall muss sich in der Dominikanischen Republik etwas ändern. Und ich hoffe, dass es das auch tut. Aber auch wir hier haben noch einen langen Weg vor uns, was Aufklärung, Gleichberechtigung und Gender-Themen angeht. Ganz oft sind die Frauen, die als Migrantinnen kommen, auch die, die am stärksten leiden. Manche haben als Ärztinnen gearbeitet, sind hier aber erst mal Putzkräfte. Sie leiden dadurch doppelt: unter Rassismus und Sexismus.

»Diese Fälle sind nicht weniger wichtig als die von Menschen, die vor dem Krieg oder Naturkatastrophen geflohen sind.«

MYP Magazine:
Gerade erleben wir in Europa eine Situation, in der ebenfalls unzählige Frauen ihr Land verlassen und die Männer zurückbleiben – allerdings, weil sie vor dem Krieg fliehen, nicht vor der Armut. Welche Bedeutung hat ein Film wie Deiner in der aktuellen Zeit? Gibt es Parallelen, die Du ziehen kannst?

Anna-Sophia Richard:
Was jede Flucht mit sich bringt, ist die Trennung von Familien. Meine Protagonist:innen im Ausland haben einen Sehnsuchtsort, der immer noch existiert. Sie können ihre Sehnsucht beruhigen, indem sie sich sagen: In ein paar Jahren kann ich den nochmal sehen – egal, wie unrealistisch das ist, weil sie vielleicht gar nicht das Geld für das Flugticket zusammenbekommen. In der Ukraine ist das etwas anderes: Da wissen die Leute, dass das Land vielleicht nie wieder so aussehen wird, wie sie es kennen. Das muss ein furchtbarer Schmerz sein.
Unser Film ist zeitlos und wichtig. Das Thema Migration wird immer existieren und jedes Land hat seine eigene Auswanderungsgeschichte, wie ein Protagonist in unserem Film sagt. Die Gründe für das Weggehen oder die Flucht sind vielfältig. Sie zu bewerten oder gar zu verurteilen, steht uns nicht an. Selten wird über die wirtschaftliche Bedeutung der Migration gesprochen. Dabei profitiert sowohl die Ökonomie der Einwanderungsländer als auch die der Auswanderungsländer. Ohne die Überweisungen aus dem Ausland wäre deren Wirtschaftskraft deutlich niedriger – und Hunger und Armut dagegen viel stärker ausgeprägt.
Unser Film macht deutlich, wie sehr das Leben der Familien vom dem im Ausland erwirtschafteten Geld abhängt. Und da die Migration immer weitergeht, ist das ein Zirkel, der nie enden wird.
Mein Anspruch war zu zeigen, dass diese Fälle nicht weniger wichtig sind als die von Menschen, die vor dem Krieg oder Naturkatastrophen geflohen sind. Die Leute aus der Dominikanischen Republik kommen ja nicht, weil sie Deutschland so schön finden und unbedingt dort leben wollen. Sie kommen, weil ihnen nichts anderes übrig bleibt. Und das, was sie dafür aufgeben, ist für uns unvorstellbar. Wir können uns in der Regel nicht vorstellen, dass man sich von seiner Familie verabschiedet in dem Wissen, sie vielleicht nie wiederzusehen.

»Menschen müssen kreativ sein, wenn es ums eigene Überleben geht.«

MYP Magazine:
„Los cuatro vientos“ ist Dein Abschlussfilm. Was glaubst Du, wie hat dieser Film Deine berufliche Zukunft beeinflusst? Bist Du durch den Film auf neue Themen gestoßen, die Dich als Regisseurin interessieren?

Anna-Sophia Richard:
Neue Themen habe ich durch den Film für mich nicht entdecken können. Aber ich habe als Regisseurin besser verstehen können, wie ich Filme machen möchte. Dazu gehört auch, mich und meine eigene Sprache weiterzuentwickeln. Darauf habe ich wieder einen frischen Blick werfen können. Momentan entwickle ich ein szenisches Projekt über eine Frau, die durch eine Scheinehe nach Deutschland auswandern kann und der die neue Realität sehr zu schaffen macht. Es gibt die verschiedensten Formen der Migration und Menschen müssen kreativ sein, wenn es ums eigene Überleben geht.