Niklas Marc Heinecke

Submission — Niklas Marc Heinecke

Hamburger Asphalt

14. April 2013 — MYP No. 10 »Meine Nacht« — Text & Foto: Niklas Marc Heinecke

Hamburg. Nacht.
Das Telefon klingelt.
Bekannte Stimme, bekannter Auftrag.
Alte Erinnerungen steigen auf. Ich steige ein.
Lichter ziehen vorbei. Das Ziel ist unklar.
Es ist kalt. Ich kontrolliere mein Werkzeug.
Das Ziel: ein Ort mitten in der Zivilisation – gebaut, um einen Zweck zu erfüllen.
Wir gebaut, um diesen Zweck zu entfremden.
Ich baue Licht. Schätze ab. Kontrolliere wieder und wieder.
Menschen kommen, Menschen gehen. Unklar, was dieses Treiben bedeutet.
Ich nehme gewohnt meinen Platz auf dem Boden ein. Staub. Nass. Kalt.
Versuche den optimalen Winkel zu finden.
Wir haben wenig Zeit.
Routiniert erklingt das Rollen auf dem Asphalt.
Ich drücke ab. Zeitpunkt perfekt. Zu hell.
Ich baue um. Stelle ein. Friere ein.
Das Rollen erklingt, ich lichte ab. Gestanden, getroffen. Abbau.
Nur ein kurzer Moment. Ein Hauch der Zeit. Eingefangen. Eingeladen.
Lichter ziehen vorbei. Das Ziel ist klar.
Ich kontrolliere das Ergebnis. Retuschiere, kombiniere, schicke in die Welt.
Entspanne.
Lausche den Klängen der Straße. Gebrüll, Geschrei.
In meinem Kopf: Fragen. Fragen, die ich seit Jahren vergesse habe.
Was haben wir getan? Nacht für Nacht, auf dem Boden liegend. Zerstörend kreativ und dann zu Kunst werden lassend.
Mit dem Wissen, dass unser Treiben an vielen Orten der Welt illegal ist, ziehen wir immer wieder los, um von Menschenhand Gebautes zu entfremden.
Um es zu nutzen. Um es zu benutzen. Um es abzunutzen.
Ich dokumentiere nicht. Ich bin Teil der Situation. Teil der Konsequenzen.
Der Kopf lebte weiter. Der Körper folgte.
Das Licht geht an. Das Licht geht aus.
Ende.


Anita Schneider

Submission — Anita Schneider

Bitterer Aufstieg

14. April 2013 — MYP No. 10 »Meine Nacht« — Text & Foto: Anita Schneider

Morgengrauen, warte doch noch ein bisschen, bevor du die Banalität der Nacht mit dem pragmatischen Realismus des Tages verdrängst.

In der Nacht haben Dinge viel mehr Bedeutung. Pläne wurden abgeschlossen, die am Tag weiter verfolgt werden. Was zählt ist lediglich das Jetzt, die Umgebung, das nicht Reibungslose.

In der Nacht verschwindet die Wärme der Sonne. In der Nacht glüht die Hitze, drängt die Rastlosigkeit der Menschen. Ideen entstehen für die Geschichtsbücher.

Am Tag sind wir formal, distanziert, wir tauschen aus… schnell… Nützliches… Körperliches?… Höchstens einen Händedruck, vielleicht eine Umarmung.

In der Nacht, egal was wir machen, sich im Arm halten, uns auf die Schultern klopfen, dem anderen über das Haar streichen, mit der Faust ins Gesicht schlagen… Jenseits eines animalisch-leidenschaftlichen sexuellen Akts liegen wir gemeinsam Haut an Haut, vielleicht eine Zigarette im Mund. Wer braucht ein Dach über dem Kopf, wenn man den warmen Körper eines Geliebten neben sich hat?

Rebellion ist die Nacht, in der wir uns die Freiheit nehmen, Drinks zu trinken, draußen Autos anzuzünden oder im Fluss nackt zu baden. Zigarrenrauch, Lachen und die nackte Freude sind Teil einer Nacht, die uns wie eine nie vergehende Ewigkeit einnimmt und absorbiert. Und es ist gut. Nichts soll uns diesen Höhenflug zum Sturz bringen.

Für uns Nachtkinder ist das aufgehende Licht des Morgengrauens der bittere Abschied von einer berauschenden Welt.

Tragische Helden sind wir, die zu Boden gehen, während wir noch einen Augenblick vorher an den unendlichen Aufstieg geglaubt haben. Der Aufprall ist umso härter, je höher wir gestiegen sind.

Doch schaue dir das an! Ich erkenne, wie unumgänglich und schön diese Gegensätze sind. Ich erkenne, dass es gut ist. Weisheit braucht keinen weißen Bart, sie offenbart sich auch im Lächeln einer 21-jährigen tragischen Heldin, welche noch unzählige, ungewisse, aufregende Aufstiege vor sich hat, in Nächten wie auch an Tagen.


Petra Holländer

Submission — Petra Holländer

Ausbruch

14. April 2013 — MYP No. 10 »Meine Nacht« — Text & Foto: Petra Holländer

Ich saß im selben Raum. Wie lange wusste ich nicht, vielleicht seit Wochen oder Monaten. Ich hatte mein Zeitgefühl verloren. Es musste mir auf dem Weg hierher aus der Tasche gefallen sein. Die Wände waren kahl wie eh und je. Kalt schauten sie auf mich herab, durchbohrten mich mit ihren kleinen schwarzen Äuglein.

Zu Beginn fühlte ich mich sehr unwohl hier. Ich wusste auch gar nicht, wie ich hierher geraten war, aber nun war ich hier und ich konnte nichts mehr daran ändern – da war ich mir ganz sicher. Aber man gewöhnt sich an alles.
Es war so still hier, so ruhig, also ob die Zeit stehen geblieben wäre. Kein Lüftchen wehte, kein Vogel zwitscherte, es war wie ausgestorben. Nur mein kleines Herz schlug, mal schneller, mal langsamer. Oft stand ich nahe am Abgrund, musste aufpassen, dass ich nicht fiel. Da begann es besonders zu schlagen.

An anderen Tagen saß ich in meinem Nest, ein Nest aus Träumen und Wünschen. Ich fühlte mich hier beschützt. Es war ein seltsamer Ort. Grau und nebelig, aber weit weg von allem. Tag und Nacht war ich hier. Ich war schwach und leer, nur mein kleines Herz schlug noch.

Eines Nachts passierte etwas Seltsames. Ich hatte einen Traum von einem hellen Licht, so schön, dass ich ihm folgen musste. Als ich aufwachte, erfüllte mich eine solche Sehnsucht, wie ich sie noch nie verspürt hatte. Etwas war in mir erwacht. Gedanken schossen mir durch den Kopf wie Blitze, ich war hellwach und voller Leben. Ich musste das Licht finden.

So quälte ich mich durch Wogen voller furchtbarer Gedanken, die sich vor mir aufbäumten, um wieder auf mich herabzustürzen. Ich lief durch Wälder, dessen Bäume nach mir griffen und kletterte über Berge, die mich gefangen nehmen wollten. Meine Flügel waren zerschunden und schmutzig, als ich endlich das kleine Licht fand. Es wartete schon lange. So lange, bis ich schließlich bemerkte, dass ich es selbst verdeckte. Dafür musste ich diesen langen Weg gehen, aber nun war ich bereit. Das Licht wurde größer und größer, bis es zu einem leuchtenden Rechteck wurde und sich ein Fenster in ihm öffnete.

Gestern Nacht entkam die kleine Krähe. Sie entkam ihr selbst. Es war ihre Nacht.


Andrew Brodhead

Submission — Andrew Brodhead

Moonlight

14. April 2013 — MYP No. 10 »My Night« — Text & Photo: Andrew Brodhead

Growing up in coastal Georgia, many of my nights were spent exploring the water, marshes, woods and beaches. As a kid my concept of the night did not go far beyond exploring new areas with my friends and finding new trouble to get in to. As I grew as an artist and then more specifically as a photographer, my appreciation for my surroundings began to grow. To me, day light reveals the obvious beauty of the coastal landscape while the night evokes a stronger feeling of my environment both past and present.

While the night may bring about associations of stillness and quiet for many people, for me the night brings about a kind of movement and restlessness that drives me to explore and produce. Between the constant movements of life in the water to the ceaseless presence of the Deep South’s dark history, the night is never without movement.

When I went to photograph sculptor and performing artist Emily Hadland’s work, the goal was to create a feeling of weightlessness and mystique. It was not until after the fact that the correlations between the night and water became so prominent. The water provided a dark and mysterious environment that makes the viewer feel immediately alone and disoriented. From her masked identity, to the ambiguous shape of the garment, she resembles a creature that could have originated from the hole above which she is hovering. The hopeful rays of moonlight that seem to cascade over her body leave the viewer to decide the outcome of what almost seems to be a power struggle between good and evil.


Marieke Mucks

Submission — Maximilian Mundt

Ich in Wiederholung

21. März 2013 — MYP No. 17 »Mein Ritual« — Text & Foto: Marieke Mucks

Du, mein Ritual.

Du gibst mir Halt.

Du gibst mir Licht.

Du gibst mir Alltag.

Du gibst mir Hoffnung.

Du gibst mir Sicherheit.

Du gibst mir Ordnung.

Du, mein Ritual.

Auf dich kann und

Will ich nicht verzichten.

Du, mein Ritual.


Joa Herrenknecht

Interview — Joa Herrenknecht

Entdeckungsreise

Wir lieben Menschen mit Visionen, vor allem wenn sie die kleinen Gegenstände unseres täglichen Lebens verschönern. Deshalb wollen wir euch die Produkt- und Grafikdesignerin Joa Herrenknecht vorstellen.

14. Januar 2013 — MYP No. 11 »Mein Souvenir« — Interview: Jonas Meyer, Fotos: Maximilian König

Wer offen ist für fremde Städte, Länder und Kulturen, der weiß, dass die wahren Schätze meist abseits allgemeiner Trampelpfade liegen. Es bedarf nur etwas Mut und Neugier, um die gewohnten Wege zu verlassen und einzutauchen in die unbekannte Welt der Seitenstraßen und Hinterhöfe. Hier verstecken sich die spannendsten Geschichten, die nur darauf warten, gefunden und gehört zu werden.

Doch um wirklich Neues zu entdecken, muss man gar nicht in die Ferne reisen: Oft genügt bereits ein kurzer Abstecher in die Nachbarschaft. Oder in den Berliner Stadtteil Friedrichshain.

Hier, wo sich die Frankfurter Allee wie eine pulsierende Hauptschlagader durch die Häuserreihen gräbt, scheint die Geburtsstätte aller geheimnishütenden Hinterhöfe zu sein. Nur wenige Schritte braucht es von der U-Bahnstation Samariterstraße, um den Lärm der großen Straße abzuschütteln und eine Oase der Ruhe zu betreten.

In dieser Hinterhofoase hat sich vor einem Jahr Joa Herrenknecht eingerichtet. Ihr Studio für Grafik- und Produktdesign liegt im ersten Stock eines stimmungsvollen Backsteinbaus. Hohe Decken und große Fenster schaffen hier großzügig Platz und Licht, um Gedanken fliegen und Ideen wachsen zu lassen.

Mit einem freundlichen Lächeln empfängt uns die junge Designerin an der Tür und gewährt uns Einlass in ihr Reich. Wie kleine Kinder in einem Süßwarenladen wissen wir gar nicht, wo wir zuerst hinschauen sollen: In jeder Ecke des hellen und großzügigen Studios türmen sich Kleinode aus Entwürfen, Mustern, Skizzen, Prototypen und Produkten. Man könnte hier Stunden verbringen und Tage – und hätte immer noch nicht alle Schätze entdeckt.

Auf einem Tisch in der Mitte des Raums ist gerade ein überdimensionaler Berliner Stadtplan ausgebreitet – eine Tischdecke, die Joa entworfen und gemeinsam mit ihrem Praktikanten Sep umgesetzt hat, um sie beim beBerlin Design-Souvenir Award einzureichen. Es wird ein neues Andenken für Berlin gesucht, das mehr Charakter hat als die üblichen Kitschprodukte der zahllosen Souvenirläden der Stadt. Die junge Designerin gehört zu den 20 Nominierten, die es mit ihren Ideen in die letzte Wettbewerbsrunde geschafft haben.

Jonas:
Du bist in Kanada geboren und hast bereits in Städten wie Mailand, New York oder Sydney gelebt – deine Vita liest sich wie eine kleine Weltreise.

Joa (lächelt):
Ja, das stimmt. Schon als Kind durfte ich viele verschiedene Ecken der Welt kennenlernen, weil meine Eltern oft und gerne gereist sind. Dieses Gen habe ich wohl geerbt. Die meiste Zeit meines Lebens habe ich aber tatsächlich in Süddeutschland verbracht: Ich bin in unmittelbarer Nähe zur französischen und schweizer Grenze aufgewachsen und habe später dann an der HfG in Karlsruhe Produktdesign studiert.

Jonas:
Erinnerst du dich noch, warum du dich gerade für Produktdesign entschieden hast?

Joa:
Eigentlich wollte ich zuerst Architektur studieren und habe deshalb auch vor dem Studium ein Praktikum bei einem Architekten gemacht. Der hat mir aber dringend davon abgeraten, weil man als selbständiger Architekt nicht wirklich viel bauen kann, und meinte, dass Design viel interessanter und kreativer wäre.
Ich wollte immer etwas erschaffen, daher habe ich mich für Produktdesign entschieden. Im Endeffekt war diese Entscheidung auch super, weil mir das Studium total Spaß gemacht hat und es an der HfG auch viele Freiheiten, eine tolle Werkstatt und gute Profs gab. Nur bleibt nach dem Studium natürlich fast niemand dort, die meisten ziehen weg in größere Städte.

Jonas:
Dich selbst hat es ja auch nicht in Karlsruhe gehalten: Nach deinem Abschluss bist du direkt in die USA gegangen.

Joa:
Ich wollte einfach ins Ausland und bin daher für einige Zeit nach New York gezogen. Von dort ging es dann weiter nach Sydney, wo ich noch ein Grafikstudium drangehängt habe – und wo ich eigentlich auch bleiben wollte.

Jonas:
Aber?

Joa:
Ein Freund von mir wollte sich gemeinsam mit mir in Berlin selbständig machen, also bin ich letztes Jahr zurück nach Deutschland gekommen. Die Idee mit der Selbständigkeit war immer da: Mit 30 ist man für so einen Schritt im besten Alter. Und so langsam sollte man eh mal in die Puschen kommen, wenn man später eine eigene Family will.
Aber aus unserem gemeinsamen Plan wurde nichts. Und ich habe mir gedacht: Wenn ich ja eh schon hier bin, kann ich das auch einfach alleine machen.

Jonas:
Das hört sich alles sehr nach „easy going“ an.

Joa (lacht):
Ist ja auch alles nicht so schwer: Man besorgt sich ein Ticket und fliegt einfach.
Aber im Ernst: So „easy going“ ist der Schritt in die Selbständigkeit natürlich nicht, ganz im Gegenteil: Das ist eine wirklich große und wichtige Entscheidung im Leben. Letztendlich bin ich diesen Weg gegangen, weil ich nach wie vor etwas erschaffen wollte und es dazu für mich keine bessere Möglichkeit gab. Nach meinem ersten Jahr in der Selbständigkeit kann ich guten Gewissens sagen: richtige Entscheidung, super Job!

Jonas:
Zu deinem Team gehören mittlerweile zwei Praktikanten und ein Freelancer. War es schwierig, für dein Studio gute Leute zu finden?

Joa:
Nein, ganz im Gegenteil. Ich erhalte richtig viele Anfragen für Praktika. Und so blöd es sich auch anhören mag: Die momentane Wirtschaftskrise in vielen europäischen Ländern treibt die talentiertesten und motiviertesten jungen Leute nach Berlin. Die Stadt zieht einfach magisch an – wäre ich in Karlsruhe ansässig, wären die Anfragen wohl nicht so zahlreich.

Jonas:
Dieser Berlin-Faktor ist also für dein Studio ein Bonus?

Joa:
Absolut. Das Gute an Berlin ist, dass es einem eine so immense Freiheit lässt – alleine durch die Tatsache, dass das Leben hier günstig ist und man nicht im Verkehrschaos versinkt. Das wäre in New York oder London so nicht denkbar. Ich kann hier entspannt arbeiten und dabei trotzdem den internationalen Markt bedienen, meine Kunden kommen aus aller Welt.
In Berlin findet man diese besondere Kombination aus neu-deutscher Lässigkeit und urdeutscher Verlässlichkeit, das funktioniert ziemlich gut. Insgesamt steckt eine unglaubliche Kraft und Energie in der Stadt, das ist echt toll.

Ich versuche schöne Dinge zu erschaffen, an denen sich andere Menschen erfreuen oder etwas damit anfangen können.

Jonas:
Wer sich selbständig macht, sieht ja irgendwo einen Bedarf, auf den er mit seinem Angebot reagieren will. Wie sieht das bei dir aus?

Joa:
Es ist nicht so, dass die Welt unbedingt noch einen weiteren Stuhl bräuchte – das ist mir durchaus bewusst. Aber darum geht es mir auch gar nicht. Meinen Beruf verstehe ich mehr als ein Geben und weniger als ein Nehmen. Ich versuche schöne Dinge zu erschaffen, an denen sich andere Menschen erfreuen oder etwas damit anfangen können. Meine Leuchten sind dafür ein gutes Beispiel, so etwas mache ich echt gerne – und bisher klappt es.

Wir unterbrechen für einen Moment, denn Joa hat vorgeschlagen, unser Gespräch im Freien fortzusetzen. Wir greifen unser Equipment und begleiten die Designerin durch eine Tür zu einer Treppe, die in die oberen Etagen des Backsteinbaus führt. Joas Kollegen fahren ihre Rechner runter und folgen uns mit Gläsern und Getränken. Es ist 18:00 Uhr, sozusagen Feierabend.

Oben angekommen öffnet man uns die Pforte ins Freie: Wir betreten eine kleine Dachterrasse, die uns einen wundervollen Blick über die Hauptstadt schenkt.

Jonas:
Du warst schon an so vielen Orten auf der Welt. Wie beeinflussen diese Reisen dein Design?

Joa:
Alles, was du gestern, heute oder morgen erlebst, geht in irgendeiner Art und Weise in deine Entwürfe ein. Denn überall, wo du auf der Welt unterwegs bist, siehst du Dinge, die du richtig gut findest und bei denen du dich fragst, wie du sie am besten in einer neuen Idee verarbeiten kannst.
Das Problem ist eigentlich nur, dass die ganzen Eindrücke und Erlebnisse eine riesige Bildersammlung in deinem Kopf erzeugen, die du erst einmal ordnen musst. Am Anfang eines neuen Projekts steht nämlich immer ein großes Fragezeichen – und du brauchst das passende Bild aus deiner Erinnerung, um dich inspirieren zu lassen das Fragezeichen aufzulösen.

Jonas:
Deine Kreativität wird also aus einer Vielzahl von Erinnerungen befeuert…

Joa:
Ja, in gewisser Weise schon. Deshalb mag ich auch unsere Idee mit dem Berliner Stadtplan in Form einer Tischdecke so, mit dem wir uns beim Design-Souvenir Award beworben haben. Es ist einfach eine schöne Vorstellung, gemeinsam am Küchentisch zu sitzen und sich gegenseitig die vielen Orte der Stadt zu zeigen, an die man ganz bestimmte Erinnerungen und Erlebnisse knüpft – das ist wie eine kleine Entdeckungsreise!
Wir haben die Tischdecke übrigens ganz bewusst von Hand gezeichnet und sie nicht klinisch rein gehalten, damit man darauf rumkritzeln oder eine Stelle einkringeln kann. In Berlin wird ja auch an jeder Ecke getagged und gesprüht.

Denn wenn draußen auf der Straße so viel los ist, braucht man einfach einen Rückzugsort, an dem man sich wohlfühlt.

Jonas:
Du hast die Stadt in den letzten Monaten sicher auch ausführlich erkundet. Stößt du hier auf viele Orte oder Dinge, bei denen du das Gefühl hast, dass sie dringend verbessert oder verschönert werden müssten?

Joa:
Ja, das passiert tatsächlich öfter. Man glaubt ja nicht, wie sehr ein Charakter von seiner Form beeinflusst wird – und welche Stimmungen diese Form erzeugen kann.
Man muss sich nur folgende drei Situationen vorstellen: Man steht in einer Bruchbude, im Supermarkt oder in einem Spa. Wenn man sich jetzt zu allen drei Orten eine Stimmung überlegen müsste, wäre dies bei jedem Ort total verschieden. Die Stimmung lässt sich variieren, indem man die Atmosphäre eines Raums verändert. Und das passiert im Wesentlichen über Formen, Farben und Licht.
Das ist übrigens dasselbe wie bei Kleidung, im Prinzip ist es alles eins. Man muss dabei nur aufpassen, dass man selbst nicht zu oberflächlich wird und beispielsweise darüber richtet, wie gut oder schlecht jemand zu Hause eingerichtet oder gekleidet ist, denn der Mensch dahinter ist natürlich immer wichtiger als die Fassade. Schönheit schützt nicht vor einem schlechten Charakter, aber das ist ja klar.
Bei meiner Arbeit geht es mir auch nicht darum, unbedingt die teuersten Gegenstände in einem Raum zusammenbringen zu müssen. Mir ist einfach wichtig, das Umfeld positiv zu beeinflussen: Wenn ich jemandem dabei helfen kann, seine Wohnung ein Stückchen schöner zu machen, freue ich mich total.
Denn wenn draußen auf der Straße so viel los ist, braucht man einfach einen Rückzugsort, an dem man sich wohlfühlt. Ästhetik kann man auch mit geringen finanziellen Mitteln schaffen – aber das Interesse dafür ist wichtig.

Jonas:
Hast du eine Vision, in welche Richtung sich dein Studio entwickeln soll?

Joa:
Ich will in Zukunft auf jeden Fall mehr selbst produzieren. Oft stehen wir vor dem Problem, dass wir einen Prototypen haben, der erfolgreich in der Presse ist, aber den wir nicht schnell genug als Endprodukt raushauen können, weil entweder ein vernünftiger Produzent fehlt oder die Einzelproduktion zu teuer ist.
Daher will ich in Zukunft mehr mit Produktionspartnern und an Wegen zur direkten Vermarktung arbeiten. Wenn jemand mich anruft und sagt, das und das will ich haben, dann will ich in der Lage sein zu sagen ‘Ja, hier gibt es das… und der Preis ist auch okay’ – Außerdem will ich gerne ein Café oder Restaurant einrichten, überhaupt wird Inneneinrichtung immer wichtiger.

Jonas:
Hast du selbst eigentlich ein Lieblingsstück?

Joa:
Als Kind hatte ich immer eine Decke, die ich so geliebt habe, dass ich mir sicher war, später mal mit ihr begraben zu werden. Und wer weiß, vielleicht interpretiere ich irgendwann mal diese Decke neu und produziere sie – es wäre überhaupt ein sehr schönes Ziel, ein Lieblingsstück für jemanden zu entwerfen.

Wir stoppen das Aufnahmegerät. Für einige Minuten lassen wir unseren Blick über die zahllosen Dächer Berlins wandern.

Wie viele Seitenstraßen und Hinterhöfe mag es noch geben in dieser Stadt? Und wie viele Schätze mögen dort wohl darauf warten, endlich entdeckt und gehoben zu werden?

Joa dreht ihr Gesicht in die Abendsonne und lächelt zufrieden. Ihre Entdeckungsreise hat gerade erst begonnen.

Dazu braucht sie keinen Stadtplan.

Aber vielleicht eine Tischdecke.


Leslie Clio

Interview — Leslie Clio

Für die Seele

Hier fehlt ein Abstract-„I Told you so“ – aus der Kleinen wird noch was. Die Rede ist von Leslie Clio und ihrem neuen Soulpop-Album. Wir sprechen mit ihr über ihre Zeit in New York und den Grund, warum sie vor kurzem von Hamburg nach Berlin gezogen ist.

13. Januar 2013 — MYP No. 09 »Meine Geschichte« — Interview: Jonas Meyer, Fotos: Ole Westermann

Friedrichshain an einem Samstag mitten im Dezember. Der Schnee, der sich in den letzten Tagen so sanft und weiß über die Stadt gelegt hat, klebt inzwischen wie vernarbt auf den Bürgersteigen rund um den Boxhagener Platz und mischt sich mit dem pechschwarzen Streugranulat zu einer seelenlosen grauen Masse.

Grau ist heute auch die Haltung des Berliner Himmels, der sichtlich gelangweilt irgendetwas zwischen Regen und Schnee nach unten fallen lässt. Und grau sind die Gesichter der wenigen Menschen, die sich eilig und vermummt aus den schmalen Hauseingängen heraus- und wieder hineinflüchten. Winterwunderland sieht irgendwie anders aus.

In wenigen Minuten sind wir mit der jungen Sängerin Leslie Clio verabredet, erst zum Interview, dann zum Shooting im benachbarten Studio des Fotografen Ole Westermann. Während wir warten, gehen uns die Klänge ihrer Single „Told you so“ durch den Kopf, die sie vor wenigen Monaten veröffentlicht hat – gerade das Richtige, um seine Stimmung gegen das um sich greifende Grau zu schützen.

Da ist sie auch schon. Mit hellen, wachen Augen und einem großen Lächeln steuert Leslie auf uns zu und begrüßt uns freundlich. Wie ihre Single ist auch die junge Sängerin ein willkommenes Kontrastprogramm zu diesem grauen Wintersamstag. Trotzdem ist es kalt hier draußen, also flüchten wir uns in die tiefen Plüschsessel des Café Macondo an der nächsten Ecke.

Jetzt erstmal was für die Seele: einen Milchkaffee und eine heiße Schokolade, bitte!

Jonas:
In deiner Biografie heißt es, deine Augen hätten schon mehr gesehen als die deiner Altersgenossen…

Leslie (lacht):
Ja, das kann man in gewisser Weise sagen. Ich habe nach dem Abi meiner Heimatstadt Hamburg den Rücken gekehrt und bin zwei Jahre lang durch die Welt gereist: Ich war in Australien, Neuseeland, Indien, Thailand, Amerika und ganz viel in Europa unterwegs. Da sieht und erlebt man einfach viel.

Jonas:
Gab es einen bestimmten Grund, warum du für so lange Zeit hinaus in die Welt gezogen bist?

Leslie:
Nein, ich hatte einfach das Gefühl, mal was anderes sehen zu müssen. Außerdem bin ich seit meiner frühen Kindheit schon immer viel gereist – ich bin echt gerne unterwegs und lebe viel dem Koffer. Als ich ein Baby war, mussten mich meine Eltern auch ins Auto packen, die Musik aufdrehen und mit mir um den Block fahren, damit ich eingeschlafen bin.

Jonas:
Hattest du während dieser zwei Jahre eine Vorstellung davon, wohin du in deinem Leben steuern willst?

Leslie:
Ehrlich gesagt bin ich kein Mensch, der riesige Pläne schmiedet. Ich habe mir auch nie viele Gedanken über meine Zukunft gemacht. Es war immer irgendwie dieses Gefühl da, dass ich irgendwann irgendwo ankomme.

Während dieser zwei Jahre gab es tatsächlich nie einen Moment, in dem ich mir ernsthafte Sorgen darüber gemacht hätte, wohin ich gehe oder was aus mir wird. Ich bin nicht sonderlich spirituell, aber ich habe gewusst, dass sich alles auf irgendeine Art und Weise fügen wird und dass alles, was passiert, einen Sinn hat.
Und so ist es dann auch gekommen: Ich wusste, dass ich singen will und nichts anderes. Und genau das tue ich jetzt.

Jonas:
Seit wann besteht dieser feste Wunsch, Sängerin zu werden?

Leslie:
Schon immer! Natürlich gab es Phasen in meinem Leben – etwa während der Pubertät – , in denen dieser Wunsch mal mehr und mal weniger präsent war. Trotzdem war er nie weg: Meine Antwort auf die Frage, was ich mal werden will, war Zeit meines Lebens „Sängerin“.

Jonas:
Sind dir die musikalischen Gene in die Wiege gelegt?

Leslie:
Nö, interessanterweise gar nicht. Meine Eltern spielen kein Instrument oder machen in sonst irgendeiner Art und Weise Musik. Bei uns zuhause lief aber immer viel Musik, vor allem Swing. Ich habe als Kind immer mitgesungen, wenn ich irgendwo Musik gehört habe, und bin unter anderem dadurch früh mit der englischen Sprache in Berührung gekommen. Das hilft mir beim Songschreiben heute sehr.

Der Milchkaffee und die heiße Schokolade werden serviert, wir machen eine kleine Pause. Draußen wird es allmählich freundlicher, der Himmel lichtet sich, es fällt kein Regen mehr.
Trotzdem bleibt es ungemütlich kalt, weshalb wir uns glücklich schätzen, drinnen im Warmen zu sitzen und die eisige Welt da draußen aus der Distanz zu beobachten. Immer tiefer versinken wir in den ausladenden Plüschsesseln und klammern uns an unseren Tassen fest.

Wir schweigen für eine Weile und lauschen der alten Kaffeemaschine, die sich anhört wie eine alte Dampflok.

Jonas:
Wie ging es nach der Weltreise in deinem Leben weiter?

Leslie:
Als ich zurück in Hamburg war, habe ich an einer kleinen Privatschule eine Gesangsausbildung gemacht. Ich muss sagen, dass ich zwar immer das Bedürfnis hatte, Sängerin zu werden, aber nie wirklich gefühlt habe, dass mein Fähigkeiten ausreichen könnten. Natürlich sagen Eltern und Freunde immer, dass man das gut macht – aber das ist leider kein professionelles Feedback.
Als ich während der zwei Jahre für einige Zeit in New York war, habe ich oft Open Mic Sessions besucht und anderen zugehört. Mich aber selbst mal nach vorne zu wagen und mitzumachen, darauf wäre ich nie gekommen. Ich bin eh nicht so der Typ, der sich in den Mittelpunkt drängt. Die anschließende Gesangsausbildung hat in mir unendlich viel Selbstbewusstsein erzeugt und mir ein starkes Urvertrauen mit auf den Weg gegeben. Diese Unterstützung war einfach großartig, weshalb ich auch von Hamburg nach Berlin gezogen bin.

Jonas:
Konnte dir Hamburg damals nicht das musikalische Umfeld bieten, das du gesucht und gebraucht hast?

Leslie:
Ich liebe Hamburg sehr. Ich bin hier geboren und es ist meine Heimat. Wenn man aber hier sein ganzes Leben verbracht hat, kennt man irgendwann jede Ecke, die Stadt wird zu klein. Es war für mich einfach kein Reiz, in den Läden aufzutreten, in denen ich eh in den letzten Jahren immer rumstand und wo mich alle kennen. Also musste etwas Neues her.

„Leslie, wenn du das jetzt machst, dann bist du komplett weg von der Musik!“

Jonas:
Dann bist du also nach Berlin aufgebrochen…

Leslie:
…und bin dort in eine WG gezogen und habe ganz viel Socializing betrieben: Ich bin viel ausgegangen, habe viel gefeiert und mich mit etlichen Musikern getroffen.
Das war auch eine Zeit lang ganz nett, allerdings habe ich nach etwa einem Jahr gemerkt, dass ich mal irgendwie zu Potte kommen muss. Alles war so unproduktiv und ging mir zu langsam. Und da ich so ein Schaffensmensch bin, habe ich kurzerhand eine Ausbildung zur Raumausstatterin angeleiert: Komischerweise hatte ich nach nur zwei Anrufen schon am nächsten Tag ein Vorstellungsgespräch und noch vor Ort eine Zusage. Bevor ich mich aber endgültig entschieden habe, habe ich noch mit zwei, drei Freunden darüber geredet, die alle meinten: „Leslie, wenn du das jetzt machst, dann bist du komplett weg von der Musik! Hab’ einfach noch ein wenig Geduld, das wird schon! Aber du und Raumausstatterin? Never ever!“
Meine Freunde sollten recht behalten: Schon eine Woche später habe ich den Produzenten und Thees Uhlmann-Gitarristen Nikolai Potthoff kennengelernt – der Wendepunkt!

Jonas:
Wie habt ihr euch denn genau kennengelernt?

Leslie:
Durch eine gemeinsame Freundin, der ich mal alte Gesangsaufnahmen von mir gezeigt hatte. Sie hatte sie behalten, wochenlang angehört und irgendwann an Niko weitergegeben. Der hat mir daraufhin die Instrumentalversion von „Told you so“ geschickt und mich ins Tonstudio eingeladen. Als ich das Band erhalten und angehört habe, dachte ich nur: Wow! Das ist genau die Musik, die ich machen will! Also bin ich in sein Studio und habe das Stück eingesungen.
Es war quasi musikalische Liebe auf den ersten Blick: Niko hatte genau die Künstlerin gefunden, mit der er seine Platte produzieren konnte, und ich war bei meinem Sound angekommen.

Jonas:
Das Besondere an „Told you so“ ist ja, das es sich im Kopf festsetzt. Ehrt es dich, wenn Menschen deine Musik dauernd bei sich tragen, weil sie sich in ihr Gedächtnis eingebrannt hat?

Leslie:
Es freut mich auf jeden Fall sehr. Ich hätte mir im Traum nicht gedacht, dass der Track zu einem Hit wird, den die Leute rauf und runter hören. Ich hatte keinerlei Erwartungen.
Dass sich die Leute tatsächlich in meiner Musik finden und damit was anfangen können, macht mich einfach nur unendlich glücklich.

Wir brechen auf, denn Ole Westermann erwartet uns schon.

Es fällt nicht leicht, die gemütlichen Sessel und die heiße Schokolade gegen den Berliner Winter einzutauschen. Mit Schal und Handschuhen bewaffnet geht es wieder raus in die Kälte. Nur wenige hundert Meter müssen wir laufen, dann wird es wieder warm.

Also los geht’s.

Jonas:
Am 8. Februar erscheint dein Album „Gladys“. Spürst du einen gewissen Druck, weil die Erwartungshaltung nach dem Erfolg von „Told you so“ so hoch ist?

Leslie (lacht):
Ne, da bin ich total tiefenentspannt. Ich mag das gesamte Album sehr. Und es gibt mindestens noch einen Track, der genauso toll ist wie „Told you so“.

Jonas:
Du selbst bezeichnest deine Musik als modernen Soul-Pop. Ist Soul die Musikrichtung, die dich dein Leben lang begleitet hat?

Leslie:
Ja, definitiv. Ich bin mit den alten Motown-Sachen oder Songs von Stevie Wonder aufgewachsen. Aber auch New Soul-Künstler wie Erykah Badu haben mich sehr geprägt. Mit dieser Musik sind bei mir einfach ganz viele Erinnerungen verbunden.
Es gibt total viel, was mich musikalisch inspiriert hat. So haben sich im Laufe meines Lebens ganz viele Puzzleteile angesammelt. Niko und ich haben versucht, mit dem Album all’ diese Puzzleteile zusammenzusetzen und zu einem großen Ganzen werden zu lassen, das meinem eigenen Stil entspricht.
Niko war da einfach perfekt, weil er ein sehr kantiges Arrangement mit vielen Trip-Hop-Elementen, weiten Flächen und viel Hall erzeugt hat. So haben wir es geschafft, nicht diesem klassischen Retro-Soul-Pop zu verfallen, sondern einen neuen Twist reinzubringen, da die Stücke raugher instrumentiert und mit einem Pop-Teppich unterlegt sind.

Jonas:
Was ist die inhaltliche Grundidee deines Albums?

Leslie:
Wir alle sind Menschen und haben die gleichen Wünsche, Träume, Ängste und Sorgen. Manche von uns nehmen ihre Gefühle, machen daraus Musik und stellen sie anderen Menschen hin in der Hoffnung, dass sie damit was anfangen und sie als Ventil für ihre eigenen Gefühle nutzen können.
So dreht sich „Gladys“ auch hauptsächlich um Liebe und Herzschmerz. Ich habe dabei überhaupt kein Problem, mein Herz rauszusingen, da ich mittlerweile weiß, dass ich nicht mit Tomaten beworfen werde, wenn ich auf der Bühne stehe, sondern dass meine Musik die Leute tatsächlich berührt.

Wir sind da. Ole Westermann begrüßt uns mit der Kamera in der Hand und bittet uns herein.

Tür zu, Heizung hoch. Das Set ist schon aufgebaut, wir können direkt loslegen.

Jonas:
Wie wirst du die letzten Wochen vor dem Album-Release verbringen?

Leslie:
Ich werde noch einmal verreisen, und zwar nach Vietnam – diesmal allerdings nur drei Wochen. Ich will einfach nochmal den Kopf frei bekommen, bevor das Album veröffentlicht wird. Ich werde relaxen, viel Musik hören, schreiben und für mich sein. Und ich werde versuchen, so viel Input wie möglich zu sammeln, um später im Studio wieder viel Output geben zu können.
Es ist einfach wichtig, nochmal Energie tanken zu können, bevor man in Berlin wieder zum Workaholic wird. Das neue Jahr wird nämlich richtig busy: Wir planen eine Präsi-Tournee und eine Tour im Herbst, darüber hinaus gibt es unzählige Termine, auf die ich mich aber alle sehr freue.

Jonas:
Denkst du manchmal daran, wie sich dein Leben entwickelt hätte, wenn du Niko nicht getroffen hättest?

Leslie:
Nein, niemals. Ich bin kein Grübler. Ich bin mir außerdem ganz sicher, dass ich trotzdem Musik gemacht hätte. Dann würde die Platte vielleicht nicht so klingen, wie sie jetzt klingt. Aber dafür anders. Ich hätte so oder so etwas gemacht, wo ich sehr ich wäre. Und das wäre so oder so der Gesang.
Es gibt ja viele Menschen, die sich ständig fragen, warum sie überhaupt auf der Welt sind. Ich bin froh, dass ich darauf schon immer eine Antwort hatte: Ich bin da, um andere Menschen durch meine Musik glücklich zu machen. Das ist einfach mein Ding.

Alle Fotos sind im Kasten, wir sind fertig.

Leslie Clio wirft ihren Wintermantel über, legt Schal und Handschuhe an und verabschiedet sich. Draußen wartet nach wie vor der Berliner Winter. Und obwohl der Himmel mittlerweile fast freundlich wirkt, ist es immer noch bitterkalt.

Schnell wieder die Tür schließen, sonst wird es ungemütlich.

Bevor sich die Stimmung dem allgegenwärtigen Dezembergrau ergeben kann, gehen uns wieder die Klänge von „Told you so“ durch den Kopf.

Manchmal braucht es eben nur gute Musik.

Und heiße Schokolade.

Für die Seele.


Prag

Interview — PRAG

Freundschaftsprojekt

Ein Haufen Musiker und eine singende Kommissarin? So einfach ist es nicht. PRAG erzählen uns im Interview, was sie als Gruppe wirklich besonders macht.

13. Januar 2013 — MYP No. 09 »Meine Geschichte« — Interview & Fotos: Lukas Leister

Vorurteile sind lästig, besonders die hartnäckigen. Haben sie sich einmal in den Köpfen der Menschen festgesetzt, bedarf es enormer Zeit- und Kraftanstrengungen, um sie wieder zu entfernen. Dürften sich Vorurteile eine Stadt aussuchen, würden sie sich wohl mit großer Wahrscheinlichkeit für Berlin entscheiden. Schmutzig soll es hier sein. Und unfreundlich und laut.

Man kann Vorurteilen eigentlich nur auf zwei Arten begegnen: Entweder man echauffiert sich, oder man reagiert mit gesundem Pragmatismus. Denjenigen, die sich für Variante zwei entscheiden, sei empfohlen, alle Berlinkritiker mal an einem Nachmittag auf die Museumsinsel zu führen.

Hier, wo sich die Granden deutscher Architekturgeschichte um den Lustgarten versammeln, ist irgendwie nichts schmutzig, unfreundlich oder laut – eher liebevoll, freundlich und angenehm unaufgeregt.

Ein Gebäude, das die Kunst der Zurückhaltung in besonderem Maße beherrscht, ist das Theater am Palais. Zwischen Humboldt-Universität und Deutschem Historischem Museum gelegen, nimmt es am Festungsgraben würdevoll sein Publikum in Empfang.
Hier bin ich in wenigen Minuten mit Nora Tschirner, Tom Krimi und Erik Lautenschläger verabredet.
PRAG nennen sie sich und machen – das sei mir an dieser Stelle erlaubt zu sagen – wundervolle Musik.

Während ich auf die drei Künstler warte, schaue ich mich um. Der Winter hat auch vor der Museumsinsel nicht halt gemacht: Ein kalter und rauer Wind pfeift an den alten Gemäuern vorbei. Auch wenn die Winterluft nicht die bequemste ist, hat sie doch einen entscheiden Vorteil: Sie ist klar und ehrlich.

Ich betrete das ehrwürdige Theater und nehme in einem kleinen Vorführungssaal Platz, wo man normalerweise in Abendgarderobe den Werken von Schiller oder Molière lauscht.
Heute steht aber die Geschichte der drei Musiker im Mittelpunkt. Knapp 700 Kilometer habe ich aus dem fernen Schwarzwald zurückgelegt, um mir genau diese Geschichte erzählen zu lassen.
Plötzlich öffnen sich die antiken Holztüren.

Nora, Tom und Erik sind da, die Begrüßung ist herzlich.

Bühne frei für PRAG.

Lukas:
Die ersten vier Konzerte von PRAG sind gespielt und somit auch die ersten Zeilen eurer Geschichte geschrieben. War es denn ein guter Anfang?

Alle:
Ja.

Nora:
Obwohl die Konzerte ja sozusagen nicht der richtige Anfang für uns waren: Sie waren der öffentliche Anfang – und der war super. Eigentlich hätte es wirklich nicht besser laufen können.
Der eigentliche Anfang unserer Band liegt aber viel weiter zurück.

Lukas:
Und wann war dieser eigentliche Anfang?

Tom:
Der Sommer 2011 fühlt sich am meisten wie ein gemeinsamer Anfang an. Ab da waren wir zu dritt und haben richtig begonnen. Das Vorherige Rumgeplänkel zu nennen wäre falsch: Wir haben es zwar sehr ernsthaft betrieben, aber eben nicht kontinuierlich.

Nora:
…und auch nicht wirklich zielgerichtet.

Erik:
Genau das ist der Punkt: zielgerichtet. Es fing ja tatsächlich damit an, dass ich mich mit Tom traf und Lieder in petto hatte, die für meine andere Band Erik & Me nicht passten. Darüber habe ich mich immer geärgert, weil da so tolle Perlen dabei waren.
Mit diesen Perlen bin ich zu Tom gegangen. Er meinte, dass wir das zwar probieren können, aber auch etwas ganz Neues versuchen sollten. Also hat sich der Kollege Krimi ans Werk gemacht, die ersten schönen Arrangements gebastelt und wir hatten unsere ersten fünf oder sechs Lieder.
Dann traf ich Nora.

Das Tolle ist, dass Erik nicht nur beim Schreiben eine so starke poetische Art hat, sondern auch in der Art und Weise, wie er Melodien kreiert.

Lukas:
Du sagst, die Lieder haben nicht so zu Erik & Me gepasst. Inwiefern passen sie denn jetzt zu PRAG?

Tom:
Das Tolle ist, dass Erik nicht nur beim Schreiben eine so starke poetische Art hat, sondern auch in der Art und Weise, wie er Melodien kreiert. Damit kannst du eigentlich sowohl Indie als auch großes Kino machen – ich sah in dem Material aber eher Zweiteres.
Genau das war das Überraschende, wohl auch für Erik: seine Lieder, die immer Indiebezug hatten, auf einmal in ein neues Gewand zu packen und ganz anders klingen lassen zu können.

Lukas:
War von Anfang an klar, in welche Richtung eure gemeinsame Musik gehen soll?

Tom:
Mir war das ziemlich schnell klar. Ich habe gleich daran gedacht, dass es so etwas werden
soll. Allerdings passiert es beim Produzieren auch, dass man mit einer Sache kommt, von der man ein bestimmtes Bild hat, und plötzlich beim Gegenüber auf ganz andere Synapsen trifft. Bei uns gab es hingegen große Einigkeit. Es gibt Lieder, an denen wir zu dritt gearbeitet haben: Da hat jeder Hand angelegt, Synapsen angeregt und an Knöpfen gedreht, wodurch sich der ursprüngliche Songhintergrund komplett gewandelt hat.

Erik:
Das Tolle ist, dass wir keine Band im klassischen Sinne sind, bei der alle nur an ihren Instrument rummachen, sondern eher eine Produktionsband, bei der man sich im kleinen Kreis arrangieren kann. Du kannst am Rechner einfach schnell ein total anderes Bild entwerfen, indem du sagst: Wir schalten jetzt mal Schlagzeug und alles andere aus und lassen nur Orgel und Trompete laufen..
Das ergibt einen völlig anderen Song – und es hat gerade mal zwei Minuten gedauert, es auszuprobieren. In einem Bandkontext würde das ein Vierteljahr Überredungskunst brauchen.

Nora:
Ja, Produktionsband trifft es ganz gut. Natürlich setzen wir zum Schluss auch alles live um, aber im Grunde ist die Entstehung des Albums das Besondere. Zusammen mit Tom und Erik in einer kleinen, abgeschotteten Schmiede zu sitzen, immer wieder aufs neue Quatsch machen zu können, am Computer und in unseren Köpfen rumzuspielen um dann zu entscheiden, wie wir es realisieren, das macht sehr viel Spaß.

Lukas:
Zumal die ganze Entscheidungskraft bei euch liegt, weil ihr für alles die Verantwortung tragt?

Nora:
Und das ist so toll.

Lukas:
War es denn wirklich ein idealistischer Schritt, alles selbst zu machen, oder wurde aus der Not eine Tugend gemacht?

Nora:
Es war auf jeden Fall kein Bequemlichkeitsschritt.

Tom:
Wir haben uns zwar nach Labels erkundigt., Kontakte besorgt und gute Angebote eingeholt. Aber schlussendlich waren wir einfach nicht überzeugt. Wir fühlten uns sofort unter Druck gesetzt und sahen auch keinen echten Vorteil. Ein Label ist normalerweise ja erst mal eine Bank, die man vor allem dann braucht, wenn man selber keine Produktionsmittel vorweisen kann. Das können wir aber, weil wir selbst ein Studio und die Manpower haben. Zweitens ist ein Label auch ein Promoter und wir haben festgestellt, dass wir promotionmäßig auch recht gut vernetzt sind. Nora vor allem hat in dem Bereich viel Erfahrung, von der wir profitieren können. Die wichtigsten Vorteile eines Labels waren für uns also nicht attraktiv – und bezahlt hätten wir mit Einbußen bei unserem Mitspracherecht.
Dieses Gefühl, dass jedes unserer Babys mit seiner frisch gewickelten Windel über drei, vier
Schreibtische läuft und von irgendwelchen dicken, Zigarre rauchenden Labelbossen begutachtet wird, war kein gutes. Nun können uns frei bewegen, ohne dass wir danach einen Einlauf bekommen. Wir dürfen unsere Fehler machen. Aber aus vielen dieser Fehler, wie das in der Musik nunmal passieren kann, wird manchmal etwas wirklich Tolles.

Es gibt Sachen, die man tatsächlich einfach mal auf eigene Faust probieren sollte.

Lukas:
Im Laufe der letzten zwei Jahre durften wir viele junge Bands treffen, die darauf angewiesen sind, ein Label im Hintergrund zu haben und nicht die Möglichkeiten besitzen, das auf eigene Faust zu stemmen. Also könnt ihr euch von daher echt glücklich schätzen…

Nora:
Naja. Es ist ja jetzt auch nicht so, dass wir auf eine Goldader gestoßen sind. Die Frage muss vielleicht nicht lauten: Was kann man sich leisten sondern was will man sich leisten? Qualität muss nicht von großen Summen und Institutionen abhängen. Wenn große finanzstarke Unternehmen im Spiel sind, heißt das nicht automatisch, dass Geld in allen Bereichen sinnvoll investiert wird. Letztes Jahr zum Beispiel habe ich in England einen Film gedreht, der ausschließlich mit eigenen Mitteln finanziert wurde. Niemand hatte Geld. Letzten Endes ist es einer der schönsten Filme geworden, die ich je gemacht habe. Man muss sich fragen, ob man genug Mut und Selbstvertrauen hat, solch eine Investition zu wagen, weil man gegen einen Apparat antritt, der natürlich behauptet, dass bestimmte Sachen alleine nicht realisierbar sind. Wenn man es nicht besser weiß, hört man natürlich erst mal lieber auf die Leute, die für erfolgreiche und namhafte Firmen arbeiten. Manchmal ist das aber gar nicht so sinnvoll. Es gibt Sachen, die man tatsächlich einfach mal auf eigene Faust probieren sollte. Man muss sich nur trauen. Deswegen tut mir das immer leid für junge Bands, die bestimmte Erfahrungen noch nicht gesammelt haben. Man kann ‚nein’ sagen, man kann Sachen selber machen. Ich finde das immer ganz toll, wenn Leute das schon früh selbst verstehen.

Tom:
Man sollte vor allen Dingen nicht davon ausgehen, dass dein Gegenüber so viel mehr weiß als du.

Nora:
…und die gleichen Interessen hat.

Tom:
Der Gedanke „Weil die ein Label sind, müssen die es drauf haben” …

Nora:
Möp. Falsch. Und das ist wirklich bei vielen Sachen so. Bei Sendern ist das so, bei Verleihen ist das so.
Wenn etwas einen ziemlich großen Umfang und als Apparat eine große Dimension bekommt, dann wird es oft auch schwerfällig. Oftmals glaubt man daran, dass die Beteiligten allein wegen des Labelnamens kompetent sind – und doch kann die Sicherheit eines solch großen Namens eben gerade auch ein Unterstand für Quatsch und richtige Tröten sein.
Das Problem bei jungen Bands oder überhaupt bei jungen Menschen ist meist ein fehlender Lehrer. Ich finde, das Wertvollste, was man im Leben treffen kann, sind Lehrer.
Damit meine ich nicht den klassischen Schulsystemlehrer, sondern eher im asiatischen Sinne gedacht Lehrer, Berater, Mentoren.
Wenn man einen solchen im Umfeld hat und schon früh trifft, hat man die Chance auch früh zu lernen. Wenn du das nicht hast, musst du dich eben auf die großen Opinionleader aus dem Geschäft verlassen.

Tom:
Natürlich kommt es auch darauf an, wie gut man vernetzt ist. Der Nachteil einer jungen Band: Die haben noch nicht so viele Buddies. Nora hat diesen Film in England gedreht, als Revanche haben die Regisseure Max und Michael für uns ein Video gemacht und daraufhin hat ihr Co-Schauspieler in unserem Video mitgespielt. Unsere ganzen Musikerfreunde, die wir über zwanzig Jahre gesammelt haben, haben für wenig bis gar kein Geld unsere Aufnahmen mitgestaltet. Und viele sind dabei, weil wir ihnen einfach auch schon mal einen Gefallen getan haben. Das ist das, was es auch so schön macht. Wir zehren aus einem freundschaftlichen, kollegialen Umfeld.

Lukas:
Also ist das Ganze ein großes freundschaftliches Projekt.

Alle:
Ja.

Es heißt, dass die ersten Minuten der Begegnung mit einem fremden Menschen und die dabei gewechselten Worte darüber entscheiden, welches Bild man von seinem Gegenüber hat. So entscheiden die ersten Zeilen über den Verlauf einer Geschichte und die ersten Takte über die Qualität eines Liedes.

Seit einigen Minuten sitze ich nun mit PRAG zusammen. Und während ich mich mit den drei
Musikern unterhalte und sie beobachte, wird relativ schnell klar, dass diese musikalischen Freunde so sehr zueinander stehen wie zu jedem Wort ihres Erzählten und Erlebten.

Sie wirken so unumstößlich und aufrecht wie die Mauern des Theaters am Palais, die sich über den Festungsgraben erheben.

Während sich die Gemäuer allerdings in vornehmer Zurückhaltung üben, wird die Geschichte von Nora, Tom und Erik getragen von einer tiefen Begeisterung.

Lukas:
Arbeitet man noch, wenn man ein so freundschaftliches Verhältnis pflegt, oder ist es eher ein Vergnügen, im Studio zu stehen? Gibt es überhaupt etwas, was ihr nicht so gerne macht?

Nora:
Ja, das auf jeden Fall. Und diese Aufgaben, die man nicht so gerne macht, werden dadurch, dass wir – bitte entschuldigt, ich sage es einfach so gerne – „Labelchefs“ sind, immer mehr. Das sind meist die ganzen logistischen, organisatorischen Dinge und der wahnsinnige Aufwand von Aufgaben, die wir zwar erledigen können, aber einfach nicht gerne erledigen.

Tom:
Aber auch in der Produktion: Man hätte sich das viel einfacher machen können, indem man sich einen großen Credit vom Label holt, Leute beauftragt, Sachen zu machen, und sich selbst nur die Rosinen rauspickt. Aber selbst unter den Rosinen gibt es halt auch ein paar Trockenfrüchte, die mir nicht so passen.

Nora:
Wir müssen eben ganz schön erwachsen sein mit unseren ganzen Labelsachen.
Ansonsten ist es aber natürlich so, dass diese Art von Arbeit, die wir machen und die kreativ ist, sowieso schon viel mit Spaß und mit Vermischung von Privatem und Beruf zu tun hat. Wenn wir also dazu kommen, uns nochmal darauf zu besinnen, was der eigentliche Kernpunkt des Ganzen ist, nämlich die kreative Arbeit, das Musikmachen, dann ist das sowieso immer Highlife in Tüten.

Ich glaube, die Leute erwarten etwas Bestimmtes, sobald Nora im Musikbereich tätig ist, aber wir geben es ihnen nicht.

Lukas:
Ist es schwierig, den schauspielerischen Erfolg von Nora mit eurem Musikprojekt zu vereinbaren? Inwiefern sind Kommentare wie „die singende Kommissarin” hinderlich für eure eigene Presse?

Erik:
Wir haben uns im Vorfeld viel schlimmere Sachen ausgemalt. Die Erfahrung zeigt, dass die Presse, aber auch alle möglichen anderen Leute, gerne auf so etwas einschlagen. Das war bei uns bisher tatsächlich ganz angenehm. Es fehlen die Hater, oder sie werden netter. Zu Beginn gab es mal ein/zwei Nörgler, aber es hält sich alles nicht nur in Grenzen, sondern die letzten Kommentare zu den Konzerten waren sogar so toll, dass wir da alle ein wenig baff sind.

Nora:
Ich glaube, wir haben uns keine Illusionen gemacht, es ist nun einmal so, das gehört alles zu mir. Es öffnet uns natürlich jede Menge Türen, das muss man ganz klar sagen. Störend wäre es am ehesten, wenn man das Gefühl hätte, Leute geben vor über und mit PRAG reden zu wollen und dann wollen sie eigentlich doch nur mich – und die Jungs sitzen dumm rum. Solch eine Situation fände ich doof. Aber das passiert eigentlich nie.

Erik:
Witzig festzustellen war für uns, dass die Interviewenden immer zuerst Tom und mich fragen. So vorbildlich sind die schon.

Nora:
Und das tatsächlich auch mit einem abwertenden Ton mir gegenüber „Ich hab da erstmal ‘ne Frage an Tom und Erik!“.

Erik:
Viele von den Leuten denken genau an dieses Problem, was ja eigentlich keins ist. Das ist für uns ganz komfortabel.

Tom:
Eins fällt mir noch dazu ein: Ich glaube, die Leute erwarten etwas Bestimmtes, sobald Nora im Musikbereich tätig ist, aber wir geben es ihnen nicht.
Also das Produkt, was PRAG letztendlich ist, verwirrt die Leute – und das ist ein großer Vorteil. Sobald die Erwartungshaltung der singenden Kommissarin erfüllt wird, können sie leichter darauf rumhacken.
Aber sobald sie einmal überrascht sind, wissen die Menschen oft nicht so richtig, was sie davon halten sollen, was sie dazu sagen sollen. Und dann müssen sie sich damit beschäftigen. Und sobald sie sich damit beschäftigen, merken sie, dass das Ganze gehaltvoll ist. Es muss ihnen noch nicht einmal super gefallen, aber sie merken eben, dass es kein PR-Gag ist. Es ist keine Produktion, die Warner Brothers um Nora herum aufgebaut hat.

Lukas:
Um nochmal auf unser Thema zurückzukommen: Gibt es denn eine Geschichte, die euch als Truppe besonders macht?

Erik:
Für mich persönlich sind es die Aufnahmen in Prag. Dieser eine Tag Orchesteraufnahmen fühlte sich an wie sehr viele Tage.
Das war wohl einer der stressigsten Tage, die man sich so vorstellen kann, aber auch einer der glücklichmachendsten. Da kamen tausend Sachen potenziert zusammen.

Tom:
Vergleichbar mit emotionalen Zip-Dateien. Keiner von uns hatte das bisher schon mal so gemacht. Wir haben es uns einfach vorgenommen und es nach bestem Wissen und Gewissen vorbereitet. Aber da sitzen dann auf einmal Leute, die a) Tschechisch sprechen und b) sich in einer musikalischen Sprache unterhalten, die wir auch nur ansatzweise kennen. Das waren viele Menschen, die allesamt auch Geld dafür bekommen haben. Das hieß für uns, dass das auf jeden Fall etwas werden muss. Und unser Zeitplan war eng. Wir wollten zehn Stücke mit ihnen aufnehmen und merkten auf einmal: Was ist denn, wenn das hier nicht klappt?
Angefangen damit, dass wir am Morgen zur Rezeption des Tschechischen Fernsehens kamen und die Frau hinter dem Tresen uns anschaute und sagte: „Ich weiß nicht, wer ihr seid, ich weiß nicht, wovon ihr sprecht.”

All unsere Kontakte waren vorher per Internet, per Mail gelaufen, das Ganze hätte ein riesiger Reinfall werden können.

Nora:
Letztens Endes war die Frau einfach verpeilt, aber man zuckt natürlich schon zusammen. Wir hatten eine Woche Prag gebucht, tausend Sachen vor und merkten auf einmal, dass wir nie persönlich mit den Leuten gesprochen hatten, mit denen wir arbeiten wollten. Wir fragten uns plötzlich, ob das so eine gute Idee war.

Erik:
Schlussendlich lief es dann aber nicht nur gut, sondern es war einfach toll. Als wir in den Aufnahmeraum kamen, die Notenblätter mit den einzelnen Songs da lagen, alles schön eingerichtet und hochgradig angenehm und professionell war, war das ein klasse Gefühl.

Tom:
Wir sind wie gesagt ein paar Tage länger dort geblieben. Das ganze Fass, das da aufgemacht wurde, haben wir dann auch ausgetrunken. Dabei haben wir uns als Band emotional gegründet. Vorher war es ein „Wir machen was zusammen.“, danach war es „Da ist es!“

Ans Ende denken wir zuletzt, jedoch ist es ein riesiger Traum von uns, einmal live mit einem großen Orchester zu spielen.

Lukas:
Wenn ihr jetzt eure Geschichte weiterschreiben könntet, welches Kapitel würdet ihr auslassen, wie würde sie enden?

Nora:
Auslassen würden wir definitiv gerne das Kapitel, indem wir anfangen, unter einen Druck zu geraten, den wir eigentlich nicht haben müssten, weil wir uns ja extra so viel Freiheit erkämpft haben. Mit der öffentlichen Wahrnehmung wird es eine Herausforderung, sich nicht selbst überholen zu wollen. Sich die Entspannung beizubehalten wäre wichtig. Ans Ende denken wir zuletzt, jedoch ist es ein riesiger Traum von uns, einmal live mit einem großen Orchester zu spielen. Und das wäre doch wohl ein tolles Ende.

Für heute ist alles gesagt.

Durch steinerne Flure mit gläsernen Kronleuchtern laufen wir zum Ausgang. Draußen, wo die Sonne mit aller Kraft versucht, die wetterfest verpackten Touristen vor der Kälte zu beschützen, verabschiede ich mich von den Musikern.
Ich bleibe noch einen Moment stehen, schließe die Augen und atme tief ein. Kühle Winterluft füllt meine Lunge. Klar ist sie. Und ehrlich.

Wenig später verlasse ich die Museumsinsel und mache mich auf meinen Weg zurück in den fernen Schwarzwald. Schön war es heute. Und irgendwie liebevoll, freundlich und angenehm unaufgeregt.

Noch einen letzten Blick werfe ich auf die Mauern der ehrwürdigen Gebäude, die sich mit breiten Schultern über die Insel erheben. Es wirkt, als wollten sie sie beschützen.

Wahrscheinlich vor den Vorurteilen.


MYP Vorlage - Submission

Submission — Lisa Jureczko

Stiller Protest

20. Juli 2010 — Text & Foto: Lisa Jureczko

Es gibt diese Momente der stillen Melancholie. Momente, in denen man sich einsam und leer fühlt, ausgelaugt und des Lebens müde. Einfach so. Weil man so ist, wie man eben ist. Scheinbar grundlos, und doch gibt es so viele Gründe. Abgründe.

Und während diese Melancholie dich überkommt, protestierst du dagegen. Es ist ein stiller Protest gegen all diese Gedanken, die in deinem Kopf wüten und dir keine Ruhe lassen. Ein einsamer Protest, ein Kampf mit dir selbst. Und doch ist es ein Protest so vieler, gegen das Stigma – das Stigma der Gesellschaft, das Stigma der Vielen – das auf dir lastet wie das Himmelsgewölbe auf den Schultern des Atlas.

Die Gedanken in deinem Kopf, du hältst sie in eigenen Händen. Sei traurig, sei wütend, sei melancholisch. Aber lass deine Gedanken frei. Schaffe etwas Neues. Schaffe etwas, das zeigt, dass du mehr bist als nur dein Stigma.

Was dir bleibt, ist die Transformation deiner Melancholie in etwas Positives. Was dir bleibt, ist die Kunst.


MYP Vorlage - Interview

Interview — Kida Khodr Ramadan

Kreuzberg, Übersee

Wir trafen den Berliner Schauspieler und passionierten Boule-Spieler Kida Ramadan in seinem Kreuzberger Lieblingscafé, um mit uns über seinen Beruf, neue Nazis und seine enorme Bewunderung für Kanzlerin Angela Merkel zu sprechen.

3. März 2010 — Interview: Jonas Meyer, Fotos: Steven Lüdtke

Wer aus seiner Heimat flieht, hat meistens einen Grund. Der eine lässt sie hinter sich, weil er die Schwere der Provinz nicht mehr erträgt. Der andere versucht nichts weiter, als dem nackten Elend zu entkommen. Persönliche Befindlichkeiten versus Hunger, Krieg und Unterdrückung. Seltsam ist die Welt geworden. Und paradox.

Leider erreicht nicht jeder Fliehende sein Ziel. Der eine scheitert, weil er nicht zu seiner Mitte findet. Der andere, weil er im kalten Meer ertrinkt. Was existenzielle Not bedeutet, ist nicht einfach eine Frage der Perspektive. Sie wird bestimmt vom Schicksal und vom Glück. Und von der Gnade der Geburt.

Ganz egal, um welche Art von Fliehenden es geht, in einem sind sich alle gleich: Wer es geschafft hat anzukommen, baut sich irgendwie ein neues Leben auf. Und formt sich darin ein Zuhause. Denn zuhause sein bedeutet, einen festen Platz zu haben – einen ganz bestimmten Ort, an den man hingehört. Oder einen ganz bestimmten Menschen, bei dem man sich geborgen fühlt.

Es ist Sonntagabend. Gemeinsam mit Schauspieler Kida Khodr Ramadan sitzen wir in der hinteren Ecke einer sympathischen Café-Bar am Berliner Paul-Lincke-Ufer, die den verheißungsvollen Namen „Übersee“ trägt. Vor dem Eingang ist ein mit Pflanzen bewachsener Metallpavillon installiert, aus dessen Dach Dutzende kleiner Lampen hervorragen. Zusammen mit dem gold-gelb illuminierten Schriftzug der Café-Bar spiegelt sich ihr Licht in der nachtschwarzen Oberfläche des Landwehrkanals.

Es fällt uns etwas schwer, mit dem Gespräch zu starten, denn ständig kommt jemand an unseren Tisch, der mit Kida ein paar Worte wechseln will. Der 40-Jährige lebt bereits seit seiner frühesten Kindheit in dieser Gegend, er kennt hier jeden und jeder kennt ihn. Und spätestens seit dem Jahr 2014, als er für seine Rolle in „Ummah – Unter Freunden“ sowohl für den Deutschen Filmpreis als auch für den Deutschen Schauspielerpreis nominiert war, kennt man ihn auch über Kreuzberg hinaus.

Jonas:
Als wir dich vor kurzem gefragt haben, ob es hier in Berlin einen Ort gäbe, der dir besonders am Herzen liegt, hast du ohne zu zögern das Café Übersee genannt. Bist du oft hier?

Kida:
Ja, sehr oft – ebenso wie viele meiner Schauspielkollegen. Frederick Lau oder Numan Acar zum Beispiel, die kommen regelmäßig ins Übersee. Oder Herbert Knaup, der hat sich auch schon ein paar Mal hier blicken lassen. Wir nennen diesen Ort „unsere Base“, denn es ist total familiär und gemütlich hier. Und Firat, der Chef, ist ziemlich cool. Irgendwie hat es sich auch so entwickelt, dass wir alle hier mittlerweile ganz gerne unsere Interviews abhalten. Das Übersee ist daher so etwas wie unser Büro. Und unser Jugendclub.

Kreuzberg ist ein sehr ambivalentes Pflaster, wo viele crazy Motherfuckers herumlaufen. Hier ist man einfach nicht so prüde wie etwa in Zehlendorf.

Jonas:
Du hast tatsächlich als waschechter Kreuzberger deinen geliebten Kiez verlassen?

Kida:
Ja, ich wollte meiner Frau und meinen fünf Kindern einfach mehr Platz und Freiheit schenken. Und zumindest einmal im Leben sollte man sich eine schönere Wohnung leisten, oder? Außerdem hat mich dieses überdrehte Hipster-Leben hier in der Ecke genervt. Das wird von Tag zu Tag schlimmer.

Jonas:
Deine Familie stammt ursprünglich aus dem Libanon. Wegen des Bürgerkriegs musstet ihr Ende der 70er Jahre von heute auf morgen aus Beirut fliehen und seid am Ende in Kreuzberg gelandet. Was ist deine früheste Erinnerung an diesen Stadtteil und seine Menschen?

Kida:
Der Zusammenhalt. In Kreuzberg gab es damals viele Leute, die so waren wie wir. Sie waren in einer ähnlichen Situation, hatten eine ähnliche Geschichte. Hier im Kiez habe ich als Kind viel Freundschaft und Liebe erfahren. Als ein Flüchtlingsjunge, der ich damals ja war, wurde ich gut behandelt. Das hat mich sehr geprägt.