Saïd Sankofa

Interview — Saïd Sankofa

»Beim Breaken ist es egal, woher man kommt«

Wenn Breakdance bei den Olympischen Spielen 2024 zum ersten Mal überhaupt als sportliche Disziplin geführt wird, könnte Deutschland vom jungen Tänzer Saïd Sankofa vertreten werden. Sollte sich der gebürtige Münchener für die Teilnahme qualifizieren, ginge es ihm aber gar nicht so sehr um eine Medaille. Viel wichtiger ist es ihm, den Menschen ganz allgemein die Kultur des Breakens näherzubringen – und gleichzeitig auf die dramatische Lage der Uiguren in China aufmerksam zu machen. Dieses Anliegen ist ein ganz persönliches, denn Saïds Familie musste bereits in den Neunzigern aus Xinjiang nach Deutschland fliehen.

26. Januar 2023 — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotografie: Maximilian König

Fernsehen bildet – zumindest gelegentlich. Und manchmal sogar am späten Abend. Wie etwa am 11. Oktober 2022, als das ZDF um 22:15 Uhr in seiner Reportagereihe „37 Grad“ den Beitrag „Mein Tanz, mein Battle“ zeigte. Untertitel: „Mit Breakdance Geschichte schreiben“. In einem sehr persönlichen Portrait wurden dort die 23-jährige Joanna aus Dresden und der 25-jährige Serhat aus München vorgestellt, für die Breakdance nicht weniger bedeutet als ihr Leben.

Für manche mag das vielleicht niedlich klingen, vor allem, wenn sie mit dem Tanzstil, der in den 1970er Jahren in New York erfunden wurde und sich seitdem als Grundelement der Hip-Hop-Kultur begreift, wenig bis gar nichts anfangen können. Doch Breakdance ist für Joanna, Serhat und viele andere weit mehr als ein Hobby: Breaken ist eine Lebenseinstellung, eine Kultur – und ab 2024 auch eine olympische Disziplin. Sollte er sich qualifizieren, könnte Serhat, der bereits vor zwölf Jahren in den Bundeskader aufgenommen wurde, bei den Sommerspielen in Paris offiziell für Deutschland antreten – und im besten Fall um die Goldmedaille kämpfen.

Doch um buntes Edelmetall, das man sich um den Hals hängen kann, geht es dem überaus bescheiden und warmherzig wirkenden jungen Mann gar nicht. Das wird nicht nur in der ZDF-Reportage klar, sondern auch während unseres Interviews vor wenigen Wochen in Berlin. Serhat, den man in der Breakdance-Szene eher unter dem Künstlernamen Saïd Sankofa kennt, wird von der Idee getrieben, den Menschen diese so besondere, diverse, weltoffene und inklusive Kultur näherzubringen, die er bereits als Kind für sich entdecken durfte.

Daneben hat Serhat alias Saïd noch ein weiteres Anliegen – und zwar ein überaus persönliches. Der gebürtige Münchener hat uigurische Wurzeln, seine Familie stammt aus der Region Xinjiang im Nordwesten Chinas. Da sein Vater als Journalist seit Jahrzehnten über die Kultur und Rechte der Uiguren schreibt und deshalb ins Visier der chinesischen Behörden geriet, floh die Familie im Jahr 1996 über Kasachstan nach Deutschland. Aus diesem Grund nutzt Saïd den Breakdance auch als Bühne, um mehr Sichtbarkeit für die die reichhaltige Kultur seines Volkes herzustellen und die Aufmerksamkeit seines Publikums verstärkt auf die aktuellen Auslöschungsversuche durch die chinesische Regierung zu lenken.

»Lerne aus der Vergangenheit für eine bessere Zukunft. Und vergiss nie, wo deine Wurzeln liegen.«

MYP Magazine:
Saïd, Du bist Teil der sogenannten Sankofa-Crew. Was steckt hinter diesem Namen?

Saïd:
Die Idee dazu hatte mein bester Freund Michael, der auch eines der Gründungsmitglieder unserer Crew ist. Seine Familie gehört den Ashanti an, einer ethnischen Gruppe in Ghana. In der Kultur der Ashanti gibt es verschiedene Philosophien, denen jeweils ein Begriff und ein Zeichen zugeordnet sind. Sankofa ist eine dieser Philosophien, im Prinzip gibt es in ihr zwei Kernbotschaften. Erstens: Lerne aus der Vergangenheit für eine bessere Zukunft. Und zweitens: Vergiss nie, mit wem du angefangen hast und wo deine Wurzeln liegen.
Das Zeichen der Sankofa-Philosophie ist ein zurückschauender Vogel, vor dem ein Ei liegt. Dieses Ei symbolisiert den Beginn seiner Reise und steht dafür, dass man im Leben immer wieder in die Vergangenheit schauen sollte, um daraus Erkenntnisse zu entnehmen, mit denen sich die eigene Zukunft besser gestalten lässt.

MYP Magazine:
Wie habt Ihr euch gefunden und formiert?

Saïd:
Eher zufällig – als kleine Knirpse im „Kinderzirkus JoJo“. Das ist ein soziales Projekt, das im Münchener Stadtteil Kieferngarten kostenlose Workshops für Kinder aus einkommensschwachen Familien anbietet, die unterschiedlichste kulturelle Backgrounds haben. Man kann dort etwa Jonglage, Clown Acting oder Breakdance lernen. Am Anfang, im Jahr 2007, waren wir fünf, sechs Jungs. Die restlichen Mitglieder kamen später in unserem Jugendzentrum dazu.

»Der Wechsel zum Namen Saïd war für mich ein Schritt in Richtung Erwachsenwerden.«

MYP Magazine:
Wie und wann ist Dein Künstlername Saïd entstanden?

Saïd:
Diesen Namen habe ich mir selbst vor etwa sechs Jahren gegeben. Davor kannte mich jeder nur unter Halo The Kid, so hatte mich immer ein Älterer aus dem Jugendzentrum genannt. „Halo“ steht für den Move, den ich als Kind und Jugendlicher am besten konnte und der meinem Tanz etwas sehr Markantes gegeben hat. Aber im Laufe der Jahre hatte ich zunehmend das Gefühl, dass mich der Name eher einengt, da er mich immer nur auf diesen einen Move beschränkt. Daher war für mich der Wechsel zu Saïd auch ein Schritt in Richtung Erwachsenwerden.

»Beim Breaken ist es völlig egal, woher man kommt, wie man aussieht, wen man liebt oder wie alt man ist.«

MYP Magazine:
In der ZDF-Reportage erzählst Du unter anderem, dass die ersten zehn Jahre im Breakdance äußerst schwierig für Dich waren, da Du auf Battles nur verloren hast. Was hat Dich all die Jahre motiviert, trotzdem dabeizubleiben?

Saïd:
Breaken ist nicht nur ein Sport, der sich allein auf die körperliche Aktivität beschränkt. Dahinter steckt eine ganze Kultur! Diese Kultur fand ich schon als Kind wahnsinnig aufregend, vielfältig und inspirierend – auch, weil es beim Breaken völlig egal ist, woher man kommt, wie man aussieht, wen man liebt oder wie alt man ist. Ich wurde in dieser Community schon immer ernst genommen, auch wenn ich es als Teenager oft mit wesentlich älteren Breakern zu tun hatte. Dieses Umfeld hat es mir von Anfang an ermöglicht, megaviel aufzuschnappen und zu lernen – nicht nur fürs Breaken, sondern auch fürs Leben. Außerdem habe ich es einfach geliebt zu tanzen. Ab dem ersten Moment im Dance-Workshop des Kinderzirkus war mir klar, dass das etwas ist, wofür ich unendlich viel Energie habe. Etwas, das ich kontinuierlich üben will, um darin immer besser zu werden. So habe ich mich in kürzester Zeit ins Breaken verbissen – das hält bis heute an.

»Endlich gibt es mal ein ansehnliches Video, das die jungen Breaker ihren Eltern zeigen können.«

MYP Magazine:
Wie hat Dein Umfeld auf den TV-Beitrag reagiert?

Saïd:
Die Reaktionen der Menschen waren sehr, sehr positiv. Besonders gerührt hat mich das Feedback vieler Jüngerer aus der Breakdance-Szene – nicht nur aus der Münchener Community, sondern aus ganz Deutschland. Ich habe erfahren, dass sich die Kids durch die Doku sehr inspiriert und motiviert fühlten. So ein Feedback bedeutet mir alles, auch weil es mir wichtig ist, die Szene am Leben zu halten.
Davon abgesehen gibt es mit dieser Doku auch endlich mal ein ansehnliches Video, das die jungen Breaker ihren Eltern zeigen können – vor allem, wenn sie wieder mal gefragt werden, wer eigentlich dieser Saïd ist, mit dem sie so viel Zeit verbringen. Meiner Mutter hat diese Doku ebenfalls viel bedeutet, sie war damit überglücklich. Und die uigurische Community fand es großartig, dass ich im öffentlich-rechtlichen Fernsehen auch über deren Anliegen gesprochen habe.

»Das Thema Olympia wird innerhalb der Community sehr kontrovers diskutiert.«

MYP Magazine:
Breakdance wird 2024 zum ersten Mal überhaupt eine olympische Disziplin sein. Was bedeutet das für die Breakdance-Kultur als solche?

Saïd:
Das Thema Olympia wird innerhalb der Community sehr kontrovers diskutiert. Auf der einen Seite gibt es Leute, die Breakdance als eine Kunstform begreifen, aus der sich im Laufe der Jahrzehnte eine eigene Kultur entwickelt hat. Sie glauben, dass die olympischen Spiele dieser Kultur einen großen Schaden zufügen werden. Ihr Argument ist, dass neue Generationen von Breakern in Zukunft nur noch so trainieren würden, wie es dem Bewertungssystem der olympischen Spiele entspreche – mit dem einzigen Ziel, sportlich erfolgreicher zu sein. Dadurch, so befürchten sie, gingen künstlerische Elemente im Tanz verloren. Und noch schlimmer: Es könne sich in der Öffentlichkeit ein falsches Bild vom Breaken verfestigen, da es im Gegensatz zu den anderen olympischen Disziplinen eben kein Sport sei, sondern eine kulturell gewachsene Kunstform. Daher lehnen sie die Spiele ganz klar ab.

»Für die meisten Breaker war und ist es immer ein Kampf, dem privaten Umfeld zu vermitteln, dass es völlig okay ist, seinen Lebensunterhalt mit dem Tanzen zu verdienen.«

MYP Magazine:
Und was sagen die Befürworter?

Saïd:
Die wiederum sehen eher den athletischen Aspekt, für sie ist Olympia etwas überaus Positives. Sie sagen, die Szene könne durch die große internationale Aufmerksamkeit deutlich profitieren. Es bestehe die Chance, dass mehr Kids mit dem Breaken anfangen. Und deren Eltern würden es in Zukunft wohl viel eher akzeptieren, wenn das eigene Kind den Traum habe, später mal professionell zu breaken und davon leben zu können. Für die meisten Breaker, die ich kenne, war und ist es immer ein Kampf, dem privaten Umfeld zu vermitteln, dass es völlig okay ist, seinen Lebensunterhalt mit dem Tanzen zu verdienen.

»Wir empfinden Olympia nicht nur als eine athletische Herausforderung, sondern auch als eine kreative.«

MYP Magazine:
Welche Haltung hast Du persönlich zu dem Thema?

Generell ist es sehr schwer, Breaken in eine Schublade zu stecken. Für mich zum Beispiel ist es eine Schnittstelle aus allem Positiven, das ich daraus ziehen kann. Es kommt also darauf an, welche Bedeutung man selbst dem Ganzen gibt.
Was die olympischen Spiele angeht, sehen ich und viele andere, die Teil des Ganzen sind und das Thema von innen heraus betrachten, Paris als eine wunderbare Möglichkeit, uns noch mehr mit unserem Körper auseinanderzusetzen. Wir empfinden Olympia aber nicht nur als eine athletische Herausforderung, sondern auch als eine kreative. Und da das öffentliche Interesse an unserer Kultur durch die Spiele wohl deutlich wachsen wird, besteht für uns persönlich mittelfristig auch die Chance, besser bezahlt zu werden, mehr Unterricht zu geben und mehr Anfragen für Auftritte, Interviews oder Shows zu erhalten.

»Ich komme aus einer Familie mit muslimischem Hintergrund. Wenn da ein Sohn die ganze Zeit tanzen will, ist das vielleicht nicht das, was ein Vater gerne hört.«

MYP Magazine:
Wie hast Du selbst damals deinen Eltern erklärt, dass Du deinen Lebensunterhalt mit etwas verdienen willst, das sich Breakdance nennt?

Saïd:
Anfangs war es sehr schwer für meine Eltern, das alles zu verstehen. Ich komme aus einer Familie mit muslimischem Hintergrund. Wenn da ein Sohn die ganze Zeit tanzen will, ist das vielleicht nicht das, was ein Vater gerne hört. (lächelt) Meine Mutter dagegen fand’s immer schon interessant, aber sie hat nicht begriffen, warum mir das Ganze so wichtig ist und ich Breaken zu meinem Lebensmittelpunkt machen will. Als ich mit 13, 14 angefangen habe, an den Wochenenden immer wieder wegen irgendeines Battles durch die Republik zu fahren, hat ihnen das überhaupt nicht gefallen. Und ebenso wenig, dass ich nach der Schule immer zum Training gehen wollte. Sie dachten, dass mich das von den wirklich wichtigen Dingen im Leben ablenken würde. Und noch weniger nice fanden sie, dass ich Ihnen nach dem Abi offenbart habe, dass ich erst mal nicht studieren, sondern mich voll und ganz mit dem Tanzen auseinandersetzen will, um mich darin zu entdecken. Erst seit wenigen Jahren – nachdem ich immer größere Erfolge mit dem Breaken erziele und sie merken, wie viele andere Menschen ich damit inspiriere – verstehen sie mehr und mehr meinen Lebensentwurf.

»Meine Eltern fanden es furchteinflößend, dass ich am Wochenende mit Leuten unterwegs war, die sie nicht zuordnen konnten.«

MYP Magazine:
Die Breakdance-Community ist sehr offen und divers. Hat das in gewisser Weise auch die Wertvorstellungen Deiner Eltern verändert?

Saïd:
Ja, extrem! Dadurch, dass ich Teil dieser Szene bin, hat meine Familie sehr viel dazugelernt. Bei uns Uiguren zum Beispiel gibt es nur wenige Migranten. In der Breakdance-Community aber treffen sich Menschen mit tausend verschiedenen Hintergründen – und auch mit allen sexuellen Orientierungen. Anfangs fanden sie es furchteinflößend, dass ich am Wochenende mit Leuten unterwegs war, die sie nicht zuordnen konnten. Aber als sie gemerkt haben, dass es trotzdem ganz gut funktioniert und ich nach jedem Wochenend-Battle erzähle, dass Breaken das Tollste überhaupt für mich ist, haben sie im Laufe der Zeit ihr Misstrauen abgelegt.

»Das Tanzen hat mir eine Art Grundformel fürs Leben geschenkt, dadurch fühle ich mich in meinen Handlungen maximal frei.«

MYP Magazine:
Welchen Einfluss hat das Tanzen auf Deine Persönlichkeitsentwicklung? Oder anders gefragt: Was für ein Mensch wärst Du heute, wenn Du nicht damit angefangen hättest?

Saïd:
Was ich heute für ein Mensch wäre, kann ich schwer sagen. Ich weiß aber, dass mich das Breaken in meiner Persönlichkeit stark geformt hat. Im Gegensatz zu früher erwische mich viel seltener dabei, Vorurteile gegenüber Menschen zu haben, die ich nicht kenne. Durch das Breaken habe ich gelernt, allen Leuten grundsätzlich freundlich und aufgeschlossen zu begegnen. Darüber hinaus habe ich das Gefühl, ein Leben zu leben, in dem ich alles schaffen kann – auch wenn ich dafür oft Jahre investieren muss. Ich traue mir alles zu und habe keine Angst, irgendein Projekt anzugehen und in die Tat umzusetzen. Das Tanzen hat mir also eine Art Grundformel fürs Leben geschenkt, dadurch fühle ich mich in meinen Handlungen maximal frei.

»Breakdance ist ein Ventil, über das ich alles rauslassen kann: meine Energie, meinen Frust, aber auch mein Glück.«

MYP Magazine:
Wenn man Dir gegenübersitzt und sich mit Dir unterhält, erlebt man Dich als jemanden, der sehr in sich zu ruhen scheint. Ganz im Gegensatz zu Deinem Tanz, der von einer immensen Körperlichkeit und Dynamik geprägt ist. Bedingt das eine das andere?

Saïd:
Ich erinnere mich, dass ich als Kind sehr unruhig und schnell aufgebracht war – also das Gegenteil von heute. Tatsächlich bin ich durch das Tanzen zu einer großen inneren Ruhe gekommen, auch weil es ein Ventil ist, über das ich alles rauslassen kann: meine Energie, meinen Frust, aber auch mein Glück. Das gilt vor allem für die Battles, in denen ich mich vollkommen ausleben kann, und zwar auf eine absolut friedvolle Art und Weise. Das gibt mir eine schöne Grundruhe und macht mich im Alltag viel ausgeglichener.

»Durch Olympia kann ich dem uigurischen Volk auch mal über ein positiv besetztes Thema eine gewisse mediale Aufmerksamkeit zukommen lassen.«

MYP Magazine:
In der ZDF-Reportage erzählt Deine Mutter, wie stolz sie auf Dich ist, weil Du ihrer Meinung nach in Paris nicht nur für Deutschland, sondern auch für das gesamte uigurische Volk antreten würdest. Man merkt in diesem Moment an Deinem Gesichtsausdruck, wie ergreifend ihre Worte für Dich sein müssen. Empfindest Du diese immense Erwartungshaltung als Belastung?

Saïd:
Nein, das würde dem Ganzen eine negative Note geben. Ich sehe Olympia eher als eine große Chance. So kann ich dem uigurischen Volk auch mal über ein positiv besetztes Thema eine gewisse mediale Aufmerksamkeit zukommen lassen. In der Regel bekommt man hier in der westlichen Welt ja nur die negativen Schlagzeilen mit, etwa wenn es um das große Leid der Uiguren in China geht. Daher sehe ich es als eine große, aber dennoch schöne Verantwortung, sollte ich es wirklich schaffen, 2024 als Breaker mit uigurischen Wurzeln nach Paris zu fahren. Davon abgesehen geht es mir darum, jungen Leuten meiner oder anderer Kulturen Mut zu machen. Allein deshalb ist es wichtig, dass ich mich nicht stressen lasse.

»Mein Background war den Menschen völlig fremd, man konnte mich nirgendwo einordnen.«

MYP Magazine:
Dein Vater ist Journalist und wird von der chinesischen Regierung politisch verfolgt, weil er über die Situation der dortigen Uiguren schreibt. Ist es Dir ebenfalls ein Anliegen, dieses Thema sichtbarer zu machen?

Saïd:
Heute sehe ich mich in der Position. Das war aber nicht immer so. Als Teenager mochte ich das überhaupt nicht, ich hatte immer das Gefühl, mich überall erklären zu müssen. Außerdem hatte ich gerade in den ersten Jahren ein echtes Identitätsproblem. Denn hier in Deutschland hatte noch nie jemand etwas von Uiguren gehört, mein Background war den Leuten völlig fremd – man konnte mich nirgendwo einordnen. Mittlerweile sehe ich es aber als meine Verantwortung, die Menschen aufzuklären und ihnen ein umfassenderes Bild zu geben als das, was sie aus irgendwelchen News haben. Das ist auch auf Battles so: Wenn ich Leute aus verschiedensten Ländern treffe und die hören, dass ich Uigure bin, wollen die von mir eine Meinung aus erster Hand. Und manchmal komme ich aus einem Land wie Südkorea zurück und denke mir: Wow, krass, ich habe dort mit einem Koreaner, einem Kanadier und einem Amerikaner über die Situation der Uiguren in China gesprochen – und die gehen jetzt mit einem größeren Verständnis nach Hause, reden vielleicht mit ihren Freunden darüber und haben sogar mal eine Antwort parat, wenn wieder jemand sagt: „Ach, das sind doch eh alles Chinesen.“ Und dann können sie entgegnen: „Nein, sind sie nicht, sie leben nur dort.“ Ich habe das Gefühl, damit tue ich meinem Volk etwas Gutes.

»Diese riesige Wirtschaftsmacht tut ihr Bestes, um die uigurische Bevölkerung zu minimieren und ihren kulturellen Hintergrund auszuradieren.«

MYP Magazine:
Wie erklärst Du Menschen, die noch nie davon gehört haben, die Situation der Uiguren in China?

Saïd:
Ich erzähle ihnen, dass im äußersten Nordwesten Chinas seit Jahrtausenden ein Volk lebt, das eine eigenständige Kultur besitzt. Dieses Volk wird unterdrückt und unterworfen von einer riesigen Wirtschaftsmacht. Und die tut gerade in den letzten Jahren ihr Bestes, um die uigurische Bevölkerung zu minimieren und ihren kulturellen Hintergrund auszuradieren, indem sie ihr die chinesische Kultur aufzwingt.

»Das finde ich überhaupt so schön an meinem Volk: dass es sehr offen ist, obwohl es so viel durchgemacht hat und gerade wieder durchmacht.«

MYP Magazine:
Und wenn Du bei allem Ernst der Lage die positiven und schönen Seiten der uigurischen Kultur beschreiben müsstest, was würdest Du von diesem Volk erzählen?

Saïd:
Ich würde erzählen, wie herzlich und gastfreundlich dieses Volk ist; wie respektvoll es mit anderen Menschen umgeht; und wie vielseitig es ist. Im Allgemeinen kennt man die Uiguren nur als eine muslimische Minderheit in China. Aber Muslime waren die Uiguren nur einen vergleichsweise kleinen Zeitraum in der langen Zeit ihrer Existenz. Davor waren sie auch mal Zoroaster, Buddhisten oder gehörten dem Tengrismus an, einem alten schamanischen Kult der Mongolen und Turkvölker in Zentralasien. Die Uiguren haben im Laufe der Jahrtausende viele Religionen und Glaubenswege ausprobiert, daher sind sie immer aufgeschlossen und tolerant geblieben. Das finde ich überhaupt so schön an meinem Volk: dass es sehr offen ist, obwohl es so viel durchgemacht hat und gerade wieder durchmacht.

»Ich wünsche mir, nicht alles zu sehr zu verkopfen.«

MYP Magazine:
Wenn Du dir etwas wünschen könntest für Dein Leben, was wäre das?

Saïd:
Eigentlich einfach weiterhin das zu tun, was ich tue. Und nicht alles zu sehr zu verkomplizieren und zu verkopfen. Solange ich das machen kann, was mich glücklich und zufrieden macht, und ich dabei niemanden schade, solange werde ich ein gutes Leben führen. Mehr muss ich mir eigentlich gar nicht wünschen.

MYP Magazine:
Auch nicht die Goldmedaille in Paris?

Saïd: (lacht)
Nein, darum geht’s mir nun wirklich nicht.


Kings Elliot

Interview — Kings Elliot

»Meine Lieder erzählen davon, wie ich immer alles kaputt mache«

Die Schweizer Singer-Songwriterin Kings Elliot wirft in ihrer eindrücklichen Musik existenzielle Fragen auf, ihre Songs strotzen nur so vor Seelentiefe und Verletzlichkeit. Ein Gespräch entlang der zehn schönsten Fragen aus den Tagebüchern des Schriftstellers Max Frisch – über den Schmerz der Liebe, ungesunde Selbstkritik und das Weiterleben als ein vegetarisch speisender Adler.

11. Januar 2023 — Interview & Text: Katharina Viktoria Weiß, Fotografie: Frederike van der Straeten

In der Geschichte des Menschseins gibt es immer wieder Momente, die uns daran erinnern, dass das Wesen unserer Gefühle zeitlos ist. Beeinflusst zwar von den Umständen, in denen wir leben. Doch im Grunde sind die menschlichsten aller Emotionen immer gleich. Seit Jahrhunderten. Seit Jahrtausenden.

Als der berühmte Schweizer Schriftsteller Max Frisch in seinen Tagebüchern elf Fragebogen zu Themen wie Liebe, Freundschaft und Tod entwickelte, gab es mal wieder so einen Moment. Doch es braucht nicht unbedingt Weltliteraten, um uns das Wesen unserer Gefühle vor Augen zu führen. Existenziell und eindrücklich geht es beispielsweise auch bei der Schweizer Singer-Songwriterin Kings Elliot zu. Ihre Songs strotzen nur so vor Emotionalität. Sie erzählen vom Überlebenskampf sensibler Seelen und zeichnen mit klarer Stimme ein dichtes Gewebe aus Geschichten, die einem nach wenigen Streams das Gefühl verleihen, diese Frau und ihre Lebensthemen schon beinahe intim zu kennen.

Im November 2020 veröffentlichte Anja Gmür, so ihr bürgerlicher Name, den Song „I’m Getting Tired of Me“. Begleitet wurde dieser von einem Video, bei dessen Dreh sie eine Panikattacke bekam. Doch anstatt dieses Ereignis rauszuschneiden, besteht das Video nun aus drei Minuten und 40 Sekunden Verletzlichkeit.

Die Aufrichtigkeit, mit der Kings Elliot über ihre eigene Unzulänglichkeit singt, begeistert vor allem die junge Generation. Im Spätsommer 2022 begleitete sie über sechs Wochen hinweg die Pomp-Rocker von Imagine Dragons und den Rapper Macklemore auf deren Tour durch 20 US-Stadien und spielte dabei vor Hunderttausenden Fans. Doch immer wieder waren in den Reihen auch Plakate zu sehen, die beispielsweise mit der Aufschrift „Sick Puppies“ versehen waren – so nennt sich die Fangemeinde von Kings Elliot, die zahlreich zu den Konzerten der jungen Schweizerin angereist war.

Die Fans fühlen eine starke Verbindung zu der Art und Weise, wie die Musikerin Disney-Niedlichkeit mit düsteren Visuals vermischt. Aus diesem Grund haben wir Kings Elliot zum Interview in die knallbunte Burlesque-Bar „Wilde Mathilde“ am Berliner Alexanderplatz geladen. Wir lernen die Newcomerin kennen, indem wir ihr zehn der schönsten Fragen aus den Tagebuchbogen von Max Frisch stellen.

»Manchmal frage ich mich: Hätte ich ohne meine vielen Kämpfe überhaupt so früh und intensiv damit begonnen, Musik zu schreiben?«

MYP Magazine:
Frage 1: „Was fehlt Dir zum Glück?“ – zwar hast Du gerade eine Wahnsinnstour hinter Dich gebracht, aber wir hören in Deiner aktuellen EP „Bored of the Circus“ auch deutlich heraus, wie viel du dich aufgrund deiner Borderline-Diagnose mit dem Thema der mentalen Gesundheit beschäftigen musst.

Kings Elliot:
Für diese Herausforderungen bin ich dankbar. Denn nur aufgrund dieser Auseinandersetzungen kann ich genau die Musik schreiben, die mir so viel bedeutet. Die Tiefe des Thema hat mir so viele Türen geöffnet und macht das Leben auf eine bestimmte Art auch viel schöner für mich. Deswegen schließt sich hier ein Kreis – und ich definiere Glück vielleicht auch etwas anders: Aufgrund meiner Krankheit bin ich mal ganz oben und mal ganz unten, aber für mich gehört das dazu, ich habe mich so akzeptiert. Manchmal frage ich mich: Hätte ich ohne meine vielen Kämpfe überhaupt so früh und intensiv damit begonnen, Musik zu schreiben? Oder hätte ich diese große Liebe meines Lebens dann vielleicht nie entdeckt?

»Meine Lieder erzählen davon, wie ich immer alles kaputt mache.«

MYP Magazine:
Frage 2: „Lernst Du von einer Liebesbeziehung für die nächste?“

Kings Elliot:
Ja, ganz bestimmt. Es ist zwar schwierig, die eigenen Fehler nicht zu wiederholen, denn es kostet viel Arbeit, eingefahrene Muster zu durchbrechen. Verglichen mit jemandem, der etwas ausgeglichener ist, sind meine Reaktionen in Beziehungen sehr stark. Für den anderen kann das schnell anstrengend werden. Meine Liebe kann manchmal sehr schwer sein. Ich habe viel Gepäck und manchmal konnten meine Partner das nicht mehr mittragen. Diese Trennungen waren für mich immer unglaublich schwer. Aber auch schon innerhalb der Beziehungen spüre ich extreme Verlassensängste, die tief in mir verankert sind. Davon singe ich in den Liedern, sie erzählen, wie ich immer alles kaputt mache. Ich kann nicht ohne Schmerz lieben.

MYP Magazine:
Frage 3: „Wie viele Freunde hast Du zurzeit?“

Kings Elliot:
Ich habe nicht viele Freunde – aber die wenigen, die ich habe, sind sehr gute. Ich brauche lange, bis ich jemandem vertrauen kann, und habe Schwierigkeiten damit, diese Bindung und dieses Vertrauen zu neuen Personen aufzubauen.

»Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn man gerade mit seinen Dämonen ringt.«

MYP Magazine:
Frage 4: „Hältst Du dich für einen guten Freund?“ – auch vor dem Hintergrund Deiner teilweise monatelangen Abwesenheit wegen Deiner beruflichen Reisen.

Kings Elliot:
Ich bin oft überwältigt von den Eindrücken, die die Welt um mich herum abstrahlt. Vielleicht bin ich übersensibel. Deshalb fällt es mir schwer, mit Menschen in regelmäßigem Kontakt zu bleiben. Ich melde mich nicht oft, obwohl ich die jeweilige Person ganz fest lieb habe. Ich habe oft verpasste Anrufe, komme aber aufgrund der fehlenden Routine in meinem Arbeitsleben kaum dazu, diese abzuarbeiten. Aber wenn mir ein Freund signalisiert, dass er mich wirklich braucht, dann bin ich natürlich sofort zur Stelle. Auch wenn mir jemand aus der „Sick Puppy“-Community schreibt und einen schweren Tag hat, dann versuche ich sofort zurückzuschreiben. Denn ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn man gerade mit seinen Dämonen ringt. Und ich habe das Gefühl, mit meinem Zuspruch manchmal einen kleinen Unterschied für diese Menschen machen zu können, mit denen ich durch meine Lieder verbunden bin.

»Wenn man sich in seinen Träumen immer moralisch verhält, ist es langweilig.«

MYP Magazine:
Frage 5: „Träumst Du moralisch?“

Kings Elliot:
Ich glaube, wenn man sich in seinen Träumen immer moralisch verhält, ist es langweilig. Ich habe definitiv eine blühende Fantasie und träume generell sehr viel und sehr detailliert – und oft ganz gruselige Dinge. Doch auch am Tag suchen mich manchmal düstere Gedanken heim. Diese versuche ich dann allerdings in schöne Musik zu verpacken. Deshalb habe ich zwar einen Künstlernamen, aber ich habe mir dafür nicht extra eine eigene Künstlerpersona ausgedacht. Kings Elliott ist die wahrste Version meiner Persönlichkeit.

»Gerade Kritik im Internet ist oft so ungefiltert, dass es einen ganz unmittelbar verletzen kann.«

MYP Magazine:
Frage 6: „Was fürchtest Du mehr: das Urteil von einem Freund oder das Urteil von Feinden?“

Kings Elliot:
Das Urteil meiner Freunde ist mir wichtiger, aber ich weiß, dass die mich eigentlich so nehmen, wie ich bin. Deshalb fürchte ich mehr das Urteil von Fremden. Gerade Kritik im Internet ist oft so ungefiltert, dass es einen ganz unmittelbar verletzen kann.

MYP Magazine:
Frage 7: „Überzeugt Dich deine Selbstkritik?“

Kings Elliot:
Ja. Das ist aber nicht unbedingt immer gesund. Es gibt phasenweise viel, dass ich an mir selbst nicht mag. Teilweise treibt mein Perfektionismus auch alle anderen zur Weißglut. Zum Glück habe ich ein gutes Umfeld, dass mich dann wachrüttelt und dazu auffordert, aus den Unreifen meines Kopfes wieder aufzutauchen.

»Ich wäre gerne ein Adler, würde dann aber eine vegetarische Ernährung bevorzugen.«

MYP Magazine:
Frage 8: „Was tust Du für Geld nicht?“

Kings Elliot:
Alles, was sich für mich nicht richtig anfühlt. Ein Beispiel: Ich würde nie mit Tieren arbeiten, wenn es den Verdacht gäbe, dass sie nicht artgerecht behandelt würden. Wenn ich hier den Platz mal nutzen darf, das passt ja auch irgendwie zur Frage: Adoptiert Tiere – nicht kaufen!

MYP Magazine:
Frage 9: „Möchten Sie lieber gestorben sein oder noch eine Zeit leben als ein gesundes Tier? Und als welches?“

Kings Elliot:
Ich liebe Hasen, aber generell werden sie von Menschen oft unterschätzt und nicht besonders gut behandelt. Deshalb würde ich kein Hase sein wollen, es sei denn ich könnte bei mir selbst wohnen. Generell wäre ich eher ein großer Vogel. Einer, der nicht gegessen wird und weite Strecken fliegen kann. Wie zum Beispiel ein Adler, allerdings würde ich dann keine Mäuse jagen, sondern eine vegetarische Ernährung bevorzugen.

»Ich war die Einzige im Dorf, die Musik gemacht hat.«

MYP Magazine:
Frage 10: „Hätten Sie lieber einer anderen Nation (Kultur) angehört und welcher?“

Kings Elliot:
Ich habe mir immer gewünscht, in New York oder London geboren worden zu sein. Denn es schien mir so, als ob es Menschen, die in einer so vielfältigen Metropole aufgewachsen sind, von Anfang an leichter in der Kreativbranche hätten. Meine Lebensrealität sah anders aus: Ich war die Einzige im Dorf, die Musik gemacht hat. Andererseits hat dieser Lebensweg natürlich einen prägenden Einfluss auf meine Lieder. Daher bin ich mittlerweile ganz froh, dass ich gelernt habe, mich durchzubeißen.


Joshua Seelenbinder

Interview — Joshua Seelenbinder

»Das Feuer flackert im Kamin – und dann passiert ein Mord«

Was wäre Weihnachten ohne einen schönen Mord, zumindest im TV? Mit »Mord unter Misteln« beschenkt uns der Tatort am 26. Dezember mit einer ganz besonderen Festtagsfolge. Aufzuklären ist das Ableben eines Butlers, der am Heiligen Abend des Jahres 1922 plötzlich tot in einem englischen Herrenhaus liegt. Unter den Verdächtigen: ein junger, nicht ganz so frommer Geistlicher, gespielt von Joshua Seelenbinder. An seiner alten Schauspielschule haben wir den Film- und Theaterschauspieler zum Interview getroffen. Ein Gespräch über das Kulturgut Tatort, zwei Jahre #ActOut sowie den Aufholbedarf der deutschen Fernseh- und Theaterlandschaft in Sachen Diversität und Gleichbehandlung. Und natürlich über das Giftige an Weihnachten.

22. Dezember 2022 — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotografie: Maximilian König

Heiligabend in einem englischen Herrenhaus, wir schreiben das Jahr 1922. Im vornehmen Beckford Hall hat die resolute Lady Bantam zum weihnachtlichen Dinner geladen und eine Handvoll Gäste um sich geschart. Doch wirklich genießen kann die illustre Runde den Abend nicht, denn auf einmal liegt Butler Arthur mausetot auf dem Orientteppich.

Der Weihnachts-Tatort „Mord unter Misteln“ ist ein ganz besonderer Fall. Nicht nur, weil es der 90. Einsatz von Miroslav Nemec und Udo Wachtveitl ist, die seit 1991 als Hauptkommissare Ivo Batic und Franz Leitmayr im Münchener Tatort ermitteln. Sondern auch, weil diese Episode, die am zweiten Weihnachtstag in der ARD ausgestrahlt wird, eine Geschichte innerhalb der Geschichte erzählt.

Batic und Leitmayr sind in der Wohnung ihres Kollegen Kalli zum Krimidinner eingeladen. Nach kurzem Gemurre lassen sich die beiden auf das Spiel ein. Und so kommt es, dass sie schließlich als Constable Ivor Partridge und als Chief Inspector Francis Lightmyer am 24. Dezember 1922 nach Beckford Hall beordert werden, um das verdächtige Ableben von Butler Arthur aufzuklären. Dort stoßen sie auf eine Runde merkwürdiger Gäste, von denen jede und jeder einen guten Grund gehabt hätte, den Butler zu ermorden.

Bild: BR/Bavaria Fiction GmbH/Hendrik Heiden

Mittendrin in diesem Ensemble von Verdächtigen ist der auf den ersten Blick prüde Reverend Edgar Teal, der von Joshua Seelenbinder dargestellt wird. Für den 32-jährigen Schauspieler ist sein Tatort-Debüt der krönende Abschluss eines sehr erfolgreichen Jahres. Bei den Streamern Sky und Netflix ist er seit Mai respektive November in den Serien „Das Boot“ und „1899“ zu sehen, bei den Wormser Nibelungen-Festspielen stand er im Juli in der Rolle des Giselher auf der Bühne, und aktuell dreht er für die ARD-Miniserie „Herrhausen“ sowie die Paramount-Serie „Phantom Jäger“. Darüber hinaus wird er im nächsten Jahr als Passfälscher Cioma Schönhaus im Kinofilm „Last Song for Stella“ zu erleben sein sowie als Polizist Malte Niebecker in der norddeutschen ARD-Komödie „Der Lux“.

In Joshuas Leben läuft es also, könnte man sagen. Doch der Weg hierhin war für den feinsinnigen und eher zurückhaltenden jungen Mann alles andere als gut befahrbar. Aufgewachsen ist er in einem kleinen Ort im Norden Niedersachsens, um ihn herum war nichts als plattes Land. Für einen Jugendlichen, in dem nicht nur ein künstlerisches, sondern auch ein queeres Herz schlägt, kann das eine doppelte Enge bedeuten, auch heute noch.

Nach ersten Gehversuchen am Hamburger Monsun-Theater studierte er von 2013 bis 2017 an der renommierten Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin. Danach war er festes Ensemblemitglied am Staatstheater Braunschweig, seitdem arbeitet er als freier Schauspieler.

Frei, das ist ein Wort, das für Joshua spätestens seit dem 5. Februar 2021 eine ganz besondere Bedeutung hat. Damals outete er sich gemeinsam mit 184 weiteren Schauspieler:innen in der Süddeutschen Zeitung, die sich als lesbisch, schwul, bisexuell, transgender, queer, intergeschlechtlich oder nichtbinär bezeichnen. Unter dem Titel #ActOut haben sie sich zum Ziel gesetzt, mehr Akzeptanz und Anerkennung von queeren Menschen zu erreichen – sowohl in der Gesellschaft sowie innerhalb der deutschsprachigen Film-, Fernseh- und Theaterbranche.

Auf dem 2018 neu eröffneten Campus der HfS Ernst Busch unweit des Berliner Nordbahnhofs haben wir Joshua Seelenbinder Anfang Dezember zum Interview und Photoshoot getroffen.

»Der Reverend spielt ständig mit dem Feuer, immerhin hat er sich dem Zölibat verschrieben.«

MYP Magazine:
In „Mord unter Misteln“ bist Du als Reverend Edgar Teal aus dem Jahr 1922 zu sehen. Wie würdest Du diesen Charakter beschreiben? Was treibt ihn an?

Joshua Seelenbinder:
Der Reverend brennt für seine Sache – und damit meine ich nicht das Geistliche, denn er ist weder fromm noch makellos. Ganz im Gegenteil: Für seine heimliche Liebe, das Hausmädchen Heather, tut er alles. So spielt er ständig mit dem Feuer, immerhin hat er sich dem Zölibat verschrieben. Doch seine Leidenschaft ist stärker und treibt ihn immer wieder aufs Neue an. Das macht den Charakter für mich so spannend und liebenswert.

»Cluedo ist hier auch meine inhaltliche Schnittstelle.«

MYP Magazine:
Euer Tatort erinnert mit seinem Setting und den Figuren ein bisschen an den Brettspiel-Klassiker Cluedo sowie an alte Maigret- oder Poirot-Krimis. Das wird bei vielen Zuschauer:innen die eine oder andere Kindheitserinnerung auslösen. Bei Dir auch?

Joshua Seelenbinder:
Total! Cluedo ist hier auch meine inhaltliche Schnittstelle – und natürlich diese extreme Weihnachtsstimmung, die über der gesamten Szenerie liegt. Es ist Heiligabend, alle kommen in einem urgemütlichen und festlich geschmückten Herrenhaus zusammen, das Feuer flackert im Kamin – und dann passiert ein Mord…

MYP Magazine:
… der allerdings kein echter Mord ist, sondern im Tatort im Rahmen eines Krimidinners aufgedeckt werden muss. Hast Du selbst auch schon mal bei so einem Spiel mitgemacht?

Joshua Seelenbinder:
Ja, allerdings erst nach den Dreharbeiten. Vorher hatte ich darauf nie so Lust. Aber da mir unser Dreh so viel Spaß gemacht hat, habe ich mich im Privaten auch darauf eingelassen. Da ging es um den Mord an einer Schauspielerin in der Silvesternacht.

»Der Tatort ist das deutsche Kulturgut in der Fernsehlandschaft.«

MYP Magazine:
Der Tatort prägt seit über 50 Jahren die deutsche Fernsehlandschaft, für viele Menschen hat das Format eine ganz besondere Bedeutung: Sie sind mit dem Tatort aufgewachsen und beschließen damit regelmäßig ihr Wochenende. Wie bist Du im Vorfeld mit dieser Strahlkraft umgegangen?

Joshua Seelenbinder:
Diese Bedeutung kann man tatsächlich nicht so leicht in den Hintergrund schieben. Der Tatort ist das deutsche Kulturgut in der Fernsehlandschaft, eine echte TV-Institution. Allein deshalb war es für mich ein großes Ding, da mitwirken zu dürfen. Allerdings bin ich privat nicht so stark Tatort-geprägt wie andere – vielleicht auch, weil es in meiner Familie immer schon zwei Lager gab: Für meinen Opa zum Beispiel ist der Tatort ein fester Bestandteil seines Sonntagabends, meine Mutter dagegen interessiert sich kaum dafür. Ich selbst schaue immer wieder mal rein, vor allem, wenn Kolleg:innen mitspielen, die ich kenne. Oder wenn es um Teams geht, die ich mag.

MYP Magazine:
Welche sind das?

Joshua Seelenbinder:
Das neue, junge Team aus Bremen finde ich echt gut. Dresden auch. Und spätestens jetzt auch München. (lächelt)

»Bei dieser speziellen Weihnachtsfolge spalten sich die Meinungen schon jetzt.«

MYP Magazine:
Kann es für so ein TV-Format nicht auch zum Problem werden, wenn es von seinem Publikum permanent mit Erwartungen und Emotionen überladen wird?

Joshua Seelenbinder:
Das kann durchaus ein Nachteil sein, klar. Auch, was unseren Tatort betrifft, haben wir noch überhaupt keine Ahnung, wie er am Ende bei den Leuten ankommen wird. Schließlich ist er kein klassischer München-Fall, sondern eine spezielle Weihnachtsfolge, die vor hundert Jahren spielt und einen fiktiven Mord behandelt. Da spalten sich die Meinungen schon jetzt: Die einen sagen, die Geschichte passe total gut zu Weihnachten, die anderen sind enttäuscht, weil sie sich auch für die Feiertage einen normalen Batic-Leitmayr-Fall gewünscht hätten. Und das ist unser Tatort natürlich nicht, sondern eher eine Art Gimmick.

MYP Magazine:
Und dann gibt es sicher eine dritte Gruppe, die lediglich Angst davor hat, dass Hauptkommissar Ivo Batic in Rente geht.

Joshua Seelenbinder: (lacht)
Oh ja, die darf man nicht vergessen!

»So kammerspielartig, wie die Geschichte aufgezogen ist, haben wir auch gedreht.«

MYP Magazine:
Wie hast Du die Produktion erlebt?

Joshua Seelenbinder:
So kammerspielartig, wie die Geschichte aufgezogen ist, haben wir auch gedreht. Das war eine echte Ensemble-Arbeit – wie bei einem Theaterstück. Wir alle haben fast drei Wochen am Stück an diesem Ort in der Bayerischen Provinz aufeinander gehockt und viele tolle Tage miteinander erlebt. Das war wirklich schön und besonders, denn normalerweise reist man nur für ein paar Tage an, spielt seine Rolle und geht dann wieder.

MYP Magazine:
Wie war die Zusammenarbeit mit den beiden alten Ermittlerhasen Miroslav Nemec und Udo Wachtveitl alias Ivo Batic und Franz Leitmayr?

Joshua Seelenbinder:
Ich muss zugeben, dass ich am Anfang etwas skeptisch war, weil die beiden das schon wirklich, wirklich lange machen und es gewohnt sind, dass bei jeder neuen Folge immer wieder neue Gesichter rein- und rausgespült werden. Daher war ich mir nicht sicher, ob ich in der kurzen Zeit eine Verbindung mit Miro und Udo herstellen kann. Aber die beiden hatten total Lust auf diesen besonderen Tatort. Sie hatten Lust, etwas Neues auszuprobieren, und hingen mit uns auch sehr viel an diesem Ort ab. Wir hatten am Ende sehr viel Spaß zusammen, das hat mich positiv überrascht.

»Im Film wie am Theater überwiegt immer noch die Vorstellung, dass Frauenrollen jung, schön und begehrenswert zu besetzen sind.«

MYP Magazine:
An einer Stelle sagt Inspector Lightmyer zu Lady Bantam: „Ich bin ein alter Mann, Milady.“ Und diese antwortet: „Für Ihr Geschlecht gelten andere Regeln.“ Dieser Satz ist aktueller denn je, noch immer werden Frauen in vielen Berufen systematisch benachteiligt. Wie ist die Situation diesbezüglich in der Schauspielbranche?

Joshua Seelenbinder:
Ich kann dazu nur aus Gesprächen mit Kolleginnen berichten, für die etwa die ungleiche Bezahlung zwischen Männern und Frauen immer noch ein großes Thema ist – obwohl sich zumindest an dieser Front gerade einiges zu tun scheint.
Was aber eine noch viel größere Benachteiligung ist, ist die Tatsache, dass es nach wie vor nur sehr beschränkte Frauenrollen gibt. Klar, das wird hier und da mal aufgeweicht. Aber im Film wie am Theater überwiegt immer noch die Vorstellung, dass Frauenrollen jung, schön und begehrenswert zu besetzen sind. Danach, etwa ab einem Alter von 30 Jahren, kommt lange nichts. Und irgendwann dürfen die Frauen dann wieder – vereinfacht gesagt – die schrulligen Mütter oder Großmütter spielen.
Bei Männern ist das ganz anders. Da gibt es nicht nur viel mehr Rollen, sondern vor allem auch in diversen Formen und Altersklassen. Und diese männlichen Rollen werden auch heute noch viel häufiger geschrieben als vergleichbare weibliche. Das ist auf jeden Fall ein Ungleichgewicht.

»Der männliche Körper ist auf der Bühne wie im Film viel weniger Beurteilungen ausgesetzt als der weibliche.«

MYP Magazine:
Welche Privilegien nimmst Du für Dich als männlicher Schauspieler wahr?

Joshua Seelenbinder:
Für Männer ist es viel leichter, Rollen in einem jüngeren Spielalter zu übernehmen – einfach, weil das Publikum da mehr Abweichung vom eigenen Alter verzeiht. Da bin ich keine Ausnahme. Bei Frauen wird viel kritischer hingeschaut. Der männliche Körper ist auf der Bühne wie im Film viel weniger Beurteilungen ausgesetzt als der weibliche. Ich zum Beispiel bin recht schmal. Das bringt zwar auch die eine oder andere schauspielerische Einschränkung mit sich, weil nach wie vor gerne nach Klischee besetzt wird. Trotzdem werde ich als Mann lange nicht so auf das Körperliche reduziert wie weibliche Personen, und das gilt nicht nur für den Schauspielbetrieb.

»#ActOut hat dazu geführt, dass ich in meiner Arbeit offener und selbstbewusster auftreten kann.«

MYP Magazine:
Vor knapp zwei Jahren bist Du im Rahmen der #ActOut-Initiative gemeinsam mit 184 anderen Schauspieler:innen an die Öffentlichkeit gegangen. Euer Ziel ist es unter anderem, mehr Akzeptanz und Anerkennung von queeren Menschen sowohl in der Gesellschaft sowie innerhalb der deutschsprachigen Film-, Fernseh- und Theaterbranche zu erreichen. Welche Bedeutung hat es für Dich persönlich, Teil dieser Initiative zu sein?

Joshua Seelenbinder:
Für mich ist #ActOut immer noch eine riesige Befreiung. Und die Tatsache, Teil einer so großen, ausdrucksstarken Gruppe zu sein, gibt mir nach wie vor ein beflügelndes und beruhigendes Gefühl von Sicherheit. Das hat in meinem Leben unter anderem dazu geführt, dass ich in meiner Arbeit offener und selbstbewusster auftreten kann. Etwa, wenn am Set über Familie oder Partner:innen gesprochen wird, rede ich inzwischen – ohne groß darüber nachzudenken – auch über meinen Freund.
Trotzdem kamen mir damals auch einige Zweifel, nachdem ich meine Zusage für #ActOut gegeben hatte. Nicht wegen der Initiative an sich, sondern weil in mir plötzlich Fragen aufkamen wie: Ändert sich dadurch der Blick auf mich als Schauspieler? Was bedeutet das für meine Karriere? Was macht das mit zukünftigen Rollen? Ich hatte ja gerade erst angefangen, frei zu arbeiten, und war daher ziemlich verunsichert. Letztendlich bin ich aber sehr dankbar und froh, bei dieser großartigen Initiative mitgemacht zu haben. Und wenn sich aus diesem Grund tatsächlich jemand entscheiden sollte, mich nicht mehr zu besetzen, muss ich sagen: Mit solchen Leuten möchte ich auch nicht mehr zusammenarbeiten.

MYP Magazine:
Welche Reaktionen sind Dir in besonderer Erinnerung geblieben?

Joshua Seelenbinder:
Es gab einige Intellektuelle, die #ActOut hart angegriffen haben – etwa die Feuilletonistin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Auch wenn sich diese Angriffe nicht auf Einzelpersonen bezogen, fühlten sie sich doch sehr persönlich und verletzend an, daran erinnere ich mich noch. Insgesamt überwiegen aber bis heute die vielen positiven Nachrichten und Reaktionen. Außerdem sind in meinem Leben viele neue Bekanntschaften und sogar Freundschaften entstanden, die es ohne #ActOut nicht geben würde.

»Bildet das, was man im Kino oder im TV sieht, nur die weiße Mittelschicht ab? Oder entspricht das dem tatsächlichen Straßenbild in Deutschland?«

MYP Magazine:
Was habt Ihr mit #ActOut in den knapp zwei Jahren bewegt und erreicht?

Joshua Seelenbinder:
Ich finde, es gibt eine neue Leichtigkeit in der Branche. Nicht nur, weil viele Schauspieler:innen nicht mehr das Gefühl haben, sich verstecken zu müssen. Sondern auch, weil queere Rollen in der deutschen Film- und Fernsehlandschaft langsam präsenter werden – in sehr kleinen Schritten zwar, aber es tut sich etwas. Außerdem hat es Aktionen von anderen Berufsgruppen gegeben, die von #ActOut inspiriert wurden, etwa die Initiativen #TeachOut oder #ChurchOut.

MYP Magazine:
Im #ActOut-Manifest heißt es: „Die Erfahrungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass sich die bestehenden Film- und Serien-Sehgewohnheiten erweitern und verändern. Es gibt weitaus mehr Geschichten und Perspektiven als nur die des heterosexuellen weißen Mittelstands, die angeschaut und gefeiert werden. Diversität ist in Deutschland längst gesellschaftlich gelebte Realität. Dieser Fakt spiegelt sich aber noch zu wenig in unseren kulturellen Narrativen wider.“ Wie blickst Du heute auf die deutsche Film- und Fernsehlandschaft?

Joshua Seelenbinder:
Ich bemerke zwar, dass es Veränderungen gibt, etwa was die Diversität von Casts angeht. Aber diese Veränderungen reichen noch lange nicht aus und passieren auch nicht schnell genug. Die Frage ist doch: Bildet das, was man im Kino oder im TV sieht, nur die weiße Mittelschicht ab? Oder entspricht das dem tatsächlichen Straßenbild in Deutschland? Da nehme ich das Theater übrigens in keiner Weise aus. Es heißt ja, das Theater sei wie ein alter Dampfer, bei dem es eine Ewigkeit dauere, ihn in eine andere Richtung zu steuern. Aus eigener Erfahrung kann ich das zu hundert Prozent unterschreiben.

»In meinem Leben gab es immer ein ein unterbewusstes Wahrnehmen von Enge in einer überaus heterosexuell geprägten Gesellschaft.«

MYP Magazine:
Du selbst bist im ländlichen Niedersachsen der 1990er und 2000er Jahre aufgewachsen, einem eher wenig diversen Umfeld. Welche Erinnerungen hast Du an Dein jüngeres Ich, an den queeren Teenager, der Schauspieler werden wollte?

Joshua Seelenbinder:
Es ist nicht so, dass ich schon immer das feste Ziel hatte, Schauspieler zu werden, und aus diesem Grund vom platten Land wegwollte. Das war eher die Entwicklung einiger Jahre. Dennoch gab es in meinem Leben immer ein leises, unterschwelliges Brummen, ein unterbewusstes Wahrnehmen von Enge in einer überaus heterosexuell geprägten Gesellschaft, das mich da mehr und mehr herauszog. Und auch wenn der Umgang meiner Familie und Freund:innen mit meiner Sexualität immer sehr unkompliziert und offen war, reden wir hier dennoch über das provinzielle Niedersachsen – und da passiert einfach nicht so viel.

»Wir bekommen es in Deutschland nach wie vor nicht hin, woke Themen humorvoll, intelligent, aber auch ästhetisch sexy zu erzählen.«

MYP Magazine:
Welche Formate, die Du heute kennst, hätten Dir damals gutgetan?

Joshua Seelenbinder:
Da würde ich fast alle queeren Serien nennen, die mir im Laufe der letzten Jahre begegnet sind. Etwa „Queer Eye“, „Pose“ oder auch „Queer As Folk“, was aber zu meinen Teenager-Zeiten eher noch ein Nischending war, davon hatte ich damals kaum was mitbekommen. Irgendwann kam „Brokeback Mountain“ ins Kino, das war für mich ein Meilenstein.

MYP Magazine:
Auffallend wenige deutsche Produktionen, die Du da aufzählst.

Joshua Seelenbinder:
Ich weiß nicht, warum wir es in Deutschland nach wie vor nicht hinbekommen, woke Themen humorvoll, intelligent, aber auch ästhetisch sexy zu erzählen. Das wird einem immer wieder deutlich, wenn man sich beispielsweise Formate wie die Netflix-Serien „Sex Education“ oder „Heartstopper” anschaut. Da wird einerseits leicht und unverkrampft erzählt und gleichzeitig ist der Stoff dramaturgisch wie inhaltlich wirklich gut. So etwas fehlt mir hier. Vielleicht liegt es daran, dass die deutsche Fernsehlandschaft von so unendlich vielen Krimis besetzt ist, das scheint die Zuschauer:innen wirklich anzuziehen.

»Über die Busch gab es damals viele Geschichten und Gerüchte.«

MYP Magazine:
Von 2013 bis 2017 hast Du an der HfS Ernst Busch studiert. Wie blickst Du auf diese Zeit zurück?

Joshua Seelenbinder:
Über die Busch gab es damals viele Geschichten und Gerüchte. Die Schule wurde immer angepriesen als Kaderschmiede und war für uns junge Schauspiel-Anwärter:innen eine absolute Legende. Dementsprechend konnte ich es auch zuerst nicht glauben, als ich angenommen wurde.
Meine Erinnerungen an die Zeit dort sind sehr gemischt. Das Studium war sehr intensiv, ich habe viel gelernt und wurde gut ausgebildet. In diesen Jahren gab es aber auch wenig Privatleben – ich war jeden Tag gefühlt von früh morgens bis spät abends in der Schauspielschule. Das war einerseits schön, andererseits aber auch schade, denn ich bekam kaum etwas von Berlin mit.
Darüber hinaus fehlte mir ein gewisser Grad an künstlerischer Freiheit. Der Stundenplan war so vollgepackt, dass man sich abseits davon kaum ausprobieren konnte. Inzwischen hat sich das aber geändert, in den Jahrgängen unter uns gibt es einen Zyklus, in dem sie eine freie Arbeit gemeinsam machen können.

»Dadurch, dass alles im Studium so festgezurrt war, war anschließend das Bedürfnis nach Freiheit und Loslassen umso präsenter.«

MYP Magazine:
Wie hat Dich das Studium auf Dein späteres Berufsleben vorbereitet?

Joshua Seelenbinder:
Durch diese vier Jahre habe ich gelernt, viel auszuhalten im Theateralltag. Ich wurde gestählt für vieles in der Branche – für lange Tage, parallele Proben und kräftezehrende Vorstellungen. Und mit der Zeit habe ich gelernt herauszufinden, was ich in Bezug auf künstlerisches Arbeiten möchte – und was nicht. Dadurch, dass alles im Studium so festgezurrt war, war anschließend das Bedürfnis nach Freiheit und Loslassen umso präsenter, auch während meiner ersten Engagements an Theatern. Der Dampfer muss schließlich fahren, jeden Abend geht der Vorhang hoch. Aber auch das hat sich irgendwann sein Ventil gesucht. Und ich habe das Gefühl, dass mein Beruf jetzt endlich anfängt zu atmen.

MYP Magazine:
Von Charlie Hübner, der ebenfalls an der HfS studiert hat, stammt der Satz: „Schauspielerei war für mich eher eine Identitätshilfe, weil ich nicht wusste, was ich will und wer ich bin.“ Ist das bei Dir ähnlich?

Joshua Seelenbinder: (lächelt)
Charlie Hübner, ein toller Schauspieler! Ich würde den Satz für mich zwar nicht unbedingt unterschreiben, aber ich glaube zu wissen, was er meint. Denn natürlich helfen einem bestimmte Rollen oder Stoffe, sich anders auszudrücken – in einer Form, in der man es als Privatperson vielleicht nicht tun würde, etwa weil man privat eher Schwierigkeiten hätte, in eine bestimmte Emotion zu kommen oder eine andere Seite von sich zu zeigen. Für diese Situationen bietet die Schauspielerei eine spannende Alternativwelt, in der man sich ausprobieren kann. Auf der Bühne ist grundsätzlich sehr viel möglich.

»Die Achtziger waren alles andere als eine gute Zeit für queere Personen.«

MYP Magazine:
In Deinem Beruf musst Du dich nicht nur immer wieder in neue Charaktere hineinversetzen, sondern auch in unterschiedlichsten Zeiten und Epochen zurechtfinden. Welche Rolle aus Deiner bisherigen Karriere hat Dich am meisten geprägt?

Joshua Seelenbinder:
Am spannendsten fand ich bisher meine Rolle im Film „Last Song for Stella“, der 2023 ins Kino kommt. Da spiele ich den Passfälscher Cioma Schönhaus, der in der NS-Zeit für Jüdinnen und Juden Dokumente gefälscht hat, mit denen sie ins Ausland fliehen konnten. Eine mutige und außergewöhnlich hoffnungsvolle Rolle, die im dunkelsten Teil deutscher Geschichte spielt.

MYP Magazine:
Gibt es eine Epoche, die Du gerne persönlich erlebt hättest – vom Jahr 1899 bis heute?

Joshua Seelenbinder:
Ich hätte wahnsinnig gerne die Zeit der ballroom culture in New York erlebt, die in den 1960er Jahren in Harlem aus der afro- und lateinamerikanischen Community heraus entstand und in den Siebzigern und Achtzigern immer populärer wurde. Diese nicht-weiß geprägten ballrooms gelten heute als die ersten safe spaces für junge People of Color, das finde ich persönlich sehr spannend und faszinierend. Gleichzeitig frage mich, ob ich da ohne Weiteres hätte eindringen wollen. Schließlich will ich als privilegierte weiße Person nicht einfach einen Raum besetzen, den nicht-weiße Menschen für sich geschaffen haben.
Darüber hinaus waren die Achtziger mit der aufkommenden Aids-Krise auch alles andere als eine gute Zeit für queere Personen – nicht nur, weil fast eine ganze Generation innerhalb der LGBTQIA+-Community wegstarb, sondern die Leute auch von der Gesellschaft wie Aussätzige behandelt und damit zusätzlich stigmatisiert wurden.

»An Weihnachten kommen alle mit der Familie zusammen – die einen freiwillig, die anderen widerwillig.«

MYP Magazine:
Kommen wir zum Schluss nochmal auf Euren Tatort zurück. Dort fällt mehrmals der Satz: „Alles an Weihnachten ist giftig.“ Würdest Du das privat auch unterschreiben? Was bedeutet Dir Weihnachten?

Joshua Seelenbinder:
Weihnachten ist einer der emotional am stärksten aufgeladenen Termine im Jahr. Alle kommen mit der Familie zusammen – die einen freiwillig, die anderen widerwillig. Und dann passiert da etwas, das gleichzeitig wahnsinnig schön und wahnsinnig anstrengend sein kann. Giftig daran ist vielleicht am ehesten der Druck, sich gegenseitig beschenken zu müssen. Dazu kommen die unverrückbaren Erwartungen unserer Gesellschaft, wie Weihnachten zu sein hat: perfekt, besinnlich und harmonisch. Und gerade das ist vielleicht am giftigsten.

Mit besonderem Dank

an die Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin


aa-legrand

Interview — aa–legrand

»Musik ist für mich eine Form von Selbstermächtigung«

Mit seiner gefühlvollen Debüt-EP »Pacific« liefert Simeon Loth alias aa–legrand das beste Mittel gegen schmuddelige Wintertage, in seine Songs kann man sich einwickeln wie in eine flauschige Indiefolk-Decke. Doch es droht auch Fernweh-Gefahr, denn die Platte ist inspiriert von einem sommerlichen Roadtrip entlang der nordamerikanischen Westküste. Ein Interview über das Verständnis von Kunst, Musik als eine Form von Selbstermächtigung und die ewige Magie von Radiohead.

14. Dezember 2022 — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotografie: Nis Alps

Die Versuchung, an einem kaltfeuchten Dezembertag nicht übers Wetter zu schreiben und es bis aufs Äußerste zu verfluchen, ist groß. Vor allem, wenn die Musik, um die sich der Text eigentlich drehen sollte, inspiriert ist von einem weit entfernten Sommer an der Westküste Nordamerikas. Wer schon mal da war, weiß, wovon die Rede ist: das Licht, die Luft, die Landschaft – was für ein magisches Fleckchen Erde!

Das findet auch Simeon Loth alias aa–legrand. Der 32-jährige Singer-Songwriter war Mitte 2015 sechs Wochen lang mit dem Auto zwischen Vancouver und San Francisco unterwegs und verliebte sich jeden Tag aufs Neue in die atemberaubenden Küsten, Wälder und Gebirgszüge entlang des berühmten Pacific Coast Highway (Trigger-Warnung: Etwaige Bildersuchen können zu akutem Fernweh führen).

Was Simeon in diesen sechs Wochen erlebte, berührte ihn so tief, dass er der nordamerikanischen Pazifikküste zuerst einen Song („Shade Of A Giant“) und dann seine Debüt-EP widmete. Der Titel: „Pacific“. Was auch sonst.

Pacific“ besteht mit „All You Love“, „Slow, Sleep, Fall“ und dem besagten „Shade Of A Giant“ zwar nur aus drei Titeln. Doch erstens zeigt Simeon mit dem feinsinnigen Arrangement, der eingängigen Melodik und dem prägnant-atmosphärischen Indiefolk-Sound mit leichten elektronischen Einflüssen bereits jetzt, wo er musikalisch steht und wohin er will.

Und zweitens – vielleicht noch wichtiger – gelingt es ihm, mit diesen drei Titeln eine ihm ganz eigene Emotionalität herzustellen. Wie ein Pendel bewegt sie sich zwischen Melancholie und Zuversicht hin und her, wandert von Nachdenklichkeit zu Zerstreuung, immer ganz sanft und ohne wahrnehmbare Übergänge. Und ehe man sich versieht, schießen einem Assoziationen an das Jahr 2008 in den Kopf, als Bon Iver sich mit seinem legendären Debütalbum „For Emma, Forever Ago“ aufmachte, die Welt zu erobern. Fürwahr ein großer Vergleich, doch wir reden ja nur über Assoziationen. Time will tell.

Eines allerdings hat Simeon Loth dem Bon-Iver-Gründer Justin Vernon voraus: Der gebürtige Pforzheimer ist nicht nur Musiker, sondern auch Gitarrenbauer. In seiner „Backyard Guitars“ genannten Werkstatt in einem Neuköllner Hinterhof hatte er bereits etliche Gitarren berühmter Bands auf seiner Werkbank (das Namedropping überlassen wir seiner Website).

Im Körnerpark wenige Gehminuten entfernt haben wir ihn zum ausführlichen Interview getroffen – an einem Samstagnachmittag, als das Wetter noch nicht so war, dass man es verfluchen wollte. Aber dafür das Fernweh nach einem Roadtrip auf dem Pacific Road Highway schon genauso groß.

»Bei einem Roadtrip geht es nicht darum, irgendwo anzukommen, sondern unterwegs zu sein.«

MYP Magazine:
Simeon, uns ist es trotz intensiven Googelns nicht gelungen, Dein Alias aa–legrand zu entschlüsseln. Was steckt hinter diesem Künstlernamen?

Simeon:
Der Begriff aa–legrand ist weniger ein Name, sondern vielmehr ein Motto, das die Absicht meiner Musik verbildlichen soll: Das a steht als erster Buchstabe des Alphabets für einen Anfang, der Bindestrich symbolisiert einen Weg und legrand steht für das Ziel, von dem ich selbst noch nicht weiß, was es ist. Hoffentlich etwas Großes. Auf jeden Fall aber etwas Unbekanntes.

MYP Magazine:
Zu diesem Weg passt auch folgender Satz, der uns immer wieder auf Deinen Social-Media-Kanälen begegnet: „aa–legrand is creating music for a road trip.“ Welche Kriterien muss Musik für Dich erfüllen, damit sie eines Roadtrips würdig ist?

Simeon:
Bei einem Roadtrip geht es nicht darum, irgendwo anzukommen, sondern unterwegs zu sein. Wichtig ist das, was auf der Reise passiert. Die Musik, die mich persönlich dabei begleitet, muss meine Gedanken und Gefühle auf einem bestimmten Punkt des Weges repräsentieren können. Außerdem muss sie eine Art Sehnsucht wecken. Und sie muss eine Klangwelt konstruieren, die mich sofort mitnimmt und neugierig macht auf das, was da akustisch passiert.

»Künstler sein war für mich immer etwas, das sehr weit entfernt von mir war.«

MYP Magazine:
2015 hast Du dich auf einen ausgedehnten Roadtrip entlang der nordamerikanischen Westküste begeben. Was hat Dich an diesem Fleckchen Erde so fasziniert, dass Du ihm mit „Shade Of A Giant“ gleich einen ganzen Song gewidmet hast?

Simeon:
Natur hatte immer schon eine große Anziehungskraft auf mich und ist seit meiner Kindheit ein Sehnsuchtsort. Aus diesem Grund habe ich mich damals auch auf den Weg nach Kanada und in die USA gemacht, wo ich drei Monate lang diverse Nationalparks abgefahren bin, im Auto geschlafen habe und das alles einfach auf mich wirken lassen wollte. Die Natur dort ist wirklich beeindruckend und hat mich regelrecht umgehauen. Ich vermute mal, dass ich nicht der Einzige bin, der sich dort vollkommen überwältigt gefühlt hat. In „Shade Of A Giant“ geht es konkret um die Magie des Redwood National Park in Nordkalifornien – außerdem beschreibt der Song für mich eine Art Wendepunkt.

MYP Magazine:
Inwiefern?

Simeon:
Ich habe mich auf dieser Reise zum ersten Mal mit der Geschichte der indigenen Völker Nordamerikas befasst, die in Kanada First Nations genannt werden. Ich weiß noch, wie ich ein paar Wochen nach meiner Ankunft im Museum für Anthropologie in Vancouver stand und mir eine Ausstellung über die Kwakwaka’wakw, Haida und Coast Salish angesehen habe. Das, was wir heute als Kunst und auch als deren Kunst wahrnehmen, wirkte auf mich eher wie ein Handwerk an Alltagsgegenständen, etwa wenn die Menschen beispielsweise ihre Schalen und Truhen, aber auch rituelle Gegenstände verzierten – also etwas sehr Praktisches und Nahes.
Das hat meine Sicht auf Kunst sehr verändert. Ich habe gemerkt: Kunst ist nichts, was man nur machen kann, wem man in einem entrückten Zustand ist. Kunst ist vielmehr etwas Alltägliches, was man einfach so tut, weil es ganz natürlich aus einem herauskommt.
Das klingt für andere vielleicht selbstverständlich. Aber da ich nicht aus einem superkreativen Elternhaus komme, war Künstler sein für mich immer etwas, das sehr weit entfernt von mir war. Zu checken, dass das gar nicht weit weg sein muss, sondern dass ich das aus mir heraus machen kann, nur mit dem, was ich habe, hat meine Sicht auch auf mich selbst total verändert. Plötzlich hatte ich das Gefühl, ganz neue Möglichkeiten zu haben. Das habe ich als eine große Wendung in meinem Leben empfunden.

»In Nordamerika war alles groß und weit und hell – ganz im Gegensatz zu Berlin.«

MYP Magazine:
Wie ist der Song dann konkret entstanden?

Simeon:
Als ich von meinem Roadtrip nach Berlin zurückkam, wusste nicht, was ich mit meinem Leben anfangen sollte. Ich hatte diesen typischen Berlin-Struggle mit Zwischenmiete und so weiter und saß dann vorübergehend in einem fremden, gammligen WG-Zimmer fest. Draußen baute sich gerade der Berliner Winter auf. Und so kauerte ich mit meiner Gitarre in der Hand unter schummrigen Licht auf meinem Bett und probierte ein bisschen herum. Plötzlich hatte ich dieses Riff, dieses Fingerpicking Pattern! In meinem Leben gibt es eigentlich selten diese Momente, in denen ich mich wirklich inspiriert fühle, aber in diesem Augenblick war mir irgendwie total klar, was da musikalisch passieren sollte.
Dieses Picking Pattern gab mir ein Gefühl, das mich nach vorne pushte. Ein Gefühl, das ich unbedingt auffangen wollte, weil es mich an meine Zeit im Sommer in Nordamerika erinnerte. Dort war alles groß und weit und hell – ganz im Gegensatz zu Berlin: Da war alles klein und eng und dunkel. So habe ich den Song geschrieben als ein Andenken – um dieser Erinnerung ein Denkmal zu setzen und sie für mich als Fixpunkt zu verankern.

»Es gibt im Musikgeschäft den Hype, dass man damit anfangen muss, solange man jung ist.«

MYP Magazine:
Fertiggestellt und veröffentlicht hast Du „Shade Of A Giant“ erst etliche Jahre später, im Juli 2022. Welche Bedeutung hat Zeit für Dich – privat wie auch in Deiner Musik?

Simeon:
Ja, tatsächlich liegen ein paar Jahre zwischen den ersten Songskizzen und der Veröffentlichung. Das hängt vor allem daran, dass ich meiner Musik lange nicht so viel Zeit und Aufmerksamkeit widmen konnte, wie ich wollte – und ich auch nie das Geld hatte, um mein Zeug von anderen Leuten produzieren zu lassen.
Durch das Recording von „Shade Of A Giant“ habe ich mich zum ersten Mal mit Musikproduktion auseinandergesetzt. Ich habe angefangen, mit Logic zu experimentieren, hatte mehrere Versionen des Songs auf meinem Computer, und ich weiß noch genau, dass es der 1. Mai 2019 war, als ich endlich eine Version aufgenommen hatte, bei der es klick machte. Am Tag der Arbeit!
Es gibt ja im Musikgeschäft den Hype, dass man damit anfangen muss, solange man jung ist. Diese Zeit ist aber bei mir schon vorbei, daher muss ich mein eigenes Tempo gehen. Und wenn zwischen dem ersten Schreiben und der Veröffentlichung so viel Zeit vergeht, dann ist mein Ziel jetzt, dass diese Zeit kürzer wird.

MYP Magazine:
Und, gelingt Dir das?

Simeon: (lächelt)
Slow, Sleep, Fall“ zum Beispiel ist innerhalb einer halben Stunde entstanden. Ich war irgendwo in Berlin auf dem Rad unterwegs, hatte plötzlich einen Text im Kopf und wusste, wie das Ganze klingen soll. Dann bin ich schnell nach Hause geradelt und habe versucht, das auf der Gitarre nachzuspielen. Und 30 Minuten später war der Song da.

»In der Musik kann man sich die Welt nach seinen Ideen konstruieren.«

MYP Magazine:
Apropos Zeit. In einem Interview mit Soundbetter sagst Du: „It took me quite a long time to gather enough courage to work in music. And ever since I made that decision I feel like I am becoming a better version of myself.“ Was hat Dich so lange zurückgehalten?

Simeon:
Dafür gibt es sehr, sehr viele Gründe. Man hat im Leben immer Stimmen um einen herum, die einem einreden, dass das nicht funktionieren würde. Die Menschen, die einem so etwas sagen, haben für sich eine klare Vorstellung davon, wie es auszusehen hat, wenn man in der Musik arbeitet. Aber letztendlich ist dieses Feld so groß und weit, dass man dort wirklich alles machen kann, was man möchte. Es gibt ja keine wirkliche Vorgabe, man kann sich die Welt nach seinen Ideen konstruieren. Ich habe lange gebraucht, mich von diesen Stimmen zu emanzipieren. Ich hasse diesen Ausdruck eigentlich, aber seit ich die Entscheidung getroffen habe, merke ich, dass ich endlich ich bin und mich nicht mehr verbiegen muss. Natürlich gehen mit dieser Entscheidung auch eine Reihe neuer Probleme einher, aber zumindest habe ich das Gefühl, dass sich die Dinge seither entwickeln, in Bewegung sind und ich das alles irgendwie in eine Richtung lenken kann, die ich für richtig halte. Für mich ist das eine Form von Selbstermächtigung.

»In der Rockmusik ging es erst mal nicht darum, wie es am Ende klingt, sondern was es mit den Menschen macht.«

MYP Magazine:
Als Teenager hast Du fast ausschließlich 60s Blues und Rock gehört. Ist es für Dich ein Widerspruch, heute selbst eine ganz andere Art von Musik zu machen als die, die Dich sozialisiert hat?

Simeon:
Ich weiß, genremäßig ist meine Musik eine ganz andere Baustelle. Und dazu ist sie auch noch sehr mellow. Aber ich sehe das gar nicht so als Widerspruch. Denn erstens versuche ich mehr und mehr, auch die Energie von Rock in meine Musik einfließen zu lassen. Und zweitens war es der Anspruch von Rockmusik in ihren Ursprüngen, abseits von ausgetretenen Pfaden neue Wege zu gehen und etwas Neues zu kreieren. Da ging es erst mal nicht darum, wie es am Ende klingt, sondern was es mit den Menschen macht. Genau dieses Ziel habe ich auch mit meiner Musik: am Ende etwas vollkommen Neues zu schaffen – mit einem Sound, der mein ganz eigener ist.

»Ich hatte das dringende Bedürfnis, jede einzelne Schraube erst raus- und dann wieder reinzudrehen.«

MYP Magazine:
Bevor Du angefangen hast, mit Deiner eigenen Gitarre Songs zu schreiben, hast Du lange Zeit die Gitarren anderer Musiker:innen repariert, und zwar im professionellen Stil. Wie bist Du zu diesem Job gekommen?

Simeon:
Gitarrenbau hat mich schon immer interessiert, auch weil ich aus einer Handwerkerfamilie stamme. Mein Großvater zum Beispiel war Uhrmacher. Als ich meine erste E-Gitarre hatte, saß ich bei ihm in der Werkstatt und wir fingen an, an meiner Gitarre rumzulöten. Ich hatte das dringende Bedürfnis, jede einzelne Schraube erst raus- und dann wieder reinzudrehen. Irgendwann mal, als ich als Student einen neuen Nebenjob brauchte, bin ich hier in Berlin auf einen Gitarrenladen gestoßen, wo Leute für das Reparaturgeschäft gesucht wurden. Ich habe mich beworben, wurde genommen und so fing es an.
Ein paar Jahre später habe ich mir dann eine eigene Werkstatt für Gitarrenreparatur und Service aufgebaut. Auch da konnte ich glücklicherweise auf meine Familie zurückgreifen. Meine Eltern hatten auf dem Dachboden noch eine hundert Jahre alte Werkbank rumstehen, die ich nur abholen musste.

»In anderen Bands und Konstellationen sehe ich mich eher als Handwerker.«

MYP Magazine:
Beeinflusst Deine handwerkliche Arbeit an dem Instrument auch Deine künstlerische?

Simeon:
Ich würde eher sagen, dass es in den Prozessen gewisse Parallelen gibt. Etwa den Grundsatz, dass man von grob zu fein arbeitet. Oder den Prozess in verschiedene Kapitel unterteilt, um eine gewisse Klarheit sowie einen Flow zu erreichen. Das kann ich eher vom Handwerk in die Musik übertragen als andersherum.
Daneben ist es so, dass ich auch in anderen Bands und Konstellationen Musik mache. Dort sehe ich mich selbst eher als Handwerker, der eine Fähigkeit anbietet und mit einem ganz klaren Rezept durchzieht – ganz im Gegensatz zu meiner eigenen Musik, wo ich versuche, meinen eigenen Weg zu finden.

»Radiohead ist der Spiegel, in dem ich mich anders sehe.«

MYP Magazine:
Du bist ein riesiger Radiohead-Fan. Was genau packt Dich so an der Musik?

Simeon:
Radiohead steht für mich für etwas grundlegend Neues, das es vorher in der Form nicht gab. Das meine ich nicht nur in Bezug auf die vielen neuen Technologien, mit denen die Band immer schon experimentiert hat. Ihre Musik löst etwas in mir aus, das ich vorher noch nicht kannte. Radiohead ist der Spiegel, in dem ich mich anders sehe. Ich fange an, mich mit anderen Themen auseinanderzusetzen oder Dinge neu zu denken. Und abgesehen davon haben sie natürlich richtig geile Songs.

MYP Magazine:
Wir haben ganz am Anfang über den Roadtrip-Gedanken Deiner Musik gesprochen, mit dem wir das Interview auch beenden möchten: Wie müsste für Dich die perfekte Strecke zu Deinen Songs aussehen?

Simeon:
Ich hoffe, dass meine Musik so offen gestaltet ist, dass sie zu vielen verschiedenen Landschaften passt. Und ich hoffe, dass die äußere Reise auch eine innere Reise auslöst. Dass die Songs etwas mit den Leuten machen. Aber überhaupt im Auto zu sitzen und zu rollen, ist schon mal eine gute Sache.


Betterov

Interview — Betterov

»Ich gebe mir große Mühe, unkonventionelle Musik zu machen«

Mit seinem Debütalbum »Olympia« hat Betterov vor Kurzem eine Platte vorgestellt, die einem gleich aus mehreren Gründen ans Herz wachsen kann. Einer davon ist die Intimität, Dringlichkeit und Eloquenz der Texte, in denen der Singer-Songwriter etwa das Wort Olympia als Metapher für den absoluten Tiefpunkt wählt. Wenige Tage nach Veröffentlichung des Albums haben wir Betterov zum Interview getroffen. Ein Gespräch über Heimat, Ausgrenzung, Bruce Springsteen und 47 Sekunden, die das Leben verändern können. Oder eben nicht.

25. November 2022 — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotografie: Maximilian König

Es gibt wirklich vieles, was einen Menschen im Laufe seines Lebens prägt: die Leute, unter denen er aufwächst; die Orte, an denen er lebt; die Sehnsüchte, die ihn befallen; und manchmal auch ganz banale Widrigkeiten – wie etwa ein kaputtes Autoradio.

So jedenfalls war es im jungen Leben des Manuel Bittorf, den man im musikalischen Kosmos eher unter dem Namen Betterov kennt. Manuels Vater, der schon immer ein großer Bruce-Springsteen-Fan war, hörte in seinem Auto auf Kassette am liebsten dessen „Greatest Hits“-Album von 1995. Doch irgendwann streikte der Auswurf des Radios und die Kassette steckte fest. Von da an gab es in Papas Wagen nur noch zwei akustische Optionen: entweder keine Musik oder „The Boss“ in Endlosschleife.

Ob Manuel ohne die größten Hits von Bruce Springsteen trotzdem Musiker geworden wäre, darüber lässt sich spekulieren. Immerhin hat er ihn maßgeblich inspiriert – allerdings nicht zu seinem Künstlernamen Betterov. Der geht zurück auf eine Nebenfigur in der „Olsenbande“, einer 14-teiligen Filmreihe dänischer Gaunerkomödien, die vor allem im Osten Deutschlands sehr beliebt war.

Aufgewachsen ist der heute 27-Jährige in einem beschaulichen Dorf in Thüringen – mit einer Population, die eher drei- als vierstellig ist. In einem Interview mit den Kolleg:innen von Diffus erzählte er vor nicht allzu langer Zeit, er habe als Kind und Jugendlicher immer das Gefühl gehabt, ein bisschen anders zu sein. Nachvollziehbar also, dass es ihn mit 17 immer öfter zum Landestheater in Eisenach zog, auch wenn die Fahrt dorthin mit dem ÖPNV immer eine halbe Weltreise war. An der Eisenacher Bühne, wo er bald mitarbeiten und sogar ein wenig Musik beitragen durfte, entdeckte er nicht nur eine völlig neue Welt, sondern auch einen gänzlich anderen Menschenschlag als den, den er bis dahin kannte.

Ende 2015, wenige Monate vor seinem 21. Geburtstag, verschlug es Manuel nach Berlin, wo er sich für ein Schauspielstudium an der Universität der Künste bewarb und angenommen wurde. In derselben Zeit fing er auch an, aktiv Musik zu machen und eigene Songs zu schreiben.

Bis zu seinem allerersten Album sollte es aber noch eine ganze Weile dauern, genauer gesagt bis zum 14. Oktober 2022. Da erschien mit „Olympia“ eine Platte, die einem gleich aus mehreren Gründen ans Herz wachsen kann. Da wäre etwa der stark von der Gitarre geprägte und sich oft hymnisch emporschwingende Sound, der eine Präsenz hat wie eine zweite Gesangsstimme. Oder die ungefilterte Nahbarkeit und Authentizität des Arrangements, das einen ziemlich schnell wissen lässt, was es von digital-modernistischem Schnickschnack hält. Oder überhaupt die Intimität, Dringlichkeit und Eloquenz der Texte, bei denen man nicht weiß, ob sie mehr über Betterov verraten oder über einen selbst.

Wenige Tage nach der Veröffentlichung seines neuen Albums haben wir Betterov zu einem ausführlichen Interview getroffen.

»Das, was in dem Hut landete, haben meine Band und ich gleich wieder in der Kneipe gelassen.«

MYP Magazine:
Du hast vor gut sieben Jahren angefangen, Musik zu machen. Gibt es einen bestimmten Grund, warum Du dir mit der Veröffentlichung Deines Debütalbums so viel Zeit gelassen hast?

Betterov:
So wahnsinnig viel Zeit habe ich mir nicht gelassen – der Weg dahin war einfach recht lang. „Vor sieben Jahren angefangen“ bedeutet in meinem Fall, dass ich mich damals zu Hause ans Klavier gesetzt und mir erst mal einige grundsätzliche Fragen gestellt habe: Was interessiert mich? Was finde ich schön? Was könnte überhaupt Musik sein, die ich machen will?
Bis zu meinem ersten richtigen Auftritt hat es ganze zwei Jahre gedauert. Das Konzert fand damals im Hangar 49 in Berlin statt, einem Club an der Spree. Ich weiß gar nicht, ob es den heute noch gibt. Danach habe ich immer in Kneipen gespielt, jedes Mal vor gefühlt fünf Leuten. Im Anschluss ging dann ein Hut rum – und das, was in dem Hut landete, haben meine Band und ich gleich wieder in der Kneipe gelassen. So ging das eine ganze Weile.
Erst als ich 2019 durch eine Förderung der Popakademie meine erste EP landen konnte, kam ich so langsam in die Situation, dass ich hauptberuflich Musik machen und davon leben konnte. Und von dem Zeitpunkt an gerechnet sind drei Jahre bis zum ersten Album gar nicht so viel.

»Olympia war für mich das ultimative Bild für eine Phase des persönlichen Tiefpunkts.«

MYP Magazine:
Warum hast Du dich für den Song „Olympia“ als Namensgeber für Dein Debütalbum entschieden?

Betterov:
Das Album dreht sich vor allem darum, wie man sich selbst und seine Umwelt wahrnimmt – aber es geht auch ganz allgemein um sehr schwere Zeiten, die man durchlebt. Der Song „Olympia“ beschreibt den Tiefpunkt einer solchen schlechten Phase, in der man nur noch zu Hause liegt, nichts mehr machen kann und in so einer Youtube-Bubble festhängt, in der man sich im Autoplay-Modus unzählige Videos reinzieht und dabei wahnsinnig gelähmt fühlt. Irgendwann landet man bei Sport-Videos, in denen man dabei zusehen kann, wie jemand in 47 Sekunden 100 Meter schwimmt, Sportgeschichte schreibt und damit sein ganzes Leben verändert – während man selbst seit vier Stunden nichts anderes macht, als regungslos auf den Bildschirm zu starren und nichts mehr auf die Reihe bekommt.

MYP Magazine:
Was für eine Diskrepanz!

Betterov:
Exakt. Diese Diskrepanz ist für mich das ultimative Bild für eine Phase des persönlichen Tiefpunkts und ein Ausdruck dessen, wie sich die ganze Welt in dieser Zeit für mich anfühlte. Das Thema Sport in Gestalt der olympischen Spiele erschien mir als die perfekte Übersetzung dafür. Olympia kann einen riesigen Triumpf bedeuten. Es kann einen Menschen mit Glück überschütten. Olympia kann aber auch wahnsinnig wehtun und einen niederreißen – je nach persönlicher Perspektive. In diesem Thema steckt für mich also eine ganze Menge drin. Und es ist eine passende Allegorie auf das, was ich in den Songs erzähle. Daher trägt auch das Album den Namen „Olympia“. Die höchste Spitze als Metapher für den absoluten Tiefpunkt.

»Wenn ein Mensch aus seinem normalen Leben gerissen und in den Krieg gezwungen wird, ist das ein absolut furchtbares Schicksal.«

MYP Magazine:
Im Song „Dussmann“ geht es unter anderem um den deutschen Mittelstreckenläufer Rudolf Harbig, der bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin bei der 4-mal-400-Meter-Staffel die Bronzemedaille gewann. Nach seiner Einberufung zur Wehrmacht in den 1940er Jahren konnte er seine Karriere als Spitzensportler nicht mehr weiterverfolgen. Dieses Schicksal ist gerade heute wieder aktueller denn je, wenn man etwa auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine schaut. Welche Gefühle löst es in Dir aus, wenn es zu einem Song von Dir plötzlich eine inhaltliche Parallele gibt, von der Du noch gar nichts wissen konntest, als Du ihn geschrieben hast?

Betterov:
Ich muss gestehen, dass ich diese explizite Parallele noch nicht gezogen habe. Daher ist es gerade auch etwas schwer für mich, darauf eine Antwort zu finden. Grundsätzlich beschäftigt es mich aber sehr, was in der Ukraine passiert. Und wenn ein Mensch aus seinem normalen Leben gerissen und in den Krieg gezwungen wird, ist das ein absolut furchtbares Schicksal. Ich wünschte, das alles würde nicht passieren.

»Ich bin mir sicher, dass meine Musik anders klingen würde, wenn ich irgendwo anders leben würde.«

MYP Magazine:
Ende 2015 bist Du nach Berlin gezogen. Da war der Song „Ich will nicht nach Berlin“ von Kraftklub schon drei Jahre draußen. Hat Dich das nicht abgeschreckt?

Betterov: (lacht)
Wirklich guter Song! Ich hab’s aber trotzdem gewagt.

MYP Magazine:
Was hat dieser neue Lebensmittelpunkt seitdem mit Dir und Deiner Musik gemacht?

Betterov:
In erster Linie hat mir Berlin sehr viele neue Möglichkeiten eröffnet. Ich konnte hier mit meiner Musik vor Menschen auftreten, erste Bühnenerfahrungen sammeln und viele, viele Konzerte von anderen Künstler:innen anschauen. Ich habe hier Schauspiel studiert und wahnsinnig viel erlebt. Alles in allem habe ich Berlin unendlich viel zu verdanken und bin immer noch sehr gerne hier. Ich finde ohnehin, dass der Ort, an dem man lebt, sehr die Musik beeinflusst, die man schreibt. Ich bin mir sicher, dass meine Musik anders klingen würde, wenn ich irgendwo anders leben würde – zum Beispiel da, wo ich herkomme.

»Leute, die sich auf eine Bühne stellen, sind immer in einer gewissen Weise extrovertiert.«

MYP Magazine:
Welche Rolle hat das Schauspielstudium bei Deiner Entwicklung als Musiker gespielt? Hat es Dich zu einer extrovertierteren Person gemacht und damit für die Bühne gewappnet?

Betterov:
Leute, die sich auf eine Bühne stellen, sind immer in einer gewissen Weise extrovertiert. Und dazu würde ich auch mich zählen. Inwiefern das durch mein Studium zusätzlich beeinflusst wurde, weiß ich nicht. Ich habe dort in erster Linie sehr viel gelernt. Natürlich entwickelt man sich im Laufe seines Lebens immer weiter, aber ich glaube, ich bin in Bezug auf meine Persönlichkeit schon noch derselbe geblieben.

»Mir ist klargeworden, dass Heimat ein Recht sein sollte, aber leider ein Privileg ist.«

MYP Magazine:
In Deinem Song „Das Tor geht auf“ aus dem Jahr 2020 singst Du: Hier ist kein Platz für mich, hier ist mein Zuhause. Auch wenn das Lied nicht Teil Deines neuen Albums ist, setzt Du dich auch auf „Olympia“ immer wieder mit der Suche nach Zugehörigkeit und Identität auseinander. Welche Bedeutung hat der Begriff Heimat für Dich?

Betterov:
Für mich persönlich stand das Wort Heimat jahrelang für den Ort, an dem ich geboren wurde, aufgewachsen bin und die meiste Zeit meines Lebens verbracht habe. Das ist noch heute so, würde ich sagen, obwohl Berlin mittlerweile auch zu meiner Heimat geworden ist.
Im übergeordneten Sinne ist Heimat für mich allerdings ein sehr schwieriger Begriff, nicht zuletzt wegen seiner Herkunft. Meines Wissens tauchte er zum ersten Mal im 19. Jahrhundert auf, als Deutschland noch in viele Kleinstaaten zerklüftet war und man versuchte, diese zu einen. Gerade war das Rennen um die Vorherrschaft in der Welt gestartet und man stellte fest, dass man mit den anderen Staaten nur mithalten konnte, wenn man sich als Volk unter einer gemeinsamen Identität versammelte – und die anderen als gemeinsamen Feind betrachtete. Das gelang unter anderem über den Heimat-Begriff, daher fand ich persönlich das Wort immer etwas problematisch. Mir ist zum Beispiel klargeworden, dass es überhaupt nicht selbstverständlich ist, eine Heimat zu haben; dass Heimat ein Recht sein sollte, aber leider ein Privileg ist.

»Ich hatte immer das Gefühl, dass die Gesellschaft etwas ganz Bestimmtes von mir will, dem ich nicht entsprechen kann.«

MYP Magazine:
In einem Interview mit den Kolleg:innen von Diffus sagst Du: „Ich habe immer schon so ein bisschen das Gefühl gehabt, dass ich anders bin.“ Darum geht es unter anderem auch in Deinem Song „Die Leute und ich“. Kannst Du dieses Gefühl des Andersseins konkreter beschreiben?

Betterov:
Ich glaube, dass jede:r Künstler:in irgendwann im Leben eine Form von Ausgrenzung erfährt. Dazu kann man so gut wie jede Biografie durchblättern, von Joni Mitchell über Bob Dylan und Bruce Springsteen bis zu Frida Kahlo. Der Grad der Ausgrenzung war bei mir zwar nicht so stark ausgeprägt wie bei anderen. Trotzdem hatte ich immer das Gefühl, dass mich die Dinge, für die ich mich interessiere, ein bisschen aus der Gesellschaft hinaustreiben. Und dass die Gesellschaft etwas ganz Bestimmtes von mir will, dem ich nicht entsprechen kann – etwa, was feste und geordnete Strukturen angeht.

Aus diesem Grund kommen ja auch so viele Leute nach Berlin, weil es hier diese Strukturen nicht gibt, zumindest nicht in der engen Form. In Berlin kann man sich sein Leben so bauen, dass man sich freier entfalten kann als anderswo und dabei nicht zu stark unter Beobachtung ist. Das macht Berlin auch so schön: dass diese ganzen Menschen, die woanders nicht reinpassen, hierherkommen und den Kern der Stadt maßgeblich prägen.
Um all das geht es auch in „Die Leute und ich“. Da gibt es eine bestimmte Gesellschaft mit bestimmten Regeln, in die man selbst einfach nicht reinpassen will. Doch um irgendwie existieren zu können, muss man versuchen mitzuschwimmen und damit klarzukommen. Das betrifft übrigens nicht nur Künstler:innen, man kennt das auch aus vielen anderen Kontexten.

»Das meiste Leben auf dem Land spielt sich draußen in der Natur ab.«

MYP Magazine:
Im Song „Böller aus Polen“ heißt es im Refrain: Von allen Orten, die es gibt auf der Welt / Bin ich ausgerechnet hier gebor’n. Verfolgt Dich die Frage, was aus Dir geworden wäre, wenn Du an einem anderen Ort aufgewachsen wärst? Empfindest Du in Bezug auf Deine Herkunft eine gewisse Bitterkeit?

Betterov:
Nein, gar nicht. „Böller aus Polen“ ist nicht autobiografisch, ich meine damit nicht meinen Heimatort. Die ganze Szenerie ist eher fiktiv. Es geht in dem Song darum, dass man selbst ein großes Minderwertigkeitsgefühl mit sich schleppt, aber dann eine andere Person trifft, die einem vom Gegenteil überzeugt und ein bisschen aus dem ganzen Schlamassel befreit.

MYP Magazine:
Welche positiven Erinnerungen hast Du an Dein Aufwachsen im ländlichen Thüringen? Welche Eigenschaften und Persönlichkeitsmerkmale an Dir verbindest Du mit Deiner Heimat?

Betterov:
Bitte nicht falsch verstehen: Ich bin total dankbar, dort aufgewachsen zu sein. Meine Kindheit und Jugend waren superschön. Und das Aufwachsen dort hat mich auf jeden Fall auch klüger gemacht – auch, weil ich von klein auf einen großen Naturbezug hatte. Das meiste Leben auf dem Land spielt sich ohnehin draußen in der Natur ab. Zu dieser besonderen Umgebung hat man immer eine sehr starke Verbindung. Daher war auch meine erste Wohnung in Berlin direkt am Grunewald – weil das für mich eine gute Hybridzone zwischen Stadt und Natur war.

»Es gibt in meiner Heimat viele Menschen, die sehr glücklich sind.«

MYP Magazine:
Seine Heimat zu verlassen und beispielsweise vom Land in die große Stadt zu ziehen, ist für viele Menschen mit starken Emotionen verbunden. Während die einen eine große Befreiung und Erleichterung verspüren, empfinden die anderen Trauer oder sogar Scham, weil sie das Gefühl haben, enge Freunde oder Familienmitglieder zurückgelassen zu haben. Welche Reaktionen erhältst Du auf Deine Musik?

Betterov:
Ich bin immer wieder erstaunt, wie viele Menschen eine emotionale Verbindung zu meinen Liedern haben. Das merke ich etwa, wenn ich nach Konzerten am Merch-Stand stehe und dort mit Leuten ins Gespräch komme, die davon erzählen, wie sehr sie sich mit ihren persönlichen Themen und Biografien in meinen Songs wiederfinden.

MYP Magazine:
Viele von denen, die aus der Provinz nach Berlin geflohen sind, leben nach dem Motto „Großstadt hui, Dorf pfui“. Bist Du als Wahlberliner auch ein bisschen anfällig für solche Sprüche?

Betterov:
Nein, überhaupt nicht. Ich persönlich habe einfach das Gefühl, dass die Menschen, mit denen ich aufgewachsen bin und die noch auf dem Land leben, etwas anderes vom Leben wollten als ich, und das meine ich nicht wertend. Da ging es etwa um das Ziel, eine Familie zu gründen, ein Haus zu bauen oder einen Garten zu haben. Die meisten von ihnen haben das alles auch schon erreicht – im Gegensatz zu mir. Außerdem erlebe ich die Leute, die da nach wie vor dort leben, nicht als unzufrieden. Es gibt in meiner Heimat viele Menschen, die sehr glücklich sind.

»Springsteen war für mich ein großer Erweckungsmoment.«

MYP Magazine:
Du bist unter anderem mit der Musik von Bruce Springsteen aufgewachsen, den Du sehr verehrst. Damit hast Du etwas mit Deinem Kollegen Sam Fender gemeinsam, der uns mal im Interview verraten hat: „Wenn Bruce Springsteen über seine eigene Stadt singt, klingt es für mich, als würde er über meine sprechen.“ Ging es Dir da als Jugendlicher ähnlich?

Betterov:
Absolut! Ich wusste sofort, was er in seinen Texten meint und woher das alles kommt. Die sozio-ökonomischen Strukturen, in denen er aufgewachsen ist, scheinen denen in meiner Heimat sehr ähnlich zu sein – etwa in Bezug auf die eine große Industrie, die die ganze Region ernährt. Bei ihm war das die Autoindustrie, bei mir der Bergbau. Zwar geht es den Leuten bei uns noch verhältnismäßig gut, aber wenn diese Industrie irgendwann mal platt gemacht wird oder nicht mehr funktioniert, erleben wir garantiert Zustände, wie sie Hendrik Bolz in seinem Buch „Nullerjahre“ beschreibt. Da bin ich mir sehr, sehr sicher.

MYP Magazine:
Deine Musik ist stark geprägt von der Gitarre, die oft sehr hymnisch klingt und eine Präsenz wie eine zweite Stimme hat. Hast Du von Bruce Springsteen gelernt, dass der Sound und die Lyrics eine gewisse Dringlichkeit brauchen, wenn man Musik machen will, die bleibt?

Betterov:
Ja, habe ich. Überhaupt war Springsteen für mich ein großer Erweckungsmoment. Wenn man sich beispielsweise „The River“ anhört, ist das eigentlich eine Kurzgeschichte, die fast nichts mehr mit einem klassischen Song zu tun hat. Irre, was da thematisch alles verhandelt wird! Aber trotz der riesigen Geschichte, die er da erzählt, gibt es da diesen eingängigen, wiederkehrenden Chorus, der die Story in eine Songstruktur überführt. So etwas finde ich extrem beeindruckend. Und es hat mich ganz sicher in der Art und Weise beeinflusst, wie meine Musik entsteht.

»Ich will niemanden langweilen.«

MYP Magazine:
Dein Sound klingt erfreulich authentisch, nahbar und ungefiltert, Du verzichtest bewusst auf digitalen Schnickschnack aller Art. Damit wirkt er wie ein Gegenentwurf zum mittlerweile inflationären Einsatz von Autotunes und Soundkonserven…

Betterov:
Ich gebe mir große Mühe, unkonventionelle Musik zu machen, und klopfe jeden Skizze fünfmal danach ab, ob es die Idee schon in irgendeiner Form gibt oder ob meinen musikalische Ansatz überhaupt einen ganzen Song wert ist. Außerdem versuche ich, mit meiner Musik etwas zu erzählen, was noch nicht erzählt wurde – ich will ja niemanden langweilen. Ich schätze, das kommt auch ein bisschen von meinem Studium. An der Schauspielschule wird man darauf getrimmt, Figuren zu entwerfen, die keine Stereotype sind und die man nicht schon achthundert Mal gesehen hat. Charaktere, die in der Lage sind, Faust, Mephisto oder Hamlet so darzustellen, dass es etwas Neues ist. Das ist ein Anspruch, den ich auch an meine Musik habe. Das gelingt mir manchmal mehr und manchmal weniger.

»Diese zwei Songs, das verspreche ich, sind so auf der Zwölf!«

MYP Magazine:
Wenn dieses Interview erscheint, ist der goldene Oktober längst in den schmuddeligen November übergegangen. Welche Musik begleitet Dich an einem schwierigen Novembertag? Vielleicht „Nebraska“ von Bruce Springsteen, das Lieblingsalbum von Sam Fender?

Betterov:
Ich habe so bestimmte Herbstlieder – also Songs, die ich nur im Herbst höre und die für mich ganz und gar auf diese Jahreszeit gemünzt sind. Das ist erstens „We Fell In Love In October“ von Girl In Red, was fast schon ein bisschen vorhersehbar ist. Und zweitens „Here I Dreamt I Was An Architect“ von The Decemberists. Ich habe nicht viele Musikempfehlungen für den Herbst, aber diese zwei Songs, das verspreche ich, sind so auf der Zwölf! Das sind so krasse Herbst-Songs, dass ich sie im Sommer nicht hören kann. Sollte mir einer der beiden Tracks mal zufällig zwischen die Ohren kommen, bevor der Herbst begonnen hat, klicke ich ihn sofort weg und weiß: Deine Zeit wird kommen, aber nicht jetzt.


Sportfreunde Stiller

Interview — Sportfreunde Stiller

»Wir freuen uns, dass wir wieder einen Umgang miteinander haben«

Mit ihrem neuen Album »Jeder nur ein X« melden sich die Sportfreunde Stiller nach vielen Jahren der Abstinenz zurück. Die lange Pause war selbst verordnet, denn die drei Musiker wollten erst mal getrennte Wege gehen. Doch wie das bei guten Freunden so ist, vermisst man sich irgendwann und macht mal wieder was zusammen. Im Fall der Sportis ist daraus gleich eine ganze Platte geworden, die nicht nur ziemlich gute Laune macht, sondern auch deutlich wacher und reflektierter wirkt als frühere Alben. Ein Interview über wildes Experimentieren, einen großen Bruder namens Ibrahimovic und 20 Jahre gemeinsam spielen, saufen und streiten.

11. November 2022 — Interview: Katharina Viktoria Weiß, Text: Jonas Meyer, Fotografie: Frederike van der Straeten

Wie misst man Freundschaft? In Jahren, in Erlebnissen, in Wellenlängen vielleicht? In durchzechten Nächten, in durchgrölten Fußballspielen, in gegenseitigen Patenschaften für den Nachwuchs? Oder einfach nur in der Fähigkeit, sich wieder anzunähern, zusammenzuraufen und in den Arm zu nehmen, wenn man sich für eine ganze Weile aus den Augen verloren hat?

Wenn das der Gradmesser für Freundschaft ist, muss die zwischen Peter Brugger, Florian „Flo“ Weber und Rüdiger „Rüde“ Linhof eine ganz besondere sein. Das Trio, das seit mehr als einem Vierteljahrhundert unter dem Namen Sportfreunde Stiller Deutschpop macht und sich mit Songs wie „Ein Kompliment“, „Applaus, Applaus“ oder „Wunderbaren Jahren“ in die Annalen der Musikgeschichte geschrieben hat, legte nach einem letzten Konzert im Juli 2017 erst mal eine Vollbremsung ein. Oder besser gesagt eine Notbremsung.

Im Podcast „Hotel Matze“ erzählt Peter von den ersten Minuten nach genau jenem Konzert. Alle drei seien nicht happy mit dem Auftritt gewesen und mit gemischten Gefühlen von der Bühne gegangen. Und als man sich gegenseitig in den Urlaub verabschieden wollte, sei das mehr ein Abschied ins Ungewisse gewesen. Er selbst habe dabei schon seit einiger Zeit das Gefühl gehabt, dass er eine Pause brauche. Die Stimmung sei nicht mehr die beste gewesen und der Flow nicht mehr wirklich existent.

Nach einem halben Jahr der Diskussion, wie eine gemeinsame Zukunft aussehen könne, drückte Peter den Exit-Knopf und zog sich ins Private zurück. Das sei ihm sichtlich schwergefallen und habe ihn fast zerrissen, sagt er, auch weil Flo und Rüde weitermachen wollten. Doch er selbst habe an sich den Anspruch gehabt, überhaupt etwas von seiner Familie zuhause mitzubekommen. Und so lag die Band erst mal auf Eis.

Doch wie das in guten Freundschaften so ist, findet man irgendwann wieder zueinander. Pack schlägt sich, Pack verträgt sich, könnte man böse unken – doch Peter, Flo und Rüde ließen es ganz behutsam angehen, näherten sich Stück für Stück wieder an und beschlossen, die Sportfreunde Stiller aus dem künstlichen Koma zu wecken.

Das Ergebnis dieser freundschaftlichen Wiedervereinigung ist das Album „Jeder nur ein X“, das die Band gerade veröffentlicht hat. Nach etlichen Jahren der Enthaltsamkeit klingt die Platte erstaunlich wach und energetisch. Ihr Sound schwingt sich mit einer gehörigen Portion guter Laune ins Ohr. Und die Texte wirken deutlich reflektierter und weiser als in früheren Werken, ohne dabei einen auf strengen Oberlehrer zu machen – eher auf sorgenden Papa.

Musikalisch ist „Jeder nur ein X“ eine wilde Reise durch die Genres. Hört man in dem einen Song deutliche Ska-Elemente heraus, wird man schon im nächsten Track in den Garage Rock der Nullerjahre zurückgeworfen und im übernächsten mit hymnischen Indiepop-Klängen umgarnt.

In einer Filiale des Berliner Herrenausstatters „Rooks & Rocks“ haben wir die Band zum Interview getroffen und – Spoiler Alert – sind mit unseren musikalischen Interpretationsversuchen krachend gescheitert. Spaß hatten wir trotzdem. Und wir glauben, die Sportis auch.

»Der Produzent hatte unser Okay zum wilden Experimentieren in alle Richtungen.«

MYP Magazine:
Eure neuen Songs sind stilistisch sehr verschieden. „Alright“ etwa kommt wie eine gerappte Ska-Nummer daher, bei „Ich scheiß auf schlechte Zeiten“ klingt Ihr wie eine amerikanische Garagenband. Und „Juunge“ erinnert mit seinen Upbeat-Indiepop-Vibes in bisschen an die Nullerjahre. Wir haben eine Hypothese: Ihr habt zuerst die Lyrics geschrieben und dann jeden Text genau mit dem Musikstil versehen, der am besten zum Inhalt passt.

Kollektives Lachen

Flo:
So läuft es eigentlich nie ab. Wir kommen viel schneller auf Instrumentalideen als auf gute Texte. Unserem Empfinden nach hatten wir aber schon immer ein breites Spektrum an musikalischen Stilen und haben uns stets viel erlaubt. Dieses Mal wirkt es vielleicht noch extremer als sonst, da wir mit einem sehr mutigen Produzenten namens Tobi Kuhn zusammengearbeitet haben, dem wir unser Okay zum wilden Experimentieren in alle Richtungen gegeben hatten. Wir alle waren der Meinung, dass uns nach der jahrelangen Pause eine Neuaufstellung ganz guttäte, was den Sound betrifft.

Peter:
Aus meiner Sicht zeigen wir mit dem neuen Album mal wieder, dass wir auch innerhalb der Band verschiedene Vorlieben haben. Ich bin eher so der Pop-Muckel. Flo will es gerne griffig und rockig. Und Rüde ist lost in the 70s, aber mit einer brutalen Offenheit für alles Neue.

Rüde:
Wir wollten bewusst einen Schritt nach vorn machen und uns mit aktuellen Sounds auseinandersetzten. Die Platte sollte modern klingen, gleichzeitig aber auch verspielt bleiben.

»Das ist doch das Schöne an Musik: dass sich jeder das herausnimmt, was seine aktuellen Lebensfragen am besten begleitet.«

MYP Magazine:
Bleiben wir beim Song „Juunge“, der einerseits mit dem für die Nullerjahre so typischen, energiegeladenen Garagensound spielt, andererseits aber in den Lyrics Fragen aufwirft, die aktueller nicht sein könnten, wie etwa Wen oder was liebst du gerade? oder Woran glaubst Du? Dazu fragt der Refrain immer wieder: Bist du immer noch mein Junge? Wer fragt hier eigentlich wen?

Peter:
Dazu gibt es folgende Anekdote: Der Sohn unseres Produzenten postete ein Video, das zeigt, wie er zum ersten Mal einen Backflip mit einem Mountainbike macht. Sein Kumpel feiert ihn dabei mit den Worten (spricht mit langgezogener Stimme): „Du bist eine Juuuuunge!“. Dieser humorvolle Moment hat uns total begeistert und dazu inspiriert, selbst mal herumzuspinnen, was der Begriff „Junge“ für uns eigentlich bedeuten kann. Einige Ersthörer haben uns das Feedback gegeben, dass es bei dem Lied nach ihrem Verständnis um eine Eltern-Kind-Beziehung geht. Aber wir dachten beim Schreiben eher an Kumpels, die ihre erste Lebensphase miteinander bestritten haben und sich nun aus den Augen verlieren. Dabei taucht die Frage auf: „Mensch, wo hat es dich im Leben eigentlich hin verschlagen? Ich habe beste Erinnerungen an dich, wollen wir daran anknüpfen?“

Rüde:
Trotzdem ist es schön zu hören, dass es viele Interpretationsmöglichkeiten für die Zeilen gibt. Das ist doch das Schöne an Musik: dass sich jeder das herausnimmt, was seine aktuellen Lebensfragen am besten begleitet.

»Selbst, wenn man sich mal nicht findet, kann man sich gut finden.«

MYP Magazine:
Der Song „Alright“ dagegen wirkt so, als hättet Ihr ihn einer Person gewidmet, die Euch so richtig nervt. Liegen wir dieses Mal richtig?

Peter:
Ehrlich gesagt haben wir es das Lied weder mit bewusst genervtem oder kritischem Unterton eingesungen. Wir wollten eher einen Menschen beschreiben, der verschiedenste Seiten hat: Manchmal ist er ein Überflieger, manchmal muss er sich das Scheitern eingestehen. Das kenne ich auch von mir persönlich, ich bin immer am Suchen und Finden. So sehr man mit seinen unterschiedlichen Facetten kämpfen kann, am Ende ist es doch heilsam, das Fazit die allumfassende Selbstakzeptanz zu ziehen und seinen Weg zu gehen.

Flo:
Was er sagen will: Selbst, wenn man sich mal nicht findet, kann man sich gut finden.

Peter:
Ihr merkt schon: Es gibt einen Klugen. Und zwei, äh, andere.

»Ibrahimovic dient uns als Metapher für einen großen Bruder, der im Moment der Not zu Hilfe eilt.«

MYP Magazine:
Zu den Kabbeleien kommen wir später, vorher versuchen wir uns an einer letzten Song-Interpretation. In „Ibrahimovic“ könnte es um Menschen gehen, die sich gerne der Realität entziehen. Und das tun sie, indem sie ihr ganzes Leben auf den Fußball ausrichten – oder konkreter gesagt auf ein Sportidol wie Fußballstar Zlatan Ibrahimovic. Ist das Lied eine Kritik am Fantum?

Flo:
Total falsch interpretiert (schaut die anderen beiden an, alle lachen). Aber wir bleiben dabei: Jeder soll gerne das mitteilen, was er beim Hören der neuen Lieder denkt und fühlt. Denn auch ich komme gerade auf Perspektiven, an die ich zuvor noch gar nicht gedacht habe. Allerdings dient uns Ibrahimovic – der nach seinem eigenen Ermessen so eine Art Gottheit ist – in diesem Lied eher als Metapher für einen großen Bruder, der einem im Moment der Not zu Hilfe eilt. Es ist eine Auseinandersetzung mit dem wahnwitzigen Thema Angst.

Peter:
Gleichzeitig ist der Gedanke durchaus berechtigt, dass es auch ein bisschen darum geht, sich der Realität zu entziehen. Jemand, der behauptet, keine Angst zu haben, der verdrängt natürlich etwas und verschließt die Augen. Das ist aber gerade in der heutigen Zeit auch okay. Ich selbst kenne solche Tage, an denen ich mir bewusst keine Nachrichten gebe und gewisse Themen außen vorhalte – damit es mir gelingt, andere Sachen ohne Angst fertig zu bekommen.

»Musik vermittelt in erster Linie ein Gefühl. Und das soll nicht zu weit nach oben in den Kopf rutschen.«

MYP Magazine:
Das Thema Angst spielt auch im Hinblick auf mentale Gesundheit eine immer präsentere Rolle in der öffentlichen Wahrnehmung. Dazu passt auch der Song „Wächter“ mit den Zeilen Der Geist sitzt im Herzen, doch da guckt man nicht rein / Man guckt nur aufs Haus / und auf den bis zur Verzerrung verzierten Schein. Warum inspiriert Euch das Themenfeld zurzeit so?

Flo:
Der Hintergrund hierzu ist, dass ich von einem Musikerkollegen erfahren habe, dass er in der Vergangenheit psychisch schwer erkrankt war, und wir das einfach nicht mitbekommen haben. Wir haben nur von ein paar abgesagten Konzerten erfahren, aber der Zusammenhang ist uns erst seit Kurzem klar. Zum Trost habe ich ihm schnell vier Zeilen gedichtet und geschickt – das ist genau die zitierte Textstelle.

MYP Magazine:
Eure Texte sind kryptischer und lyrisch anspruchsvoller geworden. Das fordert die Zuhörerschaft ein bisschen mehr. Wollt ihr die Beziehung zu Euren Fans auf eine neue Ebene heben?

Flo:
Wir fassen das als Kompliment auf. Der Gedanke ist sehr schön, dass Menschen sich stärker mit unseren Texten beschäftigen können.

Peter:
Da stimme ich zu. Allerdings vermittelt Musik in erster Linie ein Gefühl. Und das soll nicht zu weit nach oben in den Kopf rutschen, sondern weiter intuitiv hier stattfinden (legt sich die Hand aufs Herz).

»Wir gehen heute viel entspannter miteinander um. Und freuen uns, dass wir überhaupt wieder einen Umgang haben.«

MYP Magazine:
Die letzte Album-Veröffentlichung ist sechs Jahre her, „Sturm & Stille“ kam 2016 heraus. Seitdem hat sich die Welt grundlegend verändert – wir sagen nur Trump, Ukraine, Fridays for Future oder Corona. Auch Ihr hattet nach jahrelangem Touren mit turbulenten Zeiten und zwischenmenschlichen Konflikten zu kämpfen. Wie hat das die Art und Weise beeinflusst, wie Ihr heute miteinander umgeht?

Rüde:
Wie wir uns zueinander verhalten, hat sich auf jeden Fall verändert. Und damit auch das Zuhören – und das Zulassen. Wir gehen heute viel entspannter miteinander um. Und freuen uns, dass wir überhaupt wieder einen Umgang haben. Die Pause war irgendwie nötig, denn scheinbar haben wir es nicht mehr miteinander ausgehalten. Und in der Zwischenzeit hat sich einiges bewegt, auch die Nähe zueinander. Dadurch bekommt man als Band auch eine andere Sprache.

Peter:
Ich denke gerade noch darüber nach, ob die äußeren Umstände maßgeblich für inhaltliche Veränderungen bei den Sportfreunden Stiller waren. Oder ob die Bandkrise und unsere Reaktion darauf mehr Einfluss auf das Album hatten. Pandemie und Lockdown haben auf jeden Fall die Sehnsucht gefördert, wieder zusammenzukommen. Ansonsten waren es aber unsere persönlichen Erlebnisse und Erfahrungen aus der Vergangenheit, die dringend eingefordert haben, dass wir Möglichkeiten finden, anders miteinander umzugehen. Ich persönlich habe die gemeinsame Zeit im Studio sowie den kreativen Prozess während der Produktion sehr genossen. Und wie Flo und Rüde bin auch ich sehr gespannt, wie sich alles entwickelt, wenn wir jetzt wieder gemeinsam an die Öffentlichkeit treten.

»Nach 20 Jahren gemeinsam spielen, saufen und streiten war die Energie raus.«

MYP Magazine:
Was war der Grund für Eure mehrjährige Beziehungspause?

Peter:
Nach 20 Jahren gemeinsam spielen, saufen und streiten war die Energie raus.

Rüde:
Innerhalb einer Band, die so in der Öffentlichkeit steht, lernt man auch ganz viel zu überspielen. Die Momente, wenn man einen tollen neuen Song schreibt oder vor einer Menschenmasse auf der Bühne steht, wirken so viel wichtiger und größer als die kleinen Konflikte. Damit lenkt man sich ordentlich davon ab, dass man sich über so viele Jahre eben stark verändert und dass viele persönliche Entwicklungen stattfinden. Wie viele Freundschaften lösen sich innerhalb von zwei Dekaden auf! Aber wir sind immer zusammengeblieben, weil wir so viel haben, was uns zusammenhält. Trotzdem hat es auch uns irgendwann einfach zerrissen.

Flo:
Ich fand die Pause erst mal scheiße. Ich wollte auch nicht akzeptieren, dass sie richtig ist. Jetzt im Nachhinein sehe ich ihre Notwenigkeit aber ein. Vielleicht war dieser Break unsere Rettung. Insofern haben wir uns auch als Band die Frage aus unserem neuen Song gestellt: „Bist du immer noch mein Junge?“ Und ich kann sagen: ja.

»Wir haben viel miteinander gekocht und Wein getrunken.«

MYP Magazine:
Wie habt Ihr die letzten Jahre für Euch persönlich genutzt?

Rüde:
Ich durfte die Erfahrung machen, mal in Arbeitsbereiche abseits der Musikbranche zu schauen. Ich habe mir verschiedene Aufgaben gestellt und gelernt, dass ein Bürojob absolut nichts für mich wäre. Ich hatte das Glück, mich viel damit beschäftigen zu können, wer ich bin und wie ich so ticke. Und hier und da konnte ich auch feststellen, dass ich manchmal ganz schön scheiße bin.

Flo:
Dafür hättest du keine Ausbildung machen müssen, da hättest du einfach schnell anrufen können.

Rüde:
Von euch habe ich das immer gehört, aber ihr wart ja nicht mehr da. Scherz beiseite: Ich glaube, wir alle konnten uns das erste Mal seit Jahren wieder mit anderen Dingen beschäftigen und wirklich in die Tiefe gehen. Davor bestand unser Leben aus Studioaufnahmen, dann ging es ab in den Nightliner, aus dem man irgendwann wieder ausstieg und bejubelt wurde. Und dann ging das Ganze wieder von vorne los.

Flo:
Ich habe das Zweimannprojekt „Taskete!“ gestartet und solo unter dem Namen „MS Flinte“ Musik veröffentlicht. Dann habe ich meinen dritten Roman „Die wundersame Ästhetik der Schonhaltung beim Ertrinken“ geschrieben, der Mitte März bei Heyne erschienen ist.

Peter:
Ich war vor allem Hausmann und Daddy, es war also eine Zeit des Rollentauschs. Und dann ging es mitten in der Corona-Pandemie wieder mit den Sportfreunden los.

Rüde:
Aufgrund unseres Berufs hatten wir das große Glück, auch im Lockdown zusammenkommen zu dürfen. Wir haben viel miteinander gekocht und Wein getrunken. Ich habe es total gefeiert, einfach Musikinstrumente aufzubauen und Lärm zu machen. Wir hatten in dieser Einsamkeit des Lockdowns die Zeit, Dinge ganz in Ruhe entstehen zu lassen. Und so krank das auch klingen mag: Wir hatten deshalb auch einige sehr schöne und kreative Momente innerhalb der Isolation.

»Wir haben so viel an der Backe und wenig eigene Haltung.«

MYP Magazine:
Fußball und die Sportfreunde, das war lange ein tolles Match für Feierlaune. Nun ist auch der Fußball längst keine isolierte Welt mehr, in die man sich verkriechen kann: Die Menschenrechts-Verletzungen in Katar, der Aufstand der Bayern-Fans gegen den Sponsor Qatar Airways, der Rückzug von Gazprom aus dem Fußball-Sponsoring, und so weiter, und so weiter. Ist es aufgrund der vielfältigen Themen nicht eine wichtige und relevante Zeit, um eine Fußballband zu sein?

Rüde:
Ich betrachte das gar nicht aus der Perspektive des Fußballs. Das sind Themen, die darüber hinaus unfassbar wichtig sind: Was bedeutet es, in Frieden zu leben? Was müssen wir tun, um diesen Frieden behalten zu können? Inwiefern müssen wir lernen, kritisch und komplex zu denken? Wir haben Klimawandel und Friedenspolitik, Nachkriegsordnung und Nah-Ost-Konflikt. Wir haben so viel an der Backe und wenig eigene Haltung. Wir schauen auf die isolierten Probleme mit der Lupe, anstatt als europäische Gesellschaft nach Lösungen zu suchen. Entschuldigt den Monolog, aber gerade nach Corona wird es immer wichtiger für uns alle, wieder die Lupenperspektive zu verlassen und gemeinsam über Zukunft und Koexistenz zu sprechen. (Kurze Pause, dann ein Schmunzeln) Aber ich liebe natürlich auch den Fußball.


Bulgarian Cartrader

Interview — Bulgarian Cartrader

»Ich würde keinen Tag als Autohändler überleben«

Unter dem Namen Bulgarian Cartrader umarmt der Musiker Daniel Stoyanov verhärtete Männlichkeitsbilder, die er privat längst abgelegt hat. Im Zusammenspiel mit seiner fabelhaft-femininen Stimme entsteht ein künstlerisches Gesamtkonzept, das musikalisch nicht nur äußerst facettenreich ist, sondern vor allem auf der Live-Bühne mit erstaunlichen Entertainer-Qualitäten verblüfft. Ein Gespräch über automobile Liebe, würzige Folklore und dreieinhalb rasante Dekaden zwischen Bulgarien, Baden-Württemberg und Berlin.

31. Oktober 2022 — Interview: Katharina Viktoria Weiß, Fotografie: Frederike van der Straeten

In Autojahren wäre er schon ein Oldtimer: Daniel Stoyanov, der am 11. November unter dem Namen Bulgarian Cartrader sein Debütalbum „Motor Songs“ herausbringt, ist Baujahr 1986 – genau wie der Porsche 944 Safari, mit dem wir ihn im Treptower Park fotografieren. Doch obwohl er als Komponist, Produzent und professioneller Background-Sänger von Bands wie Seeed schon ein Veteran der Musikbranche ist, wirkt sein Cartrader-Sound erstaunlich frisch, ungehört und gegenwartsbezogen.

Der Mann hinter Bulgarien Cartrader ist ein großes Spielkind, das genauso gerne an Autos wie an Musik herumbastelt: Seine sinnliche Indiemusik lässt kontemporäre Hiphop-, Jazz-und Soul-Sounds mit subtilen Einflüssen aus der Balkan-Region ineinanderfließen. Doch während seine Musik federleicht klingt, steckt in Daniel Stoyanov ein tiefgründiger Beobachter, der sich musikalisch gefunden hat, aber kreativ um die Bedeutung der Welt um ihm herum ringt.

»Wenn ich performe, ist die Pistole auf meine Brust gerichtet.«

MYP Magazine:
Bei Deinem kürzlichen Auftritt im Berliner Fluxbau hast Du dein Publikum mit keckem Hüftschwung und frechen Ansagen elektrisiert. Warst Du immer schon so eine Rampensau?

Bulgarian Cartrader:
Ich bin mit Idolen aufgewachsen, die auf der Bühne sehr aktiv sind und ein gewisses Matador-Entertainment mitbringen. Wenn ich selbst performe, ist die Pistole so sehr auf meine Brust gerichtet, dass ich mich durch die Art, wie ich mich bewege, losreißen will – und dadurch unter Umständen sogar völlig angstfrei werde. Während ich also vor einem Aufritt manchmal furchtbar aufgeregt bin, kann sich das innerhalb des Konzerts komplett umdrehen. Dann darf ich einen Moment der Freiheit erleben, den auch alle anderen im Raum spüren.

MYP Magazine:
Deine Musik klingt spielerisch und doch ausgereift. Man merkt, dass Dein Leben von vielen nachdenklichen Phasen und reflexiven Umbrüchen durchzogen ist. Ich würde Deiner Biografie gerne in Jahrzehnten näherkommen. Wie war die erste Dekade Deines Lebens?

Bulgarian Cartrader:
Ich bin in einem Dorf in der Nähe von Sofia aufgewachsen und mit drei Jahren in Nordbulgarien in den Kindergarten gekommen, bei meiner Familie mütterlicherseits. Erstaunlicherweise erinnere ich mich noch sehr gut an das Land, seine Gerüche und Klänge, obwohl ich bereits mit vier Jahren nach Deutschland kam.

»Der Besitzer hatte immer irre Autos, dadurch wirkte er auf mich wie ein reicher Mann. Das habe ich als Kind sehr bewundert.«

MYP Magazine:
Die Lebensentscheidungen Deiner Familie wurden auch von der Wende maßgeblich beeinflusst. Als sich Europa nach dem Fall der Mauer neu sortierte, entschieden sich auch Deine beiden jungen Künstlereltern zur Migration. Wie erinnerst Du dich an den Weg in dieses neue Leben, der 1990 mit einer Flugreise begann?

Bulgarian Cartrader:
Ich weiß noch, dass ich mich im Flieger nach Deutschland zweimal erbrochen habe. Meine Eltern waren bereits ein Jahr davor umgezogen und ich war bei meinen wunderbaren Großeltern geblieben. Zunächst war ich völlig befremdet, denn ich erkannte meine eigenen Eltern nicht mehr, als sie mich nach zwölf getrennten Monaten am Flughafen abholten. Ich stieg mit ihnen ins Auto und irgendwo auf der Landstraße hat uns etwas unglaublich Schnelles, Rotes überholt. Ich weiß noch, wie ich dem Sportwagen lange nachgeschaut habe – denn ich hatte zuvor in meinem Leben noch nie so ein schnelles Auto gesehen. Dieser Augenblick hat mich sehr geprägt.

MYP Magazine:
Wie kam es dazu, dass sich das Autothema bei einem Künstlerkind wie Dir so durchgezogen hat?

Bulgarian Cartrader:
Meine Eltern haben ihre Versuche als Künstler wahrgenommen, aber in diesem Abschnitt der 1990er Jahre lagen andere Wege näher. Sie mussten zunächst auf ihre Arbeitserlaubnis warten und haben sich dann mit vielen verschiedenen Jobs durchgeschlagen. Beide haben eine Zeit lang in einer Tankstelle gearbeitet. Der Besitzer hatte immer irre Autos, dadurch wirkte er auf mich wie ein reicher Mann. Das habe ich als Kind sehr bewundert.

»Eigentlich wollten meine Eltern nach Paris, doch dann sind sie in Baden-Württemberg gelandet.«

MYP Magazine:
Du bist mittlerweile selbst Künstler und kennst das Hochgefühl, kreativ arbeiten zu können. Wie haben Deine Eltern das Zurücklassen dieser Berufung empfunden?

Bulgarian Cartrader:
Eigentlich wollten sie nach Paris, doch dann sind sie in Baden-Württemberg gelandet. Ich bin etwa eine Autostunde von Stuttgart großgeworden. Meine Mutter hat sehr früh erkannt, dass es hier keine Karriere für sie zu jagen gab. Und für sie war es irgendwie nicht schwer. Sie konnte das hinter sich lassen und nach vorne blicken. Aber wie diese Zeit Anfang der Neunziger für meine Eltern wirklich war, ist für mich immer noch ein Mysterium. Ich stelle mir es manchmal vor: zwei junge Erwachsene, noch nicht so lange zusammen. Wie haben sie sich geliebt, wie haben sie sich gestritten, welche Träume hatten sie? Je älter ich werde, desto mehr kann ich ihre Seelenlage erahnen – vielleicht verkläre ich sie aber nur.

MYP Magazine:
Wann ist Dir die Musik begegnet?

Bulgarian Cartrader:
Auch hier: Im Nachhinein wird vieles überhöht. Meine Eltern haben mein Rhythmusgefühl quasi schon im Kleinkindalter beschrieben. Aber Du suchst nach Schlüsselmomente, die bestimmt eine gewisse Sogwirkung entfaltet haben, oder?

MYP Magazine:
Ja, was waren zum Beispiel Deine ersten CDs?

Bulgarian Cartrader:
In der ersten Klasse fand ich eine Klassikbox und nach der Schule habe ich mir immer Vivaldi angehört, weil mir das am meisten gefallen hat. Dann hatten meine Eltern noch eine „Best of Queens“ und „Dire Straits“ rumliegen. Und später irgendwann im Bulgarienurlaub habe ich mir auf dem Schwarzmarkt eine Boyz II Men-CD geholt. Zum ersten Mal hörte ich R’n’B und Black Music. Die Stimmen und die Art des Gesangs dieser Künstler haben mich umgehauen. Kaum zurück in Deutschland habe ich angefangen, auf die Stunde beim Musiksender „Viva2“ hinzufiebern, in der die US-Charts vorgestellt wurden. Danach war ich immer energisch aufgeladen.

»Bulgarische Folklore ist für mich ein starkes Gewürz.«

MYP Magazine:
In Deinem Sound lassen sich auch immer wieder Elemente osteuropäischer Musik erkennen…

Bulgarian Cartrader:
Trotzdem habe ich von der bulgarischen Folklore immer Abstand gehalten. Das ist für mich ein starkes Gewürz – wenn man zu viel davon beigibt, ist die Mischung versaut. Es wird schnell zur Weltmusik und dann zum Klischee. Der Westen hat auch eine gewisse Fantasie über den Balkan, mit Blasmusik und Co., die die meisten Künstler Bulgariens vollkommen außer Acht lässt. Ich bin zu 80 Prozent von amerikanischer Musik geprägt. Wenn ganz tief in mir etwas anderes zum Vorschein kommt, dann sind es Frauenchöre wie „The Mystery Of The Bulgarian Voices“ oder „Trio Bulgarka“, mit denen bereits Kate Bush Songs aufgenommen hat.

»Ich bin in einer Kultur aufgewachsen, in der das Auto ein Teil der Familie ist.«

MYP Magazine:
Deine Künstlerpersona, der Bulgarian Cartrader, zeichnet sich durch eine ganz bestimmte Ästhetik aus, die Arbeiterklassensymbole mit Automobil-Protzerei fusioniert. Scherzhaft nennst Du diesen Look auch „Cartrader Couture“. Wo hat diese ihre Wurzeln?

Bulgarian Cartrader:
Obwohl wir nicht zum Mittelstand gehörten, hat mein Vater es immer irgendwie geschafft, sich alte Autos zu kaufen, sie er auch selbst repariert hat. Gefühlt habe ich meine halbe Kindheit auf vier Rädern verbracht. Allein wenn wir nach Bulgarien gefahren sind, waren wir zwei Tage unterwegs. Und dort war das Gerede über Autos omnipräsent. Generell bin ich in einer Kultur aufgewachsen, in der das Auto ein Teil der Familie ist. Gerade in Süddeutschland, zum Beispiel in meinem Heimatbundesland Baden-Württemberg, achten die Menschen sehr auf ihren Benz oder BMW.

MYP Magazine:
Die Faszination Deiner Kindheit ist mit Dir gewachsen. Was hat dem Image des Bulgarian Cartrader den letzten Schubs gegeben?

Bulgarian Cartrader:
Vermutlich kam das durch ein kleines Abenteuer mit meinem besten bulgarischen Kumpel Gogga. Er ist in der Nähe von Sofia großgeworden, im selben Machala wie ich, also im selben Viertel, nur eine Straße weiter. Wir sind sehr eng verbunden, sein Vater hat schon mit meinem Vater im Sandkasten gespielt. Er ist jemand, den ich mitten in der Nacht anrufen kann. In so einem nächtlichen Gespräch erwähnte Gogga, dass er sich beruflich umorientieren will – und es mal mit Autohandel versuchen möchte.

MYP Magazine:
In welchem Jahr war das?

Bulgarian Cartrader:
2015. Ich durchlebte gerade eine Phase, die nach vielen Jahren in der Musikbranche von Ermüdungserscheinungen gezeichnet war. Deshalb beschloss ich, ihm zu helfen. Gogga kam mit einer Gruppe von Autohändlern nach Deutschland. Der Plan war, die erste Fuhre von jeweils zwei Autos nach Bulgarien zu transportieren. Eine Woche lang zog ich mit dieser Gruppe von Autohändlern umher.

»Die bulgarischen Autohändler verkörpern kein Gaunertum, müssen aber Füchse sein.«

MYP Magazine:
Wie kann man sich diese bulgarischen Autohändler vorstellen, nach denen Du dich später benannt hast?

Bulgarian Cartrader:
Durchaus ein bisschen so, wie es dem Klischee entspricht: geprägt von einer gewissen Roughness und Schmutzigkeit. Sie verkörpern kein Gaunertum, müssen aber Füchse sein. Man muss den cleveren Handel verstehen und sich auch zwischen den Sätzen Signale senden können.

MYP Magazine:
Konntest Du dich damit identifizieren?

Bulgarian Cartrader:
Ich würde keinen Tag als Autohändler überleben, dafür bin ich viel zu sehr Künstlerseele. Aber ich habe großen Spaß daran gefunden, diesen bärtigen Autohändler in mir aufleben zu lassen. Bulgarian Cartrader ist wie ein Alter Ego. Ich wäre gerne einer von denen, ich bewundere sie sehr. Zudem verbindet mich dieses Alias mit meinem Herkunftsland. Ich verspüre den Drang zu einer kulturellen Mission.

»Es gefällt mir, Wut und Deformation auf eine gesunde Art auszuleben.«

MYP Magazine:
Was bedeutet diese „kulturelle Mission“ konkret für Dich?

Bulgarian Cartrader:
Ich wusste, es würde mir guttun, mich kulturell zu verankern – und nicht nur auf der Bühne zu stehen, um Zahlen zu generieren. Zudem konnte ich mit diesem Image eine gewisse Dickköpfigkeit aufbauen und mich abgrenzen. Jeder Bühnenkünstler kennt die harte Wand der Ignoranz, die einem in dieser herausfordernden Branche gegenübersteht und die man umstoßen muss. Es fasziniert mich, dieses Ziel zu erreichen, indem ich am Rande des Unmöglichen arbeite: Denn ein bulgarischer Autohändler, der die Musik liebt, ist im echten Leben sehr unwahrscheinlich – so ist es in der Kunst auf einmal naheliegend.

MYP Magazine:
Ist die Ästhetik Deines Bulgarian Cartrader also bewusst rau und etwas schnoddrig gehalten?

Bulgarian Cartrader:
Mir ist die Kantigkeit und Hässlichkeit bewusst. Es gefällt mir, eine gewisse Irritation aufzubauen und dadurch Wut und Deformation auf eine gesunde Art auszuleben. Ich fühle, dass ich immer etwas am Rande der Gesellschaft aufgewachsen bin. Seitdem ich erwachsen bin, treibt mich die Frage um, warum ein Teil davon in mir geblieben ist. Mit Bulgarien Cartrader versuche ich, diesen Aspekt in mir zu umarmen.

»Ich habe mich von dieser verhärteten Männlichkeit gelöst – daher bin ich privat auch glücklich.«

MYP Magazine:
Näherst Du dich auch einem Männlichkeitsbild an, dass Dich umtreibt?

Bulgarian Cartrader:
Ich habe mich persönlich von dieser verhärteten Männlichkeit gelöst – daher bin ich privat auch glücklich. Dennoch hallen gewisse Werte des Machismus, mit denen ich aufgewachsen bin, immer noch in mir nach. In der Kunst kann ich solche Motive aufgreifen und behandeln, ohne sie mit nach Hause in meine Beziehungen nehmen zu müssen. Immer wenn es mir gelingt, in meiner Arbeit offene Deformation zu zeigen, spüre ich, wie es mich entspannt, befriedigt und ein progressiver Fluss entsteht.

»In mir war so eine intensive Bravheit.«

MYP Magazine:
Eine Zeit, die das Verständnis von Männlichkeit besonders prägt, sind die Teenagerjahre. Wie erinnerst Du dich an die zweite Dekade Deines Lebens?

Bulgarian Cartrader:
Ein eigenartiger Abschnitt. Ich glaube, wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich einiges anders machen. Ich habe mich irgendwie zurückgehalten und zu wenig ausprobiert. In gewisser Art war so eine intensive Bravheit ihn mir, gepaart mit einer unterschwelligen Spannung, sie sich entladen musste. Normalerweise explodiert man als Teenager. Bei mir kamen erst viel später eine Reihe von kleinen Explosionen. Vermutlich war ich eher ein Herbstblüher. Als Jugendlicher hatte ich hingegen eine stark melancholische und grüblerische Ader.

MYP Magazine:
Also sind Anekdoten von Abibällen et cetera eher nicht zu erwarten?

Bulgarian Cartrader:
Nein, aber ich war auch nicht in einem Jahrgang, den man als legendär bezeichnen würde. Dabei halte ich mich da absolut nicht für etwas Besseres – ich glaube, das war ein generelles Gefühl in dieser Gruppe. Es war einfach keine Knüller-Klasse und wir hatten einen katastrophalen Abiball, der eigentlich gar keiner war.

»Mein Ziel war, meiner Mutter einen Bentley vor die Haustür zu stellen – was völlig bescheuert ist.«

MYP Magazine:
Richtig ging es also erst in Dekade Nummer drei los. Kam dann auch das erste eigene Auto?

Bulgarian Cartrader:
Mein erstes Auto war ein roter Mazda 121 mit Faltdach. Letzteres habe ich nicht ein einziges Mal geöffnet, weil ich Cabrios nicht mag. Als ich eines Morgens zu meiner Karre gelatscht bin, habe ich über der Fahrerseite einen 30 cm langen Schlitz im Faltdach entdeckt. Jemand hatte mir aus purer Lust am Zerstören mit einem Messer eine klare Nachricht hinterlassen. Ich konnte dann drei Monate lang andren Leuten durch das verschlossenen Faltdach mit der Hand zuwinken. Ein Anblick, der für die Passanten bestimmt sehr irritierend war.

MYP Magazine:
Und wann bist du von zu Hause fortgegangen, um Musiker zu werden?

Bulgarian Cartrader:
Ich bin mit 19 ausgezogen. Es ging nach Mannheim, Leipzig, Stuttgart, Berlin. Die Richtung Musik war gesetzt, auch weil meine Mutter sich immer sehr gewünscht hatte, dass ich diesen Weg verfolge. Ich habe viel in Tonstudios aufgenommen und Instrumentals geschrieben. Mit Anfang 20 war also das Ziel, bald Popstar zu werden und meiner Mutter einen Bentley vor die Haustür stellen zu können – was völlig bescheuert ist.

»Ich habe Körperkraft gegen Essen und Schlafplatz angeboten.«

MYP Magazine:
Dennoch hast Du eine solide Karriere in der Musikbranche hingelegt: Du hast viel für andere Künstler komponiert, unter verschiedenen Namen deutschsprachige Pop-Alben aufgenommen, bist mit einer eigenen Band namens Malky auf Tour gegangen und trittst seit Jahren als Background-Sänger mit der Band Seeed vor einem riesigen Publikum auf. Was hat Dich über die Jahre bei der Stange gehalten?

Bulgarian Cartrader:
Mir bedeutet Musik wirklich etwas. Neben dem Performen auf der Bühne gibt es in meinem Leben auch ein ganzes Universum rund um die Musikproduktion herum. Ich habe gemerkt, dass ich auch darin aufgehen kann, und das mich das alles total erfüllt. Trotzdem bin ich ein sehr neugieriger Mensch. Und manchmal denke ich mir, dass ich gerne noch etwas Interessantes studiert oder diverse andere Jobs ausprobiert hätte. Dieser Entdeckerlust bin ich daher auf verschiedene Arten in meiner Freizeit nachgegangen: Über einen Zeitraum von zwei Jahren bin ich zum Beispiel beinahe jedes Wochenende auf einen Bauernhof in Sachsen-Anhalt gefahren. Ich bin bei dieser Farm-Familie aufgeschlagen und habe Körperkraft gegen Essen und Schlafplatz angeboten.

»Es hat mich jedes Mal gereizt, jemanden wirklich kennenzulernen.«

MYP Magazine:
Auf Deinem aktuellen Album „Embrace“ gibt es eine Ballade, die verschiedene Stationen deines Lebens nachzeichnet. Darin erwähnst Du zum Beispiel Deine erste lange Beziehung. Ist darauf noch eine weitere gefolgt? Oder warst Du eher ein wilder Rock’n‘Roller?

Bulgarian Cartrader:
Ich war über weite Teile meines Lebens in Beziehungen. Es gab wenige Phasen, in denen ich Single war oder viele One-Night-Stands hatte. Wenn es bei den ersten paar Dates gestimmt hat und man eine gemeinsame Ebene finden konnte, war es für mich immer spannend, den nächsten Schritt miteinander zu gehen. Es hat mich jedes Mal gereizt, jemanden wirklich kennenzulernen.

MYP Magazine:
Zu Beginn Deiner vierten Lebensdekade hast Du eine Frau kennengelernt, mit der Du noch einen Schritt weitergegangen bist…

Bulgarian Cartrader:
Meine Freundin und ich sind seit vier Jahren zusammen, unser Sohn kam vor wenigen Wochen zur Welt. Ich bin sehr dankbar darüber, dass ich diese ganze Zeit sehr bewusst und intensiv erleben darf. Das war und ist ein besonderes Zeitfenster in meinem Leben.

MYP Magazine:
Eine freche Frage an Dich, die sonst immer Frauen gestellt wird: Wie bringst du Kind und Karriere unter einen Hut?

Bulgarian Cartrader:
Ich glaube, dass in vielen früheren Beziehungen mein Beruf oft zu schwierigen Situationen geführt hat. Heute bin ich allerdings in einer Beziehung, in der es zwar auch nicht einfach ist, aber trotzdem viel besser funktioniert – weil wir uns sehr respektieren und bewusst über unsere Bedürfnisse sprechen. Natürlich kann keiner sagen, mit welchen Konflikten wir konfrontiert würden, wenn ich zum Beispiel mal im Ausland touren würde. Aber ich glaube daran, dass wir es schaffen, weil unsere Familienstruktur auf sehr gesunden Beinen steht.

»Ich lebe ständig in der Zukunft, obwohl ich von der Vergangenheit tilge.«

MYP Magazine:
In Deinem musikalischen Werk sticht vor allem Dein Sprachtalent hervor. Dafür, dass Deutsch theoretisch nicht Deine Muttersprache ist, benutzt Du einen extrem virtuosen Wortschatz, bei dem viele deutsche Popmusiker vor Neid erblassen sollten. Und auch Dein Englisch ist angereichert mit eleganten Sprachbildern. Wie entstehen Deine Texte?

Bulgarian Cartrader:
Manchmal lege ich mir Wortlisten zurecht, mit Begriffen, die einen besonderen Klang oder eine aufregende Bedeutung für mich haben. Und manchmal stehe ich morgens einfach auf und stelle mich, noch so halb im Dämmerzustand, vor das Mic und lege einfach los.

MYP Magazine:
So fängt es an, aber wie stellst Du einen Song fertig?

Bulgarian Cartrader:
Es fühlt sich so an, als würde ich tagelang auf einem unbequemen Stuhl sitzen. Und dann weiß ich: Wenn ich jetzt noch eine Woche damit trödle, verliere ich den Schwung und dann zerbröckelt der Moment. Warum das so ist, bleibt ein Mysterium, nämlich das der eigenen Seele. In sehr kreativen Phasen bin ich ständig unruhig und möchte die nächsten Songs und das nächste Album komponieren. Das Paradoxe dabei: Ich lebe in solchen Momenten ständig in der Zukunft, obwohl ich von der Vergangenheit tilge und schreibe.

»Dieser Glücksbringer hält mich in jedem harten Berliner Winter warm.«

MYP Magazine:
Du hast einen Glücksbringer, der über Dein Alter Ego als Bulgarian Cartrader wacht: ein magisches Schafsfell. Was hat es damit auf sich?

Bulgarian Cartrader:
Der Bruder meiner Großmutter, mein Großonkel Ivan, war der letzte in der Familie, der eine Schafherde besessen hat. Er lebt immer noch mit seinen Hühnern und einer Kuh in der sogenannten Schoppenregion bei Sofia, in der die Menschen für ihren speziellen Humor bekannt sind. Vor Jahrzehnten hat er Felle seiner Schafen zu einem Mantelmacher ins Städtchen gebracht. Das Stück, das daraus entstanden ist, hat er an mich weitergegeben. Und dieser Glücksbringer hält mich in jedem harten Berliner Winter warm. Dieser Mantel umgedreht, also mit dem groben Schafsfell nach außen, plus zwei bis drei Ikea-Schafsfelle um meinen Kopf geschlungen, ergeben das Cover meiner ersten Single.

MYP Magazine:
Die letzte Frage gebührt einem Automobil: Auf dem Weg vom Shooting zum Café hast Du mich mit Deinem aktuellen Wagen mitgenommen, ein alter Benz. Wie ist der in Deine Familie gekommen?

Bulgarian Cartrader:
Genau gesagt handelt sich um einen W124, Modell 260E, Baujahr 1991. Ich habe den Motor komplett von einem Leipziger Mechaniker namens Karsten restaurieren lassen. Er ist ein Meister der alten Garde, der mein Auto vor dem Schrottplatz bewahrt hat und mir mit seinem sächselnden Akzent regelmäßig Tipps übers Telefon schickt, wenn der Benz mal wieder Zicken macht. Übrigens eine Bitte als Mercedes-Fahrer: Mensch Leute, wenn ihr die Sterne abreißen wollt, dann macht das bitte bei den Neuen für 80.000 Euro aufwärts – aber doch nicht bei einem schrulligen alten Opa-Benzo!

Unser ganz besonderer Dank

geht an Bartosz Navarra. Der Auto-Liebhaber stellte uns seinen Porsche 944 Safari zur Verfügung. Im Mai 2022 hat er mit dem Offroad-Wagen eine 6.000-Kilometer-Rally von Südfrankreich über Andorra und Nordspanien bis nach Portugal absolviert. Sein Streben nach Mobilitätsnostalgie kann man auf der Seite WAGEN WAGEN verfolgen, sein Gespür für zeitlose Ästhetik lebt er in seiner Agentur für visuelle Kommunikation aus.


Ólafur Arnalds

Interview — Ólafur Arnalds

»People don’t know what silence is anymore«

The Icelandic composer Ólafur Arnalds achieves what seems like a contradiction: With his opulent, sophisticated, and sensitive music, he leads his audience to a moment of total silence. This is also urgently needed, as our society seems to be increasingly losing its sense of stillness. We met him for a very personal interview about elitist art schools, the need to protect himself from other people’s emotions, and the insight that there are more important words in his life than »music.«

23. Oktober 2022 — Interview & text: Jonas Meyer, Photography: Maximilian König

The world is a mess. Glaciers are melting, species are dying out, oceans are polluted, and there are fewer and fewer places on the planet that are completely dark at night. If that wasn’t enough, Earth has another problem to deal with: noise pollution. According to researchers, the constant presence of various noises caused by industry, mining, forestry, and transportation are increasingly affecting the health of flora, fauna, and us, the humans.

So, it’s high time to do something. If it can’t be done on a large scale first, maybe at least on a small one—as practiced by Ólafur Arnalds. The 35-year-old musician and producer from Reykjavík, Iceland has made it his mission to help people regain a real sense of silence through his music.

What sounds like a contradiction in words can be experienced live at one of his shows, such as his performance at the Tempodrom venue in Berlin a few weeks ago. Over the course of the concert, he successively reduced the volume, speed, and intensity of his music until at the end he creates what he has been working towards for almost two hours: total silence—at least when the audience joins in. Because total silence is something that not everyone can handle. The night before, when singer-songwriter Ry X asked for a short moment of quiet and meditation in the same place, here and there people could be heard laughing, whispering, or clearing their throats.

But Ólafur Arnalds seems to have tamed his crowd. Before that, he gave them an entire evening filled with ecstatic soundscapes and sensitive melodies, presenting mainly his newest album, Some Kind of Peace, which he released in 2020. A few hours before the show, we had the chance to meet him backstage for an in-depth interview.

»For me, an album just doesn’t exist when you don’t play it live in front of people.«

MYP Magazine:
Ólafur, you are currently touring with your album Some Kind of Peace that you released in November 2020, which is kind of a time gap caused by Corona. Did your feeling for the songs and the way you play them change during that time?

Ólafur Arnalds:
Yeah, it’s quite funny because we didn’t really play them at all after recording. It feels a little bit that the album had disappeared in the meantime. For me, an album just doesn’t exist when you don’t play it live in front of people. That’s what brings songs alive. So, I had almost forgotten about these songs, also because I’ve been working on so much other stuff for the last two years which made that album lie far in the past and never gave it the chance to become deeply ingrained in me.

MYP Magazine:
That means you had to rediscover these songs…

Ólafur Arnalds:
Exactly. And this was fun—and a little difficult because I felt that most of my time was spent really learning the songs from new instead of developing them as I usually do for live shows after they have been released. But this time it was like I had to learn how to play them because I’d forgotten it. (smiles) But it was really great to come back to these songs and it feels amazing to be able to finally play and develop this music. Being on the road right now, we constantly play around with these songs, change them and work with them more and more.

»I’m writing visually, but in the sense that I’m looking at the notes on my paper or screen.«

MYP Magazine:
Listening to your music, I often have to think of these kinds of situations when two people meet, especially in the first seconds when a melody develops in the space between them. It’s like you could feel this space. Do you yourself have certain visuals in mind when you start writing a song? How does a melody find its way out of you?

Ólafur Arnalds:
It happens, but usually not. Of course, sometimes I’m thinking of specific emotions, people, or things that happened when writing a song. But most of the time I’m really just in the melody itself and it happens quite visually for me in the sense that I write it down. I work on a computer, often using MIDI sequencing to write string arrangements, for example. I think what you’ve heard when you introduce a melody, it sounds like it’s introducing people a bit and then later it feels like you know it, I guess that comes from me often writing in a visual way, looking at stuff and then I can see the patterns. Then I can kind of break them apart, maybe write backwards in a way. I often start with the main part and then I write the intro. And then I can take little bits of the main part and place them here and there. So, you feel like the melody is broken in a way when you first hear it, and later it comes together. I think that’s very much happening because I’m writing visually, but in the sense that I’m looking at the notes on my paper or screen.

»I still have a lot of empathy for people’s emotions, but I just try not to put that weight on my shoulders.«

MYP Magazine:
Your music touches many people across a broad spectrum of fundamental emotions. What level of responsibility does that bring for you? Do you sometimes even feel it as a burden to make music that has such an emotional impact on its audience?

Ólafur Arnalds:
Sadly, you have to disconnect yourself from that. If you’re empathetic enough that you feel the emotions of every person who sends you a letter or a message, or who you see in the room, then it becomes a burden. It’s not possible for a human to take all that on their shoulders. It would destroy you, and I am not an exception to that. That’s often why some people who are much more famous than I am have such great success—because they are distancing themselves much more from the public, to not let people’s emotions get to them. If you touch someone in that way, you don’t know them. If you’re going to take all of them on, it’s very heavy. I used to do it, I used to take it all on when I started to make music. I suddenly seemed to feel what everyone else was feeling, and I had to really learn how to distance myself from that. That doesn’t mean that I don’t care about it. I still have a lot of empathy for the people’s emotions, but I just try not to put that weight on my shoulders.

»I felt I had to protect myself, in a way.«

MYP Magazine:
Do you remember a specific note or message where people let you know about their emotions?

Ólafur Arnalds:
Yes, I remember many. I’ve met people with terminal illnesses and with whom I started exchanging letters, for example. They told me that my music was helping them going through something. Especially earlier in my career I always felt that I had to respond to those kinds of messages. I felt a responsibility to respond to a person who pours their heart out to me. So, I would make friendships with these people, and of course, it would destroy me one day when they pass away. That’s why I felt I had to protect myself, in a way.
I always remember this one person who, a long time ago, sent me a letter after a show. She had been very depressed and ended up in a hospital after a suicide attempt. In that moment, she was just angry because her attempt didn’t work. She had thought, “I’m gonna get out of here, so I can try it again.” One day her friend brought in an iPod—as I said, it was a long time ago (smiles)—and the only thing on it was my album. After listening to that, she said that she felt for the first time a willingness to live. She told me that there was a particular song she was listening to again and again that gave her the hope that there actually is some beauty in the world.

»It’s our responsibility as musicians to spread this gift that we’ve been given to the world.«

MYP Magazine:
If you can save just one life, it’s already worth doing the job…

Ólafur Arnalds:
Exactly. A year or two later she was healed, had a new job, was living a new life and finally came to my concert. That was the culmination of her personal journey and that’s when she sent me that letter. It was a very beautiful thing to receive and think, music actually can save a life. Even though I talked about the burden of feeling a personal responsibility for every human being who contacts me, I also do feel that it’s our responsibility as musicians to spread this gift that we’ve been given to the world—because it might do some good. I really believe music can change the world. It’s so cheesy, but music is the place where you offer kind of a neutral song—like Switzerland—and you can see the world from different perspectives because music has a language that can say something we cannot say with words. I think that’s more important than ever in these times—personally, emotionally, but also politically. That’s the responsibility I feel and that’s our mission here.

»People don’t know what silence is anymore.«

MYP Magazine:
On our planet, it‘s very hard to find a place that is completely dark at night—because of the light pollution. And it’s pretty much the same with noise. Would you say that, with your music, you can create silence where usually there is none?

Ólafur Arnalds (smiles):
That’s something we play with as an instrument; we love to play with the silence of the audience. One of our biggest missions every day is the walk around the venue to find everything that makes a little bit of noise—because people don’t know what silence is anymore. They just don’t know. When they come home, they think it’s silent there. But it’s actually not. The air conditioner is on or the refrigerator, for example. That’s why few people have truly experienced complete silence in their lives.

MYP Magazine:
I can imagine some people are also afraid of total silence. Last night at the Ry X concert, for example, he asked the audience for a common moment of silence and meditation. A lot of people tried it, but there were also some that were just not able to pause and remain in complete silence. They coughed, started whispering after a few seconds, a few made jokes…

Ólafur Arnalds:
I think it’s difficult to force people into an uncomfortable situation. You have to create the silence for them. That’s why we try to leave the music successively: The way the set list and everything is built is aiming towards this final point at the concert, which is complete silence. It happens so gradually and so slowly that people don’t really realize that they are being tricked into complete silence. (laughs) But at the end, we often have 20, 30 or even 40 seconds of complete silence with 3,000 people in the room. Sometimes it works, sometimes it doesn’t.

»This possibility of everything is not always helpful—because when you can do everything, where do you start?«

MYP Magazine:
Since you’ve been making music, film music has always played an important role in your artistic work. Why are you personally so fascinated by this genre and by creating music for series and movies?

Ólafur Arnalds:
It’s mostly the process of it. When I do my own albums, I always start with a completely blank slate. In theory I could do anything. I could do a hardcore metal album if I wanted to, whatever. But this possibility of everything is not always helpful—because when you can do everything, where do you start? You always have to start with creating some boundaries, like “I’m gonna make a piano record” or “I’m gonna start with a piano.”
The beautiful thing about working for films is that there is already a boundary. There is a character, there is a story, there is a script, there might even be a cinematic style already so you can have a feeling for the show, and often there are some specific wishes of the director. They usually come to you and say: “I want it to sound like this and this.” It’s nice to work within those limitations because actually, you become more creative by that. The more limitations there are, the more you have to fight and push in new directions to find a way to create something great within those boundaries. This is what I actually enjoy. And it helps me when I come back to my own albums because I’ve usually learned something new through this process. It often pushes me somewhere I hadn’t been going otherwise.

»There was a moment when I felt that I had to make sure that people see me and my music in a more positive light.«

MYP Magazine:
One of your most famous film compositions is the soundtrack for the crime series Broadchurch, in which the murder of a little boy is investigated. It seems that the music and the series are firmly intertwined. Did you ever worry that this symbiosis would rub off on your other work? That people would always associate your sound with such a dark story, and you would need to protect your music?

Ólafur Arnalds:
Worry is not a feeling that I have in my vocabulary. I don’t worry about anything. It’s weird, I didn’t really understand the construct of worrying until I met my girlfriend. She worries all the time. But I’m raised differently, I guess. I’m always the opposite of it, which for me is obliviousness. (smiles)
I remember one time I was watching the Icelandic news and after that a 60-minute-show where they used to focus on one subject. It was about date rape drugs, a really dark and horrible subject, and the whole show was underscored by my music. I thought: “Oh shit, I have to get out of this. That’s going to be the music people will go to when they talk about horrible stuff.”
So, yes, there was a moment when I felt that I had to make sure that people see me and my music in a more positive light. I do make an effort! If you watch my music videos and all the content we produce, it’s all way more positive. It is rare that you see something really sad happening. I always think—and that may come from my experience in film scoring as well: If you have a sad scene in a movie and you put sad music under it, then you have cheese, you have kitsch. You need to be a little more creative with how to put these things together. You could combine sad music with something less obvious and more unexpected—like in the German film Victoria, for example. There’s a great party scene where the main actress is in the club. Suddenly all the music goes out and there is this really sad piano coming and everyone is partying. That’s so interesting!

»In music—and in arts generally—doing it wrong is usually a good thing.«

MYP Magazine:
I found out that, when you were studying composition at the Arts Academy, you had to fight battles with your teacher over and over again. You had a teacher who thought that everything that you thought was right, was wrong. Do you feel anything like satisfaction today? Or do you think that these battles helped you to develop your very own musical style in the end?

Ólafur Arnalds:
The latter might be right—because I’m very stubborn. I think when somebody says “You’re doing it wrong,” then I double down and do it even more like that. In music—and in arts generally—doing it wrong is usually a good thing. So, it did push me, it made me want to explore even further what I was beginning to explore. Don’t get me wrong: I understand teachers. Their role is to introduce you to new things, not to what you already know. But I didn’t like the vibe there. In many art schools, when you talk about classical music, it can be a little elitist in that sense…

MYP Magazine:
But wouldn’t it be in the interest of classical music if it were more inclusive and many more people engaged with it?

Ólafur Arnalds:
Right, that’s what I think. But a lot of people in classical music think differently. They think it should be exclusive. They like their little club, you know? (laughs) But at the same time, you have these orchestra marketing directors who try to appeal to the public with some horrible ideas.

»I think my role is more to poke and annoy people a bit—I enjoy that in a sense.«

MYP Magazine:
Have you ever met that art school teacher again?

Ólafur Arnalds:
Yeah, we meet from time to time. There aren’t any hard feelings. It’s just a nice story today and he understands. When I met him one of the last times, we had a few drinks at a music industry event a couple of years ago. At that time, I was thinking about going back to school to finish my studies—because I was having imposter syndrome. Although I was already successful, but I felt I didn’t deserve it because I thought I didn’t know shit about anything I was doing. I continuously said to myself: “Why I am here? I have to finish my studies so I actually can get good at composing.” I told that to my former teacher and said that I really wanted to go back. And he just answered: “Why would you? Everything is fine.”

MYP Magazine:
I can imagine that these elitist people you talked about are also strictly against the combination of classical music with electronic music or against the use of high tech. You, on the other hand, seem to be eager to unite these worlds. Would you say that you can continue to tell the history of classical music with this approach?

Ólafur Arnalds:
I used to think so and it used to be a part of my mission. But today, at this point, I’m like “Fuck it!” If they want to kill themselves like that, they can die. I’m not the savior of classical music, I don’t want to be that and that’s not my job, also because I’m not from classical music. If someone needs to save classical music, it needs to be a person who grew up in classical music, who knows classical music and who can play classical music. That’s definitely not me. I think my role is more to poke and annoy people a bit—I enjoy that in a sense—and to try to open some doors. Then hopefully someone else can follow me through these doors. That would make me very happy.

»What if I could create software that would think like software but play like a human?«

MYP Magazine:
You invented a special form of a self-playing piano steered by artificial intelligence. Two of them are currently accompanying you on your tour. Why did you feel the need for that?

Ólafur Arnalds:
The idea came from a time when my hand was injured and couldn’t play the piano very well. So, I was looking for creative ways to create piano sounds because when a piano could play itself, I wouldn’t need my hand. Of course, my hand healed after some time, but this funny idea was actually very interesting and triggered a sequence of events. I wondered: What if I would think not only about what we can do physically, but also what our brain can do? What if I could create software that would think like software but play like a human? The results would be something I would have never thought about because even if I myself would play like this, I could never move my fingers in that way. So, an idea was born to discover some new sounds and melodies that I wouldn’t have found any other way—and that pushed the boundaries of what I’m doing a little bit. That’s good because I don’t want to be too stuck in piano music, neoclassical music or whatever you want to call it. I want to be bigger than that in a sense.

MYP Magazine:
Can you explain how exactly this machine works?

Ólafur Arnalds:
It works through MIDI, a very simple signal protocol that’s often used in music. On my grand piano I have a sensor that captures what I play, for example a C major chord. It sends that chord to the software which distributes it to two self-playing pianos enriched by generative rhythmical textures that are based on the melodic material that I’m creating. By that, I myself can control the parameters of the textures, such as fast or random, or slow and rhythmic, or heavy, or light, which means it’s not completely an AI thing. It just accompanies me in a way.

»Music is my whole life, but it isn’t an important word as such.«

MYP Magazine:
Last year you released a track called “Saudade.” In the Portuguese language the word Saudade describes a very special emotion, which could be described as a mixture of sadness, wistfulness, longing, or gentle melancholy. How did you find that word? And why did you want to dedicate a song to it?

Ólafur Arnalds (smiles):
The word came to me on tour. We have something of a quirk which we call “word of the day.” Every day in different cities we come across so many signs, instructions, and words in the language of the particular country, that Àrni, one of our team members, puts up one sign which includes the word of the day. One day he proclaimed Saudade and has taught us about its meaning—a really fantastic word that I’ve had in my mind ever since. And then I had this song and just needed a title. It’s not any deeper than that. (laughs)

MYP Magazine:
Speaking of words: The philosopher Albert Camus once listed the ten most important words of his life—Les dix mots préférés d’Albert Camus: the world, the pain, the earth, the mother, the humans, the desert, the honor, the misery, the summer, the sea. What are the most important words of your life?

Ólafur Arnalds:
It’s a really interesting question because there are definitely important things that I do in my life, but the word for these things might not be that important—like “music,” for example. Music is my whole life, but it isn’t an important word as such. I don’t say that word, I just do it. But to name a specific word: One of the most important things in my life is perspective. There is a lack of perspective in the world, that’s why it’s something to fight for. In addition, important are empathy, tolerance, and kindness. You can see where I’m going with this, I was raised by two hippies. (smiles) But these are the things that really stay on my mind.


Oliver Polak

Interview — Oliver Polak

»Wahrhaftige Liebe ist das Gegenteil von Magie«

Die erste Liebe im Emsland, ein Rendezvous im Pariser Rotlichtmilieu, ein Treffen mit einer depressiven Domina in New York – und das alles via Dating-App. In seinem neuen Buch »L’amour numérique: Und täglich grüßt die Liebesgier« erzählt Komiker Oliver Polak von den erhebenden und ernüchternden Herausforderungen der modernen Liebe – und legt dabei einen tiefen Seelenstriptease hin. Ein Gespräch über die Tücken des Anbandelns im digitalen Zeitalter, einseitige Unterhaltungen und die Feststellung, dass der Deutsche schon als Werkseinstellung eine Fresse zieht.

18. Oktober 2022 — Interview: Katharina Viktoria Weiß, Fotografie: Steven Lüdtke

„L’amour numérique“, der neue Episodenroman von Bestsellerautor und Comedian Oliver Polak, ist von vielen popkulturellen Referenzen durchzogen. Eine davon ist der Song „Crown“ von Kendrick Lamar. Vor allem eine Zeile scheint Polak dabei zu inspirieren, denn sie taucht gleich in mehreren Kapiteln auf: „Love can change with the seasons / And I can’t please everybody“.

Den Vorwurf, einfach nur gefallen zu wollen, kann man Oliver Polak schwerlich machen, als wir ihn zum Interview im Burlesque-Lokal „Zum Starken August“ treffen. Während sein alter Hund Arthur niedlich über den Boden der Zirkusbar trottet, scheint sein Herrchen zu Beginn des Fotoshootings noch etwas in sich gekehrt.

Schlechte Onlinedates umschreibt Polak in seinem Buch als „mieses Vorstellungsgespräch“. Kurz keimt die Angst auf, das Interview mit ihm könne auch ein solches werden, als er langsam auftaut. Wer sich darauf einlässt, erkennt, dass er eine gewisse Kompromisslosigkeit an sich hat, die ihn zu einem anziehenden Gesprächspartner macht. Mehr Sparringspartner als Smalltalker – und in seinen ehrlichen, vielleicht auch verletzlichen Tönen entpuppt er sich als scharfer Beobachter unserer Gesellschaft.

Dabei ist es gar nicht so einfach, über „L’amour numérique“ zu sprechen. Denn auch wenn das Buch eine novellistische Tarnfarbe trägt, ist die Hauptfigur mehr Polak-Protagonist als Fabelwesen: Das lyrische Selbst ist Stand-up-Comedian, Fan von Balenciaga-Couture und geht eigentlich nirgendwo ohne seinen Hund Toto hin. Kurzum: Polak schreibt über sich selbst, nur poetisch verdichtet, und spricht dabei Wahrheiten über die Anbandelung im digitalen Zeitalter aus, deren kurzweiliger Liebesfrust große Leselust bereiten.

»Ich bin immer noch bei Tinder angemeldet, ohne wirklich aktiv zu sein.«

MYP Magazine:
Oliver, bist du selbst auf Dating-Plattformen für Normalsterbliche aktiv? Oder hast Du dich in Wirklichkeit schon bei Raya angemeldet, der VIP-App für die digitale Liebessuche?

Oliver Polak:
Ich war mal im Borchardt in Berlin. Rechts von mir saß Johann König und auf der anderen Seite hatte es sich Philipp Ruch vom Zentrum für politische Schönheit mit einer ganz besonderen Frau bequem gemacht. Als die mal kurz weg war, fragte ich ihn: „Was ist denn hier los?“ Und er sagte: „Tja, Raya.“ Ich wusste nicht, was er meinte, deshalb erklärte er mir, dass das eine Promi-App sei, für die man eine Einladung bekommen müsse. Kurz darauf hat Philipp Ruch mir so eine Einladung für Raya geschickt. Und dann hatte ich ein Date mit ihm.

MYP Magazine:
Hält die App, was sie verspricht?

Oliver Polak:
Ich habe mich da kurz angemeldet – war ganz lustig und interessant. Aber ich habe mich dann nicht weiter damit beschäftigt. Ich bin auch immer noch bei Tinder angemeldet, ohne wirklich aktiv zu sein.

»Das klingt schlimmer als Schlager. Dagegen ist Roland Kaiser Sartre.«

MYP Magazine:
„Ich hab‘ sie alle geliebt / Rom, Berlin und Paris / Und wenn ich mich erinner‘ / Irgendwie war‘s jedes Mal für immer“ – so lautet der Refrain des Songs „Für immer immer“ von Fettes Brot. Darin werden kleinen und großen Liebschaften des Lebens ein Denkmal gesetzt. Auch aufgrund seiner internationalen Schauplätze kann man „L’amour numérique“ durchaus ähnlich verstehen. Was war Dein Motor, solch ein Denkmal zu errichten?

Oliver Polak:
Uff. Das klingt schlimmer als Schlager, um ehrlich zu sein. Also dagegen ist Roland Kaiser Sartre. Muss man so sagen. Was war die Frage? Warum ich das Buch geschrieben habe?

MYP Magazine:
Genau, was Dein Motor dafür war. Und ob es auch so verstanden werden kann, dass es ein Denkmal für große und kleine Liebschaften ist.

Oliver Polak:
Nein, überhaupt nicht. Kompletter Blödsinn. Ist es nicht. Motor ist so ein komisches Wort. Wenn ich schreibe, denke ich an sowas gar nicht. Es ist eher so, dass man sich irgendwann hinsetzt, den Laptop aufklappt und so eine Geschichte hat. In diesem Fall fing alles mit einer Verabredung an, die nicht kam. Diese Situation wollte ich aufschreiben. Ich hatte nie den Plan, ein Buch über Onlinedating zu schreiben. Das hat sich so ergeben. Und mir geht es auch um die vielen echten Begegnungen, die eben nicht aus dem Onlinedating resultieren.

»Trifft mein Hauptdarsteller die Frauen, um sie zu lieben, oder trifft er sie nur, um sich nicht zu lieben?«

MYP Magazine:
Deinem literarischen Alter Ego scheinen ständig fremde, sehr attraktive Frauen zu begegnen, die auf spontanen Abenteuer-Sex mit ihm Lust haben. Was ist Dein Erfolgsgeheimnis?

Oliver Polak:
Sex empfinde ich nicht als großes Thema im Buch. Stattdessen geht es um die Suche nach Verbundenheit – sowohl bei anderen Menschen als auch bei sich selbst. Trifft mein Hauptdarsteller die Frauen, um sie zu lieben, oder trifft er sie nur, um sich nicht zu lieben? Mein Protagonist erhofft sich keinen schnellen Sex, sondern sehnt sich nach dieser einen Person, die vielleicht mit ihm die Welt bereist.

MYP Magazine:
Also sehnt er sich nach Magie.

Oliver Polak: (schnaubt)
Nein, gerade nicht dieses Überhöhte, sondern eher das Gegenteil von Magie: das Wahrhaftige, das Echte, das Greifbare – etwas, das vielleicht auch dableibt und nicht nur Fantasie ist.

»Es gibt wenige Menschen, die mir Fragen stellen.«

MYP Magazine:
Ein Interesse an Wahrhaftigkeit merkt man Dir in vielen Deiner Formate an, wie etwa in „Gedankenpalast“ oder „Your Life Is a Joke“. Dort bist Du der Fragesteller – und dabei kein schlechter. Wie nutzt Du dein journalistisches Talent im Privatleben?

Oliver Polak:
Ich lebe gerade eher zurückgezogen, deshalb komme ich nicht in viele solcher Situationen. Aber wenn ich jemanden interessant finde, kann ich sehr neugierig sein. Auf der anderen Seite mag ich es gerne, wenn Leute mir gegenüber neugierig sind. Es gibt wenige Menschen, die mir Fragen stellen und nicht darauf warten, dass ich die Konversation leite.

MYP Magazine:
Hast Du das Gefühl, häufig der Treiber von Gesprächen sein zu müssen?

Oliver Polak:
Ja, ich habe immer das Gefühl, dass ich für Situationen verantwortlich bin und Sachen auffangen muss. Daran arbeite ich immer wieder: mir in diesen Momenten selbst zu sagen, dass dem nicht so ist – und dass ich nicht für alles verantwortlich bin.

MYP Magazine:
Wie schafft man das?

Oliver Polak:
Indem man zulässt, einfach nichts zu unternehmen.

»Ich finde es für die Gesellschaft grundsätzlich gut, dass es Rotlicht-Dates gibt.«

MYP Magazine:
Wurdest Du beim Onlinedating eigentlich schon mal von einem Fan gematcht?

Oliver Polak:
Nein. Während Corona habe ich Tinder mal in Berlin benutzt. Da habe ich eine Frau aus Poznan in Polen kennengelernt, die nicht wusste, was mein Beruf ist. Ansonsten habe ich die App eher im Ausland angeschmissen.

MYP Magazine:
Apropos Beruf: Das erste Kapitel Deines Buches ist einer spontanen Liaison mit einer Sexarbeiterin in Paris gewidmet, später trifft Dein Alter Ego auf eine depressive Domina in New York. Wie ist Dein generelles Verhältnis zu Rotlicht-Dates?

Oliver Polak:
Wenn alles freiwillig geschieht, finde ich es für die Gesellschaft grundsätzlich gut, dass es das gibt.

»Ich kann sowohl gute Komplimente machen als auch Leute sehr hart verletzen. Dazwischen gibt es bei mir nicht viel.«

MYP Magazine:
Im Buch wirkt es so, als hätte der Icherzähler sein erstes Mal mit 17 Jahren mit einer Sexarbeiterin in Holland…

Oliver Polak:
Nein, es ist nicht sein erstes Mal. Nur das erste Mal, dass er sich in der Gegenwart einer Frau wohlfühlt.

MYP Magazine:
Eine Frau, bei der Du dich sehr wohlfühlst, ist deine Tante in Amerika. In Kapitel Nummer drei findet sich eine Liebeserklärung an sie: „Mit ihr kann ich die Freuden des Lebens teilen, um gute Komplimente ist sie nie verlegen.“ Hast du diese Kunst von ihr erlernt?

Oliver Polak:
Ich kann sowohl gute Komplimente machen als auch Leute sehr hart verletzen. Dazwischen gibt es bei mir nicht viel. Übrigens schätze ich an meiner Tante, was ich an vielen Amerikanern schätze: Sie ist immer sehr positiv gewesen. Viele Gespräche beginnen mit einem Kompliment zum Sweatshirt und ehrlichem Smalltalk. In Deutschland wird es als oberflächlich abgetan, ich empfinde es aber als positive Lebenseinstellung. Mein Freund Micky Beisenherz hat mal gesagt: Der Deutsche zieht schon als Werkseinstellung so eine Fresse (macht eine ausladende Geste mit Händen und Unterkiefer). Teilweise bemerke ich diese Negativität auch an mir. Aber ich wohne nun einmal seit 46 Jahren in Deutschland, das färbt natürlich ab.

»Ich bin nach Hause gerast, um mir einen Fummel meiner Mutter überzuwerfen.«

MYP Magazine:
Sprechen wir weiter über die weiblichen Figuren in Deiner Biografie und in Deinem Buch, besonders über eine: Stimmt es, dass du in den Klamotten Deiner Mutter eine Reise nach Paris gewonnen hast?

Oliver Polak:
Ja. Als Teenager besuchte ich eine NDR-2-Party. Highlight dieses Abends: Wer von den Männern als erster als perfekt zurechtgemachte Frau wieder in der Halle auftauchte, würde die Reise gewinnen. Also bin ich nach Hause gerast, um mir einen Fummel meiner Mutter überzuwerfen und mich in ihr Cartier-Parfum einzuhüllen. So habe ich tatsächlich den Trip für zwei Personen geholt.

»Grundsätzlich fände ich es besser, jemanden kennenzulernen, der meine Sachen noch nicht gelesen hat.«

MYP Magazine:
Schauen wir in die Liebeszukunft von Oliver Polak. Im Buch verkündet die Mutterfigur: „Ich habe dein neues Buch gelesen. So wirst du in diesem Leben bestimmt keine Frau mehr kennenlernen. Fehlt nur noch, dass du dich umbringst.“ Hast Du Angst, dass Deine zukünftigen Dates dieses Buch noch vor dem ersten Treffen gelesen haben?

Oliver Polak:
Nein, das juckt mich nicht. Allerdings ist „L’amour numérique“ nicht mein erstes Buch. Grundsätzlich fände ich es besser, jemanden kennenzulernen, der meine Sachen noch nicht gelesen hat. Denn ansonsten sitze ich da beim Date, erzähle meine Anekdote – und die Dame gegenüber lacht nicht und zeigt sich auch nicht interessiert, sondern sagt nur gelangweilt: „Ah ja, die Geschichte kenne ich schon, habe ich schon in deinem Buch gelesen.“


Jonas Nay

Interview — Jonas Nay

»Journalismus macht man nicht von der Poolbar aus«

In Bully Herbigs neuem Film »Tausend Zeilen« ist Schauspieler Jonas Nay in der Rolle des allseits gefeierten Reporters Lars Bogenius zu sehen. Für seine packenden Reportagen wird dieser mit Preisen überhäuft – dabei hat er alles nur erfunden. Ein Gespräch über gespielte Empathie, die Bedeutung von Journalismus sowie die Frage, wie sich der Kinofilm zur realen Betrugsaffäre um Spiegel-Reporter Claas Relotius positioniert.

28. September 2022 — Interview & Text: Katharina Viktoria Weiß & Jonas Meyer, Fotografie: Steven Lüdtke

Eine bewaffnete Bürgerwehr in der Wüste von Arizona, die auf Geflüchtete schießt, um sie an der illegalen Einreise von Mexiko in die USA zu hindern. Ein 13-jähriger Syrer, der in der Stadt Daraa mit einem Graffito Präsident Assad beleidigt und damit den Syrienkrieg auslöst. Ein Gespräch mit den Eltern von Footballspieler Colin Kaepernick, der sich aus Protest gegen Rassismus in den USA vor Spielbeginn zur Nationalhymne hinkniete. Gab es alles nicht. Zumindest nicht so, wie es erzählt wurde.

Am 19. Dezember 2018 machte das deutsche Nachrichtenmagazin Der Spiegel öffentlich, dass Claas Relotius, damals 33 Jahre alt und ein gefeierter Reporter des Hauses, über Jahre große Teile seiner Reportagen und Interviews frei erfunden beziehungsweise Fakten falsch dargestellt, verfälscht oder hinzugedichtet hatte. Die Affäre löste national wie international regelrechte Schockwellen aus und beschädigte nicht nur den Spiegel schwer, sondern stellte einen gesamten Berufsstand unter Generalverdacht. Wenn so etwas bei einem derart renommierten Blatt passieren konnte, war das vielleicht gar keine Ausnahme, sondern eher die Regel?

Aufgeflogen war das Ganze durch Relotius‘ Kollegen Juan Moreno, der mit ihm im Herbst 2018 an einer Reportage über US-Bürgerwehren an der Grenze zu Mexiko arbeitete. Moreno fand in Relotius‘ Text diverse Ungereimtheiten, überprüfte angebliche Fakten und teilte seinen Verdacht der Ressortleitung mit. Diese reagierte skeptisch bis kopfschüttelnd auf die Vorwürfe und nahm Moreno nicht ernst. Daraufhin entschloss er sich, seinem allseits beliebten und mit diversen Preisen ausgezeichneten Kollegen hinterher zu recherchieren. Und so besuchte er Mitglieder jener ominösen Bürgerwehr in den USA, um Beweise für seine Anschuldigungen zu sammeln und seinen Arbeitgeber endlich zu überzeugen.

Mit Erfolg: Am 17. Dezember reichte Claas Relotius seine Kündigung ein, zwei Tage später machte das Blatt die Sache publik und begann mit der umfangreichen Aufarbeitung des Skandals. Knapp ein Jahr später, am 17. September 2019, veröffentlichte Juan Moreno mit „Tausend Zeilen Lüge“ ein Buch über die Affäre.

Dieses Buch und die darin beschriebenen Ereignisse haben Regisseur Michael „Bully“ Herbig sowie die Produzenten Sebastian Werninger und Hermann Florin, von dem auch das Drehbuch stammt, zu einem Kinofilm inspiriert. Im Mittelpunkt von „Tausend Zeilen“, der gerade in den deutschen Kinos anläuft, stehen die Reporter Juan Romero, gespielt von Elyas M’Barek, und Lars Bogenius, dargestellt von Jonas Nay. Während der eine verzweifelt versucht, bei der schmierigen Chefredaktion des Nachrichtenmagazins Chronik mit seinen Anschuldigungen durchzudringend und dabei immer stärker Frau und Kinder vernachlässigt, wird der andere mit Preisen überschüttet und denkt sich immer neue Reportagen aus – bevorzugt von der Poolbar eines Luxushotels aus.

In einem Luxushotel treffen wir auch Jonas Nay zum Interview – allerdings nicht, weil der unprätentiöse Schauspieler dort bevorzugt absteigen würde. Sondern weil die Produktionsfirma hier einen großen Pressetag veranstaltet. Bevor wir mit dem Gespräch starten, schnappt sich der 32-Jährige erst den Frisierumhang der Visagistin und dann den Kopfschmuck unserer Chefredakteurin, um sich damit vor der Kamera in Szene zu setzen. Was folgt, sind turbulente 60 Minuten, in denen nicht nur der Concierge spontan mit einbezogen wird, indem er ein Hemd als weitere Kostümvariante zur Verfügung stellt. Sondern auch das Hausmeister-Team, das Jonas Nay freundlich eine Leiter überlässt, damit er sich inmitten der Deckenbeleuchtung fotografieren lassen kann. Was für ein Warm-up!

»Ich habe mich gefragt, was das wohl für ein System gewesen sein musste, in dem so etwas über Jahre nicht aufgeflogen ist.«

MYP Magazine:
Als vor knapp vier Jahren die sogenannte Relotius-Affäre öffentlich wurde, löste sie medial regelrechte Schockwellen aus. Erinnerst Du dich noch, welche Gedanken Dir damals durch den Kopf gegangen sind, nachdem Du von der Sache erfahren hattest?

Jonas Nay:
Ich muss gestehen, dass ich damals zwar mitbekommen habe, dass es beim Spiegel eine große Betrugsaffäre gab, die für den Journalismus ein ziemlicher Paukenschlag gewesen sein muss. Aber jene Schockwelle hat mich persönlich nicht mit aller Wucht erwischt, da ich in der Zeit in zwei parallel stattfindenden Drehs in Kroatien und Belarus eingespannt war. So bin ich erst richtig in die Materie eingetaucht, als plötzlich dieses Filmprojekt auf meinem Tisch lag. In der Vorbereitung auf meine Rolle habe ich all die gefälschten Reportagen und Interviews von Claas Relotius gelesen, die der Spiegel – mit Kommentaren versehen – im Nachhinein wieder online gestellt hat. Dabei habe ich mir immer wieder die Augen gerieben und mich gefragt, was das wohl für ein System gewesen sein muss, in dem so etwas über Jahre nicht aufgeflogen ist.

»Ich muss klar herausstellen, dass ich nicht Claas Relotius spiele.«

MYP Magazine:
Auch vor Claas Relotius gab es bereits Journalist:innen, die Artikel gefälscht hatten – wie etwa den Schweizer Tom Kummer, der in den 1990er Jahren Interviews mit etlichen Hollywood-Stars fingiert hatte. Solche Skandale lösen immer wieder öffentliche Debatten über die Ethik des Erzählens im Journalismus aus. Fühlst Du dich als Schauspieler ebenfalls bestimmten ethischen Grundregeln verpflichtet, wenn Du eine Figur spielst, die wie etwa Lars Bogenius an eine reale Person der Zeitgeschichte angelehnt ist?

Jonas Nay:
Zuerst einmal muss man klar unterscheiden zwischen journalistischem und fiktionalem Erzählen. Der Beruf, den ich ausübe, lebt davon, dass man Dinge erfindet. Er lebt davon, dass ich als Schauspieler durch meine Performance versuche, dem Publikum bestimmte Emotionen nahezubringen, damit Zuschauer:innen eine Empathie für meine Figur entwickeln können. Demgegenüber verstehe ich den Journalismus als einen Beruf, in dem es darum geht, die Wahrheit – also das, was ist – in Worte zu fassen und der Leserschaft beizubringen. Natürlich variiert das Erzählen ein wenig von Ressort zu Ressort, aber das Grundprinzip der Wahrheitstreue bleibt dasselbe.
Davon abgesehen muss ich klar herausstellen, dass ich nicht Claas Relotius spiele. Sowohl Hermann Florin als auch Bully Herbig haben von Anfang an betont, dass wir keinen Film über Claas Relotius und Juan Moreno machen. Wir erzählen eine fiktive Geschichte, die inspiriert ist von Morenos Buch.
Als ich mich im Vorfeld mit Bully über meine Figur unterhalten hatte und ihn fragte, wie nah ich mit diesem Lars Bogenius an die real existierende Person Claas Relotius heranrücken sollte, sagte er: „Mach dich davon frei. Dein Bogenius ist ein fiktiver Betrüger, der inspiriert ist von all den Erfahrungen, die du als Mensch im Laufe deines Lebens gesammelt hast.“ Das Erste, was ich also getan habe, um in die Rolle eines Hochstaplers einzusteigen, war, „berühmteste Betrüger“ zu googeln. Dabei bin ich beispielsweise auf Stephen Glass gestoßen, dessen Fall noch etwas näher an der Causa Relotius ist als der von Tom Kummer. So habe ich mich Stück für Stück durchgearbeitet und mir die Kirschen für meinen fiktionalen Charakter herausgepickt.

»Lars Bogenius lebt von der sogenannten Spiegeltechnik – was übrigens viele Betrüger tun.«

MYP Magazine:
Es gibt im Film immer wieder Situationen, in denen man das Gefühl hat, diesem Lars Bogenius ein wenig näherzukommen. Etwa bei seinem mal freundlichen, mal aufbrausenden Umgang mit Kolleg:innen. Bezeichnend ist auch eine Szene, in der Bogenius von einer Redakteurin spontan in den Arm genommen wird. Er ist nicht in der Lage, diese plötzliche Herzlichkeit zu erwidern, sondern streckt ungelenk beide Arme von sich. Welche Bedeutung haben diese Unsicherheit und der offensichtliche Mangel an sozialer Kompetenz für die Ausgestaltung der Figur?

Jonas Nay:
Erstens habe ich Lars Bogenius einen leichten Asperger-Hauch gegeben und ihn so gezeichnet, dass er von der sogenannten Spiegeltechnik lebt – was übrigens viele Betrüger tun. Dabei geht es darum, in der eigenen Körpersprache und dem eigenen Ausdruck das Gegenüber zu kopieren, um eine gewissen Nähe herzustellen, und zwar so, dass es davon nichts merkt. Zweitens, und auch das tun viele Betrüger, versucht Lars Bogenius immer wieder, bei seinen Mitmenschen persönlich anzudocken und für deren privaten Schicksale eine aufrichtige Anteilnahme vorzutäuschen. Das wiederum gelingt ihm besonders gut, weil er dafür im Gegensatz zu seinen Kolleg:innen viel mehr Raum und Zeit in seinem Kopf hat. Er muss seine Reportagen nicht wie andere aufwendig recherchieren, sondern kann sie sich in aller Ruhe und ohne journalistischen Druck ausdenken.
Ich weiß aus meinem eigenen Beruf, wie sehr einen die Profession im Alltag einnehmen kann und wie sehr man dem hinterherrennt, was man erreichen möchte. Es passiert mir zum Beispiel oft, dass ich an der Supermarktkasse stehe und plötzlich über einen Songtext für meine Band nachdenke. Oder darüber, wie ich meine nächste Rolle ausgestalte. Oder wie die Szene war, die ich gerade gespielt habe. Wenn ich abends nach einem Drehtag ins Bett steige, ist mein Kopf voller Gedanken darüber, was über den Tag passiert ist und was morgen kommt. Ein Lars Bogenius hat solche Gedanken nicht – und kann sich daher voll und ganz der Manipulation seiner Umwelt widmen.

»Ich habe nicht den Eindruck, dass sich Lars Bogenius von heute auf morgen entschieden hat, Betrüger zu sein.«

MYP Magazine:
Im Film lernen wir die tatsächlichen Beweggründe von Lars Bogenius nie wirklich kennen…

Jonas Nay:
Nein.

MYP Magazine:
Hast Du persönlich eine Vermutung, was seine Motive sind? Will Lars Bogenius in erster Linie ein Hochstapler sein? Oder glaubst Du, dass er eher aufgrund des hohen Leistungsdrucks im Job in die Situation gekommen ist, Reportagen zu fälschen – etwa, weil es von Seiten der Chefredaktion oder Ressortleitung heißt: „Wir brauchen von dir in drei Tagen ein Text über dieses krasse Schicksal!“

Jonas Nay:
Ich glaube – und das ist nur meine persönliche Sicht – dass so ein Verhalten immer multikausal ist. Ich habe nicht den Eindruck, dass sich Lars Bogenius von heute auf morgen entschieden hat, Betrüger zu sein. In unserem Film habe ich es so erzählt, dass es irgendwann einen Zeitpunkt gab, ab dem Bogenius langsam angefangen hat, in seinem Leben Dinge dazu zu dichten, und damit sehr viel Erfolg hatte.

MYP Magazine:
Wie etwa das Erfinden einer todkranken Schwester.

Jonas Nay:
Genau, das hat ihm bei seinen Mitmenschen schon mal ein paar Empathiepunkte eingebracht und willkommene Ausreden beschert. Und was seine Artikel angeht, hat er zwar ursprünglich auch klassischen Journalismus betrieben, aber seine Texte dann immer weiter ausgeschmückt, Elemente verändert oder frei erfunden. Auch damit hatte er sehr viel Erfolg und ich glaube, dass ihn diese Welle des persönlichen wie beruflichen Erfolgs bald vollständig getragen hat. Wenn so etwas passiert, schafft man irgendwann den Absprung nicht mehr. Man ist davon überzeugt, dass das alles doch irgendwie funktioniert.

»Ich mag es gerne ein wenig rationaler und kühler, wenn ich etwas Journalistisches lese.«

MYP Magazine:
Über Claas Relotius sagte damals Welt-Redakteur Christian Meier, dass dieser „mit Sprache so gut umzugehen vermag wie kaum jemand sonst seiner Generation“. Seine Reportagen seien fast immer spektakulär gewesen, außerdem extrem gut komponiert und geschrieben. Empfindest Du wegen dieses Talents auch so etwas wie Bewunderung gegenüber Deiner Figur Lars Bogenius – und in der Konsequenz auch gegenüber Claas Relotius?

Jonas Nay:
Ein Talent für packende Texte kann ich Claas Relotius auf jeden Fall attestieren – jetzt, da ich seine Reportagen gelesen habe. Er weiß, wie er mit Sprache umzugehen hat, um seine Texte spannend und unterhaltsam zu machen. Aber hier liegt auch die Crux. Ich persönlich finde seine Texte zu filmisch für einen Reportagestil. Ich mag es gerne ein wenig rationaler und kühler, wenn ich etwas Journalistisches lese. Allein deshalb empfinde ich hier schon keine Bewunderung.
Darüber hinaus haben seine Reportagen meistens scheinbare Sensationen aufgedeckt – was in erster Linie dem Umstand geschuldet war, dass er diese Sensationen selbst erfunden hat. Ich habe mich dazu lange mit Juan Moreno unterhalten und kann sagen, dass so ein Verhalten wohl der größte Schlag ins Gesicht eines ehrlichen Journalisten ist. Moreno hat mir von eigenen Reportagen erzählt, für die er beispielsweise in Kolumbien bei der damals neu aufkeimenden FARC-Guerilla recherchiert hatte. Er war mit seinem Fotografen dorthin gefahren und wusste nicht, ob er jemals wieder lebend zurückkommen und seine Familie wiedersehen würde. Er sagte zu mir, dass man als Journalist über so viele Grenzen gehe, um wirklich an ein Geschehen heranzukommen, dass es extrem wehtue, wenn jemand so etwas einfach frei erfinde – und damit mehr Erfolg habe als die, die die Regeln einhielten. Allein deshalb sei es so wichtig, so etwas aufzudecken. Oder um es auf Lars Bogenius zu beziehen: Journalismus macht man nicht von der Poolbar aus.

»Mit einem Michael Bully Herbig kommt man am Humor nicht vorbei.«

MYP Magazine:
Die Affäre Relotius wurde zu einer Zeit publik, in der klassische Medien weltweit ohnehin schon gegen Fake News und Trumpismus anzukämpfen hatten. Der Relotius-Fall war Wasser auf die Mühlen der Feinde der freien Presse und des unabhängigen Journalismus – also ein richtig ernstes Thema. Euer Film spielt in derselben Zeit wie der reale Skandal, arbeitet immer wieder mit komödiantischen Elementen, die eher an „Schtonk“ als an „The Post“ erinnern. Habt Ihr im Vorfeld diskutiert, wie viel Humor die Erzählung einer so eine brisanten Geschichte vertragen kann oder vielleicht sogar braucht?

Jonas Nay:
Das ist ein wichtiger Punkt. Wenn es um die Kreation unserer Figuren geht, treibt es uns Schauspieler:innen generell sehr um, in welche Richtung die Regie mit der Geschichte gehen und welche Tonalität sie treffen möchte. Auch bei „Tausend Zeilen“ gab es dazu im Vorfeld viele Gespräche. Ich glaube, mit einem Michael Bully Herbig kommt man am Humor nicht vorbei. Aus diesem Grund wurde er auch ausgewählt.
Gleichzeitig ist unser Film aber keine Mediensatire wie etwa „Schtonk“, den ich übrigens persönlich sehr mag. Der Humor, der bei uns stattfindet, hat sich eher aus den Absurditäten heraus entwickelt. Mir selbst ist es beim Lesen des Buches immer wieder so gegangen, dass ich laut auflachen musste – auf eine bittere und sarkastische Art und Weise. An vielen Stellen dachte ich einfach nur: What?! Wenn es darum geht, von wie vielen Leuten Claas Relotius in den Himmel gelobt wurde, wie viele Preise er gewonnen hat und wie wenig dabei von all dem Geschriebenen gestimmt hat, ist das alles an Absurdität kaum zu übertreffen. Daher war es naheliegend, aus der Geschichte kein investigatives Drama zu entwickeln – auch weil wir ohnehin nie an den tatsächlichen Wahrheitsgehalt herangekommen wären.

»Vielleicht ist Claas Relotius ja fein mit sich und der Welt.«

MYP Magazine:
Gab es im Vorfeld der Dreharbeiten Kontakt zu Claas Relotius?

Jonas Nay:
Das ist die Frage an den Falschen. Ich selbst habe nie mit ihm gesprochen. Für meine Figur wäre es auch ohne Bedeutung gewesen – spätestens ab dem Moment, als klar war, dass ich nicht Claas Relotius spiele, sondern Lars Bogenius, und es keinen direkten Einfluss der historischen Figur auf die fiktive gibt. Klar, natürlich würde ich mich gerne mal mit ihm unterhalten, weil er für mich als Schauspieler eine wahnsinnig spannende Persönlichkeit ist. Aber das hat nichts mit unserem Film zu tun.

MYP Magazine:
Hast Du Mitleid mit Claas Relotius?

Jonas Nay:
Mitleid? Hmm, nein. Ich finde, er hat einem der besten Magazine, die wir in Deutschland haben, und einem ganzen Berufsstand einen so unglaublich großen Schaden zugefügt, dass ich da kein Mitleid haben kann. Vielleicht ist er ja auch fein mit sich und der Welt.

MYP Magazine:
Hast Du Mitleid mit Lars Bogenius?

Jonas Nay:
Nein, auch nicht. Wenn man den Filmplot mal etwas weiterdenkt, glaube ich, dass es Lars Bogenius so richtig gut geht. Sicher hat er bereits Juan Romero sowie die Chronik auf Verleumdung verklagt, wird damit Erfolg haben und sich ein schönes Leben machen.

»Ich spüre die positive Energie, wenn ich irgendwo hinkomme und die Menschen sich freuen, mich zu sehen.«

MYP Magazine:
In der Redaktion der Chronik findet eine regelrechte Heroisierung des „Wunderkinds“ Bogenius statt, das war auch bei Claas Relotius so. Wie gehst Du als bekannter Schauspieler mit der gelegentlichen Überhöhung der eigenen Person um?

Jonas Nay:
Ich würde die Antwort gerne ein wenig biegen wollen. Ich kenne als Schauspieler den Zustand, in dem einem alles leichter fällt, weil man von anderen Menschen gemocht wird und diese Menschen einem nur Gutes wollen. Das war etwa nach meinem ersten Film „Homevideo“ so, als die Erfolgswelle einfach nicht abebben wollte – eine echt schöne Zeit. Auch wenn ich glaube, dass mir das nicht ungebremst zu Kopf gestiegen ist, spüre ich natürlich die positive Energie, wenn ich irgendwo hinkomme und die Menschen sich freuen, mich zu sehen – weil sie gut finden, was ich so mache. So eine Situation gibt einem das Gefühl, dass man erst mal nichts verkehrt machen kann. Auch Claas Relotius ist damals in seiner Welt – dem Journalismus – als Wunderkind gehypt worden und stand gleichzeitig noch unter Welpenschutz. Dieses Setting kann ich sehr gut nachvollziehen. Und ich glaube, es verleitet einen dazu, sich selbst nicht mehr so zu hinterfragen.

MYP Magazine:
Passiert es ab und zu, dass Du dich selbst googelst und zufrieden lächelst – wie Bogenius im Film?

Jonas Nay: (grinst)
Ich habe mich schon oft selbst gegoogelt – und ganz bestimmt habe ich da auch hin und wieder mal gelächelt.

»Es macht etwas mit mir, wenn ich das Gefühl habe, im Moment des Lesens ein echtes Schicksal vor Augen zu haben.«

MYP Magazine:
Am Ende des Films versucht sich Lars Bogenius mit folgenden Worten vor seinen Vorgesetzten zu rechtfertigen: „Die Welt da draußen – die Wirklichkeit – ist langweilig, ist öde. Wir bringen Dramatik rein. Wir sorgen für Abläufe, Wendungen, Kurven.“ Wie kann es passieren, dass ein so intelligenter Charakter den Journalismus so beschreibt, als ginge es um Theater?

Jonas Nay:
Das ganze Leben ist doch Theater! Ich glaube, wir alle sind auf eine gewisse Art und Weise Schauspieler:innen, weil wir unsere Persönlichkeit in Momenten der Selbstpräsentation so gestalten, wie es der Situation gerade angemessen ist. In dem erwähnten Monolog von Lars Bogenius steckt sehr viel Wahres, auch wenn ich die Welt da draußen alles andere als öde finde. Was er aber hauptsächlich aufzählt, sind Qualitäten, die auch ein seriöser Reporter an den Tag legen darf – mit dem kleinen Haken, dass er sich dabei an nachvollziehbar wahre Tatsachen und Erlebnisse halten muss.
Es ist nicht einfach, aus subjektiven Beobachtungen eine journalistische Erzählung zu spinnen, die die Leserschaft mitnimmt. Daher ist es auch in einer Reportage wichtig, eine gute Dramaturgie zu haben. Ich als Leser will ja nicht enttäuscht werden! Ich will einerseits einen Text haben, der mich emotional umhaut und von sensationellen Erlebnissen getragen wird. Und andererseits will ich selbstverständlich, dass der Text bei der Wahrheit bleibt. Es macht nämlich etwas mit mir, wenn ich das Gefühl habe, im Moment des Lesens ein echtes Schicksal vor Augen zu haben – weil ich davon ausgehe, dass mir da gerade die Wahrheit in einer Weise nahegebracht wird, wie ich sie vorher nicht erleben durfte. Durch einen fiktionalen Film kann ich das nicht erleben. Und ich kann auch nicht oder nur schwer an den betreffenden Ort fliegen, wo die Geschichte passiert ist oder gerade passiert. So werden mir Informationen nahegebracht, die ich ohne die Reportage nicht erlebt hätte. Diesen Mehrwert gibt es aber nur, weil ich davon ausgehe, dass das Geschriebene wahr ist. Sonst könnte ich auch einen Roman lesen. Aber dann – wenn man von rein fiktionalen Geschichten ausgeht – gibt es wesentlich bessere Texte als die von Claas Relotius.

»Mir wird immer wieder gespiegelt, dass ich in meiner schauspielerischen Arbeit zu rational-handwerklich sei.«

MYP Magazine:
Ist es Dir in Deinem Beruf als Schauspieler auch schon mal passiert, dass Du stellenweise nicht mehr zwischen Realität und Fiktion unterscheiden konntest?

Jonas Nay:
Bei mir geht es eher ins andere Extrem. Mich faszinieren einfach der Drehprozess und die Gewerke um mich herum zu sehr, als dass ich mich im Künstlerischen längere Zeit komplett verlieren könnte – vielleicht auch, weil ich als Filmkomponist auch noch in die Postproduktion eingebunden bin. Ich merke, dass ich am Set ständig Antennen ausfahre, weil ich wahrzunehmen versuche, was um mich herum passiert und gesprochen wird: etwa, wenn die Regieassistenz, die Continuity-Verantwortliche oder Kamera und Regie etwas miteinander zu bereden haben. Diese direkten und ungefilterten Informationen mag ich in manchen Fällen sogar eher als den gefilterten Sprech eines Regisseurs oder einer Regisseurin am Set. Ich bin dann so sehr in der Welt des Hier und Jetzt, dass mir schon gesagt wurde: „Jonas, ich weiß, wir drehen gerade nicht, aber jetzt geh zurück in Deine Rolle und lass mich mal machen.“ (lacht)

»Durch die Arbeit an historischen, aber auch an fiktionalen Stoffen habe ich sehr viel über mich als Mensch gelernt.«

MYP Magazine:
Wir haben bei unserem letzten Interview vor knapp zwei Jahren darüber gesprochen, dass Du mit Deinen Rollen der letzten Jahre inhaltlich in fast jedes Jahrzehnt der jüngeren deutschen Geschichte eingetaucht bist. Das scheint sich mit „Tausend Zeilen“ nun fortzusetzen. Was hast Du durch diesen Film gelernt, was Dir vorher verborgen war?

Jonas Nay:
Ich mache es etwas genereller: Ich habe das Gefühl, dass ich durch meine Arbeit sehr viel über mich als Mensch gelernt habe. Als Schauspieler:in setzt man sich einfach sehr mit sich als Person auseinander. Bei den historischen Stoffen habe ich zudem viel über die deutsche Geschichte erfahren. Ohne die Schauspielerei hätte ich mich damit vielleicht privat nicht so ausführlich beschäftigt – etwa, wenn ich stattdessen Musiklehrer am Gymnasium geworden wäre.
Darüber hinaus ist das Schöne an fiktionalen Stoffen, dass man seinen Charakteren so dicht folgen kann und eine unmittelbare – und aus deren Perspektive authentische – Sicht auf die Dinge erhält, auch wenn es um Epochen geht, in denen man selbst nicht gelebt hat. Als Schauspieler:in setzt man sich dabei nicht nur mit der Rolle per se auseinander, sondern auch mit dem gesamten Surrounding der Figur. Man erlebt die Dynamiken, Hierarchien und Dominanzen, die in einer Szene vorherrschen, in der Regel ja noch intensiver als das Publikum. Diese Erfahrungen sind etwas, was ich an diesem Beruf total genieße.

»Wenn ich nicht die Möglichkeit hätte, ernsthaften und ungefärbten Journalismus zu erfahren, würde ich die Welt noch viel weniger verstehen.«

MYP Magazine:
Hat diese Rolle Dich Menschen und Medien gegenüber misstrauischer gemacht? Oder positiv gefragt: Wie stellst Du für dich sicher, nach wie vor Wahrheit und Wahrhaftigkeit zu erfahren?

Jonas Nay:
Ich weiß nicht. Ich glaube, vieles in diesem Leben ist ein Game, ein permanentes Austesten und Schauen. Und Menschen sind so vielschichtig in ihrem Miteinander, dass man eigentlich nie den Punkt erreichen kann, an dem man das Gefühl hat, vollkommene Wahrhaftigkeit zu erfahren.
Wenn es um journalistische Texte geht, bin ich der Meinung, dass explizite Fake News und Propagandatexte immer noch leicht zu entlarven sind. Sobald man anfängt zu überprüfen, ob das Geschriebene ansatzweise anhand seriöser Quellen belegbar ist, kann man Falschnachrichten leicht entschärfen. In einem Fall wie dem von Claas Relotius ist das schwieriger, weil sein Betrug im Rahmen eines seriösen Formats passierte, bei dem man so etwas nicht erwartet hatte und die meisten – und prestigeträchtigsten – seiner Werke Auslandsreportagen waren. Aber Menschen betrügen eben. Daher werden wir auch in Zukunft immer wieder auf Lügner und Betrüger treffen – und ich hoffe, die allermeisten von ihnen werden entlarvt. Dieser Umstand stellt für mich persönlich aber nicht den Journalismus an sich in Frage. Relotius war ein Einzelfall, davon wird es wahrscheinlich immer wieder welche geben. Das ändert nichts an der Tatsache, dass ich überaus dankbar bin für den Journalismus und das hohe Gut der Pressefreiheit in Deutschland. Ich bin nach wie vor ein begeisterter Konsument von seriösem Journalismus. Das färbt meine Weltsicht, das finde ich wichtig für mein Leben. Wenn ich nicht die Möglichkeit hätte, ernsthaften und ungefärbten Journalismus zu erfahren, würde ich die Welt noch viel weniger verstehen.

MYP Magazine:
Jonas, besten Dank für das Gespräch!