MYP10 – Prolog "Meine Nacht"

Editorial — MYP Magazine N° 10

Prolog »Meine Nacht«

14. April 2013 — Samuel Schneider fotografiert von Lukas Leister

— Samuel Schneider im Interview


Samuel Schneider

Interview — Samuel Schneider

Nachtsonne

In seinem neuen Film spielt Samuel Schneider einen Jungen, der sich meist von seiner Krankheit eingeengt fühlt, aber plötzlich inmitten einer überfüllten Großstadt seine Freiheit beansprucht. Ein Interview über das Vergessen der Zeit und wie es ist, an der Seite von Ulrich Tukur zu spielen.

14. April 2013 — MYP N° 10 »Meine Nacht« — Interview: Jonas Meyer, Fotos: Lukas Leister

Der Hackesche Markt an einem Sonntagnachmittag im März. Alles könnte sein wie immer, wenn es Frühling wird in Berlin: Mit singenden Vögeln und flanierenden Menschen, die mit einem Lächeln im Gesicht die ersten warmen Sonnenstrahlen inhalieren.

Es könnte so sein. Ist es aber nicht, nicht diesmal.

Denn es gibt weder Vögel noch Sonnenstrahlen noch Wärme noch Frühling. Nur Schnee, Eis und zornigen Wind, der ein lebloses Grau in alle Ecken drückt.

Aus wissenschaftlicher Perspektive mag es sicher spannend sein, diesen kältesten März seit 130 Jahren live zu erleben – am Hackeschen Markt scheint sich allerdings gerade niemand aufzuhalten, der diesen Enthusiasmus teilen würde. Die wenigen Menschen, die auf dem sonst so lebendigen Flecken Berlins unterwegs sind, huschen dick verpackt in überfüllte Cafés oder nähern sich mit strammen Schritten der S-Bahn, um jenen unwirtlichen Ort so schnell wie möglich zu verlassen.

Hier stehen wir also, mitten auf dem Marktplatz. Und frieren. Wir warten hier auf Samuel Schneider, mit dem wir in wenigen Minuten zum Interview verabredet sind. Der junge Schauspieler hat vor kurzem den Film „Exit Marrakech“ abgedreht, für den er drei Monate in Marokko unterwegs war.

Marokko… was würde man nur geben für einen einzigen Sonnenstrahl in diesem leblosen Berliner Grau!

Plötzlich nähert sich ein junger Mann, der fragend seine Zeigefinger auf uns richtet. Zwischen Winterjacke und Wollmütze breitet sich ein freundliches Lächeln aus, das von klaren blauen Augen flankiert wird.

Da ist er also, pünktlich auf die Minute. Eine ausgedehnte Begrüßung muss auf gleich verschoben werden, denn jede weitere Minute in der Kälte wirkt wie eine Bestrafung. Also packen wir das Equipment unter den Arm und laufen zum Restaurant Pan Asia, das uns nur wenige Meter entfernt seine wohl temperierten Arme entgegenstreckt.

Hinter der Eingangstür erwartet uns auch schon das Gegenmittel zum gnadenlosen Winter: Sanftes Licht, freundliche Farben und der frische Duft asiatischer Köstlichkeiten lassen in Sekundenbruchteilen das Grau vergessen, das uns eben noch so gnadenlos im Nacken saß.

Wir legen unsere Jacken ab, lassen uns an einem Tisch am Fenster nieder und atmen entspannt durch. Viermal heiße Minze, bitte!

Jonas:
Du hast im Jahr 2005 zum ersten Mal auf der Bühne gestanden. Wie bist Du so früh zur Schauspielerei gekommen?

Samuel:
Eher durch Zufall! Als ich etwa acht Jahre alt war, hatte ich einen guten Freund, der regelmäßig an einem Schauspiel-Coaching teilnahm. Dieses Coaching wurde von einer Schauspielagentur hier in Berlin angeboten und richtete sich speziell an Kinder und Jugendliche. Da der Kurs immer samstags stattfand und ich irgendwann mal von Freitag auf Samstag bei meinem Kumpel geschlafen hatte, bin ich einfach am nächsten Tag mit ihm mitgekommen.
Das Schauspiel-Coaching hat mir sofort total viel Spaß gemacht. Allerdings hat mich am Anfang weniger die Schauspielerei fasziniert, sondern vielmehr die Tatsache, dass ich einfach mal zwei Stunden lang rumschreien und rumspringen konnte, wie ich wollte. Noch bevor ich meine Mutter fragen konnte, hat mich der Agent für den Kurs eingeschrieben – den ich dann insgesamt acht Jahre lang besucht habe.

Jonas:
Und plötzlich hast du dein erstes Theaterstück gespielt…

Samuel:
Genau! Im Jahr 2005 gab es ein großes Casting auf der Bühne des Berliner Ensembles. Robert Wilson, ein großartiger Regisseur, war damals auf der Suche nach Schauspielern für sein Stück „Wintermärchen“. Irgendwie hat es geklappt – und dann habe ich zwei Jahre lang dort gespielt!

Jonas:
Danach hast du allerdings der Bühne den Rücken gekehrt und bist zum Film gewechselt. Vermisst du das Theater?

Samuel:
Ich würde es schon ganz gerne mal wieder ausprobieren – nach dem Engagement am Berliner Ensemble habe ich ja nur noch Film gemacht. Während dieser zwei Bühnenjahre hing ich jedes Wochenende bis spät abends am Theater rum und hatte viele tolle Schauspieler in meiner Nähe. Das war wie eine große Familie!
Damals hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben das Gefühl, gemeinsam mit anderen wirklich etwas zu arbeiten, für das ich auch noch Applaus bekam – das hat mich sehr beeindruckt.
Zur Zeit überlege ich übrigens, ob ich Schauspiel studieren soll oder nicht. Leider redet gerade irgendwie jeder zu dem Thema auf mich ein und hat eine andere Meinung. Ich möchte und werde das aber ganz alleine entscheiden – und zwar so, wie es sich am besten für mich anfühlt.

Jonas:
Was hält dich davon ab, dich ins Schauspielstudium zu stürzen?

Samuel:
Es soll ja den einen oder anderen Regisseur geben, der bei Schauspielern erkennen kann, von welcher Schauspielschule sie kommen – weil scheinbar jede Schule ihren eigenen Stil verfolgt und den Schauspielern mitgibt. Das hat mich etwas eingeschüchtert.
Es kann sein, dass es für jemanden, der in seinem Leben schauspielerisch noch nicht so viel gemacht hat, leichter ist, eine solche Schule zu absolvieren. Für Leute wie mich, die bereits einiges gedreht haben und in der Zeit ihren eigenen Stil und Rhythmus entwickeln konnten, ist es wahrscheinlich schwieriger.
Andererseits glaube ich, dass man an einer Schauspielschule total viel lernen kann. Mal sehen, wie ich mich entscheide…

Ich sehe allem sehr gelassen entgegen und schaue einfach, was passiert.

Jonas:
Nervt dich diese Situation?

Samuel:
Nö, eigentlich gar nicht. Im Moment bin ich relativ entspannt. Ich habe gerade meinen Film abgedreht und bin jetzt dabei, mein Abi zu machen. Ich sehe allem sehr gelassen entgegen und schaue einfach, was passiert.

Wir legen eine kurze Pause ein, denn uns allen knurrt der Magen: Seit wir das Restaurant betreten haben, streicht uns der verführerische Duft exotischer Speisen um die Nase.

Also knüpfen wir uns die Speisekarte vor. Zahllose Köstlichkeiten buhlen um unsere Gunst und malen in unseren Köpfen Bilder von fernen Ländern. Ach, wie schön wäre es, wenn man jetzt irgendwo ganz anders wäre – weit weg, in der Sonne…

Jonas:
Vor ziemlich genau einem Jahr bist du für Dreharbeiten nach Marokko aufgebrochen. Hast du Fernweh?

Samuel:
Für Fernweh wäre es noch etwas früh: Ich bin ja vor nicht allzu langer Zeit wieder aus Marokko zurückgekommen. Insgesamt war ich drei Monate dort und hatte eine ziemlich intensive Zeit in dem Land.
Dieses Jahr werde ich aber wegen eines Filmfestivals wieder für einige Tage nach Marrakech fliegen und ganz viele Menschen wiedersehen, die ich während der Dreharbeiten ins Herz geschlossen habe. Darauf freue ich mich total!

Jonas:
Du hast insgesamt drei Monate in Marokko verbracht. Wie hast du die Tatsache erlebt, plötzlich in eine ganz andere Kultur und Mentalität geworfen zu sein?

Samuel:
Eigentlich war mir diese Kultur gar nicht so unbekannt. Ich selbst bin Halbtürke und kenne die islamische Welt, weil ich jedes Jahr mindestens einmal in der Türkei bin und dort eine riesige Familie habe. Marokko ist im Prinzip der Türkei sehr ähnlich, nur einen Tick orientalischer und intensiver.

Jonas:
Man ist ja immer wieder erstaunt von dem kreativen Potenzial des Landes…

Samuel:
Ja, ich war extrem überrascht, als ich erfahren habe, wie viele Kinofilme dort gedreht werden. Die abwechslungsreiche Landschaft ist auch wie geschaffen dafür und bietet Drehorte, die die verschiedensten Länder imitieren können. Es gibt da zum Beispiel die Stadt Ouarzazate, da hat sich ganz Hollywood getummelt. Das hätte ich nicht gedacht.

Wir unterbrechen unser Gespräch erneut, denn das Essen wird serviert. Wie wundervoll!

Während wir still vor unseren Tellern sitzen und die exotischen Leckereien genießen, drückt der graue Winter draußen seine Nase gegen die Fensterscheibe und sieht uns eifersüchtig zu.

Samuel scheint den eisigen Beobachter nicht zu bemerken. Zufrieden sitzt er auf seinem Stuhl und verzehrt die Köstlichkeiten, die ihm serviert wurden. Ab und zu blitzt dabei sein goldener Anhänger auf, der an einer filigranen Halskette hängt. Es wirkt fast, als würde dieser Anhänger dem grauen Winter Sonnenstrahlen entgegenschleudern, um ihn zu vertreiben.

Jonas:
Stammt der goldene Anhänger an deiner Halskette auch aus Marokko?

Samuel:
Nein, der wurde mir von meiner Familie geschenkt, als ich geboren wurde. Der Anhänger zeigt Atatürk und wird in der Türkei zu besonderen Lebensereignissen wie Geburt oder Hochzeit überreicht. Er ist ein Talisman für’s Leben und soll Glück bringen – ich habe ihn immer an.

Jonas:
Er scheint seine Aufgabe bisher gut gemeistert zu haben: Letztes Jahr wurdest du für die Hauptrolle in dem Caroline Link Film „Exit Marrakech“ besetzt und durftest drei Monate an der Seite von Ulrich Tukur drehen. Erinnerst du dich noch an den Moment, als du davon erfahren hast?

Samuel:
Ja, klar! Ich habe mich total gefreut. Erst wenige Monate vorher hatte ich überhaupt registriert, dass Caroline den Oscar gewonnen hatte und eine großartige Regisseurin ist. Damals hatte ich noch gedacht: Was wäre das für eine große Ehre, mal mit ihr drehen zu dürfen. Ich hätte nie gedacht, dass ich ein halbes Jahr später zum Casting für ihren Film nach Hamburg fahre und dann noch die Rolle bekomme.
Und sowieso: Was für eine Rolle! 55 Drehtage mit Fokus mehr oder weniger nur auf mir und Uli, das war ein riesiges Geschenk.

Das Besondere an Ulrich Tukur ist, dass er sich für so vieles begeistern kann.

Jonas:
Dein junger Kollege Patrick Mölleken hat uns vor wenigen Monaten erzählt, wie viel er während der Dreharbeiten zu „Rommel“ von Ulrich Tukur gelernt hat. Ging es dir genauso?

Samuel (lacht):
Von Uli habe ich gelernt, gut zu essen und welche Weinsorten es gibt. Er ist ein absoluter Genussmensch!
Aber im Ernst: Das Besondere an ihm ist, dass er sich für so vieles begeistern kann. Es ist toll, diesen Spirit zu erleben. Menschlich hat er mich total beeindruckt – und schauspielerisch nicht weniger: Uli spielt ja oft die großen Charaktere der Zeitgeschichte wie etwa Rommel. Bei „Exit Marrakech“ hat er allerdings etwas gemacht, was eher neu für ihn war: Hier sollte er extrem klein und zärtlich sein, sollte sich öffnen. Für mich war es faszinierend zu sehen, wie Uli dieser Rolle genau so viel Tiefe und Intensität gegeben hat wie all’ den großen Figuren, die er bisher gespielt hat.

Jonas:
Worum dreht sich denn die Handlung in dem Film?

Samuel:
Ganz einfach gesagt: um eine Vater-Sohn-Geschichte. Caroline Link thematisiert ja klassischerweise sämtliche Problematiken innerhalb der Familie. Und so erzählt auch „Exit Marrakech“ einen Konflikt, den die meisten Menschen aus ihrem eigenen Leben kennen: Der Sohn fühlt sich vom eigenen Vater vernachlässigt.
Im Film heißt die Vaterfigur Heinrich und wird gespielt von Ulrich Tukur. Heinrich ist ein erfolgreicher Regisseur, der in Marokko ein Stück im Rahmen eines Theaterfestivals vorstellt. Ich spiele seinen 17jährigen Sohn Ben, der sich entschließt, seinem Vater nach Marokko nachzureisen, um ihn dort besser kennenzulernen und wieder einen Bezug zu ihm herzustellen.
In dem fremden Land merken aber beide, dass dieses Vorhaben nicht wirklich funktioniert: Auf der einen Seite will Ben zwar, dass Heinrich mehr Papa ist, gleichzeitig weigert er sich aber, sich der väterlichen Authorität zu unterwerfen. Dieser Konflikt spitzt sich im Laufe des Films zu: Ben haut ab, verliert sich in der marokkanischen Nacht und brennt mit einer jungen Hure durch – und Heinrich macht sich auf die Suche nach seinem Sohn.

Jonas:
Etwas provokant gefragt: Muss man sich überhaupt auf solch eine Rolle vorbereiten, wenn es eh um einen Konflikt geht, den jeder mehr oder weniger aus dem eigenen Leben kennt?

Samuel:
Ben ist Diabetiker – alleine deshalb musste ich mich intensiv vorbereiten. Ich wusste zwar ungefähr, was Diabetes ist, hatte aber wie die meisten Menschen keine Ahnung, welche Probleme dadurch für die Betroffenen im Alltag entstehen können und wie sie damit umgehen.
Daher habe ich mich mit vielen Diabetikern unterhalten und ganz praktisch versucht, mich selbst in deren Lage zu versetzen: Ich habe mir eine Woche lang in alltäglichen Situationen wie zum Beispiel der Fahrt in der U-Bahn Kochsalzlösung gespritzt, um die Insulininjektion zu imitieren. Ich wollte mir einfach ein eigenes Bild davon machen, wie die Leute reagieren und wie man sich selbst in einer solchen Situation fühlt. Viele dachten wirklich, dass ich mir in aller Öffentlichkeit einen Schuss setze – sie hatten absolut keine Ahnung.
Was mir ganz allgemein bei der Rollenvorbereitung hilft ist die Tatsache, dass ich seit zwei Jahren Schauspielcoach für Kinder und Jugendliche bin – an dem Ort, wo ich vor zehn Jahren selbst damit angefangen habe. Ich finde es total interessant, das Ganze mal von der anderen Seite zu sehen. Wenn ich mal ein Casting oder einen Dreh hatte, nehme ich die Szenen, gebe sie den Kursteilnehmern und beobachte, wie sie die Rollen interpretieren. Das ist für mich ein wichtiger Input.
Zu der Rolle des Ben in „Exit Marrakech“ durfte ich selbst übrigens ein wenig Input geben: In der Urfassung war die Figur ein unsportlicher 14jähriger mit Zahnspange, der nicht wirklich viel mit mir persönlich zu tun hatte. Als Caroline Link und ich uns trafen, um die Rolle zu besprechen, fiel ihr auf, dass es viel interessanter wäre, dem Vater keinen Jungen an die Seite zu stellen, sondern einen jungen Mann. Das versprach viel mehr Reibung. Also hat sie die Rolle ziemlich verändert und eher an mir orientiert – und am Ende war sie total auf meine Person geschrieben! So steckt in dem Film auch irgendwo sehr viel von mir selbst.

Jonas:
Ist Ben eigentlich Samuel?

Samuel (lacht):
Nein, so extrem ist es nicht, aber die Figur hat schon sehr viel von mir. Diesen Vater-Sohn-Konflikt kenne ich ja auch selbst ein Stück weit. Mein Papa und ich waren jahrelang etwas weit voneinander weg und nähern uns gerade erst wieder an – und lernen uns besser kennen. Daher verstehe ich es nur zu gut, wenn man sich auf der einen Seite wünscht, dass der Vater seine Vaterrolle stärker übernimmt, sich aber auf der anderen Seite nichts mehr von ihm sagen lassen will.

Ich weiß gar nicht, wie es sich ohne Schauspielerei anfühlen würde.

Jonas:
Gab es in deinem Leben eigentlich diesen berühmten Klick-Moment – den Punkt, an dem du gemerkt hast, dass Schauspielerei genau das ist, was du machen willst?

Samuel:
Ne, das hat sich einfach so entwickelt und ist in mein Leben reingewachsen. Ich weiß gar nicht, wie es sich ohne anfühlen würde. Ich merke bloß immer wieder, dass ich wirklich schon einiges gemacht habe in den letzten zehn Jahren.
Und ich spüre auch, dass es so langsam ernst wird. Vor kurzem habe ich auch meine Schauspielagentur gewechselt und stehe jetzt bei Players unter Vertrag. Das hat sich sehr richtig angefühlt und gut gepasst.

Jonas:
Inwiefern?

Samuel:
Ich wollte ohnehin zu einer Erwachsenen-Agentur wechseln. Von Players wurde ich vor einigen Jahren bereits angesprochen, nachdem ich „Boxhagener Platz“ gedreht hatte. Damals war ich aber noch zu jung – ich hätte volljährig sein müssen.
Letztes Jahr gab es dann im Vorfeld zu den Dreharbeiten von „Exit Marrakech“ einen Empfang, auf dem erneut eine Players-Agentin auf mich zukam. Wir haben vereinbart, dass ich mit meiner Entscheidung warte, bis ich den Film abgedreht habe – ich wollte mir einfach ganz sicher sein, dass ich diesen Beruf wirklich will und ihn längerfristig ausüben möchte.
Und so kam es dann auch: Nach „Exit Marrakech“ war mir tatsächlich relativ schnell klar, dass Schauspielerei genau das ist, was ich machen will. Ich wusste ganz genau, dass es etliche junge Schauspieler gibt, die sich ein Bein dafür ausreißen würden, bei Players aufgenommen zu werden. Ich wäre doof gewesen, wenn ich nicht ja gesagt hätte.

Ich muss bei der Rolle direkt das Gefühl haben: Das will ich machen!

Jonas:
Ist es dir generell wichtig, dass deine Filme ein familiäres oder gesellschaftliches Thema aufgreifen, oder kannst du dir vorstellen, auch mal etwas ganz anderes wie zum Beispiel eine Komödie zu drehen?

Samuel:
Es stimmt schon, dass die Filme, in denen ich bisher gespielt habe, überwiegend in einem familiären oder gesellschaftlichen Kontext standen. Vor „Exit Marrakech“ hatte ich eine Hauptrolle in dem Kurzfilm „Schautag“, der vielfach ausgezeichnet wurde und von jugendlichen Steinewerfern auf Autobahnbrücken erzählt.
Ganz allgemein ist es aber so, dass ich immer das drehe, womit ich mich wohlfühle. Ich muss bei der Rolle direkt das Gefühl haben: Das will ich machen! Ich hatte bei allen Produktionen das Glück, auf sehr professioneller Ebene arbeiten zu können und in Filmen mitwirken zu dürfen, die etwas vermitteln.
Thematisch bin ich aber nicht festgelegt. Bisher habe ich zwar noch keine Komödie gemacht, aber vielleicht probiere ich es irgendwann mal aus und schaue, wie es ist. Ich bin in meiner Entscheidung ja absolut frei.

Jonas:
Im Film taucht die Figur Ben in die rohe Nacht Marrakechs ab, lässt sich treiben und verliert sich – ebenfalls eine Parallele zu deinem Leben?

Samuel:
Ich mag ja die Erfindung „Zeit“ nicht so wirklich. Ich liebe es, wenn ich losziehen und die Zeit vergessen kann. Daher suche ich schon ab und zu nach diesen Räumen, in denen Zeit nicht existiert.
Wenn man sich treiben lässt, lässt man generell auch zu, dass Gedanken entstehen, die sich nicht um den reinen Alltag drehen. Das ist immer wieder eine sehr schöne Erfahrung.

Jonas:
Du bist also eher ein Nachtmensch?

Samuel:
Eigentlich nur im Winter, weil da die Nacht allgegenwärtig ist. Die Sonne fehlt in dieser Jahreszeit einfach, es wird nie so richtig hell. Aber wenn ich die Wahl habe, bin ich ein absoluter Tagmensch. Dafür liebe ich die Sonne viel zu sehr!

Samuel strahlt. Seine hellen Augen scheinen immer noch das marokkanische Licht in sich zu tragen – so klar und zuversichtlich wirken sie.

Wir trinken den letzten Rest der heißen Minze aus, legen die Jacken an und schlendern schweigend Richtung Ausgang. Und kaum haben wir den ersten Schritt nach draußen getan, steht auch der Berliner Winter wieder vor uns, dessen Leblosigkeit noch lebloser geworden ist in den letzten Stunden.

Aber etwas ist diesmal anders: Das Grau hat irgendwie seinen Schrecken verloren. Auch wenn die Kälte in den letzten 130 Jahren noch nie so viel Macht über den März hatte wie in diesem Jahr, sind ihre Tage letztlich doch gezählt.

Während wir noch ein paar Meter in dieselbe Richtung laufen, blitzt unter Samuels Jacke immer wieder der goldene Talisman hervor und blendet den Winter.

Er wirkt wie eine Sonne in der Nacht.

Da hat das Grau keine Chance.


Alexander Finkenwirth

Interview — Alexander Finkenwirth

Austausch

Vorhang auf für Alexander Finkenwirth. Der Theaterschauspieler fasst für uns zusammen, was seit allen Zeiten einen guten Künstler ausmacht, und nimmt uns mit hinter die Kulissen des Hans Otto Theaters in Potsdam.

14. April 2013 — MYP N° 10 »Meine Nacht« — Interview: Jonas Meyer, Fotos: Steven Lüdtke

Manchmal im Leben muss man einfach mal raus – und sei es nur für ein paar Stunden. Um durchzuatmen. Und abzuschalten. Oder um den Blick auf die Dinge zu justieren.

Für alltagsgeplagte Berliner empfiehlt sich in diesen Momenten ein Abstecher in Tarifzone C. Gerade einmal 40 Minuten benötigt die S7, um den Berliner Hauptbahnhof gegen den in Potsdam einzutauschen. Das One-Way-Ticket in die nahe Ferne gibt’s dabei für 3,10 Euro – schnell und günstig also. In diesen Zeiten muss man ja wirtschaftlich denken.

Auch wir verlassen heute mal Berlin und fahren raus nach Potsdam. Dort sind wir mit dem jungen Schauspieler Alexander Finkenwirth verabredet, den wir bereits wenige Wochen zuvor im Stück „Waisen“ erleben durften. Vor kurzem hat der 26jährige sein Schauspielstudium an der Hochschule für Film und Fernsehen (HFF) „Konrad Wolf“ abgeschlossen und ist seit letztem Jahr festes Mitglied des Ensembles am Potsdamer Hans-Otto-Theater.

Es ist kurz vor halb zwei, gerade haben wir unseren Treffpunkt am Luisenplatz erreicht. Nur wenige Sekunden später biegt auch Alexander um die Ecke. Zielgerichtet kommt er auf uns zu und begrüßt uns freundlich. Der junge Mann strahlt eine bemerkenswerte Präsenz aus, wirkt aber gleichzeitig angenehm unaufdringlich. Seine wachen, klaren Augen werden umrahmt von einem markanten Gesicht, das heraussticht aus der Beliebigkeit der heutigen Zeit.

Wir wollen gemeinsam zu Mittag essen, also steuern wir gemeinsam das „My Keng“ in der Brandenburger Straße an. Das Lokal gehört zu den Lieblingsrestaurants von Alexander und platzt heute Mittag vor Gästen aus allen Nähten. Mit etwas Glück finden wir einen freien Tisch und bestellen munter aus der Speisekarte.

Jonas:
Du warst in den vergangenen Monaten vielfach im Theaterstück „Waisen“ zu sehen, wo du die Rolle des Marco gespielt hast. In dem Stück werden in zwei Stunden so ziemlich alle menschlichen Konflikte behandelt, die man aus dem eigenen Leben kennt. Ist das der Grund, warum du „Waisen“ vor kurzem als dein Lieblingsstück bezeichnet hast?

Alexander:
Ja, schon. Dieses Stück ist einfach richtig toll! Ich glaube aber, dass ich es vor allem deshalb so mag, weil mir die Figur des Marco im Laufe der Zeit etwas ans Herz gewachsen ist.
Das klingt im ersten Moment etwas abstrus, immerhin baut Marco ja ziemlich großen Mist und stellt total schlimme Sachen an. Aber der Typ macht das alles irgendwo ja nur, weil er geliebt werden will. Und er hat ständig das Gefühl, seine Familie beschützen zu müssen. Darum glaubt er auch, dass sein Handeln absolut richtig sei.
Ich kenne das Stück übrigens schon länger. Vor etwa zwei Jahren hatte ich es in einem Beiheft der „Theater heute“ entdeckt und während einer Zugfahrt komplett durchgelesen. Ich fand’s von Anfang an richtig cool – lange bevor ich überhaupt wusste, dass ich es mal spielen werde. Als dafür dann später irgendwann das Hans-Otto-Theater angefragt hat, war ich natürlich total begeistert.

Jonas:
Man ist ja bei der Figur so hin- und hergerissen: Soll man ihn jetzt mögen und Mitleid haben? Oder soll man ihn verurteilen?

Alexander:
Ja, da sagt auch jeder etwas anderes. Ich finde aber, dass man als Schauspieler die Figur immer mögen muss, die man spielt. Zumindest muss man ein gewisses Verständnis für sie entwickeln. Es geht ja darum, dass man in der Lage ist nachzuvollziehen, warum genau die Figur was tut.
Bei Proben merkt man allerdings ab und zu, dass es Kollegen gibt, die echte Probleme damit haben, ihre Figur zu mögen. Sie stellen sich dann ständig die Frage: „Wie kann man nur so sein, wie kann man so etwas nur machen?“ Mir hilft es enorm, mir immer wieder vor Augen zu führen, dass ich einen Mensch spiele. Und der handelt eben auch menschlich. Das erleichtert es, bis zu einem gewissen Grad ein Verständnis für die Figur aufzubauen.
Ganz allgemein ist das Gute an der Schauspielerei ja, dass es irgendwo nur ein Spiel ist, an das man ganz wertfrei herangehen kann. Es macht daher auch einfach Spaß, wenn man mal zum Beispiel einen Mörder spielen kann – weil man spürt, wie das Publikum dagegen innerlich eine Haltung aufbaut und Emotionen entstehen.

Jonas:
Wie merkst du denn genau, was das Publikum gerade fühlt?

Alexander:
Man kann das ja natürlich nicht messen. Aber ich bilde mir ein zu spüren, ob ein Publikum gerade emotional ganz nah dran ist oder nicht. Da findet eine Art Austausch statt, die sich über die Spannung im Raum von den Zuschauern unmittelbar auf uns Schauspieler überträgt. Und diese Unmittelbarkeit ist das Tolle an Theater.

Ich habe nach etwas gesucht, das das, was ich in mir trage, irgendwie nach außen transportieren kann.

Jonas:
Zur Schauspielerei bist du aber erst relativ spät gekommen…

Alexander:
Ja, das stimmt. Es gibt ja viele, die schon mit zwölf Jahren anfangen, über die Theater AG in der Schule oder irgendwo sonst zu schauspielern. Bei mir war das allerdings etwas anders. Ich hatte nach meinem Abi im Jahr 2006 absolut keine Ahnung, was ich machen will, und war durch diese Orientierungslosigkeit nicht besonders ausgeglichen und recht unglücklich. Ich wusste bloß, dass ich nicht das machen werde, was meine Freunde so machten – also etwa BWL oder Jura studieren. Das hatte ich zwar zwei Semester probiert, aber so wollte und konnte ich einfach nicht leben.
Also habe ich nach etwas gesucht, das das, was ich in mir trage, irgendwie nach außen transportieren kann. Eine Freundin hatte mich damals mal zu einer Laienschauspielgruppe mitgeschleppt, wo eine ehemalige Schauspielerin mit jungen Leuten gearbeitet hatte. Da habe ich gemerkt, dass ich das unbedingt machen will – und habe von heute auf morgen beschlossen: Ich werde Schauspieler!
Also habe ich radikal mein Leben geändert, plötzlich sehr diszipliniert gelebt und total viele Jobs gemacht, weil ich unbedingt nach Berlin ziehen wollte. Und dafür brauchte ich Geld.

Jonas:
Und wie hat deine Familie diesen Entschluss aufgefasst?

Alexander:
Mein Vater war im ersten Moment ziemlich erschrocken. Aber er hat dann recht schnell gemerkt, wie ernst mir die ganze Sache ist. Und dagegen konnte er nicht wirklich viel machen.
Mittlerweile hat er sich damit arrangiert – ich muss ihm immer die ganzen Kritiken schicken, die er alle lesen will.

Jonas:
Hattest du dich vor deinem Umzug nach Berlin schon an der HFF beworben?

Alexander:
Ne, ich bin erst nach Berlin und habe dann dort verschiedene Schauspielschulen abgeklappert. Das war total krass, weil ich absolut keine Erfahrung hatte und total naiv war. Ich dachte, ich geh’ da jetzt hin und die nehmen mich. So einfach war’s aber nicht. Daher bin ich auch echt froh, dass es letztendlich an der HFF geklappt hat.

Jonas:
Und seit 2012 bist du festes Ensemblemitglied am Hans-Otto-Theater!

Alexander:
Ja, nach sechs Semestern, also kurz vor meinen Abschluss. Ich hatte vorher schon öfter dort gespielt und mich dann irgendwann beworben. Das kam alles Stück für Stück.

Wir legen eine kurze Pause ein, das Essen wird serviert. Ein seltsam vertrautes Gefühl der Zufriedenheit stellt sich gerade ein – nicht nur wegen der aromatischen Leckereien auf unseren Tellern.

Während man Alexanders Antworten und Erzählungen lauscht, hängt man gespannt an seinen Lippen und stellt unweigerlich einen Bezug zum eigenen Leben her. Und obwohl wir gemeinsam an diesem kleinen Tisch sitzen, wirkt es für einen Augenblick so, als seien wir das Publikum. Und er stünde vor uns auf der Bühne.

Ich habe im Laufe der letzten Jahre gelernt, dass ich echt ein bisschen auf mich aufpassen muss.

Jonas:
Du hattest in den letzten Jahren gleich zwei große Bezugspunkte – auf der einen Seite die HFF, auf der anderen Seite das Hans-Otto-Theater. Wie problematisch war es denn, ständig am Theater zu spielen und gleichzeitig irgendwie das Studium an der HFF zu absolvieren?

Alexander:
Naja, als es am Theater richtig los ging, war ich eigentlich kaum noch an der Uni. Die HFF hat ziemlich viel Rücksicht darauf genommen, dass ich quasi schon ein Engagement am Theater habe. Es ist ja auch in deren Interesse, dass ihre Schauspieler möglichst schnell einen Job bekommen.
Alles in allem hat das gut geklappt – obwohl es von der Belastung natürlich krass war. Irgendwann kommt man an den Punkt, wo man denkt: Jetzt geht es gerade gar nicht mehr, weil ab einem gewissen Grad der Erschöpfung auch die Kreativität flöten geht. Ich habe Gott sei Dank im Laufe der letzten Jahre gelernt, dass ich echt ein bisschen auf mich aufpassen muss.

Jonas:
Glaubst du, dass die Gefahr besteht, dass man sich selbst vergisst, wenn man zu viel tut?

Alexander:
Ja. Im Herbst zum Beispiel hatte ich das Gefühl, dass ich körperlich an meine Grenzen stoße. Damals haben sich die Proben zu unserem Abschlussfilm an der HFF mit den Proben zum Stück „Der Eisvogel“ am Theater überschnitten – und bei beiden hatte ich eine intensive und fordernde Rolle: Im Film war ich einer der Amokläufer und im Eisvogel habe ich die Figur des Wiggo übernommen, der ein superkrasser Charakter ist.
Diese Figur ist auch insgesamt drei Stunden am Stück auf der Bühne präsent, das hat unendlich viel Energie gekostet. Trotzdem war das natürlich eine gigantische Erfahrung.

Jonas:
Was macht den Charakter des Wiggo denn so besonders?

Alexander:
Wiggo ist ein junger Mann, der zwischen Nizza und London aufgewachsen ist und Philosophie studiert hat. Er stammt aus einer äußerst wohlhabenden Familie und ist in seinem Beruf sehr erfolgreich. Aber Wiggo ist auch ein Rebell: Er stellt vieles in Frage und will mit der Welt seiner Eltern nichts zu tun haben – dort erscheint ihm alles zu zynisch und oberflächlich.
Ein wenig erinnert sein Charakter an Faust, weil er in gewisser Weise auch herausfinden will, was die Welt zusammenhält. Dabei rutscht er ab und kommt mit einer rechten Terrorzelle in Berührung, die irgendwie die ganze Demokratie anzweifelt – ein ziemlich aktuelles und wichtiges Thema.

Jonas:
Ist es dir wichtig, durch deine Rollen einen Bogen zur Realität spannen zu können?

Alexander:
Ja, das ist mir total wichtig, egal ob es um einen eher familiären, privaten Bezug geht wie in „Waisen“ oder um einen eher politischen wie in „Der Eisvogel“. Das sind einfach Problematiken, die mich persönlich auch sehr interessieren und berühren. Ich glaube, dass ich als Mensch eh recht kritisch bin mit dem, was so um mich rum und in der Gesellschaft passiert.
Generell bin ich für alle Themen aber total offen. Ich mag es wirklich sehr an meinem Beruf, dass man sich in so viele verschiedene Thematiken und Problematiken stürzen kann. Wichtig ist dabei nur immer, dass es irgendetwas auslöst beim Zuschauer. Denn dafür macht man’s ja auch.

Wir zahlen und brechen auf. Um 15.00 Uhr sind wir am Hans-Otto-Theater mit Stefanie Eue verabredet, der Presseverantwortlichen des Hauses. Sie hat uns einen kleinen Rundgang durch das Theater mit Blick hinter die Kulissen angeboten, um geeignete Orte für das Shooting mit Alexander zu finden. Dieses Angebot nehmen wir natürlich gerne an und steigen in die Straßenbahn Richtung Schiffbauergasse.

Wenig später erreichen wir unser Ziel. Das imposante Theatergebäude liegt direkt am Tiefen See. Was für eine Aussicht! Was für eine Ruhe!

Stefanie empfängt uns am Künstlereingang und führt uns gemeinsam durch das Haus: Garderobe, Maske, Requisite, Technik – ein Theater hinter den Kulissen.

Während wir gemütlich durch das Hans-Otto-Theater laufen und Raum für Raum entdecken, schießen wir immer wieder mal ein Foto von dem jungen Schauspieler, probieren Einstellungen aus, portraitieren, halten fest.

Dieser Austausch zwischen Bühne und Publikum erzeugt eben eine ganz besondere Energie.

Jonas:
Machst du eigentlich lieber Theater als Film, weil du dort die Wirkung auf das Publikum viel intensiver und direkter wahrnehmen kannst?

Alexander:
Ne, ich mag ehrlich gesagt beides. Durch meine Ausbildung an der HFF habe ich das Drehen ebenfalls total schätzen gelernt und würde gerne zukünftig auch in beiden Richtungen arbeiten können.
Trotzdem ist natürlich die Situation am Theater eine ganz Besondere, das stimmt. Dieser Austausch zwischen Bühne und Publikum erzeugt eben eine ganz besondere Energie.

Jonas:
Seit kurzem gibt es ein neues Stück, in dem du mitwirkst: „Torquato Tasso“ von Goethe. Worum geht es?

Alexander:
In dem Stück geht es um die Stellung des Dichters in der höfischen Gesellschaft – im übertragenen Sinne also um die Position des Künstlers in der Gesellschaft allgemein. Goethe selbst bezeichnet das als die Disproportion des Talents mit dem Leben.

Jonas:
Das klingt sehr zeitlos.

Alexander:
Ja, absolut. Zwar ist die Sprache des Stücks nicht mehr wirklich zeitgemäß und wird etwas anstrengend über die zwei Stunden, aber der Inhalt ist nach wie vor hochaktuell.

Jonas:
Findest du, dass der Beruf des Schauspielers mehr Anerkennung finden sollte in der Gesellschaft?

Alexander:
Ja, das sollte er auf jeden Fall. Viele Menschen assoziieren diesen Beruf ja mit wenig Arbeit, üppigen Gehältern und einem eher schillernden Leben im Rampenlicht.
Dabei sieht die Realität ganz anders aus: Die meisten verdienen eher bescheiden und stehen auch nicht im Fokus der Öffentlichkeit. Trotzdem opfern sie ihr Leben für diesen Beruf auf und arbeiten hart, um ein guter Schauspieler zu sein.

Jonas:
Was macht denn einen guten Schauspieler aus?

Alexander:
Dasselbe, was ganz allgemein auch einen guten Künstler ausmacht: Er kritisiert Missverhältnisse und stellt der Gesellschaft Fragen. Dabei steht er immer etwas abseits der Normalität, betrachtet die Dinge aus der Distanz und aus einem anderen Blickwinkel.

Ich habe nicht das Problem, dass ich nach dem Theater nach Hause komme und denke, dass ich jemand anderes bin.

Jonas:
Hast du das Gefühl, dass deine Rollen dich selbst in gewisser Weise verändern, etwas in dir auslösen und dir Fragen stellen?

Alexander:
Naja, es passiert schon häufiger mal, dass man die Rolle mit nach Hause nimmt und gar nicht so richtig abstreifen kann. Das ist vor allem in der Probenzeit so, weil man sich da intensiv mit dem Charakter seiner Figur auseinandersetzt und stundenlang in ein komplett anderes Leben denken muss.
Wenn man dann abends zuhause sitzt, merkt man, dass man sich schon noch damit beschäftigt und auch irgendwie mitgenommen ist – man war ja schließlich den ganzen Tag in diesem anderen Leben unterwegs.
Menschlich verändert man sich natürlich auch mit der Zeit – das hat aber weniger mit dem Inhalt der Rolle zu tun. Vielmehr ist es eine persönliche Weiterentwicklung, weil man durch das Spielen eine gewisse Erfahrung ansammelt.
Daher habe ich jetzt nicht das Problem, dass ich nach dem Theater nach Hause komme und denke, dass ich jemand anderes bin. Ich bin Alexander Finkenwirth, und das bleibe ich auch.

Im Foyer des Hans-Otto-Theaters endet unser Rundgang. Hier in dem hellen und lichtdurchfluteten Raum entstehen die letzten Fotos des Tages.

Wir bedanken uns bei Stefanie Eue, verabschieden uns und begleiten Alexander noch zur Straßenbahn-Station, wo sich unsere Wege trennen.

Unser Ausbruch aus dem Alltag neigt sich dem Ende zu, es geht zurück nach Berlin. Durchatmen konnten wir heute. Und abschalten.

Manchmal im Leben muss man einfach mal raus – und sei es nur für ein paar Stunden. Um den Blick wieder zu justieren. Und Antworten zu finden.

Dazu muss man nur nach Potsdam fahren.

Oder ins Theater gehen.


Michelle Barthel

Interview — Michelle Barthel

Durch die Nacht

Michelle Barthel gehört zu den seltenen Wesen, deren Augen dich verzaubern, während du wie hypnotisiert an ihren Lippen hängst. Durch die Berliner Nacht mit Michelle Barthel.

14. April 2013 — MYP N° 10 »Meine Nacht« — Interview: Jonas Meyer, Fotos: Christian Hasselbusch

Es gibt Momente im Leben, da sollte man sich einfach treiben lassen und darauf vertrauen, dass alles gut wird. In diesen Momenten braucht es keinen Plan und keinen Kompass: Gesteuert wird rein aus Gefühl, gefahren wird auf Sicht.

Einer dieser Momente hat sich für den heutigen Samstagabend angekündigt. Wir wollen ihn gemeinsam mit der jungen Schauspielerin Michelle Barthel erleben, mit der wir uns zum Interview verabredet haben. Hier, am U-Bahnhof Weinmeisterstraße, soll unser Abend beginnen. Wohin die Reise geht: Keine Ahnung.

Wir wollten es ja auch gar nicht anders, hatten diese Idee irgendwann im letzten Herbst – an irgendeinem Küchentisch auf irgendeiner Party irgendwo in Berlin. Aus jener Idee wurde schnell ein Vorhaben, aus dem Vorhaben ein Versprechen und aus dem Versprechen das, was dieser Samstagabend bringen mag.

Und so gibt es heute nur ein Ziel: eine Antwort zu finden auf die Frage, wer und wie dieser Mensch wohl ist – dieser Mensch namens Michelle Barthel, die so plötzlich vor uns steht auf der Weinmeisterstraße mitten in Berlin.

Es ist gerade einmal 18 Uhr, also irgendwie erst Mittag und eigentlich noch viel zu früh für einen Samstagabend in der Hauptstadt. Aber das macht nichts, denn unsere Mägen knurren um die Wette. Und es ist kalt. Also brauchen wir eine Grundlage.

Wir ziehen los, die Gipsstraße entlang, und biegen schließlich in die Auguststraße ein. Neben dem Café „The Barn“, wo gerade die Stühle hochgestellt werden, springt uns eine hübsch gestaltete Schiefertafel ins Auge. Wir schauen uns an und überlegen: Wer das Wort „Bio-Burger“ so liebevoll auf eine Tafel schreibt, kann kein schlechtes Essen haben.

Also rein in diesen Laden, der den netten Namen „Fräuleinburger“ trägt. Kaum haben wir die Tür hinter uns geschlossen, fühlen wir uns in eine andere Zeit gebeamt – eine Zeit irgendwo zwischen Fifties und Captain Future, wo rote und gelbe Neonröhren um die Wette strahlen. Gemütlichkeit mal sonderbar anders. Angenehm anders.

Hinter dem Tresen empfängt uns Katharina Guntermann. Vor wenigen Monaten hat sie diese kleine Wohlfühloase erst eröffnet, trotzte seitdem wacker diversen Steinwurfattacken und Farbanschlägen. Gelassen und freundlich nimmt sie unsere Bestellung auf. Wirklich alles ist hier selbstgemacht. Authentizität lässt sich eben nicht vertreiben.

An einem kleinen Tisch im Untergeschoss nehmen wir Platz und warten auf unsere Burger. Während wir das Diktiergerät starten, legt Michelle ihre Hände um eines der kleinen Teelichte, die überall auf den Tischen verteilt sind.

Jonas:
Du hast 2001 zum ersten Mal auf der Bühne gestanden – mit gerade einmal acht Jahren. Wie kam es dazu, dass du so früh schon Theater gespielt hast?

Michelle:
Meine Eltern hatten damals in einem recht kleinen Ort in der Nähe von Münster neu gebaut, wir waren gerade umgezogen. Um die Leute in dieser neuen Umgebung besser kennenzulernen und schneller Anschluss zu finden, gab es verschiedene Möglichkeiten. So standen etwa Chor, Ballett oder Theater zur Auswahl – und ich habe mich für Theater entschieden.
Zwar war das eher eine Laientheatergruppe, trotzdem hat es mir super viel Spaß gemacht. Wir haben diverse Märchen gespielt und alle Kinder haben mitgemacht. Das war echt schön – und so stand ich mit acht Jahren schon auf der Bühne.

Jonas:
Und zwei Jahre später hast du dann zum ersten Mal vor einer Kamera gestanden…

Michelle:
Ja, stimmt. Dazu gibt es aber eine lustige Vorgeschichte. Zu der Zeit, als ich freizeitmäßig Theater gespielt habe, hatte ich gemeinsam mit einer guten Freundin die fixe Idee, Model zu werden – was man sich eben mit acht Jahren so ausdenkt. Damals gab es in Münster ein Casting für einen Fotokatalog. Und wir dachten: Lass’ uns mal hingehen.
Beim Casting mussten wir einige Fragen beantworten, zum Beispiel was unsere Hobbys sind. Ich sagte, dass ich Theater spiele, und wurde daraufhin gefragt, ob ich nicht auch mal Lust hätte, zu einem Filmcasting zu kommen. Das habe ich natürlich gemacht – und wurde dort für meinen ersten Film besetzt.
Dieser Film hieß „Der zehnte Sommer“ und war ein Kinderkinofilm mit Katharina Böhm und Kai Wiesinger. Gedreht haben wir irgendwann in 2002, da war ich neun Jahre alt.

Jonas:
Konntest du damals schon einen Unterschied erkennen zwischen Theater- und Filmschauspiel?

Michelle:
Ja, absolut. Vom Spielen her habe ich da einen echt großen Unterschied wahrgenommen. Ich weiß noch, am ersten Drehtag hat der Regisseur zu mir gesagt: „Michelle, mach’ mal die Hälfte!“ Beim Theater hatte ich damals gelernt, dass ich alles sehr groß spielen muss, um auch das ganze Publikum mitnehmen zu können. Man muss dort eben einen Raum füllen, den man beim Drehen so gar nicht hat. Vor der Kamera muss man sein Spiel daher sehr minimieren.

Man merkt direkt, ob man die Menschen vor sich erreicht oder nicht.

Jonas:
Das heißt, du streckst auf der Theaterbühne viel deine Arme viel weiter aus, um alle mitzunehmen zu können?

Michelle:
Ja natürlich. Man fühlt dort oben ja auch genau, was das Publikum fühlt. Und man merkt direkt, ob man die Menschen vor sich erreicht oder nicht. Diese unmittelbare Verbindung von Bühne und Publikum ist am Theater einfach unglaublich stark und wichtig.

Jonas:
Gibt einem dieses Unmittelbare zusätzlichen Auftrieb?

Michelle:
Klar, weil man ständig das Gefühl hat, um das Publikum kämpfen zu müssen. Man muss es schaffen, dass die Leute genau das empfinden, was man selbst gerade empfindet. Bei dem einen Publikum ist das leichter, bei dem anderen schwerer.
Ich hatte auch ganz oft Vorstellungen, wo viele Kinder saßen. Und Kinder sind bekanntermaßen sehr kritisch: Wenn man öde ist, ist man öde. Und das lassen sie einen auch spüren. Sie sind das ehrlichste Publikum, das man haben kann.

Wir unterbrechen unsere Unterhaltung für einige Minuten, denn die bestellten Burger sind fertig. In kleinen Körbchen werden sie an unseren Tisch gebracht und sehen tatsächlich so wunderbar lecker aus, wie es die Schiefertafel vermuten ließ. Glück kann so einfach sein.

Diese Grundlage war mehr ordentlich. Und so scheinen wir gut gerüstet, um die unbekannte Reise fortzusetzen. Durch den Abend. Durch die Nacht.

Nachdem wir uns herzlich von Katharina verabschiedet haben, ziehen wir weiter. Mittlerweile ist es 19:30 Uhr, die Dämmerung hat eingesetzt.

Nach links oder nach rechts? Oder doch besser geradeaus? Irgendwie zieht es uns Richtung Rosenthaler Platz, also laufen wir die Auguststraße weiter. Nach etwa hundert Metern stehen wir vor einer Bar namens „Hackbarth’s“. Sieht nett aus. Also rein da.

Und tatsächlich: Goldene Wände, schwarze Kacheln und ein opulenter Tresen erzeugen eine angenehm warme und vertraute Atmosphäre. Und wie bei „Fräuleinburger“ stehen hier überall kleine Teelichte. Ob diese kleinen Kerzen heute Abend unsere stillen Begleiter sind?

Die Bar ist gut besucht, nur ein Tisch ist noch frei – Glück gehabt.

Jonas:
Wie ging es nach dem Film mit deiner Schauspielerei weiter?

Michelle:
Ich wurde von der Kinder- und Jugendagentin Maria Schwarz angesprochen, die mich in ihre Agentur aufgenommen hat. Sie kannte mich schon, da sie für „Der zehnte Sommer“ gecastet hatte und später auch den Film gesehen hatte.

Jonas:
Und so flatterte dir dann Projekt über Projekt ins Haus?

Michelle:
Nein, dann kam ganz lange erst einmal gar nichts mehr. Mein Vater war zu der Zeit gestorben – die Schauspielerei hatte ich dabei irgendwie gar nicht mehr auf dem Schirm und total vergessen. Das Ganze war nur noch als irgendeine coole Kindheits-Aktion in Erinnerung. Dass ich überhaupt nochmal die Chance erhalten würde zu spielen – damit hätte ich wirklich nicht gerechnet.
Irgendwann bekam meine Mutter aber eine Email von meiner Agentin: Für eine Rolle im Film „Keine Angst“ wurde ein dreijähriges Mädchen gesucht. Meine Mutter wurde gefragt, ob sie zufällig jemanden kennen würde, der auf die Rollenbeschreibung passt. Sie kannte zwar kein dreijähriges Mädchen, fragte aber nach, ob die Hauptrolle schon besetzt sei – und dachte dabei an mich.
Die Rolle war zwar noch frei, allerdings stand das Casting dafür schon unmittelbar bevor. Und da ich mittlerweile 15 war und ich mich im Laufe der letzten Jahre natürlich äußerlich sehr verändert hatte, mussten wir noch auf die Schnelle ein paar Fotos schießen – kurz vor knapp morgens um 6:00 Uhr, bevor ich zur Schule gegangen bin. Dementsprechend fertig sah ich auf den Fotos aus, was aber eventuell ganz gut gepasst hat auf die Rolle.
Wenig später wurde ich zum Casting eingeladen und tatsächlich für die Hauptrolle besetzt –die Figur Becky in „Keine Angst!“

Jonas:
Was für ein Zufall!

Michelle:
Ja, total. Es ist auch nicht normal, dass eine Mutter so nachhakt. Das Ganze hing einfach an einem seidenen Faden des Schicksals.

Jonas:
Vielleicht hatte deine Mutter einfach das Gefühl, dass es das Richtige für dich sein könnte.

Michelle:
Kann sein. Vielleicht fand sie es aber auch einfach nur etwas schade, dass ich das mit der Schauspielerei nicht mehr gemacht habe. Schließlich hatte es mir ja als Kind richtig viel Spaß gemacht.
Ich muss dazu aber sagen, dass ich durch den Tod meines Vaters und alle schmerzlichen Erfahrungen, die damit verbunden waren, auf eine ganz andere Gefühlsebene gekommen bin. Als Kinderdarstellerin habe ich ja einfach nur gespielt wie ein Kind. Was wirklich hinter dieser Kunst steckt und was man dafür geben muss, habe ich erst durch den Dreh für „Keine Angst“ gelernt.

Jonas:
Wie hast du dich damals auf die Rolle vorbereitet?

Michelle:
Es gab viele intensive Probetage, wir haben uns wieder und wieder sehr ausführlich über die Problematik unterhalten. Jede Szene haben wir dabei auseinandergenommen und überlegt, was wir damit genau sagen wollen. Alleine dadurch hatte ich eine ganz andere Bindung zum Spiel als vorher.

Jonas:
„Keine Angst“ wurde mit insgesamt vier Preisen ausgezeichnet – und plötzlich war der Name Michelle Barthel überall ein Begriff. Wie hast du das aufgenommen?

Michelle:
Gar nicht. Ich checke das auch immer noch nicht so wirklich. Es wundert mich nach wie vor, wenn mich jemand beim Casting oder auf der Straße erkennt.

Jonas:
Die meisten Leute haben dich wahrscheinlich schon viel öfter im TV gesehen als sie meinen – du hast ja alleine in vier Tatorten mitgespielt, die jedes Mal ein Millionenpublikum erreicht haben.

Michelle:
Ja, ich bin auch sehr stolz, dass ich da mitwirken durfte. Allerdings dachte ich nach dem vierten Tatort: Ein fünftes Mal muss es nicht unbedingt geben, irgendwann fällt es sicher auf, dass immer wieder dasselbe Mädchen in einer ähnlichen Rolle zu sehen ist. Ich kann mir vorstellen, dass das die Zuschauer vielleicht irgendwann nervt.

Jonas:
Nervt es dich selbst?

Michelle:
Nein, ganz im Gegenteil. Ich spiele dort ja immer sehr spezielle Charaktere, die vor ganz bestimmten existenziellen Problemen stehen – und das finde ich sehr spannend. Ich mag diese Rollen äußerst gerne, weil sie mich dazu bringen, mich mit dieser Problematik intensiv auseinanderzusetzen. Daraus schöpfe ich sehr viel Kraft.
Bei „Keine Angst“ habe ich übrigens zum ersten Mal gemerkt, wie das ist, wenn man eine gewisse Empathie für die Figur empfindet, die man spielt. Es hilft mir immer sehr, wenn ich versuche, mich in deren Lage zu versetzen. Ich hoffe dadurch besser verstehen zu können, warum die Figur gerade so handelt.
Seit „Keine Angst“ gehe ich auch viel weniger kritisch mit anderen Menschen um und verurteile nicht mehr so schnell, weil ich gelernt habe, dass jeder irgendwo seine Beweggründe hat für das, was er tut.

Jonas:
Erreicht man da nicht irgendwann eine Grenze des Verstehens?

Michelle:
Natürlich gibt es Dinge, die sind so grausam, so brutal oder einfach so sonderbar, die kann man nicht begreifen. Und darf sie auch nicht tolerieren. Trotzdem habe ich erlebt, dass man oft viel zu schnell den Begriff „unmenschlich“ benutzt, ohne dabei wirklich zu überlegen, was das überhaupt heißt. Nicht selten wirkt das wie eine faule Ausrede, mit dem wir das Geschehene weit von uns wegschieben können. So müssen wir uns damit nicht ernsthaft auseinandersetzen.
Ich halte es einfach grundsätzlich für wichtig, dass man sich bei allem genau die Hintergründe anschauen muss, um nachvollziehen zu können, warum beispielsweise jemand eine so ungeheure Wut entwickelt hat.

Die Bar wird voller und voller, der Geräuschpegel steigt empfindlich. Immer mehr Menschen strömen nun in das goldgelb schimmernde Lokal, das sein stimmungsvolles Licht durch große Fenster weit nach draußen wirft. Kurz vor 21.00 Uhr ist es jetzt – was wohl die nächste Station auf unserer Reise sein mag?

Wir laufen zurück zur U-Bahnstation Weinmeisterstraße, die nächste Entscheidung steht an: Wollen wir nach Norden oder lieber in den Süden? Die U8 Richtung Herrmannstraße kommt zuerst, also wird’s der Süden.

Fünf Stationen weiter steigen wir aus. Das Kotti ist ja immer einen Abstecher wert, wenn man sich in die Nacht stürzen will. Auf die Oranienstraße haben wir aber gerade keine Lust, und so laufen wir den Kottbusser Damm entlang, bis wir vor der Mariannenstraße an der Ampel stehen. Oh, lasst uns ins „Hotel“ gehen, das ist doch hier gleich!

Das „Hotel“ ist eigentlich eine Bar und immer eine gute Idee. In dem kleinen, verwinkelten Laden gibt es kein künstliches Licht, dafür aber etliche Kerzen – eine Stimmung, die so schön ist, dass man sie nicht beschreiben kann.

Wir finden eine kleine freie Ecke vor dem Klavier, legen unsere Jacken ab und machen es uns gemütlich.

Jonas:
Vor kurzem hast du den Film „Spieltrieb“ abgedreht, der auf dem gleichnamigen Roman basiert. Du wurdest auch hier für die Hauptrolle besetzt – war deine Herangehensweise bei der Vorbereitung dieselbe wie sonst?

Michelle (lacht):
Auf jeden Fall hat der Dreh turbulenter begonnen als sonst! Ich habe zu der Zeit gerade mein Abi gemacht. Meine mündliche Prüfung hatte ich morgens um 7:30 Uhr und saß um 12:00 Uhr schon im Flieger nach München, um den ersten Probentag nicht zu verpassen.
Aber im Ernst: Alleine die physische Vorbereitung war viel intensiver als bei meinen früheren Rollen. Ich musste sehr viel trainieren, da die Figur, die ich spiele, sehr sportlich ist und im Film viel rennt.

Jonas:
Der Film wird wahrscheinlich im Herbst 2013 Premiere haben. Freust du dich?

Michelle:
Ja, ich freue mich sehr. „Spieltrieb“ ist auf der einen Seite sehr düster, auf der anderen Seite aber äußert lebendig und provokant. Ich bin total gespannt darauf, was die Leute empfinden werden, wenn sie ihn sehen.

Jonas:
Was charakterisiert die Rolle der Ada, die du spielst?

Michelle:
Ada ist ein fünfzehnjähriges Mädchen, das ziemlich isoliert durchs Leben geht und sich ihrer Umwelt geistig überlegen fühlt. Sie ist sehr gebildet, intellektuell und stillt ihren Wissenshunger zum Beispiel mit Sartre. Sie will aus dem Hierarchiesystem ausbrechen, das ihr das Leben und die Schule aufzwingen.
Irgendwann kommt ein neuer Schüler in ihre Stufe, sein Name ist Alev. Bei ihm hat sie das Gefühl, endlich jemanden gefunden zu haben, der ihr die Stirn bieten kann. Alev und Ada ticken ähnlich, sie reiben sich aneinander – und irgendwann verliebt sie sich in ihn.
Auf einer Klassenfahrt rettet Ada dann die Frau des Sportlehrers vor dem scheinbaren Suizid, weshalb ihr der Sportlehrer sehr dankbar ist. Alev kommt dabei auf die perfide Idee, dass Ada diese Dankbarkeit ausnutzen und den Lehrer verführen könnte. Aus Liebe zu Alev gibt sie sich seiner Idee hin und tut, was er verlangt. Dabei wirft sie all’ ihre Prinzipien und Ideale über Board…

Jonas:
Hast du für Ada auch eine gewisse Empathie entwickelt?

Michelle:
Als ich mich zum ersten Mal mit der Figur beschäftigt habe, war sie total weit weg von mir. Aber je länger ich die Rolle gespielt habe, desto mehr ist mir aufgefallen, wie sehr wir uns in bestimmten Dingen ähneln – zum Beispiel in dem Wunsch nach Freiheit und Unabhängigkeit.
Angefreundet haben Ada und ich uns allerdings nicht – ich glaube, Ada fände mich nicht besonders cool. Ich wäre ihr wahrscheinlich nicht hart genug.
Ada und ich haben uns übrigens sehr tragisch verabschiedet – am letzten Drehtag in Bonn. Ich stand abends auf einer Brücke über dem Rhein und habe ein Armband durchgeschnitten, das ich über die gesamte Drehzeit getragen hatte. Dieses Armband gehörte zur Figur Ada – ich habe es im Rhein versenkt.
Ich musste das einfach tun, weil mich die Rolle so eingenommen hatte, dass es echt schwer für mich war, wieder den Bogen zu mir selbst zu finden. Ich brauche zwar sonst keine Rituale im Leben, aber dieser symbolische Akt war mir wichtig.

Jonas:
Du bist danach auch recht bald nach Berlin umgezogen…

Michelle:
Ja, nach Spieltrieb war ich zum Drehen noch etwa einen Monat in Norwegen und bin dann im Oktober letzten Jahres nach Berlin gekommen. Irgendwie wollte ich ja nie in die Hauptstadt ziehen, aber es gab so einen Wink und ich wusste, dass in meinem Leben jetzt der nächste Schritt kommen musste.
Ich liebe meine Heimat ja total, aber trotzdem hatte ich das Gefühl, dass ich gehen muss. Und da hatte sich Berlin zufällig angeboten. Ich kannte hier ja eh schon einige Leute.

Ich habe plötzlich gemerkt, dass ich weg muss.

Jonas:
Anfang Januar hast du der Hauptstadt aber erst einmal wieder für vier Wochen den Rücken gekehrt und bist nach Thailand aufgebrochen.

Michelle:
Ja, es war so eine Aufbruchsstimmung in mir. Das neue Jahr fing an und ich hatte mich von vielem getrennt und vieles aufgegeben. Es veränderte sich gerade einfach viel um mich herum. Ich habe plötzlich gemerkt, dass ich weg muss. So richtig weg.
Beim Dreh zu „Spieltrieb“ gab es einen Bühnenbauer, der immer so von Thailand geschwärmt hatte. Er meinte, dass man da unbedingt mal gewesen sein müsste in seinem Leben. Also ging es nach Thailand.
Es ist tatsächlich ein unglaublich schönes Land mit einer tollen Atmosphäre und einer atemberaubenden Landschaft. Man trifft auf seiner Reise so viele Gleichgesinnte, die aus den verschiedensten Ecken der Welt kommen.
Der größte Vorteil von Thailand ist aber, dass die Distanz zu Deutschland so groß ist, dass man sich in Ruhe die Frage stellen kann, wer man ist und wo man hin will.

Jonas:
Hast du dort die Antworten darauf gefunden?

Michelle:
Ja, absolut. Und ich habe dort auch endgültig den Entschluss gefasst, eine Schauspielschule zu besuchen. Momentan bewerbe ich mich in Berlin, Potsdam, Leipzig und Rostock. Ich bin gespannt, wo ich lande.

Jonas:
Fühlst du dich in Berlin mittlerweile zuhause?

Michelle:
Ich mag die Stadt, weil ich mich hier einfach frei fühle und viele Menschen um mich herum habe, die mir sehr ans Herz gewachsen sind.

Jonas:
Gibt es trotzdem noch andere Orte auf der Welt, an denen du mal leben willst?

Michelle:
Früher hatte ich immer den Traum, dass ich irgendwann mal mit einem VW Bulli quer durch Europa bis nach Griechenland fahren will, wo ich am Strand wohne, bis ich sterbe.
Heute will ich aber überall mal hin – aber idealerweise immer noch mit einem VW Bulli.

Michelles Augen werden groß und fangen an zu funkeln. Dabei malen die vielen kleinen Kerzen, die das Hotel so stimmungsvoll erleuchten, geheimnisvolle Figuren aus Licht und Schatten auf ihr Gesicht.

Für einen Moment verliert sie sich in ihren Gedanken. Die junge Schauspielerin scheint gerade irgendwo am Strand zu liegen. In Thailand. Oder Griechenland. Oder sonstwo auf der Welt.

Kurz vor Mitternacht ist es jetzt, wir brechen auf. Nur wenige Schritte sind es von hier bis zur Kottbusser Brücke, die sich über den tiefschwarzen Landwehrkanal streckt.

Langsam und lautlos bahnt sich das Wasser seinen Weg durch die Dunkelheit, nur begleitet von den Sternen und dem Mond.

Ich liebe die Nacht einfach, weil sie so unendlich frei ist.

Jonas:
Was für eine schöne Nacht.

Michelle:
Ja, die Nacht ist eigentlich der schönste Teil des gesamten Tages. Es ist irgendwie die Zeit, die man ganz in Ruhe verbringen kann.
Daher hat die Nacht für mich auch einen unglaublichen Zauber. Alles steht still. Und obwohl trotzdem an einigen Stellen das Leben pulsiert, findet man so viele Orte, an denen man total die Zeit vergessen kann.
Ich liebe die Nacht einfach, weil sie so unendlich frei ist. Leider geht sie immer viel schneller vorbei als der Tag. Aber das ist ja irgendwie bei allem Schönen so.

Wir laufen zurück zum Kottbusser Tor. Eigentlich wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, um sich zu verabschieden.

Aber irgendwie finden wir alle, dass diese Reise noch nicht zu Ende sein kann, nicht zu Ende sein darf. Und so beschließen wir, in der „Luzia“ vorbeizuschauen. Ein riskantes Unterfangen – denn Samstagsabends platzt die Bar aus allen Nähten.

Egal, wir probieren es trotzdem. Und haben Glück: Vor kurzem erst wurde der Raucherbereich ausgebaut und zu einem Club innerhalb des Lokals umfunktioniert. Nicht Viele verirren sich in diesen kleinen Raum, in dem man sich abgeschottet vom Lärm der Außenwelt von feinen Elektroklängen beschallen lassen kann.

Und so schlagen wir uns vom Eingang durch die Massen bis zum Club durch, wo wir über eine Leiter eine kleine Nische erklimmen, die nur erhellt wird durch eine schwach flackernde Kerze. Schon wieder dieses Licht!

Wir lehnen uns zurück, lauschen der Musik und schauen uns schweigend an: Das Ziel der Reise scheint erreicht zu sein.

Ganz ohne Plan. Ganz ohne Kompass.

Es gibt Momente im Leben, da sollte man sich einfach treiben lassen und darauf vertrauen, dass alles gut wird.

Meistens hat man Glück.

Wie in dieser Nacht.


Prinz Pi

Interview — Prinz Pi

Über dem Radar

Fortschrittsfanatiker und Fernweh-Typ: Wir fühlen Prinz Pi auf den Zahn und sprechen mit dem Rapper über seinen Kompass und ausbleibende Erfolge.

14. April 2013 — MYP No. 10 »Meine Nacht« — Interview: Jonas Meyer, Fotos: Ole Westermann

Es ist noch etwas früh an diesem Morgen im Nordosten Kreuzbergs. Die sonst so lebhaften Straßen zwischen Görlitzer Park und Spree scheinen zwar bereits erwacht zu sein, wirklich aufstehen wollen sie aber irgendwie noch nicht. Wer könnte es ihnen auch verübeln, schließlich ist dieser März vom Gefühl her eher ein hartnäckiger Januar als der Beginn eines warmen Berliner Frühlings.

Die Zugvögel, die gerade aus dem Süden zurückgekehrt sind, machen auch nicht den entschlossensten Eindruck. Aufgeregt flattern sie umher und diskutieren energisch, ob
sie bleiben sollen oder besser wieder abreisen – zurück in die Wärme, aus der sie kommen.

Die Sonne könnte die Entscheidung ja erleichtern – sie müsste dazu nur die Wolken, die hartnäckig ihre Sicht versperren, frühzeitig in den Feierabend schicken. Aber ein Machtwort scheint ihr an diesem Morgen noch nicht über die Lippen zu kommen, dazu wirkt sie zu verschlafen.

Wie gut, dass es im Café Nest in der Görlitzer Straße schon etwas geschäftiger zugeht. Irgendwer muss den Tag ja in Gang bringen – und unseren Kreislauf. Der doppelte Espresso kommt also gerade recht.

In wenigen Minuten erwarten wir hier Friedrich Kautz, der bereits seit Ende der 90er Jahre in der deutschen HipHop-Szene für Musik sorgt und sich dort Prinz Pi nennt. In Kürze wird er sein fünfzehntes Album veröffentlichen, das den Namen „Kompass ohne Norden“ trägt. Ja, richtig gelesen: Fünfzehn. Also darf man gespannt sein.

Während wir noch unser Equipment vor einer gemütlichen Wohnzimmer-Sitzecke am Fenster aufbauen, schlendert Friedrich um die Ecke und betritt das Café. Er hat seinen besten Freund Wassif Hoteit dabei, mit dem er vor vier Jahren das Label „Keine Liebe Records“ gegründet hat. Und obwohl dieser Tag als Pressemarathon in ihrem Kalender geblockt ist, wirken beide absolut entspannt.

Nach einem freundlichen „Hallo!“ und „Einen Cappuccino bitte!“ lässt sich Friedrich auf einem der kleinen Wohnzimmersessel nieder und schaut uns an. Im Gegensatz zu den Kreuzberger Straßen und der Sonne ist er bereits hellwach.

„Der Cappuccino für den Herrn?“ Ja, dankesehr. Es kann losgehen.

Jonas:
Wenn man den Song „Fähnchen im Wind“ auf deinem neuen Album hört, fühlt man sich total in die Vergangenheit zurückgeschossen. Plötzlich hat man wieder die Bilder der eigenen Abifahrt vor Augen. War es für dich selbst auch wie eine Zeitreise, als du den Song geschrieben hast?

Friedrich:
Ja, schon. Dieser Song leitet das neue Album ein, da er bei den Erinnerungen an die Grundschulzeit ansetzt. Die sind wahrscheinlich bei den meisten Leuten gleich: Man saß wenige Wochen vor den Sommerferien in der Schule, goldenes Licht fiel in die Klasse und man konnte es kaum noch erwarten, dass endlich die große Freiheit anbrach. Die sechs Ferienwochen erschienen einem damals wie eine unendlich lange Zeit, die dann leider viel schneller rum war, als man dachte.
So sprang man von Schuljahr zu Schuljahr, bis plötzlich das Abi vor der Tür stand. Und man dachte schon wieder: Wenn das vorbei ist, beginnt ein riesengroßes Abenteuer. Doch irgendwie tut’s das halt doch nicht – und davon handelt der Song.
Bei mir zum Beispiel kam nach dem Abi direkt der Zivildienst und dann gleich das Studium. Man wartet dabei die ganze Zeit auf diesen Klick-Moment. Aber der kommt nicht.

Jonas:
Wartest Du immer noch?

Friedrich:
Ja, das tue ich. Bei mir hat es bisher nur so halb klick gemacht, aber eben noch nicht richtig.

Jonas:
Was genau meinst du mit „halb klick“?

Friedrich:
Naja, es gibt Leute, die wissen mit 16, 17 Jahren schon, was sie mal werden wollen. Und werden das dann auch. Für mich ist dieses Musikerdasein etwas, mit dem ich mich erst arrangieren musste – immerhin habe ich mich ziemlich lange dagegen gesträubt.
Ich habe ja eigentlich Kommunikationsdesign studiert und wollte ursprünglich auch in diesem Job arbeiten. Aber wie man sieht, bin ich dann doch nicht in einer Werbeagentur gelandet.

Jonas:
Vielleicht hätte die auch deine Seele einbehalten…

Friedrich:
Ja, die hätte ich dort wahrscheinlich irgendwie für 3.000 brutto im Monat verkauft.

Jonas:
Wie und wann bist du zur Musik gekommen?

Friedrich:
Das war zu meiner Abiturzeit. Ich war auf einem superkrassen Gymnasium, das sich als eine Art Eliteschule verstand. Die Schüler dort waren alle etwas anders drauf als ich und hatten einfach nicht meinen State of Mind. Dementsprechend habe ich mich mit ihnen nicht wirklich gut verstanden und bin daher auch nicht mit auf Abifahrt gekommen. Es war damals ein wunderschöner Sommer mit tollem Wetter – und ich habe mich in den kalten, nassen Keller meiner Eltern verkrochen.
In diesem Keller habe ich angefangen, meine ersten Songs zu schreiben. Unter anderem ist das Stück „Keine Liebe“ dort entstanden, das zu einer Art Klassiker von mir wurde. Der Song wurde aus dem Gefühl heraus geboren, dass es für mich absolut keine Gruppe gab, in der ich aufgenommen wurde und die mich mochte. Ich wollte der Welt die fehlende Liebe, die mir entgegenschlug, irgendwie zurückgeben – das ist die traurige Geschichte meines musikalischen Anfangs. Friedrich grinst.

Jonas:
Gott sei Dank verschwindet die Traurigkeit ja im Laufe der Zeit – vielleicht auch deshalb, weil man irgendwann die Leute von früher wieder sieht und sich ziemlich wundern muss, was aus ihnen geworden ist…

Friedrich:
Ja, das beschreibe ich auch in meinem Song „Kompass ohne Norden“. Manche trifft man nach einigen Jahren wieder und denkt sich: Oh mein Gott, wie kann man so klischeehaft sein? Da fallen nur Sätze wie „Das hier ist mein Auto, das meine krasse Uhr und das meine (viel zu) junge Frau.“

Jonas:
„Die Ersten sind gescheitert, die Ersten was geworden…“

Friedrich:
Genau – und die trifft man eben irgendwann wieder. Und ich habe nach wie vor keine Gruppe gefunden, zu der ich mich zugehörig fühle.
In der Musikszene ist es übrigens dasselbe: Ich sehe ja nicht unbedingt so aus und bin so drauf wie die meisten meiner Kollegen. So bin ich auch dort eher ein Einzelgänger, ein Steppenwolf sozusagen.

Jonas:
Treibt dich das um?

Friedrich:
Es gibt ja ganz viele Leute, die mich gerade deshalb mögen, weil ich so bin, wie ich bin: Das sind meine Fans. Daher finde ich das nicht wirklich schlimm.

Jonas:
Eigentlich könntest du ja total entspannt sein…

Friedrich:
Ich bin auch total entspannt. Ich glaube übrigens nicht, dass ich dadurch etwas Besonderes bin. Das ist so ein bisschen wie bei den Leuten, die sagen: „Oh Mann, ich bin ja so individuell! Ich hab’ einen so krass eigenen Style, der ist komplett anders als der Style von allen anderen.“ Irgendwann kommen sie dann aber nach Berlin-Friedrichshain und müssen feststellen: Dort sehen alle exakt so aus wie sie selbst.

In meinem Metier trägt man ja eher die „Babo-Jacke“ als die Barbour-Jacke.

Jonas:
Jede Gruppe hat eben ihre Uniform – bei den BWL-Studenten zum Beispiel sind es die Segelschuhe, das Polo von Ralph Lauren mit hochgestelltem Kragen und die Barbour-Jacke.

Friedrich (lacht):
In meinem Metier trägt man ja eher die „Babo-Jacke“ als die Barbour-Jacke. Aber ja, im Prinzip ist es das gleiche.
Interessanterweise ist dieser Drang, möglichst anders und individuell sein zu wollen, meistens an den Wunsch geknüpft, trotzdem Teil einer Gruppe oder einer Gesellschaft zu sein. Diesen Mechanismus habe ich schon sehr, sehr früh verstanden.
Als ich zum Beispiel 15, 16 Jahre alt war, war ich ziemlich links interessiert. Ich bin auf Demos gegangen, in meinem Zimmer hing ein Plakat von Che Guevara und ich hatte überall „Bildet Banden“-Sticker kleben. Ich war damals total begeistert von dem ganzen Antifa-Zeug und so.
Irgendwann habe ich aber gemerkt, dass es auch bei diesen total toleranten Anarchisten eine ziemlich krasse Uniformierung gibt. Dort darfst du nicht unbedingt so aussehen, wie du willst, sondern musst dich kleiden, wie sich ein Punk eben kleidet. Und wenn nicht, wirst du schräg angeschaut.
Das fand ich total bescheuert. Wenn man schon Anarchist ist und sich über alle Normen und Gepflogenheit der Gesellschaft hinwegsetzen will, muss man auch so weit gehen, dass man in seinem eigenen Haufen Leute akzeptiert, die aussehen können wie sie wollen.

Friedrich nimmt einen großen Schluck seines Cappuccino und schaut aus dem Fenster. Wer hätte es gedacht: Die werte Sonne hat sich endlich dazu durchgerungen, die Wolken vor sich zu verjagen. Wie entfesselt durchströmen ihre Strahlen den Nordosten Kreuzbergs und tauchen unsere kleine Interviewecke in ein wunderschönes Licht.

Mit dem Auftritt der Sonne scheint auch etwas Ordnung in die Diskussion der Zugvögel gekommen zu sein, die nicht mehr ganz so wild umherfliegen. Immer mehr von ihnen formieren sich und wechseln ins Lager derer, die sich für ein Bleiben entscheiden.

Jonas:
Du bist ja hier aufgewachsen…

Friedrich:
Ja, ich bin born and raised in West-Berlin!

Jonas:
Wird dir die Stadt so langsam fremd?

Friedrich:
Fremd nicht, aber Berlin verändert sich schon sehr schnell. Der Wrangelkiez zum Beispiel – die Hood, wo wir gerade sind. Vor zehn Jahren bin ich hierher gezogen. Damals war das die Gegend mit der höchsten Kriminalitätsrate in Deutschland. Die Wrangelstraße war so ziemlich die schlimmste Ecke und wirklich mies. Hier bist du nachts nicht gerne rumgelaufen.
Kein einziges teures Auto stand damals hier – und heutzutage bekommst du vor lauter geparkten Porsche Panamera keinen Platz mehr mit deinem Kleinwagen. Es hat sich extrem verändert, aber ich will gar nicht das übliche Touristen-Bashing betreiben und sagen, dass alles total schlecht geworden ist. Die Touris bringen ja Geld in den Kiez und wir Berliner leben davon.

Jonas:
Und wenn man irgendwo anders auf der Welt unterwegs ist, ist man dort ja selbst Tourist…

Friedrich:
Genau. Allerdings versuche ich im Ausland nicht so aufzutreten, wie das die deutschen Touris so gerne tun: Mir ist echt aufgefallen, dass es so ein typisch deutsches Ding ist, im Ausland beispielsweise im Restaurant wie selbstverständlich auf Deutsch zu bestellen. Für gewöhnlich versteht ein Einheimischer aber kein Deutsch. Anstatt es dann mal auf Englisch zu probieren, wiederholen sie auf Deutsch – nur doppelt so laut: „Ich meinte eine Pizza! Verstehen sie mich nicht?“

Wenn ich ins Ausland fahre, wirke ich eher wie ein gut gekleideter Frank Sinatra.

Jonas:
Ich kann mir dich auch wirklich schlecht in Tennissocken und Sandaletten vorstellen.

Friedrich:
Stimmt, das Schlimmste sind Sandalen und Socken. Das ist wirklich peinlich, so sehe ich nicht aus.
Wenn ich ins Ausland fahre, wirke ich eher wie ein gut gekleideter Frank Sinatra. Ich trage dann nur klassische Sachen: eine braune Sonnenbrille, ein Hemd und einen Hut.

Jonas:
Bist du eher so der Fernweh-Typ?

Friedrich:
Ich liebe andere Länder und würde gerne viel mehr reisen. Und ja, ich habe wirklich oft großes Fernweh. Ich bin aber jemand, der lieber alleine reist.

Jonas:
Weil du dann endlich mal Zeit für dich findest?

Friedrich:
Ich bin so ein sehr, sehr kompliziertes Wesen, das es mag, viel Zeit mit sich selbst zu verbringen – und sich mit sich selbst zu unterhalten und auseinanderzusetzen. Das brauche ich ab und zu.

Wir unterbrechen das Gespräch und zahlen. Wir wollen Friedrich und Wassif noch zu ihrem Studio begleiten, das nur wenige Minuten entfernt liegt. Unterwegs halten wir immer wieder an, um ein paar Portraits von Friedrich zu schießen – das Licht bietet ja sich mittlerweile einfach an.

Nach etwa hundert Metern kommen wir an einem kleinen Spielplatz vorbei. Zwei junge Leute, die um die 20 sein müssen, schaukeln wild auf einem der Spielgeräte herum. Friedrich hält für einen Moment an, beobachtet das Treiben kurz und schüttelt den Kopf: „Seht ihr, die Hipster nehmen den Kindern die Spielplätze weg.“

Jonas:
In deinem Song „Moderne Zeiten“ beschreibst du, wie jeder versucht, irgendwie auf Retro zu machen…

Friedrich:
Ja, das ist eine Beobachtung, die ich immer wieder gemacht habe. Dieser Retro-Trend hat ja seinen Ursprung in einer gewissen Zukunftsangst – also die Angst vor einem Morgen, in dem es beispielsweise weniger Arbeitsplätze gibt, der Wohlstand abnimmt oder die Polkappen schmelzen. Man könnte etliche Punkte aufzählen.
In meiner Kindheit sah das alles noch anders aus. Wenn man damals in Büchern und Zeitschriften etwas über Zukunftsszenarien gelesen hat, war das alles toll und utopisch – mit fliegenden Autos und Wohnen auf dem Mars. Das war einfach eine geile Welt, auf die man sich gefreut hat. Heute malt man sich nur noch Horrorszenarien aus.
Daher suchen die Leute etwas, das sie kennen und wohin sie sich flüchten können. Sie suchen einfach nach der heilen Welt aus ihrer Kindheit. Meine Generation betreibt das so intensiv wie keine Generation vorher: Wir fliehen zu den Sneakers aus den 80ern und zu den alten Star Wars Filmen, die wir viel schöner und unperfekter finden als die neuen. Die machen uns eher Angst.
Diese alten Star Wars Filme sind echt ein gutes Beispiel: Sie beschreiben eine einfache und verständliche Welt mit klar definierten Rollen: Der Draufgänger Han Solo, der tugendhafte Held Luke Skywalker und das absolute Böse in Form von Darth Vader und dem Imperator.
Die heutigen Star Wars Streifen zeigen viel kompliziertere Charaktere und haben eine weitaus vielschichtigere Handlung. Das passt zwar in unsere heutige Zeit, gefällt uns aber nicht, weil wir uns nach dem einfachen Leben und klar definierten Rollen sehnen – wie bei Shakespeare.

Jonas:
Bist du selbst ein eher ängstlicher Typ?

Friedrich:
Ne, ganz im Gegenteil. Ich freue mich total auf das, was kommt. Ich bin ein absoluter Fortschrittsfanatiker. Ich habe ja Design und Gestaltung studiert und mag schon alleine deswegen alles, was modern ist. Ich als iPhone-Poweruser liebe die ganzen technischen Spielzeuge und finde das alles toll.
Allein diese gigantische Entwicklung der letzten Jahre beispielsweise in der Filmtechnik ist echt beeindruckend. Heute kann man mit einer relativ einfachen Kamera und überschaubarem Aufwand einen richtig guten Film drehen. Das war noch vor zehn Jahren undenkbar.
Diesen Fortschritt begrüße ich sehr. Das ist, wie wenn einem einfachen Arbeiter plötzlich alle Produktionsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. So ist es übrigens schon in „Das Kapital“ von Karl Marx gefordert.
Nur wegen dieser Entwicklung habe ich mit meinem kleinen Independent-Team überhaupt die Möglichkeit, gegen die viel größeren Major-Player zu bestehen. Hinter deren Produktionen verstecken sich ja ganz andere Strukturen und Budgets als bei mir. Und obwohl bei uns im kleinen Kreis das Meiste selbst gemacht wird, spielen wir qualitativ auf demselben Level. Das ist eine sehr moderne Herangehensweise, die total den Zeitgeist widerspiegelt.

Jonas:
Es gibt sicherlich viele, die dich heimlich um diese Freiheitsgrade beneiden.

Friedrich:
Bestimmt. Ich bin auch echt froh um diese Freiheit und sehr dankbar.

Jonas:
Und obwohl du diese Freiheitsgrade besitzt und es unzählige Menschen gibt, die du mit deiner Musik erreichst, sagst du von dir selbst, dass du seit Jahren knapp unter dem Erfolgsradar fliegst.

Friedrich:
Was ich damit meine, ist Folgendes: Wenn in Deutschland jemand von diesem Radar erfasst ist, kennt jeder seinen Namen – egal ob man mit seiner Musik was anfangen kann oder nicht. Ein Beispiel: Sogar meine Mutter kennt Peter Fox – spätestens seit Heino. Mich dagegen kennen über meine Fans hinaus nur wenige. Das ist das, was ich mit „knapp unterhalb des Erfolgsradars fliegen“ sagen will.
Um es nicht falsch zu verstehen: Ich bin super dankbar und freue mich total, dass ich so erfolgreich bin. Trotzdem ist es ein Fakt, dass mein Name noch nicht in aller Munde ist.

Jonas:
Ist es dein oberstes Ziel, diese Schwelle zu überschreiten und irgendwann in den Radar zu fliegen?

Friedrich:
Ne, das oberste Ziel ganz sicher nicht. Ich freue mich über alle, die ich mit meiner Kunst erreiche und die sich für meine Musik interessieren. Wenn Menschen das tun, ehrt mich das sehr.
Kunst muss ja auch nicht immer jeden ansprechen. Vor allem in der Musik passiert es oft, dass das Niveau gesenkt wird, um ein größeres Publikum zu erreichen. Das will ich aber auf gar keinen Fall. Ich müsste mich dann ja verbiegen – und dazu bin ich nicht gelenkig genug. Friedrich lacht.

Irgendwas sollte man schon hinterlassen können.

Jonas:
Musik, deren Niveau runtergeschraubt wird, überlebt naturgemäß ja auch nicht lange.

Friedrich:
Das stimmt. Irgendwas sollte man schon hinterlassen können. Wenn ich etwas von meiner humanistischen Schulbildung mitgenommen habe, dann den Anspruch, etwas für die Gesellschaft tun zu können. Meine Referenz ist da „De re publica“ von Cicero, der in seinem Werk dafür plädiert, dass es die Pflicht eines jeden Bürgers sein muss, seiner Gesellschaft zu dienen.
Wenn ich irgendwann mal ins Gras beißen werde, ist das in meinem Fall zwar eher der Lederbezug von dem Sitz meines Sportwagens, mit dem ich mich irgendwo gegen die Wand semmele, trotzdem will ich dann sagen können, dass ich etwas Vernünftiges gemacht habe – und nicht nur mein eigenes Bankkonto gefüllt habe.
Ich sehe deshalb meinen Dienst an der Gesellschaft darin, dass ich vernünftige Musik mache – Musik, die ich persönlich ziemlich gut finde.

Jonas:
Und Bob Dylan ist dabei der Kompass?

Friedrich:
Bob Dylan war einer der Musiker, die ich schon als Kind viel gehört habe, allerdings ohne wirklich zu verstehen, was er da sagt. Mein Papa hat mir dann irgendwann ein Buch geschenkt, in dem alle seine Texte ins Deutsche übersetzt waren.

So etwas hatte ich noch nicht gesehen: Die Songtexte von Bob Dylan waren so selbstverständlich in einem Buch abgedruckt, wie ich es vorher nur von Dichtern und Romanautoren kannte.
So habe ich gelernt, dass Texte auch ohne die Musik eine gewisse Gültigkeit und Wertigkeit besitzen können. Dafür bin ich ihm sehr dankbar.

Wir sind mittlerweile am Studio angekommen und verabschieden uns. Der Prinz-Pi-Pressemarathon geht in die nächste Runde: Friedrich ist zu einem Telefoninterview verabredet, das in wenigen Minuten ansteht.

Während Friedrich und Wassif im Hauseingang verschwinden, wandern unsere Blicke erstaunt Richtung Himmel: Die Zugvögel haben sich geeinigt! Stolz verkünden sie, dass sie sich zum Bleiben entschieden haben.

Und so sammelt sich der Schwarm am Himmel, formiert sich und steigt auf, immer weiter und weiter. Wie eine Speerspitze wirkt er und zieht entschlossen der Sonne entgegen.

Wären die Vögel Flugzeuge, man würde sie kaum entdecken. Zu hoch sind sie schon aufgestiegen. Und fliegen über dem Radar.

Wer hätte das heute Morgen noch gedacht!

Sie haben wohl einfach einen Kompass gebraucht.


Sven Marquardt

Interview — Sven Marquardt

Was bleibt

Sven Marquardt, Fotograf und Gesicht der Berghain-Tür, dokumentiert mit seiner Kamera seit Jahrzehnten das Vergängliche. Seine Bilder sind Teil des fotografischen Gedächtnisses nicht nur einer ganzen Stadt, sondern einer ganzen Zeit. Dabei fotografiert der Mann der Nacht ausschließlich mit Tageslicht.

14. April 2013 — MYP No. 10 »Meine Nacht« — Interview: Jonas Meyer, Fotos: Ole Westermann

Es gibt Orte auf der Welt, denen sagt man nach, sie könnten die spannendsten Geschichten erzählen. Wenn man dort sei, so heißt es, müsse man nur für einen Moment innehalten, die Augen schließen und einem leisen Flüstern lauschen – und schon würde man mitgenommen auf die Reise in eine andere Zeit.

Die Oranienburger Straße gehört zweifelsohne zu jenem Kreis geschichtsträchtiger Orte, die etwas zu erzählen haben, wenn man sie nur lässt. Schon seit knapp 800 Jahren liegt sie im Herzen Berlins und breitet sanftmütig zwischen Hackeschem Markt und Friedrichstraße ihre Arme aus, um alle herzlich zu begrüßen, die sie besuchen wollen.

Unzählige Menschen kamen im Laufe der Zeit vorbei, unzählige gingen auch wieder. Vieles wurde zerstört und vieles wieder aufgebaut, Altes ging und Neues konnte entstehen. So stapelten sich Geschichten über Geschichten, angesammelt über Jahre und Jahrhunderte.

Wer sich wie wir an diesem Freitagmorgen die Zeit nimmt, um auf den Stufen des Kaiserlichen Postfuhramts bei geschlossenen Augen die ersten Sonnenstrahlen des Frühlings zu genießen, dem erzählt die Oranienburger Straße leise ihre jüngste Geschichte: vom traurigen Abschied des C/O Berlin aus jenen ehrwürdigen Gemäuern, auf deren Stufen wir uns gerade niedergelassen haben.

Dort, wo sieben Jahre lang die Ausstellungsräume des C/O Fotografie-Forums beheimatet waren, hat nun irgendein Medizintechnik-Hersteller seine Flagge gehisst, die antriebslos im Wind flattert. So ist das eben dieser Tage in Berlin. Gibt es denn nichts, was bleibt?

So sitzen wir also am späten Vormittag vor dem Postfuhramt in der Sonne, schweigen und laufen Gefahr, in tiefen Wehmut zu verfallen. Doch plötzlich werden wir ins Hier und Jetzt zurückgeschossen: Vor uns baut sich ein freundliches und zuversichtliches Lächeln auf, das von einer großen dunklen Sonnenbrille eskortiert wird.

Lächeln und Sonnenbrille gehören beide zum Fotografen Sven Marquardt, mit dem wir heute zum Interview verabredet sind. Pünktlich auf die Minute erscheint er am vereinbarten Treffpunkt vor dem ehemaligen C/O und begrüßt uns mit einem herzlichen „Guten Morgen! Na, alles gut bei euch?“

Klar, alles gut. Gemeinsam laufen wir in das nur wenige Meter entfernte Café Oranium, um uns bei Kaffee und frischgepresstem Orangensaft zu unterhalten. Über ihn, seine Kunst und sein Leben.

Jonas:
Auf dem Opener deiner Website findet man das Zitat „Wilde Menschen hinterlassen wilde Dinge – Schlangenhäute, so dass man sich an sie erinnert, damit ihresgleichen nachfolgen kann.“ Bist du Fotograf geworden, weil du selbst irgendwann auf die Schlangenhaut von jemandem gestoßen bist, dem du nacheifern wolltest?

Sven:
Ne, da gab es niemanden. Als ich so etwa 16 Jahre alt war, herrschte bei mir ehrlich gesagt totale Orientierungslosigkeit. Damals habe ich mir immer wieder die Frage gestellt: Was will ich machen, was will ich werden, was will ich lernen? Darauf hatte ich erstmal absolut keine Antwort. Es gab in mir auch nicht diesen riesengroßen Wunsch, mich irgendwie kreativ verwirklichen zu müssen.
Nur eine Sache wusste ich ganz genau: Auf keinen Fall wollte ich in einem miefigen Büro sitzen oder in irgendeiner Halle Werkzeuge fertigen. Ich habe Ende der 70er einfach eine klassische Fotografen-Ausbildung begonnen und auch durchgezogen – aber eher deshalb, weil die Fotografie für mich eher ein Handwerk und eine Dienstleistung war, die überall gebraucht wurde. Erst im Laufe der Zeit und auch eher zufällig wurde das Fotografieren für mich zu einem Ausdrucksmittel, das genau das transportieren konnte, was mich beschäftigt – diese Bedeutungsebene gab es ganz am Anfang einfach noch nicht.

Die Leute fühlten sich durch meine Bilder irgendwie verstanden.

Jonas:
Wie genau kam es zu dieser Veränderung?

Sven:
Während meiner Fotografenausbildung erhielt ich irgendwann einen Musterungsbescheid. Wie jeder sollte auch ich zur Armee. Das habe ich aber total abgelehnt, ich wollte da auf keinen Fall hin.
Meine Familie sagte dazu nur: „Das wirst du nicht schaffen.“ Man muss wissen, dass diese Einstellung zu DDR-Zeiten als eine gegen den Staat gerichtete Haltung galt und daher nicht ganz ungefährlich war. Ich musste also versuchen, etwas schlauer zu sein und mir was einfallen zu lassen: Immer wieder habe ich mir daher ärztliche Atteste besorgt. Und auf die Atteste folgten Therapieversuche, Überweisungen und Einweisungen. So wurde ich bei der Musterung über Jahre immer wieder zurückgestellt, bis ich schließlich ganz ausgemustert wurde.
Bei einem dieser Therapieschritte sollte man irgendwann mal etwas gestalten, was mit einem selbst zu tun hatte. Also habe ich Gedichte ausgeschnitten und sie zusammen mit Portraits, die ich geschossen hatte, aufgeklebt. Die Leute, die meine Bilder sahen, sagten mir, dass meine Fotografie genau das erzählte, was sie selbst bedrückte. Sie fühlten sich durch meine Bilder irgendwie verstanden.
Das war zwar total schön, aber hat bei mir noch keinen Klick ausgelöst. Ich war zu der Zeit gerade mit meiner Ausbildung fertig und wusste schon wieder nicht, was ich machen soll und womit ich mein Geld verdienen will. Also habe ich erstmal angefangen zu jobben, war unter anderem Kleindarsteller beim Film und Statist am Theater. Die Atmosphäre dort habe ich sehr gemocht – hier gab es einfach mehr Freigeister und nicht so viele Linientreue wie sonstwo.
Irgendwann – ich glaube es war 1982 – bin ich im Prenzlauer Berg der Familie von Robert Paris begegnet. Das war ein entscheidender Moment in meinem Leben. Robert’s Mutter war Fotografin und nahm sich die Zeit, meine Bilder anzuschauen. Sie meinte nur: „Mach’ mal ruhig weiter! Und wenn du Lust hast, komm’ vorbei und zeig’ mir, was du fotografiert hast – ich schau’ mir das gerne an. Hier stehen die Türen jederzeit offen für dich.“
Da habe ich gespürt, dass ich tatsächlich damit weitermachen musste, um herauszufinden, was mit meinen Fotos noch so passiert – und habe immer mehr Menschen portraitiert.

Jonas:
Manchmal braucht es eben solche Begegnungen im Leben…

Sven:
Absolut! Auch die Begegnung mit Robert Paris selbst war ziemlich wichtig für mich. Zu Ostzeiten hatte Robert etliche Stellen der Stadt fotografiert: Häuser, Straßen – aber immer ohne Menschen. Alles wirkte total verlassen. Wenn man damals früh morgens vor dem Berufsverkehr oder am Wochenende losgezogen ist, war Ostberlin auch tatsächlich wie ausgestorben – sogar im Sommer. Ein Nachtleben gab es ja hier zu DDR-Zeiten nicht.
Irgendwie teilten wir beide einfach das gleiche Lebensgefühl – und so fügten sich im Jahr 1984 Robert’s Stadtbilder und meine Portraits zu unserer ersten gemeinsamen Ausstellung zusammen. Als seine und meine Fotos an den Wänden nebeneinander hingen, merkten wir, dass sie irgendwie zusammengehören und ziemlich gut zueinander passen: Ich hatte die Menschen zu seinen verlassenen Gebäuden und leeren Straßen – und umgekehrt.

Jonas:
Was für ein Gegensatz!

Sven:
Ja, total. Übrigens: Robert bringt jetzt nach langer Zeit wieder einen Bildband heraus, der den Titel „Entschwundene Stadt“ trägt. Darauf bin ich sehr gespannt! Wir haben uns ja eine Ewigkeit nicht mehr gesehen – nach dem Mauerfall haben wir uns eines Tages aus den Augen verloren. Robert lebt seit etlichen Jahren in Indien, ich selbst bin Berlin treu geblieben.
Seit einigen Jahren sind wir aber wieder in Kontakt. Jeder lebt sein Leben, aber es gibt ja Dinge, die auf ewig einen Platz im Herzen haben.

Jonas:
Die Wendezeit scheint ein ziemlicher Bruch in deinem Leben gewesen zu sein, immerhin hast du damals aufgehört zu fotografieren.

Sven:
Ich habe nicht direkt nach der Wende aufgehört, aber Anfang der 90er. Ich war schon wieder orientierungslos. Und die Leidenschaft zur Fotografie war nicht mehr da.
Ich erinnere mich noch gut an ein Shooting für das Tattoo-Studio „Blut und Eisen“: Eigentlich war es ein klassischer Fototermin, reine Routine. Aber während ich so fotografiert habe, habe ich gemerkt: Irgendwas ist nicht mehr da. Ich habe die Kamera weggelegt und gesagt: Ne, ich mag nicht mehr.

Jonas:
War das für dich problematisch?

Sven:
Für mich war das ehrlich gesagt gar nicht so problematisch – für mein Umfeld dafür umso mehr. Das war echt komisch.
Ich habe angefangen in einem Schuhladen zu jobben, für den ich vorher mal Werbebilder gemacht hatte. Leute, die mich noch aus Ostzeiten kannten und in dem Geschäft antrafen, dachten: „Oh Gott, muss der arme Marquardt jetzt in so einem Laden stehen?“
Ich selbst habe das alles aber viel entspannter gesehen: Die alte Zeit hatte ich losgelassen und war jetzt dabei, etwas Neues zu suchen – das hatte ich nur einfach noch nicht direkt gefunden.

Jonas:
Und obwohl die Fotografie mittlerweile ein so wichtiges Ausdrucksmittel für dich war, konntest du ohne weiteres loslassen?

Sven:
Ja, konnte ich. Ich hatte das Gefühl, ich hätte alles gesagt. Ich dachte einfach: Das war’s. Vielleicht hing es auch damit zusammen, dass die Fotografie zu Ostzeiten Sehnsüchte und Wünsche ausgedrückt hatte, die nach der Wende so nicht mehr existierten.
Für mich war das alles komplett abgeschlossen. Meine Sachen hatte ich daher mehr oder weniger ordentlich in Kisten gepackt und weggeschoben. Worauf ich allerdings nach wie vor sorgfältig geachtet habe, war mein Negativarchiv. Das habe ich von einem zum anderen Umzug immer mitgeschleppt.
Alles andere hat mich aber nicht mehr interessiert. Berlin und ich, wir waren beide in totaler Aufbruchsstimmung: Partys, exzessives Leben, viele Tätowierungen.

Schon zu Ostzeiten war ich einfach schwer einzuordnen.

Jonas:
Du hast dich zu der Zeit aber nicht stumm gefühlt…

Sven:
Ne, ich bin ja in ein komplett neues Leben eingetaucht, was mir sehr viel Spaß gemacht hat. Ich hatte meine Jobs, um mich über Wasser zu halten, und war nicht der Meinung, dass mir was fehlt.
Auch mein Freundeskreis hat sich dadurch extrem verändert. Mit den ganzen Leuten von früher hatte ich irgendwann nichts mehr zu tun. Viele von denen sind einen ganz anderen Weg gegangen, haben Karriere gemacht und arbeiten heute beispielsweise als Dozenten. Ich bin einfach einen anderen Weg gegangen – schon zu Ostzeiten war ich einfach schwer einzuordnen.

Jonas:
Könntest du dir nicht vorstellen, auch als Dozent zu arbeiten?

Sven:
Ich hatte vor einiger Zeit tatsächlich ein Angebot von Werner Mahler an der Ostkreuzschule, wo ich einmal im Monat als Gastdozent aufgetreten wäre. Dieser Termin wäre allerdings immer am Wochenende gewesen, was für mich bedeutet hätte, mit dem Türjob im Berghain kürzertreten zu müssen. Ich hatte das Gefühl, dass das gerade irgendwie zu früh kommt.

Vielleicht wollte ich damals einfach etwas festhalten, weil alles um uns herum so vergänglich war.

Jonas:
Im Jahr 2003 hast du dann doch nochmal zur Kamera gegriffen…

Sven:
Ja! Das war zu der Zeit, als das Ostgut zugemacht hat – der Vorgängerladen des Berghain. Ich hatte damals dort gearbeitet, in einer der Hallen am ehemaligen Ostgüter-Bahnhof, wo jetzt die O2-Arena steht.
Damals bin ich an den freien Wochenenden zusammen mit meinem Kollegen Jan durch die Stadt gezogen. Wir mussten beobachten, dass immer mehr vom alten Berlin verschwindet, wie zum Beispiel die Rummelsburger Ecke oder Alt-Stralau, wo jetzt teure Apartments stehen.
Jan hat mich als Mensch zu dieser Zeit sehr inspiriert. Er hat mich dazu gebracht, wieder die Kamera in die Hand zu nehmen und ihn zu fotografieren. So sind wieder die ersten Portraits entstanden. Vielleicht wollte ich damals einfach etwas festhalten, weil alles um uns herum so vergänglich war.

Wir unterbrechen unser Interview für einen Moment und zahlen. Während Sven Marquardt seinen Orangensaft austrinkt, packen wir unser Equipment zusammen. Wir wollen noch in Richtung Museumsinsel weiterziehen, um dort einige Portraits von Sven zu schießen.

Während wir das Café verlassen, fällt unser Blick wieder auf das Kaiserliche Postfuhramt. Bei der Errichtung am Ende des 19. Jahrhunderts wurden hier insgesamt 26 Portraits bedeutender Persönlichkeiten in die steinerne Fassade gemeißelt. Diese Persönlichkeiten hatten sich alle um das Post- und Nachrichtenwesen verdient gemacht und sollten in Erinnerung bleiben – vom persischen König Darius bis zum Physiker Gustav Robert Kirchhoff. 25 der 26 Portraits haben sich bis heute erhalten und trotzen dem Zahn der Zeit.

Jonas:
Du erlebst ja seit Dekaden den Wandel dieser Stadt: Heute Morgen haben wir uns vor dem alten Postfuhramt getroffen, das bis vor wenigen Tagen noch die Heimat des berühmten C/O Berlin war. Am letzten Tag wollten sich tausende Menschen verabschieden, die Schlange war über 100 Meter lang…

Sven:
Ja, das war ein toller Ort. Ich habe gesehen, dass jetzt „Biotronik“ oder sowas dransteht. Ich hätte mich auch gerne verabschiedet, aber ich gehe nicht gerne zu solchen offiziellen Sachen. Es ist aber echt toll, dass so viele Leute die letzte Ehre erweisen wollen.

Jonas:
Wie nimmst du selbst die Veränderung der Stadt über die Jahre wahr?

Sven:
Veränderung gehört zu einer Stadt wie Berlin dazu, ohne Frage. Manchmal laufe ich echt durch die Straßen und denke: Was ist denn hier passiert? Da sieht ein über die Jahre vertrauter Ort plötzlich ganz anders aus. So ist das eben.
Richtig schlimm würde es nur werden, wenn hier so eine Law&Order-Stimmung einziehen würde wie etwa in New York. Dann würde Berlin so glatt werden, dass es mich echt gruseln würde. Aber so lange es Oasen und Rückzugsorte wie zum Beispiel das Berghain gibt, besteht noch Hoffnung… Sven grinst

Jonas:
Welchen Einfluss hat der Job an der Berghain-Tür denn auf deine Fotografie, deine Kunst?

Sven:
Irgendjemand hat vor kurzem mal zu mir gesagt: „Deine Fotos sehen aus, als wären sie nachts entstanden.“ Ich fotografiere aber tatsächlich nur mit Tageslicht. Ich könnte nachts nie ein Foto machen. Trotzdem transportiert die Nacht als solche bestimmt einiges in meine Bilder. Ich sehe ja so viel und habe einen enormen Input durch den Job an der Tür.
Nicht dass ich jetzt irgendjemanden ansprechen würde und fragen würde, ob ich ihn fotografieren kann. Trotzdem nehme ich aus der Nacht eine gewisse Inspiration mit – von der Art der Menschen.

Wir haben die Museumsinsel erreicht und betreten das Palais am Festungsgraben, das sich direkt an dem Kastanienwäldchen hinter der Neuen Wache befindet. Einst saß hier der preußische Finanzminister, nach dem Zweiten Weltkrieg dann die sowjetische Militäradministration und später die Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft in der DDR.

All das ist seit vielen Jahren schon Vergangenheit. Wo damals noch Finanzbeamte, Militärs und Funktionäre saßen, hat sich heute ein kleines, aber feines Theater etabliert.

Im ersten Stock des Palais entdecken wir große, verspiegelte Räume. Auch wenn man ihnen ansieht, dass sie bereits ein gewisses Alter erreicht haben, strahlen sie immer noch eine unerschütterliche Würde aus.

Für einen Moment schließen wir die Augen und lauschen – denn dies scheint ebenfalls einer dieser Orte zu sein, der eine Geschichte zu erzählen hat und uns mitnehmen will auf die Reise in eine andere Zeit.

Währenddessen sind aus Erdgeschoss leise Stimmen zu hören, die ab und zu von einem Klavier unterbrochen werden – die Proben des Ensembles sind gerade in vollem Gange.

Jonas:
Hat Musik für deine Fotografie eigentlich auch eine gewisse Bedeutung?

Sven:
Ja, Musik ist nicht so ganz unwichtig. „Atoms for Peace“ sind vor kurzem im Berghain aufgetreten. Da hab’ ich mich unten in die Säulenhalle geschlichen und alles aufgesaugt, was die gespielt haben. Das war richtig gut.
Und mein Taxifahrer hat mir vor ein paar Tagen ein Album von Martyn Bates in die Hand gedrückt. Das hab’ ich ebenfalls sehr gemocht.

Jonas:
Wenn Musiker irgendwo Schlangenhäute hinterlassen, tun sie das in der Regel durch ihre Songs. Ist es dir ebenfalls wichtig, dass etwas von deiner Kunst bleibt?

Sven (lächelt):
Es gibt ja zwei Bildbände von mir. Wenn die noch einen Moment da bleiben, reicht mir das eigentlich. Neulich gab es auch eine Ausstellung in der Berlinischen Galerie, wo die Werke von etlichen ehemaligen Ostfotografen zu sehen waren. Auch von mir waren einige Fotos dabei, das war echt toll.
Ganz allgemein finde ich es aber auf jeden Fall wichtig, etwas zu hinterlassen. Das muss einfach eine gewisse Zeitlosigkeit haben, damit es über den Zeitgeist hinaus noch die nächste und übernächste Generation hinaus berühren kann.

Die Zeit ist ja auch zu kostbar, um sie dazu zu verbrauchen, jemand anderen verändern zu wollen.

Jonas:
Wilde Menschen hinterlassen wilde Dinge…

Sven:
Hmm… Irgendwie bin ich ja immer ausgebrochen und habe etwas anderes gemacht als das, was von mir erwartet wurde. Diesen klassischen Weg gab es bei mir einfach nicht – ich bin immer gegen den Strom geschwommen.
Daher habe ich auch über die Jahre viele Auseinandersetzungen innerhalb der Familie erlebt. Trotzdem stand zum Beispiel meine Mutter letztlich immer hinter mir, ganz egal wie chaotisch alles war.
Die Zeit ist ja auch zu kostbar, um sie dazu zu verbrauchen, jemand anderen verändern zu wollen. So war ich mein Leben lang einfach immer ein Stück weit unangepasster. Und vielleicht auch etwas wild.

Sven Marquardt wirkt gerade sehr zufrieden, seine tiefen Augen funkeln. Geduldig und schweigsam lässt er sich noch einige Minuten in den weiten Räumen des Palais ablichten, dann sind alle Fotos im Kasten.

Während man ihn so beobachtet, wirkt er selbst wie einer jener unerschütterlichen Orte, deren Geschichte man mit jedem Atemzug inhalieren kann, wenn man nur die Augen schließt und lauscht, um mitgenommen zu werden auf die Reise in eine andere Zeit.

Wir verabschieden uns herzlich. Während wir noch unser Equipment zusammenpacken, macht sich Sven schon auf den Weg und entschwindet in die Frühlingssonne.

Wenig später sind auch wir soweit und laufen zurück zum Postfuhramt. Hier, wo uns heute Morgen noch ein leises Gefühl von Wehmut packte, fällt unser Blick nun auf die steinernen Portraits, die sich aus der Fassade heraus dem Tageslicht entgegenstrecken.

Die Flagge des Medizintechnik-Herstellers, die immer noch antriebslos im Wind flattert, scheinen die 25 Köpfe nicht wirklich zu beachten – ihr Blick gilt einzig und allein dem Licht.

Stolz wirken sie dabei. Und etwas wild.

Das ist es, was bleibt.


Pierre-Louis Denaro

Submission — Pierre Louis Denaro

Stop Wondering

14. April 2013 — MYP No. 10 »My Night« — Text & Photo: Pierre-Louis Denaro

For me, it’s funny: This question-‘What is my night?’ What do you mean by that? What do you want to know? Well, maybe what I do during the night? What I don’t do? What I wish I would do?

Unfortunately, if you’re looking for a literal answer, a typical night for me consists predominantly of…sleep. Not that fancy huh? I agree. But that’s not the way I would like it to be. I have never been one of those people who look forward to going to bed. Ever since I was a little kid, I have purposefully plotted to stay awake past my bedtimes, abused my nightly recommended hours of sleep and devoted large portions of my time in trying to persuade my parents why they should “let me stay up an extra half hour even though I am only ‘x’ years old”. “Why?” –I here you ask with great confusion.

Well, it’s pretty simple actually; I don’t like sleeping. I see it as a waste of lifetime. A third of their lives humans spend sleeping? It’s absurd! I mean, think about it, imagine you’re going to live to a grand ninety years old: Thirty years of that will be spent lying down with your eyes shut! Scary thought huh? Well, that’s exactly the thought that fuels me to fight fatigue when night comes. There’s just too much stuff I could be doing, places I could be going to, goals I could be working towards. Thoughts like these are the causes of all my tossing and turning at night. They are the reason I am practically a semi-insomniac.

So what do I do about my problem? After all, I am not superhuman; everybody needs to recharge their batteries once in a while. But how do I do this without contradicting my pre-stated stern opinion about our traditional nocturnal activity? Well, over the years, I have developed the following guideline: go to bed late and wake up early. I know, it is not the healthiest of mottos. But for me, night time is not anything different from day time. For me, it’s just the day continued but with a little less light in the sky.

So what do I get up to after dark? I’ve decided to stay up so what am I going to do with my time now? Well that really depends. Occasionally, I’ll be boring and go for a jog by twilight. Other times, I’ll go out to shoot some night photography, stay in to edit my latest short film, or when things get really ‘crazy’, I’ll go out at midnight and practice holding handstands in the middle of the Plaza del Castillo in Pamplona, Spain [if you feel so inclined, you can see a video edit that I made of my trip to Pamplona on my YouTube channel].

However, I’m still studying, and as a student [and I’m sure if you are a student reading this you will agree with me here] you frequently find yourself doing late night studying. And to be honest, that bothers me a little bit.

Whether I’m pulling an all-nighter or catching up on missed classwork, I often feel frustrated that I have to do this work, which half the time doesn’t fully interest me, but then again I am a student who knows his priorities. In fact, I’m currently doing extra studying every other night as I plan on applying to American universities in a year’s time. Anyway, as a student you are tied by school, you are forced to make compromises and obliged to carefully choose ‘your nights’. Whoever said “When you are young, you can do anything” is full of crap.

So what am I getting at? What’s the big picture here? I think it’s all about taking advantage; taking advantage of what you can make happen, stop wondering “what if” and start doing the things you really want to do. To quote Mr DiCaprio from Titanic; “I figure life’s a gift and I don’t intend on wasting it”, and that’s how I’m taking advantage. I’m taking advantage of my night.


Viktor Gårdsäter

Submission — Viktor Gårdsäter

Welcome To Barcelona

14. April 2013 — MYP No. 10 »My Night« — Text & Photo: Viktor Gårdsäter

I was 19 and the bus had just stopped at Plaza Cataluña. Along with my friends Farzad and Gustav, I grabbed my bag and went for the exit of the bus. It was early evening and the sun was about to set. It was my first time in Barcelona and my expectations were huge. Just as we got out of the bus, we heard someone scream. When we looked up, a man was running away with a big bag and after him came a screaming older man. The bag was too heavy though, and after just a few meters the man dropped it. But instead of running away he just stopped and stared. The older man picked up his bag, yelled something to the man and returned to his wife by the bus. Still, the guy was just standing there, staring. And so did we. Then, out of nowhere, another big man came and threw the thief to the ground and put handcuffs on him. It was like a play. The two of them walked back to the older man and they all just stood there, quietly talking for several minutes. We just stared. Welcome to Barcelona.

“Ooookey, let’s find a hotel…to put our bags”– That was our next thought. This was pre-Iphone and we wanted to be spontaneous, so we hadn’t booked a hotel. I like that, being spontaneous while traveling, too bad this weekend everything was fully booked. Everything. Apparently, we had picked the biggest Spanish holiday of the summer for our travel. We walked to the cheapest hostels in Raval and to the big four star hotels by the sea. The receptionists just smiled at us. “If you had asked eight weeks ago, maybe we could have gotten you something”. It was almost midnight and we started to get desperate.

Hours passed and again we walked the “La Rambla” down. Still no luck. Halfway through, we took a right-hand corner into a small street to check out another hostel.

Then a left turn into an even smaller empty street. We were in the middle of a conversation and didn’t notice a gang of young guys that leaned against the wall in front of us. We stopped talking and so did they. We kept walking, looked straight ahead and tried to look as unconcerned and calm as possible.

One of the guys came up to Gustav and put his arm around him. It looked like he was trying to dance with him. Gustav started to laugh and then out of nowhere the guy dropped a big chef’s knife.

At that moment, you think you would probably just turn around and run like hell. Instead, Farzad said happily “Hey man, you dropped your knife!”. What? His friends were laughing in the background while the guy picked up his knife and pointed it at us. Then, we ran. We didn’t stop until we were back at the crowded pedestrian street. Welcome to Barcelona.

I looked back and there was no one behind us. While we were aimlessly walking and thinking about what to do, we heard a familiar song. It was the song “747” by the Swedish band “Kent”. We followed the sound, which came from a small night open falafel restaurant. The blonde girl behind the counter had a nametag that said “Anna” and it turned out she was Swedish. She barely had any customers so we sat down, ate a falafel and told her about our first night. She instantly replied “I live in an apartment together with eight Catalans, I’m off in 20 minutes, you can stay with us, if you want?”. That’s happiness.

A few moments later, she met us outside the restaurant and we headed towards her apartment. It was almost morning and the first beam of light had reached the rooftops. She smiled at us and said “Welcome to Barcelona”.


Anna Roxenholt

Submission — Anna Roxenholt

N.I.G.H.T.S.

14. April 2013 — MYP No. 10 »My Night« — Text: Anna Roxenholt, Photo: Katja Hoffmann

I close my eyes.
Escaping.
In to that soft cotton.
Behind my eyelids.
Sleep is embracing.
Breathe in.
Breathe out.
The dawn brings back the light.

It’s dark and I walk through the woods.
The moss devours my rubber boots.
I like the sound.
It’s the only sound beside the rustling of the trees.
The night reshapes everything again, gives it new names and contours.
Everything dirty becomes invisible or beautiful for a while.
All the clean and the clear is sleeping.
I put my hand to the ground.
The sky is resting on my head.

We’re pretending to be vampires just to get to taste it.
Biting in arms, fingers, shoulders.
We’re on the floor in a garage.
With lips.
In a garage.
On the floor.
We did nothing.

The river is calm now, at least on the surface.
Clouds are covering the moon.
Somewhere there is a light, but not here.
I dream that everything is forgiven.

Midsummer.
A man singing My Funny Valentine.
A lone couple dancing in the barn.
I’m twelve and I feel grown up.
Everyone has flowers in their hair.
The grass is wet from the dew.
It’s half past one and already getting light.
Days are getting shorter but we don’t think about that right now.

I’m dancing.
I’m dancing.
I have never danced this much.
Getting blisters on my feet.
Not noticing.
I’m dancing.

Stay up all night.
Talk about stuff.
Everything feels important.
But it’s not.

Christmas decorations and piano stools.
Tea and sandwiches.
Old school books.
Heirlooms.
Garage sale.
The clock always slightly ahead.
The street quiet even though it’s Saturday.
What did become of it all.
The kiss on the street.
The tall & slender boy.
The neighbour lady.
Making out in the laundry basement.
Bright nights and endless longing.
Everything’s the same.
Everything’s different.
The eurovision song contest without sound and the right song wins.
The sofa is worn.
Grandma’s grand piano.
The smell of instant coffee.
Biking to the sea.

Time rushes forward like a fast train and I’ve booked an SMS ticket.


Felix Kessler

Submission — Felix Kessler

Allein mit der Nacht

14. April 2013 — MYP No. 10 »Meine Nacht« — Text & Foto: Felix Kessler

Die Nächte von Montag bis Freitag haben ihren Platz am Schreibtisch oder am Computer. Da sitze ich im Licht meiner Tischlampe und arbeite für die Schule oder die Fotografie. Müde von der Schule nachhause kommend verlege ich einen Teil der Nacht auf den Nachmittag und halte eine Siesta.

In Nachtschichten mache ich mir dann einen Mitternachtstee bei guter Musik, die mich wachhält. Wieso sollte ich auch wichtige Arbeiten am Tage verrichten, wenn mich ein Jeder und Alles ablenkt? Die Nacht ist so viel beruhigender und bringt mich viel weniger von meinen Zielen ab.

Nächte von Freitag bis Sonntag verbringe ich oft draußen. Außerhalb meiner vier Wände wirken sie so ganz anders auf mich. Straßen werden leerer, die Luft kühler, die Geschäfte einsamer.

Sterne funkeln vom Himmel wie Diamanten eines Colliers. Ihr Licht trifft auf das der Straßenlaternen, mit dem sie ein eigenes Ganzes bilden. Die nächtliche Ruhe hat den Tag beendet. Mystisch und undurchschaubar legt sie sich über den Tag – es gibt nur noch die Nacht und mich. Ich erfahre ein ganz eigenes Gefühl der Freiheit, das die Sorgen des Tages nicht mehr kennt.

Ungebunden an Pflichten, kann ich frei entscheiden, was ich mit der noch jungen Nacht anstellen will. Wenn junge Nächte auf junge Menschen wie mich treffen, beflügeln sie zu einem starken Abenteuerdrang, der zu einem größeren Erfahrungsschatz und neuen Eindrücken führt. Amerika wurde bestimmt bei Nacht entdeckt.