Brenda Blitz

Interview — Brenda Blitz

»Ich mache extrem viel kleinkriminellen Kram«

Knallbonbon Brenda Blitz will die deutsche Popwelt mit einem erfrischenden Mix aus schnellen Melodien, flippigen Choreografien und radikaler Ehrlichkeit erobern. In MYP spricht sie über ihre schwere Kindheit, irre Nebenjobs und ganz persönliche Superheldinnen. Und sie verrät uns ein kleines Geheimnis.

17. Juli 2023 — Interview & Text: Katharina Viktoria Weiß, Fotografie: Steven Lüdtke

In einem Streichelzoo wäre sie ein Fabelwesen zum Anfassen: Brenda Blitz liebt Pop und traut sich, das Genre maximalistisch anzugehen. Kein Budget? Kein Problem! Zumindest, wenn man kreativ ist und sich seine eigene Wunderwelt auch mal aus Klebeband bastelt. Seit 2019 veröffentlicht die Wahlberlinerin regelmäßig Songs, die sie am liebsten mit schrägen Tanzvideos untermalt. Britney Bitch wäre stolz auf Brenda Bitch, die sich traut, groß zu träumen, obwohl sie noch ganz am Anfang steht.

Das sexy Regenbogen-Universum der Halb-Brasilianerin täuscht viele darüber hinweg, dass die Künstlerin keine einfache Kindheit hatte – und ihre gute Laune kein Gottesgeschenk, sondern harte Arbeit ist. Existenzangst und Vernachlässigung gehören ebenso zu ihrer Geschichte wie eine entfesselte, manchmal entgleisende Lebenslust. Im Interview mit uns buchstabiert sie ihr ganz persönliches Alphabet: von B wie Brenda Blitz bis Z wie „Zu viel Gas“, ihrer gerade erschienenen Single auf der gleichnamigen neuen EP.

»Mein persönlicher Albtraum wäre eine Akustik-Gitarrenband.«

B wie Brenda Blitz:

„Brenda ist mein echter Vorname, aber den Nachnamen habe ich mir von meinem Exfreund geklaut – der hieß wirklich so. Die Journalistin Melanie Gollin hat mal gesagt, dass Brenda Blitz so klingt, als würde man sich einen Center Shock ins Auge reiben. Das sind diese knalligen Kultkaugummis mit dem sauren Kern. Ich bin ein sprudelnder Charakter und dieses Feuer ist auch in meiner Musik immer mehr zu hören.“

C wie Choreografie:

„Musik wirkt nochmal mehr, wenn man auch eine visuelle Geschichte erzählt. Es ist einfach viel abgefahrener, mehrere Sinne gleichzeitig zu bedienen. In Deutschland gehören Tänzerinnen allerdings selten zur Performance – da denkt man eher an amerikanische Popstars. Das Spiel damit gefällt mir, ich mag den scherzhaften Größenwahn. Mein persönlicher Albtraum wäre eine Akustik-Gitarrenband, bei der alle ganz bodenständig auf einem Hocker sitzen.“

»Ich lebe das Konzept Wahlfamilie: Das beinhaltet, die eigenen Freunde als Familie anzusehen.«

D wie „Durchsichtig“:

„Meine erste Single! Klingt happy, ist aber eigentlich ein trauriger Song…“

E wie Eltern:

„Ich komme aus sehr zerrissenen Verhältnissen. Als Kind erfuhr ich kaum Unterstützung und war größtenteils auf mich alleine gestellt – allerdings in einem Umfeld, dass mir heil und vollständig wirkte. Es ist Teil meiner Identität, dass ich diesen Unterschied immer gefühlt habe. Bei vielen Entwicklungsstufen dachte ich mir: Warum bin ich so langsam und die anderen so schnell? Erst später habe ich begriffen, dass meine Voraussetzungen andere waren und ich bis zu einem bestimmten Grad auch eine gewisse Verantwortungslosigkeit und Vernachlässigung aushalten musste. Deshalb lebe ich eher das Konzept Wahlfamilie: Das beinhaltet, die eigenen Freunde als Familie anzusehen. Weil die eigenen Eltern das nicht leisten können. Manche arbeiten jahrelang daran, trotzdem um die Anerkennung ihrer Eltern zu kämpfen – aber wofür? Es ist ebenso wertvoll, wenn die Zuneigung von selbstgewählten Lieblingsmenschen kommt.“

»Der Druck, ständig die eigene Existenz sichern zu müssen, hat mich sehr geprägt.«

F wie Finanzen:

„Nie Kohle gehabt! Ich spüre bis heute, dass das ein Thema ist, weil ich mich immer benachteiligt gefühlt habe. Sich da rauszukämpfen ist extrem schwer. Denn bevor man das Geld in die Kunst steckt, ist man damit beschäftigt, seine Miete zu zahlen. Und wenn man damit schon Probleme hat, bleibt nur noch ganz wenig für die Kunst übrig. Der Druck, ständig die eigene Existenz sichern zu müssen, hat mich sehr geprägt. Ich bin sehr feinfühlig für soziale Unterschiede. Und ich bin der Meinung: Wir alle reden viel zu selten über Geld – auch in der Musikindustrie. Niemand spricht darüber, was er verdient. Aber wie sollen Nachwuchskünstler sonst herausfinden, was faire Gagen sind?

G wie Geheimnis:

„Ich mache extrem viel kleinkriminellen Kram, der keinem wehtut. Was genau, erzähle ich euch, wenn es verjährt ist.“

»Auch das ist ein Teil von mir: die Leidenschaft dafür, immer wieder ins offene Messer zu rennen.«

H wie Herzschmerz:

„Das ist mein zweiter Vorname: Ich habe extrem viel Zeit mit Herzschmerz verschwendet. Hätte ich all diese Stunden in meine Gitarre gesteckt, wäre ich vielleicht schon Jimmy Hendrix. Männer sind Zeitverschwendung. Aber auch das ist ein Teil von mir: die Leidenschaft dafür, immer wieder ins offene Messer zu rennen. Aktuell lebe ich übrigens Männer-abstinent – mal sehen, wie lange ich trocken bleibe.“

I wie Instagram:

„Inzwischen eher Freund als Feind. Ich vergleiche mich nicht mehr, sondern nutze vielmehr die Chance, mich dort zu vernetzen und coole Menschen kennenzulernen. Da gibt es doch irre Möglichkeiten: Rein theoretisch kann ich Bill Kaulitz jetzt eine DM schreiben – ob er sie liest oder nicht. Es entstehen Verbindungen, die früher nicht möglich waren.“

»Meine zweite Kindheit lebe ich jetzt in Berlin aus.«

J wie ja:

„Das Ja zum Nein ist mir wichtig. Es fühlt sich gut an, endlich kein People Pleaser mehr zu sein.“

K wie Kindheitsort:

„Die ersten 14 Jahre meines Lebens habe ich zwischen Bochum und Gelsenkirchen verbracht. Das hat sich aber seit Tag eins wie der falsche Ort für mich angefühlt. Meine zweite Kindheit lebe ich jetzt in Berlin aus.“

»Es ist häufig ziemlich dunkel in mir drin und die Welt lastet schwer auf mir.«

L wie Leid:

„Es wird mir oft aberkannt, dass ich diese Emotion empfinde – denn meine Musik klingt sehr euphorisch. Bei Philipp Poisel sind sofort alle überzeugt davon, dass er eine schmerzende Seele hat. Bei meinen Pop-Songs dagegen ist das schwerer zu glauben. Dabei ist es häufig ziemlich dunkel in mir drin und die Welt lastet schwer auf mir. Mit den Jahren bin ich aber gut darin geworden, das Leid umzudrehen und etwas Positives aus dem Abgrund zu fischen.“

»Die Welt ist so viel schwieriger für Leute, die gute Ideen haben, aber introvertiert sind.«

M wie Mut:

„Wenn du etwas willst, dann hol es dir, am besten noch gestern. Sich Dinge zu trauen ist extrem wichtig. Denn wer gewinnt in unserer Gesellschaft? In der Regel Menschen, die sich gut verkaufen. Die Welt ist so viel schwieriger für Leute, die gute Ideen haben, aber introvertiert sind.“

N wie Nebenjobs:

„28 Stück. Zum Beispiel habe ich mal als Haribo-Goldbär bei Rewe gearbeitet. In dem Kostüm wurde es immer so heiß, dass darin ein kleiner Ventilator verbaut war. Ganz schön viel Schweiß für 7,50 Euro pro Stunde.“

»Man muss stumpfem Hass ein Zwinkern zuzusenden.«

O wie Offenbarung:

„Für mich war folgende Taktik eine Offenbarung: sich nicht von Ängsten leiten zu lassen und stumpfem Hass ein Zwinkern zuzusenden. Am Anfang meiner Musikerkarriere nahm ich auch noch die Troll-Kommentare ernst. Mittlerweile streichle ich dem Monster den Kopf.“

P wie Politik:

„Ich habe eine inneren Kompass: eine Haltung, die mir sagt, was gut und was schlecht ist. Leider bin ich nicht mit Eltern großgeworden, die Zeitung lesen und mir das hätten näherbringen können. Dafür versuche ich, mich im realen Leben für andere einzusetzen. Ich finde es wichtig, dass dieser innere Kompass in allem mitschwingt, was man tut. Egal, ob 300 oder 3.000 Follower: Es hören einem immer Menschen zu. Mit jeder Konsumentscheidung und mit der Art, wie ich andere Leute motiviere, ihr Geld auszugeben, setzte ich einen Rahmen für die Welt, in der ich morgen leben möchte.“

»Meine geheime Superkraft: nach einer miesen Niederlage wieder aufzustehen.«

Q wie Qual:

„Ich denke immer, ich bin der totale Freigeist. Aber ehrlich gesagt störe ich mich schon daran, wenn meine Mitbewohner ihre Krümel nicht wegmachen.“

R wie Resilienz:

„Habe ich mit Löffeln gegessen, seitdem ich ein kleines Kind bin: Heute hat es geregnet, aber morgen gibt es einen Regenbogen und die Sonne kommt raus. Das ist vermutlich meine geheime Superkraft: nach einer miesen Niederlage – und davon gab es viele – wieder aufzustehen.“

»Sex ist ein Spiegel davon, wie man das Leben sieht.«

S wie Sex:

„Sex ist ein Spiegel davon, wie man das Leben sieht. Bei mir: hemmungslos und gemäß dem Motto: lieber mal probieren, bevor man was verpasst.“

T wie Tourleben:

„Solange man noch keinen Roadie hat, der einem alles hinterherträgt, ist so eine Tour weniger spaßig, als man sich das vorstellt. Leider bin ich nicht die Art von Künstlerin, die gerne mit ihrem Verstärker und vier Kleidersäcken in der Deutschen Bahn sitzt. Ich hätte schon gerne die großen Bühnen und das Personal, dass diese Aspekte erträglicher macht. Letztes Jahr habe ich 35 Konzerte in ganz Deutschland gespielt. Das Performen war der Hammer, der Rest: was für ein Albtraum!“

»Ich hatte immer weibliche Comicfiguren im Hinterkopf, die fliegen können und das Unmögliche möglich machen.«

U wie ultrahocherhitzt:

„Das ist meine Betriebstemperatur.“

V wie Versuchung:

„Kann ich nie widerstehen – immer machen.“

W wie Wonder Woman:

„An Figuren wie sie habe ich meinen Künstlernamen angelegt. Ich hatte immer weibliche Comicfiguren im Hinterkopf, die fliegen können und das Unmögliche möglich machen. Da hört man das weibliche Vorbild raus. Meine ganz persönlichen Wonder Women, die mich sehr inspiriert haben, sind zum Beispiel Charli XCX, Haim und meine Tante.“

»Insgeheim bin ich ein Luxusgirl. Ich will die Yacht, aber ohne Hemdenträger.«

X wie X-tra:

„Lieber jemand, der brennt und unangenehm auffällt, als ein ewiges Graubrot. Ich mag Menschen, die ein bisschen x-tra sind. Schon mein ganzes Leben lang habe ich ein Bedürfnis nach diesen ungewöhnlichen Charakteren.“

Y wie Yachthafen:

„Insgeheim bin ich ein Luxusgirl, ich stehe auch auf tolle Karren. Aber leider sind die Menschen, die mit diesem Lebensstil einhergehen, sehr unangenehm. Ich will die Yacht, aber ohne Hemdenträger. Das denke ich mir ohnehin oft: Klar hätte ich gerne meine Glasvilla, aber da sollen dann nur coole alternative Kids mit mir rumhängen, die mit mir auf den Tischen tanzen.“

Z wie „Zu viel Gas“:

„In dem Song gibt es diese eine Zeile: Tauch in dich ein federleicht, Blei zieht mich rein, bin am Grund und atme ein. Aber was passiert, wenn man am Grund ist und einatmet? Dann ertrinkt man! Ich stelle mir vor, so tief in jemanden hineinzuschwimmen, dass man weiß: Jetzt bringt einen alles um – sogar das Atmen. Manchmal will man mit jemanden sein, der einen sinnbildlich sterben lässt. Und keine Leute, die zum Lachen in den Keller gehen.“


M. Byrd

Interview — M. Byrd

»In allem steckt auch immer das, woher man kommt«

Mit »The Seed« hat Maximilian Barth alias M. Byrd gerade ein Album veröffentlicht, das einem schnell ans Herz wachsen kann: nicht nur, weil es mit seinem feinen, unbeschwerten Gitarrensound richtig gute Laune macht. Sondern auch, weil der Singer-Songwriter uns damit einen unverstellten Blick in seine Seele gewährt. Ein Gespräch über den Begriff Heimat, die unübertroffene Magie von Dire Straits und den Anspruch, sich immer wieder aus der eigenen Komfortzone zu bewegen.

23. Juni 2023 — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotografie: Stefan Hobmaier

Ein sonniger Nachmittag am Berliner Rosa-Luxemburg-Platz, es ist der letzte Tag im Mai. Wir sind mit dem Singer-Songwriter M. Byrd verabredet, der am Abend im Roten Salon der Volksbühne ein kleines Konzert vor Familie, Freund*innen und geladenen Gästen spielt.

M. Byrd heißt eigentlich Maximilian Barth, ist noch wenige Stunden 29 Jahre alt und hat mit „The Seed“ gerade eine Platte fertiggestellt, die zum Berührendsten gehört, was in den letzten Monaten erst durch unsere Lautsprecher geschallert und dann in unser tiefstes Inneres vorgedrungen ist.

Warum? Weil die melodischen Gitarrenriffs, die zurückhaltenden Drums und die mal verletzliche, mal selbstbewusste Stimme ein so erwachsen wirkendes und akribisch arrangiertes Gesamtpaket ergeben, dass man sich in diese Musik am liebsten hineinlegen würde. „The Seed“ hört sich an, als wäre da über Jahrzehnte ein Soundteppich geknüpft worden, der sich vor den üblichen Verdächtigen aus fünf Jahrzehnten Gitarrenrock verneigt und gleichzeitig einen Resonanzraum für die ganz eigenen Gefühle, Gedanken und Bedürfnisse des jungen Musikers aus Hamburg bietet.

Hamburg ist dabei übrigens nicht ganz richtig. Zwar wohnt Maximilian dort seit geraumer Zeit, geboren und aufgewachsen ist er allerdings im saarländischen Wadern, wie man immer noch unschwer am KFZ-Kennzeichen seines Autos erkennen kann. „Großes entsteht immer im Kleinen“, lautet der Slogan des kleinsten bundesdeutschen Flächenlands. In M. Byrds Fall kann man es nicht besser sagen.

»Dieses kleine Klangexperiment ganz am Anfang des Albums mag ich sehr.«

MYP Magazine:
Max, die ersten Sekunden deines Debütalbums hören sich an wie das Klangspiel an der Eingangstür eines geheimnisvollen Ladens. Was hat es mit diesem ungewöhnlichen Intro auf sich?

M. Byrd: (lächelt)
Die Geräusche stammen tatsächlich aus einem kleinen Teeladen in Silkeborg, einer dänischen Kleinstadt, in der die Familie meiner Freundin lebt. Dieses kleine Klangexperiment ganz am Anfang des Albums mag ich sehr. Wenn ich unterwegs bin, nehme ich mit meinem Handy immer wieder diverse Voice-Memos und Tonschnipsel auf, die ich gerne mal als kleine Ambients in meine Songs einfließen lasse. Lustigerweise ist der Track „Seed“, der die Platte eröffnet, der allerletzte, den wir aufgenommen haben.

»Mit dem neuen Album wollten wir einen Blumensamen für etwas Besseres pflanzen.«

MYP Magazine:
Dein neues Album trägt fast denselben Titel: „The Seed“. Dabei beschreibt es gar nicht den Anfang deiner Karriere als Musiker, denn der liegt schon einige Jahre zurück. Wieso hast du hier dennoch das Symbol eines Saatkorns gewählt?

M. Byrd:
Der Song „Seed“, über den wir gerade gesprochen haben, existierte zuerst nur als Skizze auf meinem Handy. Als ich ihn unserem Produzenten Eugen vorgespielt habe, befanden wir uns gerade in einer sehr seltsamen Bubble: Wir saßen seit Tagen in unserem Studio, einem alten Bunker in Detmold, hatten noch keine wirkliche Idee für die musikalische Klammer unseres Albums und gleichzeitig drehte draußen die Welt durch. Einerseits, weil Corona immer noch ein Thema war. Und andererseits, weil Russland gerade die Ukraine angegriffen hatte. In dieser Situation sagte Eugen: „Was wir hier gerade tun, ist eigentlich nichts anderes, als eine musikalische Welt zu bauen, mit der wir ein besseres Gefühl erzeugen wollen als das, was uns gerade umgibt.“ Da hatte er absolut recht. Und zu diesem Gefühl passte der Begriff „Seed“ perfekt, denn mit diesem Lied uns wurde plötzlich klar, was das Konzept des Albums sein sollte: Wir wollten damit einen Blumensamen für etwas Besseres pflanzen. Und da der Song „Seed“ alle anderen Tracks zusammenführt, haben wir uns entschieden, das Album selbst auch „The Seed“ zu nennen.

»Unsere Musik schafft einen Raum, in dem man sich voll und ganz wohlfühlen kann.«

MYP Magazine:
Mit diesem Album scheint ihr tief in die Gefühlswelt von uns Hörer*innen vorzudringen. Während etwa der Song „Pyrrhula“ ein gewisses Fernweh triggert, schürt „Outside of Town“ vor allem Nostalgiegefühle. „Over You, Over Me“ dagegen steht eher für Aufbruchstimmung und Zuversicht. Welche Gefühle verbindest du selbst mit diesem Album?

M. Byrd:
Als wir uns gestern mit der Band in einem großen Studio getroffen haben, um uns auf die Liveshow heute Abend vorzubereiten, waren wir die ganze Zeit in Bewegung: Wir sind durch den riesigen Raum gewandert, haben dabei die Arme zur Seite ausgestreckt und uns immer wieder Kreis gedreht – wie bei einem Sufi-Tanz. Für mich beschreibt das genau das Gefühl, das mir das neue Album gibt. Durch die simplen Akkord-Strukturen, die vielen Wiederholungen und die stehenden Töne hat die Platte fast etwas Mantrisches. Unsere Musik schafft einen Raum, in dem man sich voll und ganz wohlfühlen kann. Wenn Menschen mir davon erzählen, wie tief dieser Sound in ihre Gefühlswelt eindringt, ist das für mich ein mega schönes Kompliment.

»Es fällt mir wesentlich leichter, im Englischen eine Melodie zu finden als im Deutschen.«

MYP Magazine:
Welchen Grund hat es, dass du in einer Sprache singst, die nicht deine Muttersprache ist?

M. Byrd:
Meine Mutter, die Englischlehrerin ist, hat mir in meiner Kindheit oft aus englischsprachigen Kinderbüchern vorgelesen. Dafür bin ich heute sehr dankbar, denn allein dadurch bin ich sehr früh mit dieser Sprache in Kontakt gekommen. Darüber hinaus hatte ich schon immer eine sehr musikalische Beziehung zum Englischen. Das liegt vor allem an meinem Opa, der mich in meiner Jugend an wahnsinnig viel Musik herangeführt hat – und die war in den meisten Fällen auch englischsprachig. Ich glaube, aus diesem Grund fällt es mir heute wesentlich leichter, im Englischen eine Melodie zu finden als im Deutschen. Während ich die englische Sprache in meiner Musik wie ein Instrument benutzen kann, ist für mich das Deutsche eher ein pragmatisches Werkzeug, mit dem ich sehr detailliert Informationen übermitteln kann.

MYP Magazine:
Hattest du jemals Sorge, dass deine Songs nicht von den Leuten gemocht werden, weil du kein Englisch-Muttersprachler bist?

M. Byrd: (lächelt)
Das ist mir völlig egal. Ich weiß ja, dass sich die englische Sprache für mich am besten anfühlt und es daher die richtige Entscheidung für meine Musik ist.

»Der Song ist ein Blick aus der Vogelperspektive auf einen kurzen, entscheidenden Moment im Leben.«

MYP Magazine:
Apropos Sprache. Dein Song „Pyrrhula“ ist nach einer Finkengattung benannt. Wie kam es zu diesem ungewöhnlichen Titel?

M. Byrd:
Dieser Titel geht zurück auf ein Ereignis, von dem mir Lars, der Vater meiner Freundin, erzählt hat. Bei einem Spaziergang hatte er einen Radfahrer entdeckt, der schwer gestürzt war. Zwar hatte er sofort den Krankenwagen gerufen, doch der kam leider zu spät: Der Radfahrer starb wenige Minuten später in Lars’ Armen – aus purem Zufall verbrachte er mit ihm die letzten Minuten seines Lebens. Lars ist ein sehr sensibler Mensch, daher hat ihn diese Geschichte lange beschäftigt. Als er mir davon erzählt hat, hat mir das plötzlich meine eigene Endlichkeit vor Augen geführt. Es hat mir gezeigt, wie willkürlich der Tod sein kann. Da Lars ein großer Vogelliebhaber ist und besonders gerne diese Finkengattung beobachtet, habe ich den Song „Pyrrhula“ genannt: ein Blick aus der Vogelperspektive auf einen kurzen, entscheidenden Moment im Leben.

»Auf diese seltsame und fast alltägliche Art und Weise wurde ich noch nie mit dem Thema Krieg konfrontiert.«

MYP Magazine:
Dieser Unfall ist nicht das einzige tragische Ereignis, das dein neues Album geprägt hat. Zum Beispiel gäbe den Song „Gunslinger“ nicht, wenn Russland nicht die Ukraine angegriffen hätte…

M. Byrd:
Das stimmt leider. „Gunslinger“ ist ein Song, den wir – ähnlich wie „Seed“ – erst relativ spät aufgenommen haben. Anfangs hatten wir nur das Instrumental, jene charakteristische Gitarrenmelodie, die so ein bisschen was Westernmäßiges hat. Ganz allgemein ist es bei mir so, dass zuerst die Musik da ist und sich dann nach und nach der Text reinwringt. Doch in diesem Fall wusste ich erst mal nicht, was ich mit dem akustischen „The Good, The Bad & The Ugly“-Vibe anfangen soll. Ich habe mich ständig gefragt: Wo führt mich dieser Song hin? Und mit welchen Lyrics fülle ich diese Pause am Ende des Refrains?
Da die Ereignisse in der Ukraine erst wenige Tage alt waren und sich die Meldungen ständig überschlugen, haben wir auch während unserer Sessions im Studio immer wieder Nachrichten geschaut. Ich erinnere mich noch ganz genau an den Moment, als plötzlich ein Hinweis eingeblendet wurde, der interessierte Zuschauer*innen darüber informierte, wo sie sich melden können, wenn sie an der Seite der ukrainischen Armee gegen die Russen kämpfen wollen. Auf diese seltsame und fast alltägliche Art und Weise wurde ich noch nie mit dem Thema Krieg konfrontiert. Im nächsten Moment fiel mein Blick auf das Schlagzeug, auf dem der Schriftzug der Marke „Slingerland“ prangte. Plötzlich war da dieses Wort „Gunslinger“ in meinem Kopf, was übersetzt Revolverheld heißt – eine westernhafte Romantisierung des Kämpfens und aufeinander Schießens. Von diesem Wort aus hat sich dann der komplette Text ergeben.

»Auch ich könnte in so eine Situation geraten, wenn ich irgendwo anders geboren wäre.«

MYP Magazine:
Über den Song „Outside of Town“ hast Du vor Kurzem auf Instagram geschrieben: „This song is for a friend who changed my life when he let me see the world through his eyes.“ Wie genau ist diesem Freund das gelungen?

M. Byrd:
Vor Corona habe ich eine Zeit lang Deutsch als Fremdsprache unterrichtet. Mit meinem allerersten Schüler – ein Mensch, der aus seinem Land nach Deutschland fliehen musste – habe ich damals jeden Tag sechs Stunden zusammengesessen, und das zwei Monate lang. Wann im Leben hat man das schon mal, dass man mit jemandem so viel Zeit verbringen und sich dabei permanent unterhalten kann? Das war für mich eine ganz besondere Begegnung, mit dem Song wollte ich seine Geschichte aufschreiben – vielmehr steckt gar nicht dahinter. Gleichzeitig war es mir wichtig, dass der Song nicht auf eine einzelne Person bezogen ist. Denn die Geschichte dieses Freundes hat mir vor Augen geführt, dass auch ich in so eine Situation geraten könnte, wenn ich irgendwo anders geboren wäre. Ich habe mich gefragt, was es für mich und mein Leben bedeuten würde, wenn ich so eine Reise antreten würde – oder besser gesagt: antreten müsste.


Triggerwarnung: Depressionen und Suizid

In der folgenden Frage und zugehörigen Antwort geht es um das Thema Depressionen und Selbsttötung, was einige Leser*innen beunruhigen könnte. Wenn diese Themen bei Dir Unbehagen auslösen, möchten wir Dich bitten, diese Interview-Passage zu überspringen.

Wenn Du darüber nachdenkst, Dir das Leben zu nehmen, oder Du mit jemandem reden möchtest – hier findest Du Hilfe: Die Telefonseelsorge ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr erreichbar. Die Telefonnummern lauten 0800 – 111 0 111 und 0800 – 111 0 222.


»Früher hatte ich noch viel stärker das Bedürfnis, über mich selbst zu schreiben.«

MYP Magazine:
Der letzte Song auf dem Album, „Wish I Was“, ist einem Freund gewidmet, der sich das Leben genommen hat. Wie schwierig war es für dich, das Lied samt seiner Geschichte mit der Öffentlichkeit zu teilen?

M. Byrd:
Dieser Song ist schon relativ alt und stammt aus einer Zeit, in der ich oft niedergeschlagen war und Hilfe brauchte. Interessanterweise hatte ich früher noch viel stärker das Bedürfnis, über mich selbst zu schreiben, daher bezog sich der Song ganz am Anfang noch auf meine eigenen Erlebnisse. Doch im Laufe der Jahre hat sich das Lied sehr stark gewandelt und ist durch etliche Phasen gegangen. Irgendwann sagte mein Produzent Eugen, mit dem ich auch sehr eng befreundet bin: „Weißt du, immer wenn ich diesen Song höre, geht es für mich darin zu 100 Prozent um Markus.“ Markus ist der Freund von uns, der sich vor einigen Jahren das Leben genommen hat.
Ursprünglich wollte ich den Track gar nicht aufs Album packen, denn er stammt aus einer längst vergangen Zeit. Aber nach Eugens Hinweis habe ich den Song plötzlich komplett anders gesehen. Ich dachte: Damn! Natürlich muss der aufs neue Album, das geht gar nicht anders. Und so habe ich ganz am Ende noch eine Strophe angehängt, damit klar ist, dass es nun Markus‘ Song ist und nicht mehr meiner.

»Bei mir ist das, was sich so sonnig und unbeschwert anhört, oft mit ernsten Themen und Inhalten verbunden.«

MYP Magazine:
Viele Menschen beschreiben deine Songs als „Musik zum Autofahren“. Empfindest du so eine Zuschreibung als Kompliment?

M. Byrd:
Gute Frage. Ich versuche eigentlich, solchen Bewertungen eher neutral gegenüberzustehen. Musik erzeugt ja bei jeder einzelnen Person etwas anderes: Derselbe Song kann bei verschiedenen Menschen die unterschiedlichsten Assoziationen, Gefühle und Erinnerungen auslösen. Dennoch ist dieser Vergleich gar nicht so unpassend, denn Autofahren ist definitiv ein großer Teil meines Lebens und inspiriert sicher auch in irgendeiner Form die Musik, die ich schreibe. Allerdings ist bei mir das, was sich so sonnig und unbeschwert anhört, oft mit ernsten Themen und Inhalten verbunden. Diese Gegensätzlichkeit mag ich in meinen Songs besonders gerne.

»Endlich verstehe ich die Musik, die ich immer so mochte.«

MYP Magazine:
Die musikalische Sprache deines Albums ist geprägt vom sogenannten California Sound, der Mitte der 1960er Jahre im berühmten Laurel Canyon entstanden ist, einer Wohngegend im Nordwesten von Los Angeles. Du selbst hast letztes Jahr ebenfalls ein paar Wochen in L.A. verbracht. Wie hat dieser Aufenthalt den Sound deines Albums beeinflusst?

M. Byrd: (lacht)
Das Album war da schon längst fertig! Ich bin quasi mit der Platte im Gepäck nach Kalifornien geflogen. Aber auch wenn ich vorher noch nie in L.A. war, habe ich schon immer die Musik von da geliebt. Und spätestens jetzt, nachdem ich zum ersten Mal dort war, verstehe ich endlich die Musik, die ich immer so mochte. Oder besser gesagt: Ich kann mich da ein Stück weiter reinfühlen.

»Im Begriff Heimat steckt oft so eine Nostalgie, die sich für mich nicht immer gut anfühlt.«

MYP Magazine:
Du bist im nördlichen Saarland geboren und aufgewachsen, gleichzeitig stößt man in Artikeln über M. Byrd immer wieder auf die Bezeichnung „Musik aus Hamburg“ – schließlich lebst du da auch seit einigen Jahren. Was bedeutet dir Heimat?

M. Byrd:
Ich finde, Heimat ist ein eher komischer Begriff. Darin steckt oft so eine Nostalgie, die sich für mich nicht immer gut anfühlt. Die viel größere Frage in mir ist, was das Wort Zuhause für mich bedeutet.
Ebenso komisch finde ich es übrigens, wenn man versucht, Musik regional zu verorten. Meine Musik kommt in erster Linie aus mir, nicht aus Hamburg, nicht aus dem Saarland, nicht aus Dänemark. Und auch nicht aus Kanada – obwohl das nicht wenige Leute denken. Wahrscheinlich, weil ich bei einem kanadischen Label bin.

»Ich habe mich in letzter Zeit viel damit beschäftigt, was das Wort Zuhause eigentlich für mich bedeutet.«

MYP Magazine:
Wir müssen zugeben: Spätestens seit Horst Seehofer damals ein Heimatministerium gegründet hat, wirkt der Begriff auch etwas seltsam…

M. Byrd:
Ja, fucking hell! Ich muss gerade an den Song „Orion“ auf meiner ersten EP denken. Ich liebe es noch immer, die erste Zeile zu singen: „Somewhere in this blood / The dreams that I’m made of”. Soll heißen: In allem steckt auch immer das, woher man kommt. Der Weg nach vorne nährt sich aus dem eigenen Ursprungsort. Und dieser Ursprungsort, in meinem Fall das Städtchen Wadern im Saarland, bedeutet mir viel. Wenn andere das mit Heimat umschreiben wollen: von mir aus.

(überlegt einen Moment)

Ich habe mich in letzter Zeit viel damit beschäftigt, was das Wort Zuhause eigentlich für mich bedeutet. Darauf habe ich bisher nicht wirklich eine Antwort gefunden – ich fühle mich im Moment ohnehin eher in anderen Menschen zu Hause als an irgendeinem Ort. Das liegt wohl auch daran, dass ich ständig unterwegs bin.

»Diese Musik fasst für mich das ganze Leben zusammen, wenn ich sie höre.«

MYP Magazine:
In welcher Musik fühlst du dich denn zu Hause? Welche Songs fangen dich auf, wenn es dir besonders schlecht geht? In welches Album kannst Du dich einwickeln wie in eine warme Decke?

M. Byrd:
Das kann immer etwas anderes sein. Gerade ist es die Band Beach House, und zwar ihre gesamte Diskografie – darauf komme ich irgendwie immer wieder zurück. Außerdem gibt es ein, zwei Alben von Elliott Smith, die in den dunkelsten Momenten meines Lebens für mich da waren und die ich allein deshalb liebe. Ich habe aber auch gerade die Serie „Succession“ fertig geschaut. Einer der Hauptdarsteller, Jeremy Strong, hat vor kurzem in einem Interview gesagt, dass er Musik braucht, um in eine Rolle zu kommen. Ich habe mich gefragt, was er in solchen Momenten hört. Also habe ich ein bisschen geforscht und bin auf ein Album von Glenn Gould gestoßen, einem berühmten Klassikpianisten, der in den 1950er Jahren Variationen von Bach aufgenommen hat. Das klingt super sharp – und wie Jeremy Strong reißt es auch mich aus der Realität. Es gibt da vor allem einen Song, „Goldberg Variations“, der bringt mich anywhere. Diese konstante Bewegung in der Musik klingt manchmal wie ein natürliches, aber trotzdem irgendwie geordnetes Chaos. Das fasst für mich das ganze Leben zusammen, wenn ich es höre.

»Für mich hat sich das in dem Moment angefühlt, als hätte mir jemand gezeigt, was Freiheit bedeutet.«

MYP Magazine:
Du bist über deinen Vater schon sehr früh mit der Musik von Dire Straits in Berührung gekommen. Welche Rolle spielt diese Band in deiner eigenen musikalischen Entwicklung? Ist das eine reine Kindheitserinnerung oder beschäftigst du dich nach wie vor mit diesem Sound?

M. Byrd:
That just blew my mind! Als ich als Kind zum ersten Mal die Anfangstöne vom allerersten Dire-Straits-Album gehört habe, dieses sagenhafte Intro des Songs „Down To The Waterline“, wusste ich sofort: Das will ich auch machen. Da gibt es am Anfang so ein Drone und dann, einige Sekunden später, spielt Mark Knopfler ein Banding darüber. Das ist eine musikalische Sprache, die keine Wertung hat. Für mich hat sich das in dem Moment angefühlt, als hätte mir jemand gezeigt, was Freiheit bedeutet.

»Ich bin sicher nicht der einzige, dessen Vater im Auto Dire Straits gehört hat.«

MYP Magazine:
Ich habe vor Kurzem in einer Kritik zu deinem Song „Mountain“ folgende Passage gelesen: „Ü40. Endlich kann man ungeniert so Sachen wie Tom Petty und Bruce Springsteen hören. Und seit The War On Drugs mit ihren Alben ,Lost in the Dream‘ und ,A Deeper Understanding‘ den sogenannten Dad Rock auch in der jüngeren Generation etabliert haben, muss man sich als betagter Hörer auch gar nicht mehr merkwürdig vorkommen.“ Mal abgesehen davon, dass der Begriff Dad Rock etwas despektierlich klingt: Kannst du erklären, warum diese gitarrenlastige Musik vor allem Männer über 40 anzusprechen scheint?

M. Byrd: (lacht)
Wenn jemand heute mit 18 ein neues Drake-Album feiert, ist das in zwei Jahrzehnten wahrscheinlich Dad Pop. Aber im Ernst: Diese Musik weckt bei vielen Menschen Erinnerungen an ihre Kindheit. Ich bin sicher nicht der einzige, dessen Vater im Auto Dire Straits gehört hat.

»Man macht es sich viel zu oft in dem gemütlich, was man schon kennt.«

MYP Magazine:
In einem Interview mit dem Radiosender Unser Ding wurde dir letztes Jahr folgende Frage gestellt: „Was müssen Männer noch lernen?“ Du hast geantwortet: „There’s so much to learn. Geht in euch rein, lest Bücher und habt keine Angst davor.“ Erlebst du Männer in der Regel als ängstlich, wenn es um Literatur und Selbstreflexion geht?

M. Byrd:
Ja, allerdings nicht die in meinem Freundeskreis. Dort ist es ganz normal, sich etwa mit Themen wie Gender zu beschäftigen – ganz im Gegensatz zum Großteil unserer Gesellschaft. Dabei macht es aus meiner Sicht für jeden Menschen Sinn, sich immer wieder damit zu auseinanderzusetzen, wer man ist oder wie man sich selbst betrachtet. Und Literatur und der Austausch mit anderen können dabei wirklich helfen. Ich sage das ganz offen: Auch für mich sind viele Themen neu. Ich kann mich zum Beispiel noch gut daran erinnern, dass ich an der Uni in einem Seminar mit dem Titel „Music, Gender and Sexuality“ saß und feststellen musste, dass ich eigentlich so gut wie gar nichts weiß. Ich hatte beispielsweise bis zu diesem Zeitpunkt keine Ahnung davon, wie schwer es trans Menschen in unserer Gesellschaft gemacht wird. Aus diesem Grund finde ich es superwichtig, sich immer wieder mit dem Neuen und Unbekannten zu beschäftigen – allein schon, um die vielen verschiedenen Formen des Lebens zu begreifen. Man macht es sich viel zu oft in dem gemütlich, was man schon kennt. Aber gerade das sollte man so oft wie möglich aufbrechen, egal, ob man 20, 40 oder 60 ist.


Cristina do Rego

Interview — Cristina do Rego

»Unsere Bewegungen sind oft viel kleiner, als sie sein könnten«

Im Dokudrama „Aracy – Der Engel von Hamburg“ spielt Cristina do Rego eine Brasilianerin, die in den 1930er Jahren mindestens 80 jüdischen Menschen zur Flucht aus Nazideutschland verholfen hat. Ein Gespräch über eine außergewöhnliche Persönlichkeit, die Ambivalenz des Held*innenbegriffs und die nach wie vor schwierige Situation von Frauen und queeren Menschen in Brasilien.

8. Juni 2023 — Interview & Text: Katharina Viktoria Weiß, Fotografie: Frederike van der Straeten

Die Brasilianerin Aracy de Carvalho zieht 1934 mit ihrem Sohn nach Hamburg. Trotz der Nazi-Diktatur ist Deutschland für die geschiedene Mutter ein Zufluchtsort. Doch durch ihre Arbeit im brasilianischen Konsulat wird Aracy mit der Judenverfolgung im Dritten Reich konfrontiert: Wie viele andere Länder verweigert auch Brasilien den flüchtenden Asylbewerber*innen eine Aufenthaltserlaubnis.

Schicksale, die der Angestellten egal sein könnten. Doch die junge Frau setzt sich über die Gesetze ihres Landes hinweg: Sie hilft unzähligen Menschen, das Land zu verlassen. Später heiratet Aracy de Carvalho einen berühmten brasilianischen Schriftsteller und spricht nie über ihre Taten. Doch im Laufe der Jahre wird sie immer wieder Teil der Überlebensgeschichten von jüdischen Zeitzeug*innen, die ihr den Namen „Engel von Hamburg“ geben. 1982 verleiht ihr die Gedenkstätte Yad Vashem deshalb den Status einer „Gerechten unter den Völkern“.

In der neuen Arte-Dokumentation „Aracy – Der Engel von Hamburg“ wird Aracy de Carvalho von der deutsch-brasilianischen Darstellerin Cristina do Rego gespielt. Die 37-Jährige hat Erfahrung damit, markante Persönlichkeiten zu verkörpern, allerdings eher im komödiantischen Fach: Ihre Karriere begann Cristina do Rego an der Seite von Josefine Preuß in „Türkisch für Anfänger“, danach spielte sie unter anderem in den Serien „Über Weihnachten“, „Saubere Sache“ oder „Arthurs Gesetz“. Außerdem glänzte sie jahrelang als Tochter von Bastian Pastewka im gleichnamigen Serienhit „Pastewka“.

Zum Gespräch und Photoshoot in einer queeren Bar am Kottbusser Tor bringt die Kreuzbergerin frische Donuts für das Bar- und Magazinteam mit – eine Premiere der Nettigkeit beim MYP Magazine. Im Interview spricht die Schauspielerin über ihre ernsten Seiten und erklärt, warum man gute Taten nicht unbedingt mit dem Held*innen-Begriff vermischen sollte.

»Wir beide können es kaum ertragen, wenn große Ungerechtigkeiten geschehen.«

MYP Magazine:
Cristina, Du hast wie Aracy de Carvalho eine deutsche Mutter habt und wurdest in Brasilien geboren. Hast Du weitere Gemeinsamkeiten entdeckt, während Du dich mit ihrer Biografie beschäftigt hast?

Cristina do Rego:
Ein paar harte Fakten: zum Beispiel sprechen wir beide neben Portugiesisch und Deutsch auch Französisch und Spanisch. Als ich die Figur näher kennenlernte, konnte ich auch ihren Gerechtigkeitssinn sehr gut nachvollziehen – und nachempfinden. Ob ich genauso mutig gehandelt hätte wie Aracy de Carvalho, lässt sich nicht sagen. Was uns aber sehr verbindet, ist, dass wir beide es kaum ertragen können, wenn große Ungerechtigkeiten geschehen.

»Sie wusste: In Brasilien hat sie als Geschiedene mit Kind keine Chance mehr, in die Gesellschaft zurückzufinden.«

MYP Magazine:
Was hat Dich an Aracys Geschichte – abgesehen von ihren Heldinnentaten während des Nazi-Terrors – besonders inspiriert?

Cristina do Rego:
Dass sie für ihre Zeit eine wahnsinnig mutige, eigensinnige Frau war! Eine Frau, die Brasilien verlassen hat, weil sie wusste: Dort hat sie als Geschiedene mit Kind keine Chance mehr, in die Gesellschaft zurückzufinden. Trotzdem wollte sie ihr Leben genießen und hat sich deshalb auf diese Reise begeben. Allein dieser Schritt war sehr mutig. Und dann hat sie sich hier ein Leben aufgebaut, hat den Führerschein gemacht und ist arbeiten gegangen. All diese Dinge finde ich sehr bezeichnend für ihre Persönlichkeit. Mir gefällt auch, dass sie als sehr ruhig und gesetzt beschrieben wird und gleichzeitig sehr eitel war. Sie war bis ins hohe Alter eine feine Dame, immer gut gekleidet mit gemachten Haaren.

»In Brasilien ist es für Frauen immer noch schwieriger, alleinerziehend zu sein – oder überhaupt selbstständig zu sein.«

MYP Magazine:
Aracy de Carvalho kam 1934 nach Deutschland. Ihre Ehe war gerade gescheitert und als alleinerziehende Mutter wollte sie der konservativen Gesellschaft in Brasilien entfliehen, um mit ihrem Sohn in Europa ein neues Leben aufzubauen. Wenn Du aus heutiger Perspektive auf Deine brasilianische Heimat und die Diskurse in Deiner Wahlheimat Berlin blickst: Wo haben die beiden Gesellschaften aktuell die größten Schnittmengen – und wo unterscheiden sie sich deutlich voneinander?

Cristina do Rego:
Ich glaube, in Brasilien ist es für Frauen immer noch schwieriger, alleinerziehend zu sein – oder überhaupt selbstständig zu sein. So fortschrittlich Brasilien mittlerweile auch ist: Es ist ein riesiges Land und es gibt unglaublich große Unterschiede. Je ländlicher man reist, desto konservativer ist es immer noch. Die meisten jungen Leute ziehen zum Beispiel erst von zu Hause aus, wenn sie heiraten. Es gibt dort noch einen ganz anderen Umgang mit Freiheit und Unabhängigkeit. Als ich in Deutschland mit 18 zu Hause ausgezogen bin, war das für meine Familie und Freund*innen in Brasilien sehr außergewöhnlich. Sie konnten es gar nicht glauben und fragten: „Bist du schon verheiratet?“

»Ich habe gemerkt, dass es mich freier macht, über meine Queerness zu sprechen.«

MYP Magazine:
Hast Du schon einmal eine radikale Veränderung vorgenommen, um Dich aus einer Situation zu befreien, in der Du dich von Vorurteilen unterdrückt gefühlt hast?

Cristina do Rego:
Wahrscheinlich durch mein öffentliches Outing. Ich habe meine sexuelle Orientierung nie wirklich versteckt, aber auch nie bewusst darüber gesprochen. Doch irgendwann habe ich gemerkt, dass es mich freier macht, über meine Queerness zu sprechen.

MYP Magazine:
Wie würdest Du die aktuelle Situation der queeren Community in Brasilien beschreiben?

Cristina do Rego:
Viele Jahre lang habe ich Fragen zu meinem Privatleben sehr zurückhaltend beantwortet. Inzwischen bin ich älter, reifer und stärker geworden – und auch die brasilianische Gesellschaft hat sich sehr verändert. Queerfeindlichkeit gibt es überall auf der Welt. Man kann leider nicht von der Hand weisen, dass gewaltvolle Übergriffe auf schwule Männer und trans Menschen im internationalen Vergleich in Brasilien extrem häufig vorkommen. Homophobie und Machismo sind nach wie vor ein sehr prägendes Problem.

»Für mich war schon vor dem Dokumentarfilm klar: Jedes Menschenleben muss gerettet werden.«

MYP Magazine:
Ein zentrales Thema der Arte-Dokumentation sind Grenzregime und Einwanderungsfragen. Denn auch Brasilien ist in den 1930er Jahren längst kein Land mehr, das unbegrenzte Einwanderung zulässt – wie es noch wenige Jahrzehnte zuvor der Fall war, als europäische und japanische Einwander*innen als Arbeitskräfte in der Landwirtschaft gebraucht wurden. Aracy de Carvalho verstößt also gegen die Visabestimmungen ihres eigenen Landes, um jüdischen Menschen das Leben zu retten. Wie blickst Du mit deinem binationalen Hintergrund auf die Grenzregime im Jahr 2023?

Cristina do Rego:
Ich finde es erschreckend, dass diese Themen immer noch so aktuell sind. Auch Deutschland ist wieder genau an diesem Punkt – mit Syrien, der Ukraine und so weiter. Wenn man in den letzten Jahren politisch auch nur ein Auge offen hatte, konnte man sich der Situation nicht entziehen, darüber nachzudenken, was ein Menschenleben wert ist. Für mich war schon vor dem Dokumentarfilm klar: Jedes Menschenleben muss gerettet werden und jede*r hat es verdient, in Freiheit und Sicherheit aufzuwachsen. Das ganze Lernmaterial rund um den Dokumentarfilm hat meinen Blick auf das Thema noch einmal geschärft.

»In unserer Branche ist man schnell in einer Schublade gefangen.«

MYP Magazine:
Aracy de Carvalho ist ein eher schwerer Stoff – Deine Stärke liegt sonst im komödiantischen Fach. Legendär ist zum Beispiel Deine Rolle als rebellische Tochter in der Serie „Pastewka“. 2020 lief die letzte Staffel. Wie hat sich Dein Leben seither verändert?

Cristina do Rego:
Wenn man ein Kapitel gut und stimmig abschließt, ist es ein schönes Gefühl, sich von einem Projekt zu verabschieden – auch wenn ich immer sehr froh war, all die Jahre mit der Wahlfamilie im Sommer drehen zu können. Ich glaube, dass ich jetzt noch einmal die Chance bekomme, mich aus dieser Komödienschublade zu befreien – denn in unserer Branche ist man schnell in einer Schublade gefangen. Es würde mich zum Beispiel sehr reizen, noch einmal eine reale Person darzustellen. Es ist grundsätzlich eine große Herausforderung, jemanden zu spielen, den es wirklich gegeben hat.

»Ich musste jeden Tag einen vier Kilo schweren Schwangerschaftsbauch plus drei Kilo Brust vor mir herschieben.«

MYP Magazine:
Im Herbst kommt der Film „Trauzeugen“ in die deutschen Kinos. Darin geht es um eine Braut, die kurz davorsteht, ihre eigene Hochzeit abzusagen. Ihre Trauzeug*innen – gespielt unter anderem von Edin Hasanović und Almila Bağrıaçık – versuchen das noch zu verhindern. Gab es am Set auch viel zu lachen?

Cristina do Rego:
Klar, schon allein deshalb, weil ich jeden Tag einen vier Kilo schweren Schwangerschaftsbauch plus drei Kilo Brust vor mir herschieben musste. Außerdem haben wir eine Komödie gedreht, da ist es am Set im Idealfall so lustig, wie man sich das vorstellt.

MYP Magazine:
Dass es am Filmset oft nicht viel zu lachen gibt, war jahrelang ein offenes Geheimnis. Jetzt ist das Thema mit den Schlagzeilen um Til Schweiger wieder hochgekommen. Hat das bei Dir alte Wunden aufgerissen?

Cristina do Rego:
Nein, ich bin sehr froh, dass die Dinge benannt werden, weil ich denke, dass man den Leuten zuhören muss. Es ist wichtig, über die Arbeitsbedingungen und die Sicherheit am Set zu sprechen. Es war endlich an der Zeit, dass genau diese Transparenz entsteht. Ich bin gespannt, wie es weitergeht, wenn wir alle anfangen, einander zuzuhören. Und vor allem mit denen zu sprechen, die an den Schaltstellen der Macht sitzen.

»Muss man unbedingt eine Heldin sein? Oder geht es viel eher darum, dass wir alle das tun, was in unserer Macht steht, um anderen Menschen zu helfen?«

MYP Magazine:
Auch Aracy de Carvalho nahm Missstände wahr – und umging heimlich Machtstrukturen. Eine wichtige Frage der historischen Erzählung: War Aracy de Carvalho eine Heldin, weil sie bei der Visavergabe geschummelt hat, obwohl sie sonst nicht als politische Aktivistin in Erscheinung getreten ist?

Cristina do Rego:
Muss man unbedingt eine Heldin sein? Oder geht es viel eher darum, dass wir alle das tun, was in unserer Macht steht, um anderen Menschen zu helfen? Das ist für mich eine grundsätzliche Frage. Vielleicht würde es schon reichen, wenn jede*r an den kleinen Stellschrauben drehen würde, an denen sie*er drehen kann. Dann sähe die Welt schon ganz anders aus. Aracy de Carvalho hat sich auch in späteren Jahren nie mit ihren Taten geschmückt. Es gab viele Menschen, die ihr Schmuck oder Geld schenken wollten. Das hat sie nie angenommen, weil sie immer gesagt hat: „Ich habe nur das Richtige getan.“ Nur darum ging es ihr. In der Dokumentation ist von 80 Menschen die Rede, denen sie das Leben gerettet hat, weil es dafür sichere wissenschaftliche Beweise gibt. Aber es gibt unzählige Hinweise darauf, dass es viel, viel mehr waren, die sie auch außerhalb ihrer konsularischen Arbeit auf die Schiffe gebracht hat. Sie war ein „ganz normaler Mensch“, der für Gerechtigkeit eingetreten ist und sich dadurch in Gefahr gebracht hat. Wenn man den Begriff Heldin beiseitelässt, kann man auch einfach sagen: Sie war und ist ein Vorbild.

»Der Held*innenbegriff vermittelt immer das Gefühl, man müsse dafür etwas ganz Großes tun.«

MYP Magazine:
Wenn jemandem der Held*innenstatus zuerkannt wird, rückt das, was diese Person getan hat, weit weg von der Normalität. Es wird suggeriert, dass die Person etwas Übermenschliches geleistet hat. Das wiederum kann bei uns „normalen“ Menschen zur Überlegung führen: Ich selbst brauche das nicht zu tun, weil ich es nicht kann. Das wäre in dem Fall ein Mechanismus, der es uns erleichtert, uns aus schwierigen Entscheidungen herauszureden.

Cristina do Rego:
Genau, das hält uns am Ende vielleicht davon ab, darüber nachzudenken, was wir in unserem Alltag „held*innenhaft“ tun können: zum Beispiel aufs Auto zu verzichten, um das Klima zu schonen. Oder beim Einkauf auf umstrittene Inhaltsstoffe zu achten. Da der Held*innenbegriff immer das Gefühl vermittelt, man müsse dafür etwas ganz Großes tun, sind unsere Bewegungen oft viel kleiner, als sie sein könnten.


Seinabo Sey

Interview — Seinabo Sey

»I sometimes feel that I’ve sacrificed my integrity to a certain extent«

In Sweden, songstress Seinabo Sey is a solid star. With her new album »The One After Me« she now wants to conquer German stages. In the project, she has skillfully merged the two musical cultures from Gambia and Sweden, where she was brought up. We indulged with her in a fun interview that was just as experimental as her new record.

5. Juni 2023 — Interview: Katharina Viktoria Weiß, Photography: Frederike van der Straeten

She’s a one-woman-army: Swedish-Gambian singer Seinabo Sey has just released an album so experimental that it sounds like a bunch of different artists rather than one alone. The proud owner of four Swedish Grammys is famous for singing about grief, womanhood, racial identity, and body image.

Her new record — titled “The One After Me” — also features some confident and sexy tracks that hint at the level of maturity and diversity Seinabo Sey has now achieved. For each of the 14 new songs, we asked her an abstract question. If you want to know how these questions and their answers relate to the new tracks, you have to listen to their new album in its entirety.

»Sometimes I miss the time when things felt new.«

MYP Magazine:
“After” — what makes you smile?

Seinabo Sey:
My little sister. I love her, she makes me happy every day, I’m so proud of her — she definitely makes me smile.

MYP Magazine:
“Yes” — what time in your life are you most nostalgic about?

Seinabo Sey:
Sometimes I miss the time when things felt new. I can feel nostalgic about when I was 22 and first recorded and released an album and got to get on tour. I was scared, definitely. But I was also still so immensely fascinated by everything.

MYP Magazine:
“Need You“ — what is the most beautiful imperfection in your life?

Seinabo Sey:
That I’m a musician.

MYP Magazine:
“Romeo” — are you good with goodbyes?

Seinabo Sey:
I’m alright.

»In order to become a musician, I had to sacrifice my private life.«

MYP Magazine:
“Everything” — when was the last time you sacrificed everything for a specific goal and what did that look like?

Seinabo Sey:
I’m not sure about calling it sacrifice. But in order to become a musician, I had to sacrifice my private life. To answer what that looks like: It is a choice to use my private experiences publicly, in order for people to see they are not the only ones going through tough things. Even though I’m not a reality star, sometimes I feel that I’ve sacrificed my integrity to a certain extent.

MYP Magazine:
“Pretty Kids“ — do people always get it when you write a not-so-positive song about them, or do you always tell them?

Seinabo Sey:
No, I don’t tell them. And most of the time they don’t get it. Luckily, they don’t!

»I was in a very different headspace with every album run.«

MYP Magazine:
“Keys 2 The Moon” — when was the last time you had the feeling of being super close to something great, and how did you react to it?

Seinabo Sey:
I feel like I was super close to something great today. I recorded a Colors session. While singing, I was very at ease and felt totally calm. I was very happy and thankful about it, that was my reaction. I’ve been doing this for a long time, and I was in a very different headspace with every album run. Now, this is the first time I feel cool and at peace.

»My ex is the best I can come up with.«

MYP Magazine:
“Maceo” — which episodes were an interlude in your life?

Seinabo Sey:
My last relationship. My ex is the best I can come up with.

MYP Magazine:
“Dream” — which nightmare is haunting you?

Seinabo Sey:
Simple things like failing and fucking up on stage. I sometimes think about tripping over my shoes and falling on my face during something important like live TV.

»I get bored very quickly, so I always need to keep moving.«

MYP Magazine:
“Coffee Remix” — what are you addicted to?

Seinabo Sey:
I am addicted to experiences and doing things. I get bored very quickly, so I always need to keep moving. Sometimes I wish I could change that because I feel better when I’m still and calm. But I have a tendency to pack a lot of tasks into my day.

»When men underestimate me, I don’t give a shit anymore.«

MYP Magazine:
“42” — how do you deal with people who underestimate you?

Seinabo Sey:
I get really angry at first. It happens quite often to women in this industry that people underestimate them. I still get very provoked, but I’ve become a lot better in calming myself down and not reacting. So, when men underestimate me, I don’t give a shit anymore.

»It’s difficult to make a song simple and fun but not like something you’ve heard before.«

MYP Magazine:
“Heavy” — what kind of songs are the hardest for you to write?

Seinabo Sey:
The pop structure of happy songs is the hardest for me to write. It’s difficult to make a song simple and fun but not like something you’ve heard before. It’s a challenge, but I enjoy it, nevertheless.

»I’ve decided that I don’t want to miss having a normal life.«

MYP Magazine:
“Before” — which achievements would you never want to miss, even though they might have come with some downsides?

Seinabo Sey:
I don’t want to miss out on becoming a mom. For a long time, I have not been sure about this as I thought it might not be very compatible with being a singer. But by now I’ve decided that I don’t want to miss having a normal life. I want to try to put it in there and prioritize it at some point to really make it happen.

»In a sense, we hold each other’s hopes in our hands.«

MYP Magazine:
“Constellations” — in which situations are you most creative?

Seinabo Sey:
Working with people I love. The best collaborators in the studio are my friends for real. They are my therapists and my fun time. In a sense, we hold each other’s hopes in our hands. And to feel comfortable in this situation, you have to give a lot of yourself, you have to be open and transparent. This is easier if you get to be with humans who make you feel air ease.


Michelangelo Fortuzzi

Interview — Michelangelo Fortuzzi

»Der Druck, der breiten Masse zu gefallen, ist riesengroß«

In der neuen ZDFneo-Serie »WatchMe – Sex sells« spielt Michelangelo Fortuzzi einen jungen Mann, der in einer toxischen Beziehung steckt und sein Geld damit verdient, die Videos vom Sex mit seinem Freund auf einer Bezahl-Plattform à la OnlyFans anzubieten. Ein Gespräch über moderne Sexarbeit, Intimität am Filmset und den Umgang mit schwierigen Publikumsreaktionen.

27. Mai 2023 — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotografie: Frederike van der Straeten

Sex sells – diese einfache Logik gilt nicht nur in der Werbung. Das Geschäft mit Pornografie ist ein Milliarden-Business, vor allem im Internet. Schon vor zehn Jahren drehten sich rund ein Viertel aller Online-Suchanfragen um pornografische Inhalte, kostenlose wie kostenpflichtige. Ganz vorne mit dabei: die Deutschen.

Dabei galt bereits zu Zeiten der VHS-Kassette das Prinzip, dass den Produzent*innen von solchen Inhalten das größte Stück vom Kuchen zufällt und den sich körperlich Einbringenden – wenn überhaupt – nur eine verhältnismäßig kleine Gage zugestanden wird. Hier reden wir nur vom seriösen Teil des Pornoangebots, der eine unendlich große Zahl von Inhalten steht, in denen Menschen zum Sex vor der Kamera gezwungen, in ihrer prekäre Situation ausgenutzt oder in sonst einer Form missbraucht wurden, etwa im Bereich Kinderpornografie.

Doch in dieses eherne Geschäftsprinzip ist seit einiger Zeit Bewegung gekommen. Denn die Idee sozialer Netzwerke, in denen Individuen ihre eigenen Inhalte kreieren und mit der Welt teilen können, hat sich mittlerweile auch auf die Pornobranche übertragen. Auf etlichen Plattformen, die Namen wie OnlyFans, BestFans oder AdmireMe tragen, können User*innen seit einigen Jahren und gegen Gebühr in selbst gewählter Höhe ihre sexuellen Fotos und Videos posten – scheinbar selbstbestimmt und ohne jeden Mittelsmann oder klassischen Produzenten (die in den allermeisten Fällen tatsächlich männlich sind, wer hätte es gedacht).

Und wie auch in klassischen sozialen Netzwerken wie TikTok, Instagram oder Facebook (die Älteren erinnern sich) gilt auch hier: Je höher die Followerschaft, desto höher das Einkommen. Wer einen Eindruck vom Leben und der täglichen Arbeit solcher digitaler Sexarbeiter*innen werfen möchte, dem sei die vierteilige Dokumentation „OnlyFans Uncovered“ von RTL+ empfohlen, in der zwölf dieser Menschen einen Blick hinter die Kulissen gewähren – mit allen Licht- und Schattenseiten.

Von einer ganz anderen Seite, der fiktionalen, nähert sich dem Thema dagegen die neue Serie „WatchMe – Sex sells“ von Regisseurin Alison Kuhn, die seit dem 12. Mai in der ZDF-Mediathek abrufbar ist und ab dem 3. Juni auch im linearen TV läuft. Sie erzählt die Geschichte von den drei Protagonist*innen Malaika, Toni und Tim, die aus ganz unterschiedlichen Beweggründen auf dem pornografischen Social Network „WatchMe“ aktiv sind. Während Malaika sich online als sex- und körperpositive Aktivistin präsentieren will, braucht die alleinerziehende Mutter Toni dringend Geld und genießt es, auf „WatchMe“ die Lust an ihrer Weiblichkeit und ihrem Körper wieder zu entdecken.

Tim dagegen macht gerade sein Abi nach und steckt in einer toxischen Beziehung mit dem wesentlich älteren Josh, für dessen „WatchMe“-Account der junge Tim das wirtschaftliche Zugpferd ist. Gespielt wird er vom 22-jährigen Michelangelo Fortuzzi, der bereits seit dem Kindesalter vor der Kamera steht und zuletzt in Formaten wie „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ (Amazon) oder „Preis der Freiheit“ brilliert hat.

Übrigens: Dass das Zweite Deutsche Fernsehen die Serie auf einen Sendeplatz in seinen Spartensender ZDFneo schiebt, und das noch um 23:50 Uhr am Samstagabend, erweckt den Eindruck, als schäme man sich auf dem Mainzer Lerchenberg ein wenig für den Sechsteiler. Umso überraschter dürfte man daher dort gewesen sein, dass „WatchMe“ eine so große und positive mediale Resonanz erzeugt hat.

»Ich hatte Angst, die Leute könnten sagen, dass unsere Story nichts mit der Realität zu tun hätte.«

MYP Magazine:
Michelangelo, seit wenigen Tagen ist „WatchMe“ in der ZDF-Mediathek abrufbar. Wie hast Du den Start der Serie erlebt?

Michelangelo Fortuzzi:
Ich war ganz schön aufgeregt, denn so viel Nacktheit hatte ich bisher in keinem anderen Projekt. Davon abgesehen war es meine größte Sorge, dass es Menschen geben könnte, die sich durch unsere Serie persönlich angegriffen fühlen – etwa durch die Art und Weise, wie wir das Thema angegangen sind. Oder wie wir die Welt erzählen, in der die drei Geschichten stattfinden, insbesondere die meiner Figur. Ich hatte Angst, die Leute könnten sagen, dass unsere Story nichts mit der Realität zu tun hätte. Ich hatte Angst, man könnte uns vorwerfen, dass wir mit der Serie abschätzig und verurteilend auf Menschen blicken, die sich vor der Kamera ausziehen und damit ihr Geld verdienen. Selbstverständlich war und ist das überhaupt nicht unsere Intention, aber man weiß ja nie, was die Leute dazu sagen…

»Sex und vor allem Sexarbeit sind für viele Menschen immer noch Tabuthemen.«

MYP Magazine:
Was hat Dich grundsätzlich daran gereizt, bei einem Format wie „WatchMe“ mitzuspielen?

Michelangelo Fortuzzi:
Schlicht und einfach das Thema. Ich habe das Gefühl, dass Sex und vor allem Sexarbeit für viele Menschen immer noch Tabuthemen sind. Daher wird auch kaum oder zu wenig darüber gesprochen, inwiefern man diese Branche – vor allem die Sexarbeit im Internet – regulieren kann, sodass die Leute dort nicht ausgenutzt werden und für alle Beteiligten maximale Transparenz herrscht. Meine Hoffnung ist, dass „WatchMe“ einen grundsätzlichen Diskurs anregt und die Menschen geradezu dazu zwingt, sich mit dieser Welt auseinanderzusetzen und darüber ins Gespräch zu kommen.

»Ich will, dass es den schwarzen Schafen in der Branche wesentlich schwerer gemacht wird, andere auszunutzen.«

MYP Magazine:
Welche Debatte wünschst Du dir konkret?

Michelangelo Fortuzzi:
Unsere Serie zeigt – und das deckt sich auch mit meinen eigenen Recherchen im Vorfeld –, dass im Bereich Sexarbeit im Internet immer noch sehr viel Ausbeutung stattfindet. Es gibt beispielsweise Agenturen, die über die Hälfte des Einkommens von Online-Sexarbeiter*innen als Provision oder Gebühren einbehalten. Das ist wirklich krass, hier fehlt jede Form von Regulierung. Ich finde es wichtig, auf dieses Problem hinzuweisen und damit im besten Fall einen gesellschaftlichen Diskurs zu starten. Wenn die richtigen Leute darüber reden, kann das vielleicht zu einer positiven Veränderung führen. Bitte nicht falsch verstehen: Ich will kein Verbot, denn das würde aus meiner Sicht alles noch viel schlimmer machen. Ich will einfach nur, dass es den schwarzen Schafen in der Branche wesentlich schwerer gemacht wird, andere auszunutzen.

MYP Magazine:
Auf RTL+ wurde vor etwa einem halben Jahr die Dokuserie „OnlyFans Uncovered“ veröffentlicht, die einen tiefen Einblick in das Leben echter Kreator*innen von Adult Content gewährt – mit all den Vor- und Nachteilen, die so ein Job mit sich bringt. Was ist Deiner Meinung nach der Mehrwert einer fiktionalen Serie wie „WatchMe“?

Michelangelo Fortuzzi:
Bei Dokus habe ich als Zuschauer oft das Gefühl, dass man von den vielen Informationen relativ einfach Abstand nehmen kann. Bei Fiktion dagegen passiert es im besten Fall, dass man sich einer Person so verbunden fühlt, dass man in ihre Situation und Lebenswelt geradezu reingezogen wird – etwa, wenn sie das Ganze nicht freiwillig macht und von anderen dazu gedrängt wird, sich vor der Kamera auszuziehen. Soweit ich weiß, stellt „OnlyFans Uncovered“ nur Menschen vor, die sich bewusst und aus freien Stücken dafür entschieden haben, sich selbst auf dieser Plattform anzubieten.

»Ich habe mir Tim immer als jemanden vorgestellt, der es als schwuler Teenager nie so wirklich leicht hatte.«

MYP Magazine:
In „WatchMe“ spielst Du den 20-jährigen Tim, der von seinem wesentlich älteren Freund Josh dazu animiert wird, den gemeinsam Sex zu filmen und ins Netz zu stellen. Wie hast Du diesen Charakter angelegt? Was ist Tims Geschichte, was ist er für ein Mensch?

Michelangelo Fortuzzi:
Ich habe mir Tim immer als jemanden vorgestellt, der in einem kleinen Ort im Berliner Umland aufgewachsen ist, wo er es als schwuler Teenager nie so wirklich leicht hatte. Mit seinem Umzug in eine Großstadt wie Berlin hat sich für ihn auf einmal eine Welt eröffnet, in der er kein Außenseiter oder Exot mehr ist, sondern ein Teil einer großen bunten Community. Plötzlich war in seinem Leben alles aufregend. In Berlin hat er auch recht schnell Josh kennengelernt – und so gab es nun auch jemanden, der sich um ihn kümmert. Aus diesem Grund ist er auch spontan bei Josh eingezogen und Teil von dessen „WatchMe“-Content geworden, ohne sich groß darüber Gedanken zu machen, was da überhaupt passiert und wie viel Aufwand es bedeutet. Doch durch die Geborgenheit, die Josh ihm gibt, gewinnt Tim mit der Zeit auch immer mehr an Selbstbewusstsein. Er hat sogar den Mut, sein Abi nachzuholen, und macht sich Gedanken darüber, worauf er in seinem Leben eigentlich Lust hat. Im Laufe der Serie geht es für Tim immer stärker darum, sich komplett unabhängig zu machen, vor allem von Josh. Und das führt natürlich zu Konflikten.

»Wir beide sind Menschen, die mit ihren Handlungen niemanden verletzen wollen.«

MYP Magazine:
Gibt es Überschneidungen, die Du zwischen der fiktionalen Persönlichkeit von Tim und Deiner eigenen entdeckt hast?

Michelangelo Fortuzzi:
Tim und ich sind uns auf der emotionalen Ebene sehr ähnlich. Wir beide sind Menschen, die mit ihren Handlungen niemanden verletzen wollen, und wir haben den großen Wunsch, dass es allen Leuten um uns herum immer gut geht. Aus diesem Grund verzichten wir auch gerne mal darauf, uns um uns selbst zu kümmern. Viel wichtiger ist es uns, dass die Menschen, die wir lieb haben, okay mit uns sind.

MYP Magazine:
Tim ist zwar wesentlich jünger als Josh, dennoch scheint er eine viel höhere emotionale Intelligenz zu besitzen. Wie würdest Du die Beziehung der beiden Männer beschreiben?

Michelangelo Fortuzzi:
Zu Beginn der Serie geben sich die beiden noch sehr viel, sie pushen sich gegenseitig hoch und helfen einander. Während Josh ein Macher ist und mit einer „Let’s do it“-Attitüde am Erfolg des gemeinsamen Sexbusiness arbeitet, bringt der gefühlvolle Tim eine gewisse Herzenswärme mit in die Beziehung. Doch bald merkt er, dass er sich in einer emotionalen und finanziellen Abhängigkeit von Josh befindet, die überaus toxisch und ungesund ist.

MYP Magazine:
Josh setzt Tim enorm unter Druck, indem er etwa sagt: „Es wäre schön, wenn Du auch mal was für uns machen könntest.“ Damit wünscht er sich von Tim mehr Engagement vor der Kamera statt für die bevorstehende Abiturprüfung. Außerdem reibt er Tim immer wieder unter die Nase, wie finanziell abhängig dieser von ihm ist. Welches Druckmittel hat Tim in der Hand?

Michelangelo Fortuzzi:
Ohne Tim funktioniert das Business nicht. Josh könnte sich zwar einen neuen Partner suchen, aber das wäre mit einem ziemlichen Zeitaufwand verbunden und er würde bis dahin kein Geld verdienen. Aus der Business-Perspektive ist Josh also total abhängig von Tim.

»Im Workshop haben wir gelernt, wie und wo wir unser Gegenüber vor der Kamera berühren dürfen.«

MYP Magazine:
Josh wird gespielt von Simon Mantei. Wie hast Du dich mit ihm, aber auch mit der Regisseurin Alison Kuhn auf die Serie vorbereitet? Welche Gespräche hattet Ihr im Vorfeld zu den Charakteren, der Beziehungsdynamik oder auch zu den einzelnen Szenen geführt?

Michelangelo Fortuzzi:
Als die Besetzung für Josh gesucht wurde, war ich bei jedem Casting dabei. Am Ende gab es zwei Favoriten und ich wurde gefragt, mit wem ich mich wohler fühlen würde – und meine Wahl fiel auf Simon. Während unserer Vorbereitung auf die Serie wurde uns mit Marit Östberg eine Intimitäts-Koordinatorin zur Seite gestellt, die auch später beim Dreh die ganze Zeit vor Ort war.
In einem gemeinsamen Workshop haben wir gelernt, wie und wo wir unser Gegenüber vor der Kamera berühren dürfen. Dafür gab es unter anderem folgende Übung: Man steht sich gegenüber und zeigt mit seiner Hand nacheinander auf diverse Zonen des eigenen Körpers. Dabei sagt man laut „grün“, „gelb“ oder „rot“. Grün bedeutet: Hier kannst du mich immer problemlos und ohne Nachfrage berühren. Gelb heißt: Anfassen ist okay, wenn es vorher abgesprochen wird. Und rot ist die No-Go-Zone. Im zweiten Schritt nimmt man die Hand des Gegenübers und geht damit erneut die Zonen des eigenen Körpers ab. Dabei kann sich die Farbe auch mal ändern, da nun der Faktor dazugekommen ist, dass nicht mehr die eigene Hand den Körper berührt, sondern die eines anderen.
Darüber hinaus haben wir auch mit Alison viel über die Situation gesprochen und nacheinander alle Intimszenen durchstrukturiert – erst theoretisch auf Papier, dann in einer Probe. Dabei haben wir ganz trocken die einzelnen Positionen nachgestellt und geschaut, dass es für die Kamera gut aussieht und für Simon und mich angenehm ist.

»Sich in so einer Situation zu entblößen war wirklich gewöhnungsbedürftig.«

MYP Magazine:
In der Pressemappe zur Serie sagst Du in einem Kurzinterview: „Bei dem Projekt musste ich über viele Schatten springen.“ Welche Schatten waren das konkret?

Michelangelo Fortuzzi:
Die beiden größten Schatten waren das Nacktsein und die Intimität. Beides habe ich zwar per se nicht als unangenehm empfunden. Doch auch wenn das Set für die Sexszenen viel kleiner gehalten wurde als bei „normalen“ Szenen, hatte man auch hier immer etwa 20 Leute um sich herum, die man erst seit ein paar Tagen kannte. Sich in so einer Situation zu entblößen war wirklich gewöhnungsbedürftig. Zwar wurde mir nach jedem Take sofort ein Handtuch oder ein Bademantel gereicht. Aber am Ende ist es trotzdem weird, da den halben Tag nackt herumzustehen, während alle anderen angezogen sind und ihr Ding machen.
So gab es auch immer wieder Momente, in denen ich gemerkt habe, dass ich mich gerade sehr zusammenreißen muss, um nicht aus einem Schutzreflex heraus plötzlich grantig zu werden. Etwa wenn die Maske noch mal kurz ins Bild musste, um einen Pickel abzudecken. Solche Momente habe ich als sehr unangenehm empfunden, aber nicht im Sinne von: Ich werde hier zu etwas gedrängt, was ich nicht machen will. Denn ich wusste ja genau, worauf ich mich einlasse. Sondern eher in Bezug auf: Ich muss gerade lernen, damit umzugehen. Am Ende hat aber alles ganz gut geklappt, denke ich.

»Ich finde, so ein Intimacy Coach gehört in Deutschland grundsätzlich an jedes Set.«

MYP Magazine:
Wie konnte Dich die Intimitäts-Koordinatorin in diesen Situationen am Set unterstützen?

Michelangelo Fortuzzi:
Für mich war „WatchMe“ das allererste Projekt, bei dem am Set permanent ein Intimacy Coach dabei war – und das war mega! Man hatte auf einmal so eine Art Anwalt – oder in Marits Fall Anwältin – an seiner Seite, zu der man jederzeit sagen konnte: Du, ich fühle mich gerade doch nicht so wohl, obwohl wir die Szene vorhin besprochen haben. Der Intimacy Coach hat in solchen Fällen die Macht, den Dreh so lange zu unterbrechen, bis eine Situation gefunden wird, in der es allen wieder gutgeht. Ich finde, so jemand gehört in Deutschland grundsätzlich an jedes Set. In England zum Beispiel ist meines Wissens immer ein Intimacy Coach dabei, auch wenn es sich „nur“ um Kuss-Szenen handelt. Aber in Deutschland braucht man halt für alles ein bisschen länger.

»Es ist immer hilfreich, wenn man selbst einen ähnlichen Druck verspürt wie der Charakter.«

MYP Magazine:
Es gibt eine interessante Parallele zwischen Euch Schauspieler*innen und den fiktionalen Figuren, die Ihr darstellt: Alle müssen für sich entscheiden, ob sie sich in einem öffentlich zugänglichen Medium nackt zeigen wollen. Hat Dir diese Parallele geholfen, in Deine Rolle zu finden?

Michelangelo Fortuzzi:
Auf jeden Fall. Es ist immer hilfreich, wenn man selbst einen ähnlichen Druck verspürt wie der Charakter. Oder wenn es im eigenen Leben gerade eine Situation gibt, die vergleichbar ist mit dem, was man da spielt. Wenn man das erkennt und benutzen kann, ist das für das eigene Spiel goldwert – denn das, was bereits existiert, muss man nicht mehr erzeugen.

»Prostitution ist eines der ältesten Geschäftsmodelle der Welt.«

MYP Magazine:
Malaika, eine der Hauptfiguren der Serie, die von Maddy Forst gespielt wird, bezeichnet sich selbst als Sexworkerin und Aktivistin. Ist Tim in Deinen Augen ebenfalls ein Sexarbeiter?

Michelangelo Fortuzzi:
Ja, ganz eindeutig. Nur dass es eben moderne Sexarbeit. Prostitution ist eines der ältesten Geschäftsmodelle der Welt, das gab es schon immer – und hat sich auch schon immer weiterentwickelt. Mittlerweile sind wir im Jahr 2023 angekommen und haben das Internet, wo Sexarbeit genauso stattfindet wie in der analogen Welt. Trotzdem verbinden die Leute mit dem Wort immer noch etwas Negatives, obwohl es per se ein neutraler Begriff ist. Und ich bin ganz ehrlich: Ich selbst ertappe mich ab und zu auch noch dabei.

»Wenn man am Ende nur noch miteinander schläft, um Content für die Community zu kreieren, geht schnell jeder Aspekt von Liebe verloren.«

MYP Magazine:
Wenn Tim und Josh vor der „WatchMe“-Kamera aktiv sind, gibt es immer wieder Momente, in denen ihnen die Situation zu entgleiten scheint und sie nicht mehr sicher wissen, ob sie gerade als Privatmenschen agieren oder in ihren Online-Rollen. Hast Du nach Deiner ausführlichen Recherche das Gefühl, dass dieser Kontrollverlust, der mit so einem Job einhergehen kann, auch eine der größten Gefahren in der echten Welt der digitalen Sexarbeit darstellt?

Michelangelo Fortuzzi:
Dieses Gefühl habe ich sehr stark. Wenn man in einer Beziehung wie der von Josh und Tim am Ende nur noch miteinander schläft, um Content für die Community zu kreieren, geht schnell jeder Aspekt von Liebe verloren. Die körperliche Zuneigung wird da zu einem reinen Job.
Es gibt in der Serie eine Szene, in der Josh für ein Video einen Dritten eingeladen hat, ohne dass Tim davon wusste. Die Dynamik, die in dem Moment entsteht, finde ich absolut bezeichnend für das Dilemma. Denn plötzlich kommt bei Josh so etwas wie Eifersucht auf, womit er gar nicht gerechnet hätte. Ich glaube, solche unvorhersehbaren Entwicklungen können für die Psyche vieler Menschen ganz schon gefährlich werden.

»Das Thema sexuelle Orientierung scheint für viele immer noch ein größeres Ding zu sein, als es eigentlich sollte.«

MYP Magazine:
In der ersten Folge sagt Malaika in einer Podcast-Aufzeichnung: „Wir haben gelernt, dass wir uns für unsere Sexualität zu schämen haben.“ Nimmst Du das in unserer Gesellschaft genauso wahr?

Michelangelo Fortuzzi:
Ja. Ich habe in den letzten Jahren öfter queere Charaktere gespielt und dazu immer wieder Kommentare erhalten wie: „Respekt, aber ich selbst würde so etwas auf keinen Fall wollen.“ Oder: „Bei dieser Szene musste ich ganz dolle lachen.“ Wenn ich nach dem Grund gefragt habe, war die Antwort in der Regel: „Weil du auf einmal schwul bist.“ Solche Sätze kamen auch von Leuten, denen ich eigentlich ein etwas wokeres Weltbild zuschreiben würde. Auch wenn ihre Kommentare in den seltensten Fällen böse gemeint waren, fällt es auf, dass das Thema sexuelle Orientierung für viele immer noch ein größeres Ding zu sein scheint, als es eigentlich sollte.

»Für mich als Schauspieler macht es am meisten Spaß, jemanden zu spielen, der ganz weit weg von der eigenen Person ist.«

MYP Magazine:
Seit einigen Jahren gibt es – angeregt unter anderem durch Initiativen wie #ActOut – eine lebhafte Debatte darüber, was die Sichtbarkeit und Chancengleichheit queerer Menschen in Film und Fernsehen angeht. Dabei gibt es auch Stimmen, die fordern, dass queere Rollen bevorzugt von Schauspieler*innen besetzt werden, die sich selbst auch mit dieser Sexualität identifizieren. Wie erlebst Du die Debatte der letzten zwei Jahre? Und welche Haltung hast Du dazu?

Michelangelo Fortuzzi:
Die Debatte ist wichtig, keine Frage. Aber manchmal habe ich das Gefühl, dass hier und da ein bisschen zu viel darüber nachgedacht wird. Für mich als Schauspieler macht es am meisten Spaß, jemanden zu spielen, der ganz weit weg von meiner eigenen Person ist – charakterlich, sozial, politisch oder sexuell. Ich empfinde es immer wieder als eine spannende Herausforderung, wenn ich mich in einen völlig neuen Kopf hineindenken muss. Zwar passiert das leider immer seltener, da heutzutage sehr charakternah gecastet wird, aber ich finde, die Sexualität von Schauspielenden sollte da grundsätzlich keine Rolle spielen – in alle Richtungen. Ich habe zum Beispiel einen Transgender-Kollegen, der meistens nur für trans Rollen gecastet wird. So etwas nervt total, weil er natürlich klassische Cis-Mann-Rollen spielen will und das auch könnte. Trotzdem hat er nach wie vor sehr große Schwierigkeiten, zu den entsprechenden Castings eingeladen zu werden.

»Letztendlich hat man eh keinen Einfluss darauf, ob die Leute einen mögen oder nicht.«

MYP Magazine:
Eure Serie wird aus drei sehr unterschiedlichen Perspektiven erzählt, und zwar entlang der individuellen Lebenswelten der Figuren Malaika, Toni und dem Paar Tim und Josh. Bei allen Protagonist*innen geht es am Ende darum, ob das Publikum goutiert, was sie tun, wie sie sich geben und wie sie aussehen. Sie bemessen den Wert ihrer Person an der Zahl der Follower*innen und deren Urteil. Dabei kann die Gunst der Fans schnell umschlagen und sich zu Spott und Hass entwickeln. Gibt es hier Parallelen zu Deinem eigenen Beruf? Wie gehst Du persönlich mit Kritik und Selbstzweifeln um?

Michelangelo Fortuzzi:
Als vor zwei Jahren „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ rauskam, hatte ich echte Schwierigkeiten mit den Reaktionen der Leute. Fast jede*r in Deutschland hatte ja irgendwann mal im Leben das Buch gelesen oder den Film gesehen. Was unsere Serie angeht, gab es zwei Lager: Die einen mochten die Adaption total, die anderen überhaupt nicht – und haben das auch geäußert.
Da musste ich echt stark sein und mich dazu zwingen, nicht ständig die vielen negativen Kommentare durchzulesen. Denn natürlich macht man sich bei so einem massiven Feedback irgendwann Gedanken und fragt sich: Haben die Leute vielleicht recht? Ich persönlich gerate da schnell in eine ungesunde Spirale, vor allem wenn ich versuche, die negative Kommentare zu entkräften oder zu widerlegen. Als mich das immer mehr belastet hat, habe ich das Gespräch mit meinem Vater gesucht, der immer ein guter Ratgeber ist. Er sagte: „Schalt‘ dein Handy aus und versuch‘, das alles so weit wie möglich von dir wegzuschieben.“ Das klingt zwar ziemlich simpel, aber allein das hat geholfen, es ging mir sofort wieder besser.
Heute weiß ich: Das Wichtigste ist, sich in solchen Situationen nicht von der Meinung anderer abhängig zu machen. Es ist völlig egal, wie viele Menschen einem auf Instagram folgen oder wie viele Likes ein Foto erhält. Das zu lernen war extrem wichtig für mich. Letztendlich hat man eh keinen Einfluss darauf, ob die Leute einen mögen oder nicht. Dennoch fällt es den meisten Leuten sehr schwer, sich davon freizumachen – egal, ob sie jetzt online Sexarbeit betreiben, als Influencer arbeiten oder andere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens sind. Der Druck, der breiten Masse zu gefallen, ist riesengroß.

»Wenn ich nicht weiß, wie ich mit einem Thema aus der Branche umgehen soll, ist mein Vater der Erste, den ich um Rat frage.«

MYP Magazine:
Dein Papa Alberto arbeitet als Film- und Theaterschauspieler, ebenso Dein älterer Bruder Valentino. Verspürst Du innerhalb der Familie einen besonderen Erfolgsdruck? Oder spielt die Schauspielerei bei Euch zuhause kaum eine Rolle?

Michelangelo Fortuzzi: (lacht)
Oh, es ist kompliziert! Mein Vater war für mich schon immer eine Mischung aus Schauspiel-Coach und Berater. Wenn ich nicht weiß, wie ich mit einem Thema aus der Branche umgehen soll, ist er der Erste, den ich um Rat frage. Valentino dagegen nehme ich manchmal fast als Konkurrenten wahr. Klar, natürlich versuchen wir, uns gegenseitig zu helfen, aber durch den gleichen Job ist es nicht immer einfach zwischen uns. (überlegt einen Moment) Brüder halt!
Mein Bruder ist ein fantastischer Schauspieler, der vor allem fürs Theater lebt. So stark wie er werde ich auf der Bühne wahrscheinlich nie sein. Wir beide haben ganz unterschiedliche Qualitäten, trotzdem vergleicht man sich permanent, auch wenn man das gar nicht will.

»Vieles bekommt man als Schauspieler gar nicht mit, etwa wenn der Regieassistent seine Leute übers Funkgerät anpampt.«

MYP Magazine:
Vor Kurzem wurden in einem Spiegel-Artikel Vorwürfe von über 50 Filmschaffenden gegenüber Constantin Film und Til Schweiger in Bezug auf die Zustände am Filmset öffentlich. Deine Kollegin Nora Tschirner erklärte einige Tage später in einem Video, dass die beschriebenen Missstände an deutschen Filmsets auch allgemein keine Seltenheit seien. Wie hast Du selbst die Branche bisher erlebt?

Michelangelo Fortuzzi:
Ich habe in meinem Leben zum Glück fast immer mit Menschen gearbeitet, die sehr ruhig und nett waren. Dennoch ist es auch für mich kein Geheimnis, dass es in der Branche auch viele Leute gibt, die „sehr temperamentvoll“ sind, um es mal so auszudrücken. Vieles bekommt man als Schauspieler aber gar nicht mit, etwa wenn es um teaminterne Angelegenheiten geht und der Regieassistent seine Leute übers Funkgerät anpampt.
Ich glaube, das größte Problem ist nach wie vor, dass es vor allem für die Crew keinen ausreichenden Arbeitsschutz gibt. Als Schauspieler wird man am Set eigentlich immer auf Händen getragen und vom internen Stress weitestgehend isoliert. Aber für die Menschen aus der Crew gilt das nicht. Die kommen vor uns ans Set, gehen nach uns nach Hause und werden manchmal – auch von uns Schauspieler*innen – angemeckert, wenn sie mal Sprudelwasser gebracht haben, obwohl stilles gewünscht war. Ich finde, diese Menschen verdienen den größten Respekt und die gleichen Schutzstandards wie alle anderen.


John DeLuca & Rob Marshall

Interview — John DeLuca & Rob Marshall

»True love is deeper than appearances«

Since producer John DeLuca and director Rob Marshall revolutionized musical film in the early years of the new millennium, Disney has entrusted them with some of its most complex productions. With their 2023 underwater musical »The Little Mermaid,« both had to face their biggest challenge to date. A conversation with two of Hollywood's most passionate and powerful creatives about love stories with substance, a honeymoon with the ocean king Triton, and the secret skills that enable you to execute one of the biggest film projects of the decade.

24. Mai 2023 — Interview: Katharina Viktoria Weiß, Photography: Frederike van der Straeten

Ever since Disney released the first live-action adaptations of their iconic animated films, fans of the originals have been shuddering in anticipation of each premiere: Sure, the live-action format is very different, but why make »The Jungle Book« so violent or strip »The Lion King« of its famous Elton John soundtrack? But if you are a fan of the fairytale classics, »The Little Mermaid« might just enchant the nostalgic among us on a whole different level:

The new version is a full-blown musical, featuring the hit song »Part of Your World« as the framing siren song, and introducing new melodies and subplots that elegantly elevate the original version while staying true to the fairytale’s core motif: A bittersweet longing — to become an adult (or a human) and to live out a lust for life (or love).

One reason for this may be Disney’s decision to put the project in the hands of two men known for their ability to bring Broadway classics to the big screen. Rob Marshall and John DeLuca met when they were dancers in the vibrant New York theatre scene of the 1980s. The two artists know the Broadway scene by heart and are incredibly passionate about musicals. When they were given the chance to bring »Chicago« to the big screen in 2002, they jumped headlong into an unusual adventure: At the time, musicals were a no-go in Hollywood and big names were reluctant to take part in any on-screen action that involved singing. But with a little help from Renée Zellweger, Catherine Zeta-Jones and Richard Gere, the production won six Oscars and the couple became international stars.

»Pirates of the Caribbean: On Stranger Tides,« »Into the Woods,« »The Return of Mary Poppins« — Rob Marshall and John DeLuca have now established themselves at Disney when it comes to big movies with a bit of a Broadway background. And they seem to have embraced the zeitgeist when it comes to the sensitive issue of diversity: When Rob Marshall made »Memoirs of a Geisha« in 2005, the cultural backlash was legendary. The film sparked protests and outrage in both Japan and China. The reason was the casting of Chinese actresses in the roles of Japanese geisha. Sections of the Tokyo press found it scandalous that a Western director should indulge in portraying Japanese culture as a feast of opulence, with no focus on conveying Far Eastern social phenomena.

»The Little Mermaid,« on the other hand, has so far been hailed as a tender nod to diversity. There are already videos of POC children staring wide-eyed at the screen when they see a black Ariel. And the star of the show herself is just one of many casting choices that defy the original all-white representation of the animated film. Furthermore, some argue that Ariel changing her body to come closer to her identity can also be read as a story of negotiating trans identity. Even if that is up to feulletoinistic speculation — Disney is not known for accepting a leading role in queer cultural change — the live-action adaptation is fulminantly campy with its over-the-top choreography and solo songs.

»Ariel connects with the substance — that was very important to us.«

MYP Magazine:
Rob and John, in your new picture, »The Little Mermaid,« you’ve combined iconic moments from the animated film with new ideas to enrich the fairy tale world. Which additions are you most proud of?

Rob Marshall:
The quickest answer would have to be Eric’s backstory. We wanted to give him a fuller story and a parallel path to Ariel. In our version, they connect on a deeper level than in the original, which is more superficial. It allows them to really get to know each other and discover common interests. They both love adventure and are not afraid of each other. So, they build a bridge between the two worlds and connect on a much deeper level.

John DeLuca:
We always talk about how it’s very Romeo and Juliet. We are also proud of the new song we gave Prince Eric, »Wild Uncharted Waters.« It aims to make the audience understand what his role is and why she falls in love with him. In our film, Ariel sneaks around the outside of a ship because she is curious about the humans. She hears Eric’s voice long before she sees the beautiful men for herself. Ariel connects with the substance — that was very important to us.

»Christian Andersen struggled all his life to feel heard by those around him.«

MYP Magazine:
If a fairy tale can sometimes be a role model, did you try to create a role model for a healthy relationship here?

John DeLuca:
Friends first!

Rob Marshall:
Yeah, true love is deeper than appearances. Ariel and Eric both feel like they don’t fit in, they feel like outsiders.

John DeLuca:
That comes straight from Hans Christian Andersen, the author of the original fairy tale. He struggled all his life to feel heard by those around him, so »The Little Mermaid« is a reflection of his own life. The love story we’re showing is a break from that pattern — and that’s what makes it so powerful.

»I really identified with the black sheep of the family who has such vengeance in her.«

MYP Magazine:
Another relationship that has become more complex is that between Ursula the Sea Witch and King Triton…

John DeLuca:
I love the aspect that we added to Ursula and Triton’s relationship by making them brother and sister. I really identified with the black sheep of the family who has such vengeance in her. She wants to use anything to get back at him for all the pain he put her through.

»Disney productions allow you to do things that you can’t do anywhere else.«

MYP Magazine:
In London there is even a whole show about it, titled »Unfortunate: The Untold Story of Ursula the Sea Witch« — a critically acclaimed parody musical not intended for children. Can you relate to people who worship the so-called “Disney villain, octo-woman, plus-size icon?”

Rob Marshall:
The character is so fierce and out there. But with Melissa McCarthy we were able to bring more to life than just the scariness of the character, but also the pain that John just described. Melissa gave us every color in the palette. You know, this is a different genre: live action as opposed to animation. Disney productions allow you to do things that you can’t do anywhere else, and the idea of making the beloved characters more three-dimensional and more real was a huge challenge.

John DeLuca:
We wanted to honor what everyone, including ourselves, loves about the original, but we also wanted to give it some of the things that we believe in and enjoy.

»In real nature there is already something very similar to dance and choreography.«

MYP Magazine:
In »The Little Mermaid« we see King Triton and the wonderful world under the sea. But the new film also shows the picturesque coastal life above the water with its Caribbean flair. If you had to choose your honeymoon, where would you go: swimming the oceans with Triton or exploring the vibrant life with Eric?

Rob Marshall:
Oh my gosh, well, I think I’d definitely have to try underwater, because if it was a fairy tale and we could choose anything, I’d just enjoy watching the scenery down there. We watched a lot of »The Blue Planet« documentaries to be inspired by the beauty of our underwater world. It’s unbelievable, you can’t quite believe it’s all happening underwater as it is. It’s like there’s a ballet going on under the sea, which was a great gift for the musical nature of the film.

John DeLuca:
In real nature there is already something very similar to dance and choreography. That’s why Rob was so perfect for it because the perception of movement and angles comes so naturally to him.

Rob Marshall:
Both of our choreographic backgrounds helped a lot with this film. Also because it has its tricky aspects: There is no gravity underwater, so we made the movements fantastic and dreamlike, which is why I would love to explore that world.

»The cartoon doesn’t really tell the audience when or where it takes place.«

MYP Magazine:
John, would you go for the fishtail experience?

John DeLuca:
I’m a real ocean person and I always have to be near or on the water. But no, I don’t need to be under it, snorkelling is not my favourite way to be.

MYP Magazine:
The coastal world has also been given an immense charm and a lot of new flair. What was the artistic decision behind that?

Rob Marshall:
The cartoon doesn’t really tell the audience when or where it takes place. The music has a Caribbean feel to it, so we set it in the Caribbean. And then the original story was written in the 1830s, so that’s the time period we chose.

»How do you make an underwater musical? Only with a lot of preparation.«

MYP Magazine:
Let’s take a trip into your working day: What are the most unusual daily tasks for a producer and director of your stature?

Rob Marshall:
How do you make an underwater musical? Only with a lot of preparation. You start with storyboards because you have to imagine what it could be, and that evolves into something called previsualization, which is like a mini movie. This is important so that we understand how everyone would move and how the camera would move. And then we had to communicate all that to our stunt team and camera team.

»Our film was created like a mosaic.«

MYP Magazine:
Filming underwater was not an option, so you had to use aerial stunts to get shots that show the »no gravity« aspect of the underwater world. How difficult was that?

John DeLuca:
Each actor was in an apparatus and was supported by ten crew members who moved them around the air in front of a blue screen. The choreography had to be filmed in very small pieces. To make this work, we had to go through an incredibly long rehearsal process. First, we worked with the actors to make sure they understood every part of the story and the relationships between the characters…

Rob Marshall:
… and then we pushed them into the air before we actually started to put it together. Our film was created like a mosaic.

»We’re a team when it comes to directing.«

MYP Magazine:
John, while the artistic process itself was a challenge, did your duties as producer keep you busy putting out little fires in the background?

Rob Marshall:
Let me speak for John, he’s not in the background at all, he’s with me every second. Every frame of this film was created with John. We’re a team when it comes to directing.

John DeLuca:
Yeah, but in addition to that, we also produce. So, we have to deal with the actors and the agents and keep it all going. We are the custodians of the most important thing: the product. Getting it done on time and on budget is a very responsible job.

Rob Marshall:
All the while keeping the creative aspect at the core of it all. So, you’re really making sure you’re telling a story because sometimes that gets forgotten. And we’ve been doing it together for a long time — we started working together on »Chicago« 20 years ago.

MYP Magazine:
The production went on to win six Oscars — but at that time musicals were not accepted on screen at all…

John DeLuca:
Which meant there was no pressure at all because we thought nobody was going to see it anyway.

Rob Marshall:
As you can guess: We deeply believe in the musical genre.

»We are all working together to create something special. And that comes from checking your ego at the door.«

MYP Magazine:
As you mentioned, there’s the creative part and the drive to tell amazing stories, but there’s also this huge Disney machine that involves a lot of money, expertise, and technology at the speed of culture. What are the most important skills to have in your respective professions?

John DeLuca:
As the maestro of this huge endeavor, you need all of those skills. You can’t just be a creative genius, you can’t just be a very intelligent, educated person, you can’t just be personable and know how to deal with every actor and make them feel special. You also need to have the ability to talk to the creative team and make them feel special and part of it. Rob has a very unique talent for combining all of those skills. I honestly think that nobody else on the planet could have done this film.

Rob Marshall:
This is our fourth film in a row with Disney. We feel very respected by them and they trust us implicitly. So, there is this unconditional support. John and I — and so many other talented people — are deeply connected. I really do see it as a collaboration — but I am flattered that you see it differently. (looks lovingly at John) The way I see it: We are all working together to create something special. And that comes from checking your ego at the door because the most important thing in musicals is perfect cooperation. Whether it’s on stage or on film: The best idea in the room has to win.

John DeLuca:
But you get the last word, be honest! (both laugh) I had great ideas that did not get picked.

Rob Marshall:
Sure, ideas have to fit a vision. And luckily, I have the best and most understanding team in the world.


Der Assistent

Interview — Der Assistent

»Ich habe keine Ahnung, ob man jemals wirklich weiß, wer man ist«

Mit seinem Debütalbum »Der Assistent« stellt sich »Fotos«-Frontmann Tom Hessler nun auch als Solokünstler vor. Die Platte ist für den 39-Jährigen der bisher größte Akt von Selbstfürsorge. Denn erstens hat er mit seinem groovigen Dub-Sound genau die Musik erschaffen, die er selbst immer hören wollte. Und zweitens verarbeitet er damit eine Zeit, die zu den dunkelsten seines Lebens gehört. Ein Gespräch über die Bürde der Pubertät, eine Messerattacke auf sich selbst und die Sorge, aus finanzieller Not Stadionrock-taugliche Musik machen zu müssen.

28. April 2023 — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotografie: Niklas Soestmeyer

„Die schönste Sprache der Welt ist ein Lächeln“, „Warte nicht auf große Wunder, sonst verpasst Du die kleinen“, „Vergiss nicht, glücklich zu sein“ – es ist scheinbar ein beliebter Trend geworden, die eigene Wohnung mit motivierenden Holz- oder Metallschildchen zu dekorieren, vor allem, wenn sie in Vintage-Optik und mit schwungvoller Handschrift gestaltet sind.

Was für die einen die spießbürgerliche Krone des Kitsch, ist für die anderen ein willkommener Stimmungsheber – und vielleicht sogar ein notwendiger. Denn vielen Menschen fällt es gar nicht so leicht, mit einem gewissen Grundoptimismus durchs Leben zu gehen und sich um die Gesundheit der eigenen Seele zu kümmern. Und so ist es – ganz egal, ob pro oder contra Motivationsschild – für uns alle nicht das Schlechteste, hin und wieder ein kleines bisschen Selbstfürsorge zu betreiben.

Das gilt auch für den 39-jährigen Musiker und Produzenten Tom Hessler. Seit fast zwei Jahrzehnten ist er Frontmann der Hamburger Indie-Band „Fotos“, gerade hat er unter dem Namen „Der Assistent“ sein erstes und gleichnamiges Soloalbum veröffentlicht. Und diese Platte, das darf man so sagen, ist in Toms Leben nicht weniger als der bisher größte Akt von Selfcare – musikalisch wie privat.

Denn erstens hat sich Tom mit seinem kuscheligen Dub-Sound, in dem er feine Jazzelemente mit unaufdringlichen Elektrobeats und entspannten Retromelodien mischt, den großen Traum erfüllt, genau die Musik zu machen, die er selbst am liebsten hören würde – insbesondere, wenn er zuhause auf dem Sofa liegt und die Gedanken kreisen lässt. Und zweitens, und das ist vielleicht der noch viel wichtigere Aspekt, verarbeitet „Der Assistent“ mit diesem Album eine Zeit, die zu den dunkelsten seines Lebens gehörte, wie er uns im Interview verraten wird.

Wer sich über die Jahre ein bisschen mit den „Fotos“ beschäftigt hat, für den dürfte es keine Neuigkeit sein, dass Tom Hessler ein richtig guter Musiker und Texteschreiber ist. Trotzdem lohnt auch für diese Menschen ein akustischer Blick in das Soloalbum, denn diese Platte – und damit wollen wir uns weder anbiedern noch in irgendeiner Form übertreiben – ist einfach verdammt gut. Oder besser gesagt: tut verdammt gut. Und das einerseits, weil sie uns Hörer:innen auf der Textebene von vorne bis hinten das Gefühl gibt, sie in der Tiefe ihres Herzens zu verstehen. Und andererseits, weil sie uns musikalisch in eine große Portion Zuckerwatte packt, ohne dabei jemals ins Kitschige oder Oberflächliche abzudriften.

In einem Akt großer kulinarischer Selbstfürsorge haben wir Tom Hessler vor kurzem in seiner Berliner Wohnung zum Interview bei Kaffee und Sahnetorte getroffen. Ein Schild mit Motivationsspruch haben wir dort übrigens nicht entdeckt.

»Ich gehöre nicht zu den Leuten, die ein großes Interesse daran haben, noch mal jung zu sein.«

MYP Magazine:
Tom, vor einigen Monaten hast Du auf Instagram ein Kinderfoto von Dir gepostet, dazu folgenden Hinweis: „Der Assistent hat gut lachen: Nach einem mysteriösen Kuraufenthalt kehrt er auffällig erholt zurück ins digitale Rampenlicht. Seine vierte Singleauskopplung ist eine demütige Verneigung vor den Filmmusik-Meistern der siebziger und achtziger Jahre.“ Bist Du jemand, der gerne in der eigenen Vergangenheit schwelgt?

Tom Hessler: (lacht)
Dieses Foto ist mir begegnet, als ich letztes Jahr zu Besuch bei meiner Familie in Bayern war. Ich fand es lustig, das auf Insta zu posten, denn das Bild hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Cover meines neuen Albums. Daraus habe ich die Story gesponnen, dass ich einen verjüngenden Kuraufenthalt hinter mir habe.
Generell gehöre ich aber nicht zu den Leuten, die ein großes Interesse daran haben, noch mal jung zu sein. Meine Kindheit und Jugend waren alles andere als die Highlights meines Lebens. Ich war immer ein sehr introvertierter Junge und fand es irgendwie bedrückend, auf einem bayerischen Dorf aufzuwachsen. Und auch später auf dem Gymnasium habe ich nie zu den coolen, sportinteressierten Zeitgenossen gehört. Vielmehr war ich ein Sensibelchen mit Nerd-Interessen, dem es schwerfiel, sich da einzugliedern. Alles in allem war das eine unangenehme Lebenszeit. Wenn ich heute Kinderfotos von mir sehe, denke ich daher immer: Wie gut, dass das vorbei ist.

»Mein kleiner Finger war hin. Wenn man professionell Musik macht, ist das eine ziemlich harte Diagnose.«

MYP Magazine:
Dein Debütalbum „Der Assistent“ ist ebenfalls in einer schwierigen Zeit Deines Lebens entstanden. Dürfen wir fragen, was genau passiert ist?

Tom Hessler:
Klar! Ist doch schön, wenn man was zu erzählen hat und nicht nur den Pressetext runterrockt. Passiert ist Folgendes: Mitte 2020 habe ich mir selbst – in einem Anflug von Wahnsinn – mit einem Messer eine schwere Handverletzung zugefügt, nachdem sich meine Freundin nach elf Jahren von mir getrennt hatte. Was folgte, war nicht nur emotional eine katastrophale Zeit, sondern auch körperlich. Ich musste mich mehreren OPs unterziehen, hatte wahnsinnige Schmerzen und musste über Monate zur Ergotherapie. Doch weder die Operationen noch die Krankengymnastik haben am Ende etwas gebracht. Mein kleiner Finger war hin und damit die vollständige Funktionsfähigkeit meiner Hand nicht mehr herzustellen. Wenn man professionell Musik macht, ist das eine ziemlich harte Diagnose. Und on top kam in meinem Fall noch ein extremes Einsamkeitsgefühl dazu, mitten im Corona-Winter in Berlin. Das war wirklich keine gute Zeit. Das Einzige, was mir blieb, war die Idee, eine sehr traurige und reflektierende Platte über das alles zu schreiben – die aber erst mal niemand haben wollte…

»Das, was man in extremen Trauer- und Umbruchphasen fabriziert, ist selten etwas, mit dem man sich später noch identifizieren will.«

MYP Magazine:
Inwiefern?

Tom Hessler:
Ich hatte mein Debütalbum ursprünglich ganz anders angelegt, vor allem die Musik war viel poppiger. Doch dieses Konzept fiel bei etlichen Labels durch, ich kassierte nur Absagen. Das brachte mich zu der Erkenntnis, das Ganze noch mal grundsätzlich zu überdenken. Natürlich hätte ich das Album auch einfach so rausbringen können. Aber ich hatte das Gefühl, dass es vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben wichtig sein könnte, eine Ehrenrunde zu drehen und erneut in mich zu gehen. Denn das, was man in extremen Trauer- und Umbruchphasen fabriziert, ist selten etwas, mit dem man sich später noch identifizieren will.
Zuallererst habe ich den Song „W“ überarbeitet und da eine Art Bruch reingebracht – ein Dementi, das durch die Luftigkeit in der Musik auf der einen Seite und die schweren Texte auf der anderen Seite entsteht. Damit hatte ich plötzlich eine Vision vor Augen, wie auch der Rest der Platte klingen könnte. Und so habe ich nicht nur alle neuen, sondern auch die bereits existierenden Songs durch den Dub-Wolf gejagt. Das war genau das, was der Platte gefehlt hatte…

MYP Magazine:
… und womit Du dich auch sehr stark vom „Fotos“-Sound löst.

Tom Hessler:
Na, Gott sei Dank! Ich dachte immer: Wenn ich mal eine Soloplatte mache, dann will ich gerne raus aus diesem „Fotos“-Ding – nicht nur, weil mir das musikalisch guttut. Wenn man Teil einer Band wie „Fotos“ ist, die gleich zu Beginn einem riesigen Hype ausgesetzt war, der sich aber nie kommerziell erfüllt hat, gilt man in der Musikbranche mehr oder weniger als verbrannt. Entweder, man ist Bono, der seine goldene Zeit hatte und dafür von der Masse geliebt wird. Oder man schafft es eben nicht und ist der, bei dem alle denken: „Oh Gott, das ist der Typ, der 2006 mal dieses „Giganten“ gesungen hat. Lass mich damit bloß in Ruhe!“

»Das Letzte, was ich machen will, ist eine kommerzielle, Stadionrock-taugliche Version von mir selbst zu erschaffen.«

MYP Magazine:
Hey, nichts gegen die erste „Fotos“-Platte!

Tom Hessler: (lacht)
Nein, natürlich nicht. Trotzdem wollte ich mich persönlich davon schon seit vielen Jahren emanzipieren. Aber mir war immer klar: Das Letzte, was ich machen will, ist eine kommerzielle, Stadionrock-taugliche Version von mir selbst zu erschaffen und mit Songs von etablierten Hitschreiber:innen noch mal Karriere zu machen – und das am besten noch unter meinem Klarnamen: „Tom Hessler macht jetzt erdigen Rock für alle.“ So etwas kann ich einfach nicht, auch wenn ich ein paar Mal darüber nachgedacht habe. Aber ich persönlich habe es am Ende immer bereut, wenn ich in meiner „Karriere“ solche Gedanken zugelassen habe. Stattdessen hat sich mir der Satz eines Freundes eingebrannt, der bereits vor vielen Jahren meinte: „Mach doch mal was, was du dir selbst anhören würdest.“

»Die Frage ist nicht, was mich am meisten inspiriert hat in dieser Zeit. Sondern, was mir am meisten Trost gespendet hat.«

MYP Magazine:
Was hörst Du dir selbst denn so an? Welche Musik hat Dich zu Deinem Soloalbum inspiriert?

Tom Hessler:
Tatsächlich gab es dieses eine Album, das ich 2020 ständig gehört habe, als ich in einer Art Notfall-Modus war und nicht wusste, wie ich mir helfen sollte – im dunklen Dezember ganz allein zuhause sitzend, mit dieser halb aufgeschnittenen Hand und all den Schmerzen. In dieser Zeit habe ich oft nichts anderes getan, als stundenlang die „The Keyboard King“-Platte von Jackie Mittoo zu lauschen, jenem legendären Keyboard-King des ebenso legendären Plattenlabels Studio One. Auf dem Album gibt es einen Song, der mich total mitnimmt: „You’ll never find“. Jackie Mittoo spielt da eine Hammondorgel als Fundament, darunter liegen ein paar weiche, leichte Dub-Grooves und ab und zu kommt eine zarte Stimme angeflogen und verschwindet wieder. Zu diesem Song habe ich immer wieder ganz allein in meiner Wohnung geschwoft. Und auf genau diese emotionalen Momente habe ich mich beim Schreiben meines eigenen Albums besonnen. Die Frage ist daher nicht, was mich am meisten inspiriert hat in dieser Zeit. Sondern, was mir am meisten Trost gespendet hat. Und das war definitiv dieses Lied.

»Für mich ist Musik immer der letzte Zufluchtsort.«

MYP Magazine:
Man unterschätzt doch allzu oft, welches Trostpotenzial Musik haben kann.

Tom Hessler:
Ich unterschätze das nicht. Für mich ist das der Grund, warum ich überhaupt Musik mache. Denn in meiner dunkelsten Zeit vor dieser dunkelsten Zeit, also während meiner Pubertät auf dem Dorf, da hat Musik das für mich zum ersten Mal geleistet und lässt mich seither nicht mehr los. Für mich ist Musik immer der letzte Zufluchtsort, in den ich mich fallen lassen kann, wenn es wirklich gar nicht mehr geht. Und das ist auch der Grund, warum ich mein Leben der Musik widme, denn damit kann ich anderen genau das zurückgeben, was ich selbst dadurch erfahren darf.

»Je mehr Zeit und Aufmerksamkeit den Menschen genommen wird, desto weniger aufnahmefähig sind sie für die guten Dinge.«

MYP Magazine:
Auch dieses Zurückgeben ist Dir bereits mit etlichen „Fotos“-Songs gelungen – wir hoffen, Du kannst das Kompliment annehmen.

Tom Hessler:
Vielen Dank! Aber egal, ob es um „Fotos“, „Der Assistent“ oder andere Künstler:innen geht: Für uns alle wird es nicht einfacher, unsere Musik in die Welt hinauszutragen, denn der Umgang mit Kunst oder künstlerischem Schaffen hat sich mit den Jahren grundlegend verändert. Heute buhlen im Wesentlichen große Tech-Konzerne um die Zeit und Aufmerksamkeit der Menschen, um damit schnell viel Geld zu verdienen. Und je mehr Zeit und Aufmerksamkeit den Menschen genommen wird, desto weniger aufnahmefähig sind sie für die guten Dinge: für gute Fotografie, gute Musik, gute Filme – oder kurz gesagt für alles, was ein bisschen langsamer erzählt ist und mehr Muse braucht. Großen Namen wie Bob Dylan oder den Rolling Stones fällt es da natürlich einfacher, die Leute bei sich zu halten. Aber Künstler:innen, die nicht diesen Bekanntheitsgrad haben und trotzdem gute, ernsthafte Musik machen, rennen da mehr oder weniger gegen die Wand.

MYP Magazine:
Apropos gute Musik: Was genau hat Dich musikalisch am Dub gereizt?

Tom Hessler:
Man muss wissen: Dub wurde in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren in Jamaika erfunden. Damals gab es Block-Partys, mit fetten Soundsystemen. Die eher poppigen, radiotauglichen Reggae-Produktionen jener Zeit waren für diese Partys allerdings eher unpassend. Dub-Legenden wie King Tubby und Lee „Scratch“ Perry haben daher einfach die existierenden Reggae-Bänder genommen und das alles deutlich dancier und trippier abgemischt. Diese simplen, aber effektiven psychedelischen Klangbearbeitungs-Ideen, die damals entwickelt wurden, sind bis heute fresh geblieben – und holen mich total ab.

»Das Letzte, was ich sein will, ist ein mittelalter, weißer, aus Bayern stammender Musiker, der jetzt irgendwie Dub-Reggae macht.«

MYP Magazine:
Deinem Kollegen Peter Fox wurde letztes Jahr kulturelle Aneignung vorgeworfen, nachdem er in seinem Song „Zukunft Pink“ Beats benutzt hatte, die aus dem afrikanischen Genre Amapiano stammen. Hattest Du Sorge, Dich mit Deinem neuen Album ebenfalls angreifbar zu machen?

Tom Hessler:
Auf jeden Fall. Ich habe mich mit dieser Thematik sehr intensiv auseinandergesetzt, denn das Letzte, was ich sein will, ist ein mittelalter, weißer, aus Bayern stammender Musiker, der jetzt irgendwie Dub-Reggae macht. Aus diesem Grund habe ich mich erstens sehr langsam und vorsichtig jenen Tools genähert, die in der Dub-Musik verwendet werden. Und zweitens war es mir immer wichtig, mit meinem eigenen Sound sowie der Art, wie ich mit Musik umgehe, ein entsprechendes Gegengewicht zu schaffen. Ganz am Ende erst habe ich mich tatsächlich getraut, diese Reggae-Offbeats auf den Keyboards einzubinden, weil ich lange dachte, das dürfe man auf keinen Fall. Doch als ich diese Technik bei „W“ angewendet habe, hat es plötzlich klick gemacht, und ich wusste: Fuck, genau das hat es gebraucht.
In meinem speziellen Fall denke ich daher, es ist okay. Der Dub in meinen Songs ist in erster Linie ein Groove-Element, das wie ein Zitat funktioniert. Das Dubbing ist – ohne die performativen Inhalte jamaikanischer Roots- und Rastafari-Culture – vor allem eine Produktionstechnik. Es geht hier um den Prozess, Einzelspuren bestehender Produktionen mit gewissen Studio-Tricks umzugestalten und dadurch neue Horizonte zu öffnen. Und das ist erst mal Creative Commons, wie es so schön heißt.

»Musik kann im besten Fall etwas bedeuten. Zumindest mehr als einfach nur massives Frequenz-Massaker aus KissFM.«

MYP Magazine:
Der Song „W“ wurde auf Spotify schon über 130.000 Mal gespielt, Du scheinst damit einen gewissen Nerv zu treffen. Wie geht es Dir damit?

Tom Hessler:
130.000 Plays sind nicht viel. 130 Millionen sind viel auf Spotify. 130.000 Mal gespielt entspricht in dem Fall etwa 200 Euro Einnahmen, denn Spotify vergütet all jene Plays noch schlechter, die im sogenannten „Discovery-Mode“ generiert werden – also Musik, die dir Spotify auf Basis deiner individuellen und algorithmisch erfassten Hörgewohnheiten automatisch kredenzt. Wenn meine Musik dagegen im Radio läuft, erhalte ich pro gespielten Song Geld von der GEMA, da meine Arbeit kommerziell genutzt wird. Würde ein Radiosender so funktionieren wie Spotify, würde er einen Teil meiner Einnahmen zurückverlangen – mit dem Argument, dass ich durch häufigere Plays ja ein breiteres Publikum erreichen würde. Gleichzeitig erhalte ich selbst aber nichts dafür, dass der Sender Geld mit Werbung oder aus Rundfunkbeiträgen verdient. Als Monopolist kann Spotify die Regeln selbst gestalten.

MYP Magazine:
Ok, davon kann man sich nichts kaufen.

Tom Hessler:
Doch, doch! Für 200 Euro kann man ein Drittel der Miete zahlen in einer nicht ganz so teuren Wohnung. Aber ich will darüber gar nicht nachdenken, das macht mir nur noch mehr Angst. Ich kenne die Situationen allzu gut, in denen man nicht weiß, wie es weitergehen soll. Oder in denen man sich fragt, ob man beim Arbeitsamt nicht doch eine Umschulung beantragen sollte. Solche Gedanken tun weh, vor allem, wenn Musik das Heiligste ist, was man im Leben hat – und man versucht, diese Musik vor jeder Form von Kommerzialisierung zu beschützen. Denn genau darum geht’s ja: Musik kann im besten Fall etwas bedeuten. Zumindest mehr als einfach nur massives Frequenz-Massaker aus KissFM, während man im Uber sitzt.

»Für mich war es am schwierigsten, nicht selbstmitleidig zu sein.«

MYP Magazine:
Würde Deine Musik nichts bedeuten, wärst Du vor Kurzem kaum bei den geschätzten Kolleg:innen von „Radio 1“ zu Gast gewesen, wo Du ausführlich Dein neues Album vorstellen durftest. In der Anmoderation zum Interview sagte die Moderatorin über Deine Platte: „Ich habe eine Welt betreten, die aus Melancholie und Einsamkeit ein ganz, ganz eigenes Gefühl kreiert und einen Soundtrack macht. […] Das ist sehr, sehr besondere Musik.“ War genau das Deine Intention?

Tom Hessler:
Dass sie das so beschrieben hat, hat mich sehr berührt. Und ich finde, das trifft den Nagel auf den Kopf. Aber wie gut so etwas am Ende gelingt, kann man sich als Musiker nicht wirklich vornehmen. Interessanterweise passt die Beschreibung auch gut zu dem, was während des Arbeitsprozesses passiert ist: Denn für mich war es am schwierigsten, beim Schreiben nicht selbstmitleidig zu sein. Das war ich schon viel zu oft in meinen „Fotos“-Songs, wenn ich mal wieder versucht habe, meine narzisstischen Leiden zu vertonen. Diesmal ging es aber vielmehr darum, mir selbst zuzuhören und meine eigenen Gefühle wahrzunehmen, um daraus einen ganz persönlichen Sound zu kreieren.

»Der Text kann genauso gut bedeuten, dass man einfach nur zu wenig Sport macht. Oder zu viel säuft. Oder ständig mit jemanden ins Bett geht, der nicht gut für einen ist.«

MYP Magazine:
Im Song „W“ sprichst Du auf Textseite von Selbstverletzung und mangelnder Selbstfürsorge, musikalisch packst Du dieses schwere Thema dagegen in Zuckerwatte. Ist das für Dich eine besondere Form, um Deine Messerattacke auf Dich selbst zu verarbeiten?

Tom Hessler:
Nein. Als ich den Text geschrieben habe, wollte ich mich etwas ganz anderem nähern – nämlich meiner Wut. Ich habe super lange gebraucht, um überhaupt herauszufinden, dass ich wütend bin, weil ich das immer so arg in mich hineingefressen habe. Diese Wut hat ihren Ursprung in entscheidenden Phasen meiner Kindheit und Jugend, in denen ich das Gefühl hatte, nicht gesehen oder gehört zu werden. Dass sich diese Wut am Ende auch gegen mich selbst richtet, war eine logische Konsequenz, die eher zufällig zu den eher allgemein gehaltenen Lyrics passt. Der Text kann genauso gut bedeuten, dass man einfach nur zu wenig Sport macht. Oder zu viel säuft. Oder ständig mit jemanden ins Bett geht, der nicht gut für einen ist. Um all das geht es in dem Lied.
Trotzdem habe ich gemerkt: Wenn man dieses Thema so direkt adressiert, finden viele Leute das immer noch ganz schön cringe – das ist einfach etwas, das einem ganz schön nahegehen kann. Selbst bei mir persönlich konnte ich diesen Text überhaupt erst durchbekommen, als die Musik dieses Lässige und Chillige bekommen hat. (singt die Zeile „Ich war nicht gut zu mir“) Das ist so soulig und berührend leicht!

»Ich wollte einfach nicht verraten, worum es inhaltlich geht, bevor man nicht die Musik gehört hat.«

MYP Magazine:
Warum hast Du den Songtitel codiert, indem Du dem Weh das e und h gestohlen hast?

Tom Hessler:
Die Musik sollte ein Gegengewicht schaffen zu der Schwere des Textes. Und das Gleiche ist dem Titel passiert. Ich wollte nicht verraten, worum es inhaltlich geht, bevor man nicht die Musik gehört hat. Es ist ja auch wirklich lustig, man sieht den Buchstaben und denkt sich: Hä?! Und dann geht das Lied los, irgendeiner singt „W“ und man weiß überhaupt nicht, was hier passiert – bis die erste Zeile kommt, bei der es dann plötzlich um heftigen Stoff geht.

MYP Magazine:
In dem Video zum Song „W“ erweiterst Du den Weh-Begriff teils auf lustige, teils auf sarkastische, teils auf nachdenkliche Art und Weise: Wadenkrampf, Work-Life-Balance, Warteschlange, Wutbürger, Waffenlieferung.

Tom Hessler: (lacht)
Das war nicht meine Idee, sondern die des genialen Regisseurs Christopher Marquez, der mit dem Video eine zusätzliche Polarisierungsebene eingezogen hat. Es gibt Menschen in meinem Umfeld, die den Song wirklich sehr berührend finden und eigentlich mit Ironie recht gut umgehen können, aber sich in dem Fall nicht sicher waren, ob das Video nicht viel zu distanziert ist zum eigentlichen Thema. Aber ich finde, der Clip hat genau die richtige Balance aus Schwere und Leichtigkeit.

»Wenn ich an damals zurückdenke, sehe ich braunes Eichen-Furnier und Flokati-Teppiche.«

MYP Magazine:
Dein Album erinnert mit seinem dahinplätschernden Sound ein wenig an die Gemütlichkeit und Spießigkeit der alten Bundesrepublik. Was hat Dich als Kind und Jugendlicher popkulturell geprägt? Mit welchen Filmen, Serien und mit welcher Musik bist Du aufgewachsen?

Tom Hessler:
Als ich klein war, gab es im Fernsehen nur drei Kanäle und nachmittags irgendwie zwei, drei Formate. Wenn ich an damals zurückdenke, sehe ich braunes Eichen-Furnier und Flokati-Teppiche. Und ich erinnere mich an Serien wie „Wickie und die starken Männer“ oder „Es war einmal das Leben“ – und natürlich ganz viel Easy-Listening-Library-Musik.

MYP Magazine:
Und James Last.

Tom Hessler:
Ja, den gab es auf jeden Fall auch. Ich finde, gerade deshalb funktionieren auch meine Dub-Reggae-Zitate so gut, weil ihnen diese verbrämten Library-Harmonien entgegengesetzt werden – wodurch klar ist, dass da keiner ernsthaft Reggae-Musik machen will. Die ganze Klangwelt ist super assoziativ und erinnert an einen trippy Traum, aus dem man plötzlich erwacht und sich denkt: What the fuck?!

MYP Magazine:
In den letzten Jahren haben unzählige TV- und Streaming-Formate die siebziger und achtziger Jahre wiederaufleben lassen. Gibt es zurzeit Filme oder Serien, bei denen Du dich in Deiner eigenen Nostalgie emotional abgeholt fühlst?

Tom Hessler:
Ja, aber keine neuen. Ich schaue gerade zum wiederholten Mal „Kir Royal“ und „Monaco Franze“. Diese Serien von Helmut Dietl beziehungsweise Patrick Süskind von Anfang, Mitte der Achtziger sind einfach richtig gut und irgendwie immer noch aktuell, denn dort werden Themen behandelt, die uns auch heute noch als Gesellschaft lähmen und belasten.

»Es wäre für mich ein großer Fortschritt, wenn ich gewisse Graustufen zulassen würde.«

MYP Magazine:
Du hast Dich in den letzten Jahren in Deinen Texten – auch bei Fotos – immer wieder mit existenziellen Fragen auseinandergesetzt. Zum Beispiel in der Bridge von „Melodie des Todes“:

Wer weiß schon, dass er glücklich ist?
Ob Liebe stärker als das Sterben ist?
Vergangenheit nicht mal vergangen ist?
Ich weiß, dass du mich nie vergisst

Auch auf Deinem Soloalbum stellst Du solche Fragen, etwa im Song „Mann ohne Vergangenheit“, in dem Du fragst: „Wer bin ich?“ Hast Du darauf im Laufe der Jahre eine Antwort gefunden, vielleicht sogar mit dieser Platte?

Tom Hessler:
Ich habe keine Ahnung, ob man jemals wirklich weiß, wer man ist. Mir würde es schon reichen, wenn ich nicht jedes Mal, wenn ich eine neue Platte herausgebracht habe, wieder alles komplett in Frage stellen würde. Und es wäre für mich auch ein großer Fortschritt, wenn ich gewisse Graustufen zulassen würde, im Sinne von: Ja, okay, das war sicherlich nicht großartig. Aber vielleicht war es auch nicht scheiße und in Ansätzen gut. Ich habe in solchen Situationen viel zu oft die Kettensäge oder das Beil angelegt. Allein der Satz „Es hat nicht funktioniert“, was heißt das denn überhaupt? Dass ich gescheitert bin, weil ich keinen Grammy bekommen habe? Ich habe so oft in meinem Leben die Dinge einfach über den Haufen geworfen und alles damit noch schlimmer gemacht. Dementsprechend ist die Tatsache, dass ich mit meinem Soloalbum eine freiwillige Ehrenrunde gedreht habe, ein riesiger Schritt für mich – mal ganz davon abgesehen, dass ich überglücklich bin mit dem Endergebnis. Diese Erfahrung kann ich definitiv mitnehmen für das nächste Mal, wenn ich mir mit etwas nicht sicher bin oder das Gefühl habe, Ablehnung zu erfahren. Oder wenn ich mir Fragen stelle wie: Will ich das? Wer bin ich eigentlich?
Ich glaube, mittlerweile habe ich gelernt, in diesen Momenten einfach zu sagen: Lass dir doch noch ein bisschen Zeit, ein bisschen Luft. Wenn du es jetzt noch nicht weißt, weißt du es sicher irgendwann anders. Es muss nicht jetzt entschieden werden.

»Ich habe mich fast mein gesamtes Leben lang an der Frage aufgehängt, was die Leute sagen.«

MYP Magazine:
In „Das süße Leben“, dem letzten Track des Albums, schaust Du sehr weit nach vorne, genauer gesagt auf Deinen Lebensabend…

Tom Hessler:
Nein, zum vermeintlichen Ende des Assistenten. Das ist eine Filmszene! Man sieht da richtig, wie die Kamera rauszoomt und der Assistent im Treibsand versinkt. Und man denkt sich: Ist das jetzt wirklich das Ende des Assistenten? Oder kommt er nochmal wieder?

MYP Magazine:
Du singst:

Am Ende bin ich körperlos,
ich weiß, dass mir die Stunde schlägt,
doch es hat sich gelohnt

Dazu hören wir ein sanftes Meeresrauschen, zu dem man auch verdammt gut einschlafen könnte, wenn man nachts mal wieder wachliegt. Ist dieses Album am Ende für Dich der bisher größte Akt von Selbstfürsorge in Deinem bisherigen Leben?

Tom Hessler: (lächelt)
Ja, das kann man tatsächlich so sagen, wenn man mal von dem enormen finanziellen Risiko absieht, das ich mit der Realisation dieser Platte eingegangen bin. Aber dass ich überhaupt den Mut habe, mir das zu gönnen und dabei einfach zu sagen: Es sind doch eh verrückte Zeiten, wer weiß schon, wie lange man so etwas noch machen kann, also warum nicht noch mal sich gönnen? Das für mich selbst zu formulieren und alles andere hintanzustellen, war mir einfach wichtig. Ich habe mich fast mein gesamtes Leben lang an der Frage aufgehängt, was die Leute sagen. Oder warum ich nicht die Aufmerksamkeit bekomme, die anderen Künstler:innen zuteilwird. Aber jetzt habe ich zum ersten Mal das Gefühl, ich mache das wirklich für mich.

»Dieser Assistent ist jetzt dein Begleiter, er macht es möglich, dass du frei agieren kannst.«

MYP Magazine:
Bleibt zum Schluss die Frage, was eigentlich hinter dem Namen „Der Assistent“ steckt.

Tom Hessler:
Aus Therapieprozessen kennt man es vielleicht, dass man manchmal unbewusst einen guten Gedanken hat und den beiläufig im Gespräch formuliert. Wenn die Therapeutin oder der Therapeut dann direkt nachhakt und fragt, woher das gerade kam, ist es oft so, dass man absolut blank ist und keine Ahnung hat. Mit dem Namen „Der Assistent“ war das ähnlich. Ich glaube, da wollte mir mein Unterbewusstsein etwas sagen. Und zwar: Du brauchst hier gerade einen eigenen Assistenten, der das Problem wirklich löst und dir hilft, einen neuen Kanal zu öffnen. Einen Assistenten, der dich dabei unterstützt, diese Musik zu machen, auf die du einfach gerade Lust hast. Egal, wo du herkommst. Egal, welche Musik du vorher gemacht hast. Und egal, was die Leute sagen und denken. Dieser Assistent ist jetzt dein Begleiter, er macht es möglich, dass du frei agieren kannst. Ich finde, das ist ein wunderbarer Gedanke.


Simon Morzé

Interview — Simon Morzé

»Dieser Film schafft es, dass man intensiv über seine eigene Familie nachdenkt«

Das Drama »Der Fuchs« erzählt die wahre Geschichte von Franz Streitberger, Jahrgang 1917, der als Kind an einen reichen Bauern verkauft wurde und sich als Soldat im Zweiten Weltkrieg rührend um einen verletzten Fuchswelpen kümmert. In der Hauptrolle des bewegenden Films ist der 27-jährige Simon Morzé zu sehen. Mit seinem einfühlsamen, nahbaren und mitreißenden Spiel hat er in Österreich bereits 120.000 Menschen ins Kino gelockt, nun ist der Film auch in Deutschland gestartet. Ein Interview über Füchse am Set, die Kraft von Vergebung und unzählige Kinderschicksale, die heute weitestgehend in Vergessenheit geraten sind.

15. April 2023 — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotografie: Steven Lüdtke

Kindersklaven mitten in Europa? Gibt’s nicht! Doch, gibt es – beziehungsweise gab es, etwa im Alpenraum und keine hundert Jahre her. War eine Familie in wirtschaftliche Not geraten, kam es immer wieder vor, dass sie eines oder mehrere ihrer Kinder weggeben musste, wenn sie diese nicht mehr ernähren konnte.

Die sogenannten Annehmkinder – auch Ziehkinder genannt – landeten meist bei reichen Bauern in der Umgebung. Diese konnten ihnen zwar eine warme Mahlzeit und ein Dach über dem Kopf bieten, aber sie ließen die Minderjährigen auch oft unter härtesten Bedingungen schuften. Dabei erlitten die Kinder nicht nur massiven körperlichen Missbrauch, sondern auch schwerste psychische Traumata.

Eines dieser Annehmkinder war Franz Streitberger, Jahrgang 1917, aus dem österreichischen Pinzgau, einer landwirtschaftlich geprägten Region im heutigen Bundesland Salzburg. Franz war das jüngste Kind einer 13-köpfigen, bitterarmen Bergbauernfamilie, die – zusätzlich zu ihrer ohnehin schon prekären Lage – mit der wirtschaftlichen Not in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg zu kämpfen hatte. Wie in vielen anderen Regionen Österreichs herrschten damals auch im Pinzgau Arbeitslosigkeit, Elend und Hunger – und die Streitberges wussten nicht mehr, wie sie ihre zehn Kinder durchbringen sollten. So wurde der kleine Franz im Alter von nur sieben Jahren weggegeben, seine Familie sah er nie wieder.

Die wahre Geschichte von Franz Streitberger hat sein Urenkel, Regisseur Adrian Goiginger, nun verfilmt. Im Drama „Der Fuchs“, das Mitte Januar in den österreichischen Kinos gestartet ist und seit dem 13. April auch in Deutschland läuft, zeichnet er das Leben seines Urgroßvaters nach:

Mitte der 1930er Jahre meldet sich Franz freiwillig beim Österreichischen Bundesheer und dient dort als Motorradkurier. Nach dem „Anschluss“ an das Deutsche Reich wird er in die Wehrmacht eingegliedert und zu Beginn des Zweiten Weltkriegs an der Westfront stationiert. Dort findet der introvertierte junge Soldat einen verwundeten Fuchswelpen, den er wie sein eigenes Kind versorgt und mit in das besetzte Frankreich nimmt. Durch diese sonderbare Freundschaft mit dem Tier holt ihn seine eigene Vergangenheit als verstoßener Bergbauernsohn langsam ein, vor der er fast sein ganzes Leben lang davongelaufen ist.

Verkörpert wird der fiktionale Franz Streitberger von Simon Morzé. Der vielfach ausgezeichnete Wiener Schauspieler hat sich monatelang auf die Rolle vorbereitet und beschreibt mit seiner einfühlsamen, nahbaren und mitreißenden Darstellung den vorläufigen Höhepunkt seiner noch jungen schauspielerischen Karriere. Wer den Film gesehen hat, weiß, dass das keine Übertreibung ist. Und gesehen haben ihn viele: 120.000 Menschen in den ersten zwölf Wochen, für die Kinolandschaft in Österreich eine beachtliche Zahl.

Doch nicht nur das. Der Film habe auch endlich eine Debatte über ein Thema in Gang gesetzt, das in der österreichischen Gesellschaft bisher kaum diskutiert worden sei: die tragische Geschichte der Annehmkinder, die zu Tausenden von ihren Familien getrennt wurden – oder vielleicht zu Zehntausenden, genaue Zahlen gebe es nicht. So jedenfalls berichtet es Historiker Rudolf Leo, der die Dreharbeiten wissenschaftlich begleitet hat. Er sagt, „Der Fuchs“ sorge aktuell in Österreich dafür, dass viele Menschen angefangen hätten, Ahnenforschung zu betreiben. Sie wollten herausfinden, ob es auch in ihrer Familie ein solches Schicksal gegeben habe. Eine Suche, die nicht selten zur Neubetrachtung der eigenen Identität führe.

Auch für Hauptdarsteller Simon Morzé hat der Film eine neue Perspektive auf die eigene Familiengeschichte eröffnet, wie er uns im folgenden Gespräch erzählen wird. Mitte Februar haben wir den 27-Jährigen in Berlin zum Interview und Fotoshooting getroffen.

»Für mich war es goldwert, den realen Franz auf diesem Wege kennenzulernen.«

MYP Magazine:
Simon, Du bist für den Film „Der Fuchs“ in die Rolle des Urgroßvaters von Regisseur Adrian Goiginger geschlüpft. Was weißt Du über das Leben des realen Franz Streitberger?

Simon Morzé:
Franz wurde am 2. April 1917 geboren und musste schon von klein auf – wie seine zehn Geschwister – auf dem Hof der Eltern mitarbeiten. Das war für die damalige Zeit zwar nichts Ungewöhnliches, aber für so einen kleinen Jungen dennoch ein überaus karges und brutales Umfeld, in dem er aufgewachsen ist. Da die Familie Franz kaum ernähren konnte, entschied sich sein Vater dazu, ihn im Alter von sieben Jahren an einen reichen Bauern abzugeben – er hat ihn regelrecht verkauft. Bei diesem Bauern hat er den Rest seiner Kindheit und Jugend verbringen und als Knecht arbeiten müssen. Auch das war damals kein seltenes Schicksal.
Mitte der 1930er Jahre meldete sich Franz freiwillig zur Armee und kämpfte dann als Soldat im Zweiten Weltkrieg. 1940, als er an der Grenze zu Belgien stationiert war, fand er im Wald einen verletzten Fuchswelpen, den er an sich genommen hat – und von dem er sich wieder trennen musste, als er ein Jahr später an die Ostfront versetzt wurde.

MYP Magazine:
Wie hast Du dich auf diese Rolle vorbereitet?

Simon Morzé:
Da Franz Streitberger tatsächlich existiert hat, gab es sehr viel Material über ihn – unzählige Fotos, aber auch O-Töne, denn Adrian hat schon als 14-Jähriger damit begonnen, mit seinem Urgroßvater über dessen Kindheit, Jugend und die Zeit im Krieg zu sprechen. Diese Gespräche hat er von Anfang an mit einem Diktiergerät aufgezeichnet. Für mich war es goldwert, den realen Franz auf diesem Wege kennenzulernen. Darüber hinaus habe ich viele Tagebücher aus der damaligen Zeit gelesen und mir diverse Dokumentationen angeschaut, um mich auch dem spezifischen historischen Kontext zu nähern.

»Ich finde, diese authentische Sprache ist für die Rolle essenziell.«

MYP Magazine:
Der Urgroßvater, der 2017 verstorben ist, hat einen sehr starken österreichischen Dialekt gesprochen…

Simon Morzé: (lacht)
Das ist Pinzgauerisch, ein alter, vor allem in der Region um Salzburg gesprochener Dialekt.

MYP Magazine:
Diesen Aspekt wollte Adrian Goiginger in seinem Film ebenfalls auf die fiktionale Figur Franz Streitberger übertragen. Wie hast Du dich mit dieser Sprache vertraut gemacht?

Simon Morzé:
Ich selbst komme aus Wien, daher war mir dieser Dialekt erst mal fremd. Aus diesem Grund habe ich viereinhalb Monate auf einem Bergbauernhof im Pinzgau verbracht, um mir diese Sprache anzueignen. Ich habe einfach dort im Betrieb mitgearbeitet und mich sehr viel mit den Menschen unterhalten, dadurch habe ich am Ende ganz gut in den Dialekt hineingefunden. Es war mir wichtig, das Pinzgauerisch so gut wie möglich zu beherrschen, denn ich finde, diese authentische Sprache ist für die Rolle essenziell.

»Ich portraitiere einen Menschen, der all das erlebt hat, was wir im Film zeigen.«

MYP Magazine:
Hast Du es als Bürde empfunden, dieser realen Person durch Dein Spiel gerecht zu werden?

Simon Morzé:
Nicht als Bürde, aber als eine gewisse Verantwortung, denn ich portraitiere einen Menschen, den es tatsächlich gegeben hat und der all das erlebt hat, was wir im Film zeigen. Adrian hat mir aber gleich zu Beginn des Projekts die Angst genommen und gesagt, er könne mir zwar viel vom echten Franz erzählen, aber es sei wichtig festzuhalten, dass es hier um einen fiktionalen Film gehe – und ein gemeinsames Projekt. Das hat mir sehr geholfen und mich bestärkt.

MYP Magazine:
Wie blickst Du insgesamt auf die Zusammenarbeit mit Regisseur Adrian Goiginger?

Simon Morzé:
Für mich war die Arbeit mit Adrian die beste, die ich je hatte. Ich habe bei diesem Projekt irrsinnig viel gelernt. Das Tolle an Adrian ist, dass er für seine Filme alles gibt. Das steckt das gesamte Team an und alle gehen an ihre Grenzen. Außerdem legt er sehr viel Wert auf Proben und auf eine intensive Vorbereitung – das ist weder in Österreich noch in Deutschland selbstverständlich. Für mich als Schauspieler war das ein Traum und eine enorm wichtige Erfahrung.

»Franz habe ich immer als eine Figur gesehen, die viel mit sich zu kämpfen hat.«

MYP Magazine:
Apropos Vorbereitung: Wie hast Du deinen Franz Streitberger angelegt? Was ist das für ein Charakter?

Simon Morzé:
Franz habe ich immer als eine Figur gesehen, die sehr in sich gekehrt ist und viel mit sich zu kämpfen hat. Immerhin stecken in ihm einige unverarbeitete Traumata, die immer wieder sein Handeln bestimmen. Daher habe ich ihn als einen Charakter angelegt, der keinen oder nur sehr beschränkten Zugang zu seinen Gefühlen hat. Mit Menschen tut sich Franz sehr schwer, er hält sie auf Abstand und vertraut ihnen nicht – wegen der vielen Verletzungen, die andere Menschen ihm im Laufe seines jungen Lebens zugefügt haben. Erst der kleine Fuchs bietet ihm eine Möglichkeit, wieder zu seinen Gefühlen zu finden. Durch die Fürsorge für das Tier entdeckt er, dass er überhaupt so etwas wie Zuneigung zeigen kann.

»In dem Moment, in dem er vom Vater weggegeben wird, wird Franz zutiefst an seiner Seele verletzt.«

MYP Magazine:
Die Figur macht über den gesamten Film eine enorme emotionale Entwicklung durch. Dabei scheint Franz vor allem eine große Wut in sich zu tragen.

Simon Morzé:
In der Tat! Am Anfang des Films ist Franz ein Kind, das mit positiven Gefühlen durch seine kleine Welt geht, auch wenn das Leben auf dem Bergbauernhof hart und karg ist. Doch in dem Moment, in dem er vom Vater weggegeben wird, bricht seine kleine Welt in sich zusammen und er wird zutiefst an seiner Seele verletzt. Durch die innere Verhärtung, die er daraus entwickelt, kommt ihm der Zugang zu seinen Gefühlen fast vollständig abhanden. Das, was in seiner Seele übrigbleibt, ist Wut. Und diese Wut ist die einzige Emotion, mit der er auf seine Umwelt reagieren kann, vor allem in Stresssituationen. Nur durch den kleinen Fuchs kann er letztendlich wieder sein Herz öffnen und zurück zu einer Gefühlswelt finden, die er nur aus frühen Kindertagen kennt, bevor er vom eigenen Vater weggegeben wurde.

»Sobald ein Fuchs am Set ist, ist es nicht leicht.«

MYP Magazine:
Der kleine Fuchs ist der heimliche Hauptdarsteller des Films. Wie hast Du den Dreh mit diesem Wildtier erlebt?

Simon Morzé: (lächelt)
Sobald ein Fuchs am Set ist, ist es nicht leicht. Füchse sind sehr scheu, daher war es immer besonders wichtig, das Set so klein wie möglich zu halten und vor allem laute Geräusche zu vermeiden. Beim Dreh hat sich so gut wie alles nach dem Fuchs gerichtet. Wenn er gerade gut drauf war, haben wir sofort die Kamera gepackt und losgelegt. Und wenn er eine Pause brauchte, haben auch wir pausiert. Man kann sagen, der Fuchs hat den Ton angegeben.

»Ich dachte mir: Die Szenen mit dem Fuchs muss man eigentlich animieren, anders geht das nicht.«

MYP Magazine:
Wie bereitet man sich als Schauspieler auf die Arbeit mit einem Fuchs vor?

Simon Morzé:
Als ich das Drehbuch zum ersten Mal gelesen habe, dachte ich mir: Die Szenen mit dem Fuchs muss man eigentlich animieren, anders geht das nicht. Das Tier muss im Film ja nicht nur die unterschiedlichsten Dinge tun, sondern wird auch noch in verschiedenen Altersstufen gezeigt. Aber Adrian ließ mich ganz trocken wissen: „Nein, das wird ein echter Fuchs sein.“ Oder besser gesagt Füchse, denn wir haben für diesen Film mit insgesamt sechs Tieren gearbeitet, mit vier Welpen und zwei großen Füchsen.
Um mit diesen scheuen Tieren von Anfang an eine enge Verbindung aufbauen zu können, habe ich sie bereits wenige Tage nach ihrer Geburt beim Tiertrainer besucht – zu einem Zeitpunkt, als ihre Augen noch geschlossen waren. Ich habe sehr viel Zeit mit ihnen verbracht, sie gefüttert, mit ihnen gespielt und bin sogar Motorrad mit ihnen gefahren. Nur so hat es für mich überhaupt funktionieren können, später am Set mit ihnen zu arbeiten und sie in mein Spiel mit einzubeziehen. Daher waren die schönsten Momente auch die Szenen mit dem jeweiligen Fuchs, denn allein für mich als Darsteller ist es ein absolutes Glücksgefühl, wenn eine komplexe Szene mit so einem Wildtier funktioniert – und man es schafft, das auch auf Kamera festzuhalten.

»Der kleine Fuchs ist vor laufender Kamera in meinen Armen eingeschlafen.«

MYP Magazine:
Apropos Glücksgefühl: Gab es andere besondere Momente, an die Du dich gerne zurückerinnerst?

Simon Morzé:
Ich muss gerade an eine Szene denken, in der Franz den verletzten Fuchs ins Sanitätszelt bringt, weil er seine Pfote verbinden lassen will. In diesem Moment ist der kleine Fuchs tatsächlich vor laufender Kamera in meinen Armen eingeschlafen. Das war ein wunderschönes Gefühl und hat so toll gepasst in dem Augenblick, daran erinnere ich mich sehr gerne zurück.
Eine weitere Szene, die mir in besonderer Erinnerung geblieben ist, ist der Moment, in dem Franz zum ersten Mal das Meer sieht. Diese Szene haben wir auf Amrum gedreht. An dem Tag hatte auch ich plötzlich das Gefühl, zum ersten Mal das Meer zu sehen, denn in den vielen Wochen davor haben wir uns fast permanent im Wald oder an der Location des besetzten Schlosses aufgehalten. Und auf einmal steht man am Strand und blickt aufs Meer. Das war ein ganz, ganz toller Moment für mich.

»Franz beschützt den Fuchs auf exakt die Art und Weise, wie er selbst als Kind hätte beschützt werden müssen.«

MYP Magazine:
Die Szene am Meer ist auch deshalb eine besondere, weil Franz dort wieder auf seinen Kameraden Anton Dillinger trifft. Ihn hatte er Tage vorher im Stich gelassen, weil er lieber den kleinen Fuchs in Sicherheit bringen wollte. Welche Bedeutung hat diese menschliche Freundschaft für den fiktionalen Franz Streitberger?

Simon Morzé:
Die Tatsache, dass Franz und Anton eine Freundschaft verbindet, ist insofern ungewöhnlich, dass Franz ja sonst keine Freundschaften zu Kameraden pflegt. Diese freundschaftliche Beziehung zu Dillinger ist nur möglich, weil Franz von ihm als der akzeptiert wird, der er ist. Er fordert von ihm weder, sich zu verändern, noch sich in irgendeiner anderen Weise zu verstellen. Dillinger lässt Franz einfach Franz sein. Ich glaube, das ist für die beiden Männer die einzige Möglichkeit, miteinander auszukommen.
Dennoch wirft Franz die Freundschaft weg – für den Fuchs. Dieses Verhalten gegenüber seinen Mitmenschen zieht sich durch den ganzen Film. Er verlässt all jene, die ihm die Hand reichen. Das Wohl des Fuchses geht für ihn immer vor – als wäre das Tier sein eigenes Kind. Er beschützt sein „Fichsei“, wie er den Fuchs liebevoll auf Pinzgauerisch nennt, auf exakt die Art und Weise, wie er selbst als Kind hätte beschützt werden müssen. Diese inhaltliche Analogie hat mir wahnsinnig geholfen, meine Figur zu formen.

»Ich werde es glücklicherweise nie wirklich verstehen können, wie es sich anfühlt, einen Krieg zu erleben.«

MYP Magazine:
Das Schicksal von Anton Dillinger und all den anderen Kameraden lässt der Film am Ende offen – und macht damit auf eine besonders stille Art und Weise deutlich, dass auch das zu den Schrecken des Krieges gehört: die unzähligen jungen Männer, die nicht mehr nach Hause zurückkehren, weil sie als Soldaten auf dem Schlachtfeld gestorben oder in den Kriegswirren verschollen sind. Wie bist Du emotional damit umgegangen, eine Figur zu spielen, die in ihrem realen Leben mit all diesen Schrecken konfrontiert war – und das sogar in dem gleichen Alter, in dem Du heute bist?

Simon Morzé:
Mein Gedanke dazu war: Egal, wie sehr ich mich vorbereite, wie viele Zeitzeugenberichte ich lese, wie viele Dokumentationen ich schaue und wie sehr ich versuche, mich in diese Situation hineinzuversetzen – ich werde es glücklicherweise nie wirklich verstehen können, wie es sich anfühlt, einen Krieg zu erleben. Und ich hoffe, das muss ich auch nie. Aus diesem Grund habe ich einen riesengroßen Respekt vor einem Menschen wie Franz Streitberger, der in solchen schlimmen Zeiten – und nach den in der Kindheit erlebten Traumata – nicht die Hoffnung verloren hat.

»Ich wollte, dass man diesen schrecklichen Krieg in seinem Gesicht sieht.«

MYP Magazine:
Nicht mal ein Jahr nach Abschluss Eurer Dreharbeiten hat Russland die Ukraine überfallen und mitten in Europa einen brutalen Angriffskrieg entfacht. Wie hast Du den Kriegsausbruch emotional erlebt? Was macht diese Situation mit Dir ganz persönlich?

Simon Morzé:
Diese Ereignisse haben mich extrem aufgewühlt – und tun es immer noch. Und das nicht nur, weil ich mich für diesen Film so lange mit dem Thema Krieg beschäftigt habe. Es ist so unfassbar traurig, dass die Menschen nicht aus den grausamen Erfahrungen der Vergangenheit lernen und so etwas wie Krieg sich immer wieder ereignet.

MYP Magazine:
In einer der letzten Szenen des Films kehrt Franz von der Kriegsgefangenschaft zurück zu seinem Elternhaus – jenem Bergbauernhof, den er seit seiner Kindheit nicht mehr gesehen hat…

Simon Morzé:
Hier war es mir enorm wichtig zu zeigen, wie desillusioniert und niedergekämpft Franz ist. Ich wollte, dass man diesen schrecklichen Krieg in seinem Gesicht sieht; dass alles Leben in seinen Augen mehr oder weniger erloschen ist; dass er allein ist und man sich als Zuschauer unweigerlich fragt: Wo sind all die anderen? Was ist mit Dillinger und den Kameraden? Verschwunden sind sie, denn das macht Krieg mit den Menschen. Und dann betritt Franz das verlassene Haus, findet den Brief und auf einmal passiert wieder etwas in diesem so geschundenen Körper…

»In diesem Moment spürt Franz die Liebe, von der er gar nicht vermutet hatte, sie empfinden zu können.«

MYP Magazine:
Ein Brief, den der mittlerweile verstorbene Vater an ihn gerichtet, aber nie abgeschickt hat.

Simon Morzé:
Genau. Franz hatte seinem Vater während des Krieges selbst einen Brief geschrieben. Und als er da in der Hütte steht und einige Schriftstücke in der Kommode findet, begreift er, dass sein Vater mit bestimmten Lautsymbolen lesen gelernt hat, um den erhalten Brief entziffern zu können. Im nächsten Moment entdeckt er einen Antwortbrief, den der Vater an ihn gerichtet, aber nie abgesendet hat. Obwohl der Vater nicht mehr lebt, spürt Franz in diesem Moment die Liebe, von der er gar nicht vermutet hatte, sie empfinden zu können. Nachdem er den Brief an ihn gelesen hat, versteht er, warum ihn sein Vater damals weggegeben hat. Er hatte keine andere Wahl und tat es letztendlich aus Liebe, weil er wusste, dass der kleine Junge in der bitterarmen Bergbauernfamilie nicht überleben würde. Diesen Umstand kann er nur verstehen, weil er bei dem kleinen Fuchs gezwungen war, genauso zu handeln: Er hat ihn aus Liebe im Wald zurückgelassen, weil er wusste, dass er in Russland nicht überleben würde. So schließt sich der Kreis für ihn – ich persönlich sehe das als ein sehr hoffnungsvolles Ende.

»Das Einzige, was ich hatte, war dieser Brief.«

MYP Magazine:
Diese Szene ist emotional sehr aufgeladen, man kann auf Deinem Gesicht geradezu mitverfolgen, was Franz in dem Moment durch den Kopf schießt und was der Brief des Vaters mit ihm macht. Wie blickst Du auf den Dreh dieser Schlüsselszene zurück?

Simon Morzé:
Diese Szene zu spielen, war nicht leicht, weil ich kein Gegenüber hatte, keinen Anspielpartner. Das Einzige, was ich hatte, war dieser Brief. In dem Moment hat sich die intensive Vorbereitung ausgezahlt, denn ich hatte über viele Monate aus Franz‘ Perspektive Tagebuch geschrieben, um die Erlebnisse seiner Kindheit so konkret wie möglich fassen zu können. Dadurch habe ich es in der betreffenden Szene geschafft, eine spezifische und emotional greifbare Situation zu kreieren, auf die ich in meinem Spiel zurückgreifen konnte.

»Unser Film zeigt, wie wichtig es ist, sich in andere Menschen hineinversetzen zu können.«

MYP Magazine:
Regisseur Adrian Goiginger sagt, der „Der Fuchs“ sei auch ein Film über Vergebung. Siehst Du das ähnlich?

Simon Morzé:
Absolut! Dadurch, dass Franz ein Lebewesen weggeben muss, das er liebt, versteht er seinen Vater und kann ihm verzeihen. So können die Wunden, die ihm in seiner Kindheit zugefügt wurden, endlich heilen. Doch „Der Fuchs“ ist nicht nur ein Film über Vergebung, sondern auch über Empathie, denn er zeigt, wie wichtig es ist, sich in andere Menschen und ihre Lebenssituation hineinversetzen zu können.
Ohnehin kann man sehr viel mitnehmen aus diesem Film, auch weil er sich mit einem historischen Zeitabschnitt Österreichs beschäftigt, in dem arme Bergbauernfamilien fast massenhaft Kinder weggegeben und verkauft haben, wenn sie sie nicht mehr ernähren konnten. Das ist ein Thema, das vielen Menschen gar nicht so bekannt ist.
Darüber hinaus schafft es dieser Film – zumindest ist es mir persönlich so ergangen –, dass man als Zuschauer intensiv über seine eigene Familie nachdenkt: über all die unnötigen Streitigkeiten und Verwerfungen, die es so gibt, aber auch über den Mangel an Empathie, vielleicht sogar bei sich selbst. Mir jedenfalls hat „Der Fuchs“ noch mal ganz neue Perspektiven auf meine eigene Familiengeschichte ermöglicht und die Begriffe Vergebung und Liebe in gewisser Weise neu definiert, möchte ich sagen. Und ich glaube, da bin ich nicht der Einzige. Nach dem Kinostart in Österreich sind etliche Menschen auf mich zugekommen, die mir erzählt haben, dass ihnen unser Film einen anderen Blick auf ihre eigene Familiengeschichte verschafft hat, wodurch sie die Ereignisse der Vergangenheit reflektieren und wieder in Kontakt zu ihren Vätern und Müttern kommen konnten. Ich wünsche mir, dass „Der Fuchs“ das auch bei dem deutschen Publikum schafft.


Fabian Grischkat

Interview — Fabian Grischkat

»Wir haben keine andere Wahl, als hoffnungsvoll zu sein«

Influencer und Aktivist Fabian Grischkat macht sich auf Instagram, TikTok und Co. fast täglich für Klimaschutz und die Rechte queerer Menschen stark. Dabei richtet sich der 22-Jährige nicht nur an die Generation Z. Auch viele ältere Semester zählen zu seinem Publikum, denn Fabians Content ist unterhaltsam, informativ und gut recherchiert.

Ein Interview über journalistische Verantwortung, die Definition von Männlichkeit und das Prinzip Hoffnung im Angesicht der sich abzeichnenden Klimakatastrophe.

6. April 2023 — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotografie: Steven Lüdtke

„Früher war alles besser.“ Es steckt viel Sehnsucht in dem kleinen Satz, der, leicht dahingeseufzt, die vermeintlich guten alte Zeiten feiert. Zeiten, in denen die Welt – meist die eigene – irgendwie entspannter und geordneter schien als heute. Doch das romantisierte Bild, wer hätte es gedacht, ist schnell mit Fakten widerlegt. Vor allem gesellschaftspolitisch gab es in den letzten fünfzig Jahren die eine oder andere Errungenschaft, die man nicht mehr missen möchte.

In Bezug auf das Klima hat der Satz allerdings seine Berechtigung. Denn früher, genauer gesagt vor 250 Jahren, war hier tatsächlich alles besser. Denn erst mit Beginn der industriellen Revolution und dem massenhaften Einsatz fossiler Energieträger stieß der Mensch eine verheerende Entwicklung an, die bereits jetzt die Temperatur der Erdoberfläche um gut ein Grad Celsius erhöht hat – und die bis zum Ende des Jahrhunderts zu einer zivilisatorischen Katastrophe führen kann, wenn die Erderwärmung nicht auf maximal 1,5 Grad begrenzt wird.

Dass diese Katastrophe noch abzuwenden ist, wenn man sich nur mit aller Kraft und Vehemenz dagegenstemmt, erklärt Fabian Grischkat fast täglich seinem Publikum auf Instagram, TikTok und Co. Der 22-Jährige, der sich selbst als Influencer, Aktivist, Moderator und Filmemacher bezeichnet, hat es sich mit seinen Videos zur Aufgabe gemacht, für Aufklärung in Sachen menschgemachter Klimawandel zu sorgen – und das auf eine äußerst unterhaltsame, informative und fast gebetsmühlenartige Art und Weise.

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Doch das Klimathema ist nur einer seiner Schwerpunkte. Mindestens genauso leidenschaftlich setzt er sich auch für die Rechte queerer Menschen ein, prangert gesellschaftliche und politische Missstände an und erklärt, was sich zum Beispiel hinter Begriffen wie Pinkwashing, Konversionstherapie oder Shadow Banning verbirgt. Denn für queere Menschen war zwar früher definitiv nicht alles besser. Das heißt aber noch lange nicht, dass heute alles gut ist.

Fabian definiert sich selbst als bisexuell. Als er im August 2000 geboren wurde, war es gerade einmal sechs Jahre und zwei Monate her, dass der Deutsche Bundestag den Paragraf 175 ersatzlos aus dem Strafgesetzbuch gestrichen hatte. Dieses aus dem Kaiserreich stammende und in der NS-Zeit verschärfte Gesetz stellte „widernatürliche Unzucht“ zwischen Männern unter Strafe. An das Leid der nach dem „Hundertfünfundsiebziger“ verurteilten Männer – sowohl im Dritten Reich als auch später in der Bundesrepublik – erinnerte der Bundestag erst kürzlich mit einer bewegenden Gedenkveranstaltung.

Fabian, der aus dem beschaulichen Nettetal im Rheinland stammt, weiß um sein Glück, in deutlich liberaleren und toleranteren Zeiten aufgewachsen zu sein, wie er in einem Gastbeitrag für den SPIEGEL schreibt. Titel: „Mich hätte es vor 20 Jahren nicht gegeben“. Doch er erzählt auch davon, wie unwohl und allein er sich damals als Teenager in seinem Ort gefühlt habe, denn queere Clubs, Bars oder Jugendtreffs habe es nicht gegeben. Gemobbt worden sei er zwar nicht, aber dennoch belächelt. Eine Lebensrealität, die auch heute noch, im Jahr 2023, unzähligen Jugendlichen vertraut vorkommen dürfte.

Mittlerweile lebt Fabian Grischkat in Berlin. In den Räumlichkeiten seines Managements, der Agentur We Are Era, haben wir ihn zu einem ausführlichen Interview getroffen.

»Kein Wunder, dass ich mich an Vorbildern wie David Bowie orientiert habe.«

MYP Magazine:
In einem Gastbeitrag für den SPIEGEL aus dem August 2022 erzählst Du von Deinem Aufwachsen in einem idyllischen Dorf am Niederrhein, wo Du dich oft wie Daffyd Thomas aus der Serie „Little Britain“ gefühlt hast: the only gay in the village. Welche role models gab es für Dich als queeren Teenager?

Fabian Grischkat:
Als ich mit 14, 15 gemerkt habe, dass ich möglicherweise nicht heterosexuell sein könnte, gab es vor allem im deutschsprachigen Raum so gut wie keine bisexuelle Menschen, die in der Öffentlichkeit standen. Klar, im Kunst- und Kulturbereich ist man immer wieder mal auf Leute gestoßen, die sich als bisexuell identifiziert haben. Aber in all den „normalen“ Berufen waren Bisexuelle so gut wie unsichtbar. Dasselbe galt für mein persönliches Umfeld. Dabei hätte ich mir als Teenager jemanden gewünscht, der einfach mal sagt: „Hey Fabian, ich kann dich verstehen, ich fühle genauso.“ Aber den gab es nicht. Kein Wunder, dass ich mich erst mal an Vorbildern wie David Bowie orientiert habe. Mehr geholfen hätte es mir, wenn sich jemand wie Felix Jaehn, der 2018 in einem ZEIT-Interview von seiner Bisexualität erzählt hat, schon ein paar Jahre früher offenbart hätte. Oder wenn damals schon jemand aus dem Bundestag öffentlich erklärt hätte, bisexuell zu sein. Für Menschen wie mich hat so etwas nach wie vor eine große Bedeutung, es gibt uns das Gefühl von Normalität.

»Allein die Tatsache, dass wir überhaupt einen Queer-Beauftragten haben, ist ein wichtiges Signal für alle queeren Menschen in Deutschland.«

MYP Magazine:
Nicht nur in der Politik hat sich in den letzten Jahren einiges getan, was die Sichtbarkeit von queerem Leben in der Breite unserer Gesellschaft angeht. Gleichzeitig erleben wir, vor allem in den sozialen Netzwerken, wie junge Menschen in antiquierte Rollenbilder zurückfallen. Daneben erfreuen sich Videos über „echte Männlichkeit“ scheinbar großer Beliebtheit. Und der Begriff „schwul“ wird von vielen nach wie vor als Schimpfwort benutzt. Ist unser gesellschaftlicher Fortschritt vielleicht doch nicht so groß, wie wir manchmal denken?

Fabian Grischkat:
Man muss gesellschaftlichen Fortschritt immer aus zwei Perspektiven betrachten. Auf der einen Seite gibt es die juristische Ebene, die regelt, welche Rechte queere Menschen in unserem Land haben. Und auf der anderen Seite steht die gesellschaftliche Akzeptanz – die im Idealfall mit den juristischen Errungenschaften einhergeht. Ich finde, rein rechtlich befinden wir uns auf einem guten, aber dennoch schleppenden Weg. Letztes Jahr hat die Bundesregierung ihren Aktionsplan „Queer leben“ vorgestellt, der unter anderem die Verabschiedung des sogenannten Selbstbestimmungsgesetztes als Ersatz für das Transsexuellengesetz vorsieht. Leider lässt dieses Gesetz – entgegen der im Vorfeld gemachten Versprechungen – immer noch auf sich warten. Entsprechend frustriert ist die queere Community, denn dieses Gesetz wäre ein großer Fortschritt für uns. Aber schon allein die Tatsache, dass wir mit Sven Lehmann überhaupt einen Queer-Beauftragten haben, ist ein wichtiges Signal für alle queeren Menschen in Deutschland.

»Es ist ein Trugschluss, dass die Gen Z durchgehend politisch ist und das Klima schützt.«

MYP Magazine:
Und wie sieht es mit der gesellschaftlichen Akzeptanz aus?

Fabian Grischkat:
Leider erlebe auch ich immer wieder, dass „schwul“ weiterhin als Schimpfwort benutzt wird, auch bei Teenagern. Das ist wichtig zu erwähnen, denn gerade ältere Generationen haben oft ein fast schon utopisches Bild von der Generation Z. Aber nicht alle von uns sind woke, hip und Generation Greta. Es ist ein Trugschluss, dass die Gen Z durchgehend politisch ist und das Klima schützt. Aus diesem Grund müssen wir dringend unsere Bildungsangebote nachschärfen, denn queere Themen werden in den Schulen weiterhin kaum behandelt.
Außerdem habe ich das Gefühl, dass man vor allem mit jungen Männern sehr früh darüber sprechen muss, was eigentlich Männlichkeit bedeutet. Die Jungs sollen wissen, dass sie nicht stark sein oder eine teure Karre fahren müssen, um ein „richtiger“ Mann zu sein. Solange wir da nichts tun, wird „schwul“ auch in Zukunft ein Schimpfwort sein, da bin ich mir ganz sicher. Es darf in Deutschland keine Projektarbeit bleiben, über queeres Leben und Männlichkeit im 21. Jahrhundert zu sprechen.

»Männer können viel mehr, als sie denken. Sie begrenzen sich selbst nur allzu oft durch einen veralteten Männlichkeitsbegriff.«

MYP Magazine:
Hast Du für dich eine bestimmte Definition von Männlichkeit?

Fabian Grischkat: (grinst)
Ein guter Mann muss schlechte Witze beherrschen! Aber im Ernst: Ich glaube, dass der Begriff Männlichkeit äußerst wandelbar ist und verschiedenste Lebensrealitäten umfasst. Deswegen fällt es mir auch so schwer, heute, im Jahr 2023, eine konkrete Definition zu formulieren, denn die kann in fünf bis zehn Jahren schon wieder vollkommener Schwachsinn sein. Allerdings glaube ich, dass all die aktuellen Männlichkeits-Definitionen, die einem in merkwürdigen YouTube-Videos oder Coaching-Angeboten oder Kollegah-Büchern vermittelt werden, etwas ist, das wir schon jetzt nicht mehr brauchen. Es erzeugt bei jungen Männern einen enormen Druck, wenn sie versuchen, etwas zu sein, was sie nicht sein können. Auch deshalb liegt es mir fern, die eine, allumfassende Definition von Männlichkeit zu geben. Wenn ich sage, Männer tragen auch Kleider, dann will ich damit nicht sagen, dass Männer Kleider tragen müssen. Sondern, dass sie es können. Ich glaube ohnehin, dass Männer viel mehr können, als sie denken. Sie begrenzen sich selbst nur allzu oft durch einen veralteten Männlichkeitsbegriff.

»Ich habe innerhalb der queeren Community leider genauso oft Vorurteile gegenüber meiner sexuellen Orientierung erlebt wie außerhalb.«

MYP Magazine:
Auch die queere Community bekleckert sich nicht immer mit Ruhm, wenn es um die Akzeptanz bestimmter Lebensrealitäten oder auch Sexualitäten geht. Welche Erfahrungen hast Du persönlich in dem Zusammenhang gemacht?

Fabian Grischkat:
Wie in fast allen Gesellschaftsbereichen gibt es auch in der queeren Community patriarchale Strukturen, sie wird dominiert von älteren, meist weißen Männern – nur, dass es sich in dem Fall um schwule Männer handelt. Diese homosexuellen Männer haben es nie wirklich akzeptiert, dass ich mich persönlich als bisexuell definiere. Oft hieß es: „Du bist doch eigentlich schwul und stehst nicht dazu.“ In diesem Umfeld habe ich einige wirklich schwierige Erfahrungen gemacht. Daher kann ich auch definitiv nicht davon sprechen, dass die queere Community ein safe space für alle ist. Aber ich will die schwulen alten Männer auch nicht vor den Kopf stoßen…

MYP Magazine:
Mach doch mal.

Fabian Grischkat:
Gerade ältere schwule Männer haben in dieser Gesellschaft sehr viel bewegt in den letzten Jahrzehnten, daher möchte sie auch nicht verteufeln. Aber häufig müssen gerade diese Akteure erst mal vor der eigenen Haustür kehren und überlegen, ob sie möglicherweise selbst ein bisschen diskriminierend sind in ihrem Denken und Handeln. Ich habe innerhalb der queeren Community leider genauso oft Vorurteile gegenüber meiner sexuellen Orientierung erlebt wie außerhalb.
Übrigens: Man darf nicht vergessen, dass es in den letzten Jahrzehnten nicht nur viele schwule Männer, sondern auch zahlreiche lesbischen Frauen gab, die sich für mehr Toleranz und Gleichberechtigung engagiert haben – und teilweise noch härter ackern mussten als die Schwulen. Denn sie mussten sich nicht nur ihre Rechte als Homosexuelle erkämpfen, sondern gleichzeitig auch ihre Rechte als Frauen. Das geht leider allzu oft unter, ist aber genauso wichtig, erzählt und respektiert zu werden.

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»Dieser alte weiße Mann schafft es sogar, wie das Sprachrohr einer jungen, rebellischen Generation zu klingen.«

MYP Magazine:
Apropos alte Männer: Für Deine Videos schlüpfst Du immer wieder mal in die Rolle eines alten weißen Mannes namens Alman Achim…

Fabian Grischkat:
Ich trage heute sogar seinen Pullover.

MYP Magazine:
Gibt es im Gegensatz zum fiktionalen Achim einen realen alten weißen Mann, auf den Du einen positiven Blick hast – und der Dich vielleicht sogar inspiriert?

Fabian Grischkat:
Eines vorab: Mir wird häufig vorgeworfen, dass ich mit dieser Figur einen Vaterkomplex abarbeiten würde. Das ist definitiv nicht der Fall… Also: Welcher alte weiße Herr inspiriert mich?

(überlegt sehr lange)

Es gibt vor allem in meinem privaten Umfeld viele Menschen, auf die das zutreffen würde. Aber wenn ich jemanden nennen müsste, der allgemein bekannt ist, würde ich sagen: Herbert Grönemeyer. Ich weiß, es ist vielleicht ein bisschen merkwürdig, dass ein 22-Jähriger von Herbert Grönemeyer schwärmt. Aber Herbert hat so eine frische und jugendliche Attitüde und einen so scharfsinnigen Blick auf die Welt, dass ich diesen Künstler echt toll finde. Ich bewundere sein Lebenswerk und die Tatsache, dass er sich selbst trotz zunehmenden Alters treu bleibt und nicht anfängt, irgendeinen Mist zu schwurbeln oder sich auf einmal über das Gendern aufzuregen. Oder dass er trans sein nicht versteht. Das alles kommt ja durchaus mal vor bei alten weißen Männern. Herbert aber ist ein gutes Beispiel dafür, dass man auch als ältere Person noch präsent sein kann, ohne dabei peinlich oder diskriminierend zu agieren. Und da er erst kürzlich mit seinem Song „Deine Hand“ die Proteste im Iran thematisiert hat, schafft es dieser alte weiße Mann sogar, wie das Sprachrohr einer jungen, rebellischen Generation zu klingen.
Außerdem wurde ich im Ruhrgebiet geboren, es liegt also in meinen Genen, dass ich Herbert Grönemeyer gut finde. Ich würde mich riesig freuen, wenn ich irgendwann mal die Gelegenheit hätte, fünf Minuten mit ihm zu sprechen – das wäre mein persönlicher Fan-Boy-Moment. Wir könnten ja mal auf eine gemeinsame Pommes. Oder eine vegane Currywurst.

»Jede private Information, die man ins Netz stellt, kann brandgefährlich werden.«

MYP Magazine:
Auch wenn Du selbst noch nicht so bekannt bist wie Herbert Grönemeyer, stehst Du dennoch in exponierter Weise in der Öffentlichkeit. Wie gehst Du mit dem großen Interesse an Deiner Person um? Schmeichelt es Dir? Oder beschränkt es Dich in Deinem Alltag, etwa beim Ausgehen, Daten oder Einkaufen?

Fabian Grischkat:
Weder noch. Es ist zu einer gewissen Normalität geworden – auch, weil ich ohnehin recht viel von meinem Leben mit der Öffentlichkeit teile. Aber selbstverständlich geht das auch mit einer gewissen Vorsicht einher. Bei jedem geposteten Foto denke ich vorher darüber nach, was das jetzt aussagen könnte.

MYP Magazine:
Wir sehen Dich online beim Sport treiben, beim Abendessen mit Freunden oder im Wartezimmer nach der Immuntherapie. Gibt es Momente, in denen Du das Gefühl hast, gerade zu viel von Deinem Privatleben preisgegeben zu haben?

Fabian Grischkat:
Es ist ein schmaler Grat. Auf der einen Seite will ich anderen zeigen, dass ich ein normaler Mensch bin – und nicht der High Performer, für den man mich vielleicht halten könnte. Auch ich habe kack Tage, vor allem im Winter in Berlin. Auf der anderen Seite weiß ich, dass jede private Information, die man ins Netz stellt, brandgefährlich werden kann. Es gibt nach wie vor Dinge, die ich niemals posten würde, weil es da um das Privateste vom Privaten geht. Das würde ich auch von anderen Menschen nicht erfahren wollen.

»Mir geht es am Ende des Tages darum, in den Spiegel zu schauen und stolz auf das zu sein, was ich tue.«

MYP Magazine:
Im Podcast „It’s All About“ hast Du vor kurzem erzählt, dass Du dich in Deiner Tätigkeit als Influencer auch für die reine Unterhaltungs- und Selbstdarstellungsschiene hättest entscheiden können. Warum hast Du dich dagegen entschieden?

Fabian Grischkat:
Mir selbst gefällt es doch auch nicht, wenn ich Instagram öffne und mein Feed voller oberkörperfreier Typen ist. Oder wenn mir dauernd irgendwelche Menschen mitteilen, warum sie heute schon 5.000 Euro verdient haben und wie ich das auch schaffen kann, wenn ich nur irgendeiner dubiosen WhatsApp-Gruppe beitrete. Ich glaube, viele Influencer:innen haben mittlerweile ein echtes Problem, weil sie mit dieser Arbeit nicht die enormen Summen an Kohle rechtfertigen können, die sie verdienen.
Mir persönlich geht es am Ende des Tages darum, in den Spiegel zu schauen und stolz auf das zu sein, was ich tue. Bestimmt würde ich deutlich mehr Geld verdienen, wenn ich nicht diese Politikschiene eingeschlagen hätte. Aber das war mir nie wichtig. Ich will auf die Frage, wie ich meinen Tag verbracht habe, nicht antworten, dass ich mal wieder zehn Kinder in eine sinnlose WhatsApp-Gruppe geholt und abgezogen habe. Für mich ist es ein Erfolgserlebnis, wenn wir mal wieder eine Demo organisiert haben, bei der alles geklappt hat. Dennoch müssen nicht alle Influencer:innen hochpolitisch sein. Auch ich folge einigen ganz banalen Accounts…

MYP Magazine:
Zum Beispiel?

Fabian Grischkat:
Zum Beispiel zwei Hunden auf Instagram, über deren Storys ich mich den ganzen Tag freuen kann.

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»Ich würde erwarten, dass man zumindest so sensibel ist, keine Produktplatzierung an dem Tag zu posten, an dem gerade in Europa ein Krieg ausbricht.«

MYP Magazine:
Das erzeugt auch wesentlich bessere Stimmung, als permanent mit scheinbar perfekten Körpern konfrontiert zu sein.

Fabian Grischkat:
Ja, genau! Aber auch die perfekten Körper haben ihre Berechtigung auf dieser Plattform. Ich würde mir nur wünschen, dass sich diese Leute ihrer Verantwortung bewusst werden. Als zum Beispiel der Krieg gegen die Ukraine ausgebrochen ist, haben etliche Influencer:innen weiterhin ihre Produktplatzierungen gepostet. Hier würde ich mir ein Mindestmaß an Sensibilität erwarten. Man muss doch checken, dass das gerade der absolut falsche Zeitpunkt ist. Darüber hinaus würde ich mir wünschen, dass man seine Reichweite vielleicht ein- oder zweimal im Jahr für etwas halbwegs Gutes zur Verfügung stellt. Danach kann man ja wieder tausend Mal den nackten Oberkörper posten.

»Ich folge zwar gewissen journalistischen Standards, aber auch nicht allen.«

MYP Magazine:
Bleiben wir kurz beim „It’s All About“-Podcast. Dort hast Du erwähnt, dass Du dich selbst nicht unbedingt als Journalist bezeichnen würdest, weil Du einen gehörigen Respekt vor der Arbeit „gelernter“ Journalist:innen hättest. Bist Du an dieser Stelle nicht etwas zu bescheiden? Immerhin scheinst Du dich konsequent an journalistischen Maßstäbe und Werten zu orientieren.

Fabian Grischkat:
Ich fände es nach wie vor anmaßend, mich als reinen Journalisten zu bezeichnen. Ich folge zwar gewissen journalistischen Standards, das stimmt, aber auch nicht allen. Zum Beispiel unterliege ich keiner journalistischen Sorgfaltspflicht, aber gerade das ist für mich der große Unterschied zwischen Influencer:innen und Journalist:innen – oder sagen wir guten Journalisti:innen. Wenn ich in meiner täglichen Arbeit einen Fakt in die Welt setze, bin ich nicht dazu verpflichtet, überhaupt eine Quelle anzugeben; oder die Quelle gegenzuchecken, die ich verwende. Ich mache das bei meinen Recherchen nur, weil ich selbst die Gewissheit haben will, ob die Info, die ich gerade irgendwo aufgeschnappt habe, wirklich der Wahrheit entspricht. Und solange ich das nur auf einer freiwilligen Basis tue, möchte ich mich nicht Journalist nennen. Vielleicht ist das in fünf Jahren anders, denn ich überlege mir gerade, noch ein Studium in diese Richtung anzustreben.

»Ich möchte nicht, dass Axel-Springer-Formate diesen Markt kapern.«

MYP Magazine:
Außerhalb des klassischen Journalismus gibt es mittlerweile diverse andere reichweitenstarke Player, die ebenfalls investigativ arbeiten und Missstände aller Art aufdecken – wie etwa Rezo oder Jan Böhmermann. Wie erlebst Du diese Entwicklung? Steckt der klassische Journalismus in der Krise?

Fabian Grischkat:
Eine Krise sehe ich aktuell nicht. Aber ich glaube, dass auch der Journalismus sich wandeln muss – wie fast alles in unserer heutigen schnelllebigen Gesellschaft. Wenn der Journalismus für junge Menschen attraktiv sein will, muss er sie dort erreichen, wo sie sind. Die Gen Z liest durchaus Artikel – ja, wir können lesen! Allerdings beziehen wir unsere Nachrichten nicht aus den Tageszeitungen unten am Kiosk, sondern von Plattformen wie Twitter, TikTok oder Instagram. Dem sogenannten Qualitätsjournalismus muss es daher irgendwie gelingen, seine Inhalte auch vertikal zu verpacken – und zwar so, dass sie innerhalb weniger Sekunden die Aufmerksamkeit der Gen Z auf sich ziehen.
So etwas fällt zum Beispiel der Bildzeitung mit ihren stark verkürzten Botschaften deutlich leichter als einem Medium wie etwa der ZEIT. Aber gerade, weil ich nicht möchte, dass Axel-Springer-Formate diesen Markt kapern, appelliere ich nachdrücklich an die Qualitätsmedien: Springt über euren Schatten, setzt euch mit jungen Leuten an einen Tisch und überlegt, wie ihr es schaffen könnt, als großes Medienhaus auf den großen sozialen Plattformen attraktiv zu werden. Die Tagesschau zum Beispiel zeigt seit Jahren, dass es möglich ist, eine klassische TV-Sendung in ein vertikales Kurzformat auf TikTok zu übersetzen.

»Wenn wir erst im Jahr 2100 verstanden haben, was ein Kipppunkt ist, ist das Klima längst gekippt.«

MYP Magazine:
Anfang des Jahres sorgte die Meldung für Aufsehen, dass Raphael Thelen, Mitbegründer des Netzwerks Klimajournalismus, seinen Job als Journalist an den Nagel gehängt hat und sich nun als Aktivist bei der „Letzen Generation“ engagiert. In einem Interview mit Übermedien beklagt er unter anderem, dass es bei Journalist:innen immer noch viel Unwissen über die Klimakrise gebe. Er sagt: „Ganz viele Menschen, auch in Redaktionen, wissen bis heute nicht, was ein Kipppunkt ist, was ein Feedback Loop ist. Die wissen nicht, dass drei Grad Erwärmung, die wir ja Ende des Jahrhunderts ungefähr haben werden, sechs Grad in Deutschland bedeuten. Das heißt, Berlin hat so ein Klima wie Toulouse.“ Dabei drohe bereits bei zwei Grad ein Zivilisationskollaps. Hat der klassische Journalismus an dieser Stelle versagt?

Fabian Grischkat:
Puh, ich würde nicht so weit gehen, gleich von Versagen zu sprechen. Und ich möchte auch nicht allen Journalist:innen und Medienhäusern in diesem Land pauschal vorwerfen, dass sie die Klimakrise nicht ausreichend thematisieren. Dennoch hat es zum Beispiel unglaublich lange gedauert, bis sich die meisten Medienschaffenden darauf geeinigt haben, nicht von Folgen des Klimawandels, sondern von einer Klimakatastrophe zu sprechen. Wenn Journalist:innen vorher diesen Begriff in ihren Text geschrieben hatten, kam der Chefredakteur und sagte: „Naja, das ist jetzt aber ein bisschen hart formuliert. Der Winter ist halt etwas wärmer, aber wir können doch hier nicht von einer Katastrophe reden.“ Solche frustrierenden Geschichten hört man immer wieder.
Mittlerweile habe ich aber das Gefühl, dass sich das Bewusstsein zumindest ansatzweise geändert hat – auch wenn manche Medienhäuser immer noch glauben, es reiche aus, hier und da mal eine einzelne dpa-Meldung zu veröffentlichen – wie etwa zu den Protesten in Lützerath. Das Ziel für die nächsten Jahre muss sein, tagtäglich über die Klimakatastrophe zu berichten und dabei nichts zu beschönigen. Bei Themen wie Corona oder dem Ukraine-Krieg hat das ja auch funktioniert. Ich will jetzt nicht dystopisch klingen, aber wenn wir erst im Jahr 2100 verstanden haben, was ein Kipppunkt ist, ist das Klima längst gekippt.

»Mich als BILD-Leser würde das ärgern.«

MYP Magazine:
In dem BILD-Artikel „Schnee? Nee!“ vom 9. Januar 2023 berichtet die Autorin ausführlich über die hohen Januar-Temperaturen in Europa. Die Begriffe „Erderwärmung“, „Klimawandel“ oder „Klimakrise“ sucht man allerdings vergebens, geschweige denn das Wort „Katastrophe“. Beschleicht Dich nicht öfter mal ein Gefühl von Ohnmacht, wenn Du mit der medialen Realität in diesem Land konfrontiert bist?

Fabian Grischkat:
Was die Bildzeitung angeht, haben viele junge Menschen, die wie ich politisch aktiv sind, mittlerweile resigniert. Es sagt doch alles, wenn ein Blatt lieber über die „Klimakleber“ berichtet als über die Weltklimakonferenz letzten November in Ägypten. Das ist frustrierend. Dabei würde es der Bildzeitung guttun, ihre Leser:innen über die Relevanz der Klimakatastrophe aufzuklären. Man schreibt sich bei Springer doch auf die Fahne, besonders ehrlich zu seiner Leserschaft zu sein. Aber ist es nicht so, dass man die Leute belügt, zumindest indirekt, wenn man ihnen wichtige Informationen vorenthält? Mich als BILD-Leser würde das ärgern – und ich würde mich ein wenig verarscht fühlen von dieser Zeitung. (lächelt)

»Wer wäre ich denn als Teil der Gen Z, wenn ich sagen würde: Es ist doch eh alles verloren.«

MYP Magazine:
An den Lützerath-Protesten im Januar hat unter anderem auch die Band AnnenMayKantereit teilgenommen und vor Ort ein spontanes Konzert gegeben. Den Auftritt beschloss Sänger Henning May mit folgenden Zeilen: Und nur, weil andere mehr machen als ich / Ist die Welt nicht völlig fürchterlich / Und nur weil andere so stark sind und klug / hab‘ ich manchmal / Hoffnung und Mut / Hoffnung und Mut / tut gut. Welche Hoffnung hast Du, wenn Du in die Zukunft blickst?

Fabian Grischkat:
Ich glaube, dass vor allem die Generation Z einen sehr schwierigen Start hatte, was das Thema Hoffnung angeht. Es ist ja nicht so, dass wir das mit dem bisschen Erderwärmung nur in den Griff bekommen wollen, nur weil das irgendwie ganz cool wäre. Es geht hier um nicht weniger als um unsere Lebensgrundlage, und zwar die von uns allen. Dementsprechend sind unsere Hoffnungen und Wünsche mit konkreten Ängsten verbunden. Dennoch haben wir überhaupt keine andere Wahl, als hoffnungsvoll zu sein.
Was mich in meiner eigenen Hoffnung bestärkt – und da schließe ich mich gerne Henning May an – ist, dass ich nach wie vor so viele motivierte Menschen erlebe, die sich von ganzem Herzen engagieren: junge Leute, aber auch alte, denn nicht alle Boomer sind blöd. (grinst) Diese Hoffnung möchte ich gerne auch anderen geben. Auch wenn es auf dieser Welt viele Arschlöcher gibt – um mal Kurt Krömer zu zitieren – und diese Arschlöcher oft über viel Macht und sehr viel Kapital verfügen, gibt es auf der anderen Seite trotzdem viel mehr gute Leute: Wissenschaftler:innen, Forscher:innen, Aktivist:innen oder einfach nur Menschen wie meine Oma, die an Weihnachten vegane Plätzchen für mich macht; Menschen, die zumindest versuchen dazu beizutragen, unsere Gesellschaft zu einer besseren zu machen; Menschen, die nicht nur die Krisen ernst nehmen, sondern auch die Sorgen und Bedürfnisse junger Menschen. Wer wäre ich denn als Teil der Gen Z, wenn ich sagen würde: Es ist doch eh alles verloren. Vor allem gegenüber all den Leuten, die ich motiviert habe, auf Demos zu gehen – denen jetzt zu sagen, das sei doch eh alles Quatsch, fände ich ein bisschen respektlos.
Nein, es ist nichts verloren, wir können das noch schaffen. Das ist die erste wichtige Nachricht, die wir auch in der Klimagerechtigkeits-Bewegung immer wieder nach draußen senden. Es gibt gute Gründe, warum es sich weiter lohnt zu kämpfen. Wir müssen das vielleicht nur mit etwas radikaleren Mitteln tun. Und wir müssen uns da wirklich reinknien.

»Das mit dem Alleinsein verbundene Gefühl von Einsamkeit hat sich im Laufe der Zeit zu etwas Positivem verwandelt.«

MYP Magazine:
Du hast auf Deinem linken Unterarm den Begriff „Lonely Boy“ tätowiert. Bist Du einfach ein riesiger Fan von „The Black Keys“? Oder welche Geschichte verbirgt sich hinter dem Tattoo?

Fabian Grischkat: (lacht)
Ich finde diesen Song echt toll, das kann ich nicht abstreiten. Das Tattoo hat aber vielmehr damit zu tun, dass ich Einzelkind bin und vieles in meinem Leben allein stemmen musste. Ich gehe zum Beispiel stark davon aus, dass ich niemals angefangen hätte, Videos auf YouTube hochzuladen, wenn ich Geschwister gehabt hätte. Irgendwie musste ich mich ja mit mir selbst beschäftigen – masturbieren ging damals noch nicht. Also habe ich mir aus purer Langeweile ein paar Lego-Männchen genommen und meine Kamera darauf gehalten. Das Ganze habe ich nur auf YouTube veröffentlicht, weil ich wollte, dass das mehr Menschen sehen als meine Eltern und ich.
So ganz auf sich allein gestellt zu sein, hat mir aus heutiger Sicht also zu einem gewissen Erfolg verholfen. Und das mit dem Alleinsein verbundene Gefühl von Einsamkeit, das mir am Anfang noch so schrecklich vorkam, hat sich im Laufe der Zeit zu etwas Positivem verwandelt. Das Tattoo erinnert mich heute daran, dass dieses Alleinsein gar nicht so schlimm ist.

MYP Magazine:
Vielleicht bist Du selbst ja für viel mehr Menschen ein großer Bruder, als du denkst.

Fabian Grischkat:
Ja, das hoffe ich zumindest, denn ich hätte mir damals mit 14, 15 auch jemanden gewünscht, der all die Themen behandelt hätte, die mir in dem Alter durch den Kopf geschwirrt sind.

»Wenn ich fünf Prozent selbstbewusster wäre, würde ich da wahrscheinlich auch nackt rumlaufen.«

MYP Magazine:
In dem anfangs erwähnten SPIEGEL-Artikel schreibst Du über Deinen Heimatort Nettetal: „Es mag kurios klingen, aber ich merke sogar, dass ich mich anders verhalte, wenn ich dort zu Besuch bin, immer noch. Ich kleide mich nicht so grell, ich versuche auch sonst nicht aufzufallen, vermeide politische Diskussionen.“ Wie erklärst Du dir den Kontrast zwischen dem zurückhaltenden Fabian im analogen Nettetal und der selbstbewussten und meinungsstarken Person, die Du im Digitalen verkörperst?

Fabian Grischkat:
Ich würde durchaus behaupten, dass man mich mittlerweile kennt in Nettetal, daher verstecke oder verstelle ich mich da auch nicht. Trotzdem käme ich niemals auf die Idee, dort in meinem Netzshirt oder in einem anderen auffälligen Outfit rumzulaufen. Ich hatte immer das Gefühl, dass dieser Ort mich ein wenig einengt in meiner kreativen Freiheit. Vielleicht liegt das aber gar nicht an Nettetal, sondern einfach an einem Mangel an Selbstbewusstsein. Wenn ich fünf Prozent selbstbewusster wäre, würde ich da wahrscheinlich auch nackt rumlaufen.
Davon abgesehen trenne ich meine Besuche in der Heimat strikt von meinen anderen Projekten, alles Aktivistische lasse ich dann in Berlin. In Nettetal bin ich der ganz private Fabian, der nur da ist, um seine Familie und Freund:innen zu treffen. Doch wie ich in dem Artikel geschrieben habe: Irgendwann werde ich auch dort im Vorgarten die Regenbogenfahne hissen. Ich glaube, Nettetal ist bereit dafür.


Lorna Ishema

Kurzinterview — Lorna Ishema

»Mich interessieren Orte, an denen ich auf den ersten Blick nichts zu suchen habe«

Lola-Gewinnerin Lorna Ishema ist die erste Stipendiatin der Deutschlandstiftung Integration im Bereich Schauspiel. Wir haben die vielfältige und charismatische Darstellerin zu einem Photo Shoot getroffen und ihr dabei ein paar Fragen gestellt.

31. März 2023 — Fotografie: Frederike van der Straeten, Interview: Katharina Viktoria Weiß

Lorna Ishema, 1989 in Rubaga, Uganda, geboren, zog im Alter von fünf Jahren mit Ihrer Familie nach Hannover. Bereits in der Schule entdeckte sie ihre musischen Talente und erlernte in einem Orchester das Spiel der Querflöte. Nach dem Abitur studierte sie Schauspiel an der renommierten Otto Falckenberg Schule in München.

Bereits während ihres Studiums wurde sie von Luc Perceval für seine Inszenierung von J. M. Coetzees „Schande“ an die Münchner Kammerspiele engagiert. Es folgten Engagements ans Münchner Volkstheater und ans Deutsche Theater in Berlin sowie diverse Rolle in Film- und Fernsehproduktionen. So war sie etwa in der ARD-Serie „Polizeiruf 110“, der Amazon-Serie „You Are Wanted“ oder der Thriller-Serie „Breaking Even“ zu sehen.

Für ihre Rolle der „Naomi“ in Sarah Blaßkiewitz‘ Familiendrama „Ivie wie Ivie“, einem Film über die Identitätssuche zweier afrodeutscher Halbschwestern, gewann sie 2021 die Lola, den Deutschen Filmpreis für die beste weibliche Nebenrolle. Im Frühjahr 2022 war sie in der Fiction-Serie „Der Überfall“ als Polizistin Antonia Gebert zu sehen. Zuletzt beendete sie die Dreharbeiten für den neuen Netflix-Film „Paradise“, in dem sie an der Seite von Iris Berben und Kostja Ullmann spielt und der voraussichtlich in diesem Jahr bei dem Streamingdienst zu sehen sein wird.

»Ich empfinde eine Wertschätzung der Branche gegenüber meiner Arbeit.«

MYP Magazine:
Im Oktober 2021 hast Du den Deutschen Filmpreis gewonnen. Was hat sich seitdem für Dich verändert?

Lorna Ishema:
Ich fühle mich bestärkt und empfinde eine Wertschätzung der Branche gegenüber meiner Arbeit. Vielmehr hat sich aber nicht verändert. Ich achte weiter darauf, dass ich meine eigenen Wege und Ziele verfolge. Mir ist es wichtig, mir selbst treu zu bleiben.

MYP Magazine:
Wo stellt man so eine Lola hin?

Lorna Ishema:
Meine Nichte durfte sich einen Platz aussuchen. Die Goldene Lola steht jetzt in Kinderhöhe auf einer Ablage neben der Wohnzimmertür.

»Für mich war jede einzelne Vorstellung, die ich gespielt habe, wie eine Mutprobe.«

MYP Magazine:
Warum spielst du aktuell kein Theater mehr?

Lorna Ishema:
Zum einen habe ich schlimmes Lampenfieber. Für mich war jede einzelne Vorstellung, die ich gespielt habe, wie eine Mutprobe. Danach war ich unglaublich stolz auf mich. Zum anderen habe ich die Zeit am Theater als sehr einengend erlebt. Ich hatte so gut wie nie Menschen um mich herum, mit denen ich mich identifizieren konnte oder die für mich in irgendeiner Form eine Vorbildfunktion gehabt hätten. Auch wenn ich bewusst aufgehört habe, Theater zu spielen, vermisse ich es sehr. Und ich bin froh zu sehen, dass sich langsam etwas an den Strukturen dort ändert.

»Mir ist meine Angst egal, wenn mir meine Intuition sagt, ich soll etwas tun.«

MYP Magazine:
Bist du ein Mensch, der sich selbst mit eigenen Ängsten konfrontiert?

Lorna Ishema:
Ich drücke es etwas anders aus: Mich interessieren Orte, an denen ich auf den ersten Blick nichts zu suchen habe. Als Kind hatte ich ein Tennis-Stipendium, später habe ich über ein Förderprogramm der Schule in einem Blasorchester gespielt. Zum Theater bin ich gekommen, weil ich von einer Schauspielerin auf der Bühne inspiriert wurde, die nicht der gängigen Norm entsprach. Das Schauspielstudium zu Ende zu bringen, hat mich viel Kraft und Überwindung gekostet, auch weil es dort viele Parallelen zum Theaterbetrieb gab. Trotzdem ist mir meine Angst egal, wenn mir meine Intuition sagt, ich soll etwas tun.

MYP Magazine:
Wie bereitest Du dich auf eine Rolle vor?

Lorna Ishema:
Für größere Rollen arbeite ich oft mit einer Schauspielcoachin zusammen. In dieser Zeit kann ich ausloten, wo meine persönlichen Grenzen liegen und eine eigene Haltung zur Figur und zum Stoff entwickeln, um mich dann ganz frei auf den Dreh einlassen zu können.

»Ich würde gerne die Ariel in der neuen Disney-Verfilmung synchronisieren.«

MYP Magazine:
In was für einer Geschichte würdest Du gerne die Hauptrolle spielen?

Lorna Ishema:
Im „Black Panther“-Universum stattzufinden und Teil von etwas ganz Großem zu sein, würde mich instantly für immer stolz machen. Außerdem würde ich gerne die Ariel in der neuen Disney-Verfilmung synchronisieren. Auf diese Weise mit meiner Stimme zu arbeiten, wäre etwas völlig Neues für mich. Bis jetzt hatte ich dafür zwar noch kein Casting, aber es hat mich zumindest dazu gebracht, wieder Gesangsstunden zu nehmen. Und wenn ich noch einen Wunsch frei habe: Ich liebe die Texte von Sharon Dodua Otoo, einer britisch-deutschen Schriftstellerin, Publizistin und Aktivistin mit ghanaischen Wurzeln, die mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet wurde. Ich würde liebend gerne mal in einem Film spielen, der auf einem Drehbuch von ihr basiert. Vor allem ihre Frauenfiguren, die oft komplex und anstrengend sind, reizen mich sehr.

MYP Magazine:
Vor kurzem hast du die Dreharbeiten zu dem Future-Thriller „Paradise“, einer Netflix-Produktion, beendet. Welche Abenteuer stehen sonst noch so an?

Lorna Ishema:
Ich belege aktuell ein Drehbuch- und Dramaturgie-Seminar an der Filmuniversität – ich möchte verstehen und lernen, warum es so schwierig ist, gute und komplexe Drehbücher zu schreiben.