Boris
Interview — Boris
Reduktion
Weltenbummler Boris kennt die Berliner Techno-Szene bereits aus Tagen, als sie noch in den Kin-derschuhen steckte. Der DJ spricht mit uns über New York, die Anfänge des Berghain und die Unmöglichkeit, dem Glück eine Dauer zu verleihen.
3. Mai 2014 — MYP No. 14 »Meine Wut« — Interview: Jonas Meyer, Fotos: Maximilian König
Sonntag, den 26. Januar 2014, um 3:00 Uhr morgens. Wer seinen Blick gerade auf den Mann gerichtet hat, der in der Panorama Bar seit drei Stunden hinter dem Plattenteller steht, kann für den Bruchteil einer Sekunde beobachten, wie er seinen Kopf zur Seite dreht, die Augen schließt und dabei seinen Oberkörper leicht nach hinten neigt – als gäbe es da irgendetwas, das ihn halten würde.
In diesem Moment breitet sich unter seinem dunklen Bart ein Lächeln aus, das so anders ist als all’ die vielen Lächeln um ihn herum: Tiefer. Zuversichtlicher. Und geprägt von einem ganzen Leben.
Elf Wochen später auf der anderen Seite der Spree. Der Wind ist heute so wild und eisig, als läge Kreuzberg direkt an der Nordsee. Boris, so heißt jener DJ aus der Panorama Bar, steigt an der Oberbaumbrücke von seinem Fahrrad und begrüßt uns freundlich. Über eine kleine Zufahrt zwischen Watergate und Magnet Club schlendern wir gemeinsam in den Innenhof eines großen Gebäudekomplexes, wo sich trotzig zwischen kernsanierten Wohnungen und Büros ein altes Backsteingebäude befindet: Das Kesselhaus aus dem 19. Jahrhundert steht heute als Vereinsheim in der Obhut des Mindpirates e.V. – einem Verein und Kunstkollektiv, das sich seit 2008 durch sein vielfältiges Programm zu einer festen Größe des Berliner Kultur- und Nachtlebens entwickelt hat.
Wir steigen eine kleine Treppe hinab, öffnen die schwere Stahltür am Eingang und betreten den imposanten Innenraum des Kesselhauses: Unter einer knapp zehn Meter hohen Decke erstrecken sich zwischen Stahl und Stein drei Ebenen, die durch gewaltige Fenster mit bunt gefärbtem Glas erhellt werden. Man glaubt fast, in einer kleinen Kirche zu sein, wären da nicht die vielen Masken, Fotoprints und Kunstwerke, die das Innere des Vereinsheims der Mindpirates schmücken.
Nach einem kurzen Rundgang machen wir es uns auf der untersten Ebene gemütlich. Je nach Veranstaltung wird dieser Raum auch als Tanzfläche genutzt und so gibt es hier sogar eine kleine Bar samt Mini-Mischpult. Boris nimmt auf einem Hocker in der Mitte des Raums Platz, schaut sich neugierig um und lächelt uns an.
Jonas:
Du bist in den 60er Jahren in Neukölln aufgewachsen. Welche Bilder hast du im Kopf, wenn du an deine Kindheit und Jugend denkst?
Boris:
Da entstehen in meinem Kopf keine wirklich spektakulären Bilder: Wie alle anderen Kinder habe auch ich auf der Straße gespielt und bin ganz normal zur Schule gegangen. Außergewöhnliche Erinnerungen gibt es bei mir erst ab dem Jahr 1981: Ich hatte gerade die Schule abgeschlossen und wollte eigentlich studieren, doch dafür war mein Abi zu schlecht. Also habe ich ein paar Monate lang gejobbt und dann gemeinsam mit einem guten Freund beschlossen, drei Monate lang Sri Lanka zu bereisen. Wir wollten uns damals beide eine Auszeit gönnen und so weit wegfahren, wie es mit unseren finanziellen Mitteln nur möglich war. Wir hatten damals eine superschöne Zeit, das Land war einfach paradiesisch.
Als ich 1982 nach Berlin zurückkam, fing ich wieder an, in verschiedenen Jobs zu arbeiten. Lange hat es mich aber nicht hier gehalten und so bin ich Mitte 1983 nach Barcelona gezogen.
Jonas:
Warum gerade Barcelona?
Boris (lacht):
Weil ich mich verliebt hatte! Mein damaliger Freund stammte aus New York und war auf einer Rundreise durch Europa. Da er aber kurzfristig ein Stipendium für eine Uni in Barcelona erhalten hatte, habe ich mich entschlossen, mit ihm mitzukommen und dort Spanisch zu lernen.
Wir konnten beide bequem mit seinem 1.000 $ Stipendium leben, denn Barcelona war Anfang der 80er Jahre spottbillig, fast sogar billiger als Berlin. Vor den Olympischen Spielen war die Stadt weitgehend unsaniert – dunkel und fast verrucht! Und die Altstadt war noch eine richtige Altstadt.
Nach zehn Monaten musste mein Freund aber zurück nach New York. Da wollte ich natürlich auch hin. Also habe ich meine Koffer gepackt, die noch bestehende Wohnung in Berlin aufgegeben und bin schließlich 1984 zum ersten Mal in meinem Leben nach New York geflogen.
Jonas:
Ist es dir schwer gefallen, so plötzlich alle Zelte in deiner Heimatstadt Berlin abzubrechen?
Boris.
Nee, für mich war absolut klar: Ich zieh’ jetzt nach Amerika und das war’s.
Jonas:
New York war ja immer schon der Inbegriff von Sehnsucht.
Boris:
Und früher noch viel mehr als heute! Damals kannte man ja nicht so viel von der Stadt. Man wusste über New York nur das, was man mal in einer Zeitschrift gelesen oder im TV gesehen hatte. New York wirkte damals wesentlich geheimnisvoller als heute – es gab ja auch kein Internet, das es einem ermöglichte, mal eben virtuell die Stadt zu erkunden.
Jonas:
War New York damals nicht auch wesentlich gefährlicher als heute?
Boris:
Ich empfand New York nie als gefährlich. Natürlich passierte in dieser Metropole so einiges, aber das Image einer gefährlichen Stadt wurde auch sehr stark von den Medien gezeichnet. Und außerdem: Wenn man aus Berlin stammt, was soll da in New York noch wirklich gefährlich sein? Ich jedenfalls sah nie so aus, als würde ich aus einem Milieu kommen, bei dem es sich lohnen würde, mich zu überfallen.
Jonas:
Du hattest auch das extreme Glück, nicht alleine dort zu sein – in New York kann man sich schnell einsam und verloren fühlen.
Boris:
Stimmt, aber ich hatte nie wirklich ein Problem damit, die Stadt auch alleine zu erkunden. Außerdem hat es auch nur ein halbes Jahr gedauert, bis ich wieder in Berlin war: Mein Visum lief Anfang 1985 ab, ich musste also zurück nach Deutschland.
Jonas:
Hat es dich sehr geschmerzt, New York wieder verlassen zu müssen?
Boris (zögert einen Augenblick):
Hmm nein, eigentlich nicht. Es war damals natürlich schon ein absolut umwerfendes Gefühl, als 24jähriger Berliner nach New York zu kommen und plötzlich nur noch Hochhäuser zu sehen. Aber ich hatte in der kurzen Zeit ja auch nicht wirklich Fuß fassen können in der Stadt, weshalb es auch nicht schlimm war, wieder zurück nach Berlin zu gehen.
Jonas:
Da stehst du Anfang 1985 plötzlich wieder da…
Boris:
Ja, aber Berlin ist Gott sei Dank eine Stadt, in der man immer wieder neu anfangen kann. Vor allem damals war es noch eine totale Schneewittchen-Stadt im Tiefschlaf, in der man billig leben konnte und leicht einen Job finden konnte.
So habe ich bald angefangen, unter anderem in der Oranienbar zu arbeiten. Das hat mich für ein paar Monate über Wasser gehalten. Alles war damals neu in meinem Leben: neuer Job, neue Wohnung, neuer Mitbewohner – der hatte mich übrigens als einziger vorher in New York besucht, was ich sehr cool fand. So sind wir richtig gute Freunde geworden.
Mein Mitbewohner war es auch, der mich im September 1985 gefragt hatte, ob ich nicht Lust hätte, gemeinsam mit ihm über Weihnachten und Silvester wieder nach New York zu fliegen und dort richtig einen drauf zu machen. Natürlich habe ich ja gesagt.
Ursprünglich wollten wir nur drei Wochen bleiben, aber kurz nach Silvester haben wir feststellen müssen: „Es ist einfach viel zu geil hier, wir machen gerade die beste Cluberfahrung unseres Lebens!“ Also haben wir kurzerhand unseren Aufenthalt auf März verlängert.
Jonas:
Aber auch im März bist du nicht zurückgekommen.
Boris:
Nein, mein Kumpel ist zwar zurückgeflogen, aber ich fand’s viel zu aufregend und bin geblieben. Es hatten sich zu der Zeit auch einfach schon zu viele Dinge in meinem Leben manifestiert.
Jonas:
Wie meinst du das?
Boris:
Ich hatte Anfang 1986 bereits ein WG-Zimmer in Brooklyn – für sagenhaft billige 100 $ pro Monat! Außerdem hatte ich als Abräumer in einem Lunch-Restaurant gearbeitet und dort 250 $ in der Woche verdient, was zum Überleben absolut gereicht hat. Dadurch hatte ich in gewisser Weise ein geregeltes Leben. Außerdem hatte ich neue Freunde gefunden und konnte fließend Englisch. So ist Berlin in meinem Kopf immer weiter in den Hintergrund gerückt. Und so beschlich mich der Gedanke, dass ich ja vielleicht doch mehr oder weniger sesshaft werden könnte.
Jonas:
Sesshaft werden mit 24 Jahren? Das klingt dann doch eher etwas konservativ.
Boris:
Wir reden von sesshaft werden in New York! Das ist einfach eine Metropole, die um ein Vielfaches größer ist als Berlin und dementsprechend auch etwas anderes anzubieten hat. Um es in einem Satz zu sagen: New York ist eine Potenzierung von Berlin.
Übrigens meine ich mit sesshaft werden, dass ich ein Gerüst hatte, mit dem ich mich sicher fühlte und mein Leben genießen konnte: Ich konnte hier tausend Leute kennenlernen und alles mitnehmen – ohne zu denken, nur Besucher zu sein und bald wieder gehen zu müssen. Für mich war das eine optimale Basis.
Jonas:
Während andere in deinem Alter also bereits an Reihenhaus und Kinder gedacht haben, hast du in New York quasi in einem ständigen Jetzt gelebt.
Boris:
An Reihenhaus oder Kinder habe ich nie gedacht, so ein Leben auf Nummer sicher kam für mich einfach nicht in Frage – auch wenn ich im Jahr 1982 mal für einige Monate als Sachbearbeiter bei einer Krankenkasse gearbeitet hatte. Man wollte mich sogar übernehmen und bot mir 14 Monatsgehälter und flexible Arbeitszeiten an. Aber irgendwie wollte ich so ein Leben nicht.
1985 hatte man das Gefühl, alles sei irgendwie eingeschlafen.
Jonas:
Was wolltest du denn?
Boris:
Ich wollte mich nicht festsetzen, sondern Abenteuer erleben – auch in Bezug auf das Nachtleben. In Berlin war die Clubszene zwar Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre noch richtig aufregend, aber 1985 hatte man das Gefühl, alles sei irgendwie eingeschlafen.
Jonas:
Dafür bist du ja ab 1986 immer tiefer in die New Yorker Clubszene eingetaucht. Ist diese Zeit dafür verantwortlich, dass Musik einen so hohen Stellenwert in deinem Leben hat?
Boris:
Ganz allgemein bin ich bereits sehr früh mit Musik in Berührung gekommen, da ich mir schon als Jugendlicher diverse Schallplatten gekauft habe. Und seit ich 1980 angefangen habe auszugehen, kamen auch etliche 12-Inches dazu – ich mochte einfach Clubmusik sehr.
Tatsächlich gab es aber in New York einen berühmten Club namens Paradise Garage, der für mich absolut prägend war. Larry Levan, der dortige Resident-DJ, hat mich musikalisch und stilistisch sehr beeindruckt. Ich habe ihn drei Jahre lang fast jede Woche in dem Club gehört und würde ihn heute als so etwas wie meinen Mentor bezeichnen – obwohl ich ihn persönlich nie kennengelernt habe.
Alle Plätze in den Clubs waren besetzt – und DJ werden konnte man quasi nur, wenn ein anderer starb.
Jonas:
Ist damals in dir das Gefühl entstanden, dass du selbst eher hinter den Plattenteller gehörst als davor?
Boris (lacht):
Nein, das kam erst viel, viel später – noch befinden wir uns ja in den 80ern! Ich hatte eigentlich nie den Gedanken, DJ werden zu wollen. Zwar habe ich immer Musik gekauft und im Laufe der Jahre auch eine riesige Plattensammlung angehäuft, aber in New York hat sich mir eine solche Frage nie gestellt. Damals hatte jeder Club seinen festen Resident-DJ – diesen DJ-Tourismus, wie man ihn heute kennt, gab es da noch nicht. Es war daher so gut wie unmöglich, in diese kleine Szene einzubrechen: Alle Plätze in den Clubs waren besetzt – und DJ werden konnte man quasi nur, wenn ein anderer starb.
Jonas:
Du bist letztendlich in New York doch nicht sesshaft geworden, sondern nach gut vier Jahren wieder nach Berlin zurückgekehrt. Was war passiert?
Boris:
Ende der 80er haben in New York etliche Clubs geschlossen, auch die Paradise Garage. Es gab einen neuen Bürgermeister, der die Stadt gründlich umkrempelte und in gewissem Maße „säubern“ wollte. Es gab tiefe Einschnitte im kulturellen Bereich und man hatte plötzlich das Gefühl, dass hier gerade eine Ära zu Ende geht.
Zur gleichen Zeit passierte in meiner Heimatstadt Berlin etwas, das mich als Mauerkind persönlich sehr berührte: Durch den Spiegel konnte ich im September und Oktober 1989 erfahren, dass in Deutschland irgendwie alles in Bewegung geriet: Botschaften wurden besetzt, DDR-Bürger reisten über Ungarn in den Westen aus und alles geriet total ins Schwanken.
Jonas:
Hast du wenigstens den 9. November 1989 in Berlin erlebt?
Boris:
Nein, leider nicht, da war ich noch in New York. Ich habe im amerikanischen Fernsehen eine fünfminütige Reportage über den Mauerfall gesehen – mehr nicht. Gerade einmal fünf Minuten über das Ende des Kalten Krieges! Ich wollte jetzt unbedingt nach Berlin zurück. Innerhalb weniger Wochen habe ich daher meine Zelte abgebrochen und Anfang März 1990 New York den Rücken gekehrt.
Jonas:
Wie hast du deine Ankunft in Berlin erlebt?
Boris:
Meine Schwester hat mich mit dem Auto vom Flughafen Schönefeld abgeholt. Ich konnte das gar nicht glauben: Nirgendwo gab es Volkspolizisten. Und als wir im Auto saßen, sagte sie plötzlich: „Wir gehen jetzt Unter den Linden einen Kaffee trinken.“ Das war für mich unglaublich, ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Es hat auch einige Wochen gedauert, bis ich mich an diese Situation gewöhnen konnte.
Jonas:
Und dann hast du in deinem Leben schon wieder neu angefangen.
Boris:
Ich hatte Gott sei Dank etwas Geld mitgebracht und konnte mich daher zuerst einmal in aller Ruhe umschauen. Über gute Freunde bin ich an einen Job in einer angesagten Bar gekommen und habe mich wenig später mit dem Besitzer angefreundet. Er hieß Marc Ernestus und hatte gerade den Plattenladen Hardwax eröffnet. Wir haben uns ewig über Musik unterhalten und ich habe ihm von meiner riesigen Schallplattensammlung erzählt, die ich bei meinem Umzug aus New York nach Berlin verschiffen ließ.
Marc hat mir das Angebot gemacht, ihm beim Sortiment zu helfen und die internationalen Bestellungen zu machen. Auch wenn ich dort anfangs nichts verdient habe, habe ich gerne zugesagt. So hatte ich plötzlich wieder mit Schallplatten zu tun – und als der Laden immer größer und anspruchsvoller wurde, wurde ich auch irgendwann bezahlt.
Aber der Ausschlag gebende Grund, warum ich letztendlich DJ geworden bin, ist ein sehr enger Freund von mir. Irgendwann im Jahr 1991 sagte er zu mir: „Mensch, du hast diese vielen Platten aus Amerika mitgebracht, du musst doch auflegen!“ Das war aber eigentlich überhaupt nicht so mein Ding. Also schlug er vor, dass wir das gemeinsam machen könnten, und ich habe ja gesagt. Wir sind dann mit unseren Plattenspielern und Mischpult in Schöneberg von Bar zu Bar gezogen und haben gefragt, ob wir dort musikalisch den Abend gestalten dürfen. Es gab dafür zwar kein Geld, aber wir konnten umsonst trinken und dabei unsere eigene Musik spielen.
Jonas:
Wie war die Resonanz?
Boris:
Das Ganze lief erstaunlich gut, wir haben wöchentlich in den verschiedensten Bars Musik gemacht. 1994 wurden wir sogar gefragt, ob wir im SO36 in Kreuzberg auflegen wollen. Damals gab es eine sehr angesagte Party namens „Hungrige Herzen“, die immer brechend voll war. Dort haben wir dann letztendlich 18 Monate lang alle vier Wochen aufgelegt, das war super!
Jonas:
Und dabei hat es angefangen, so richtig in den Fingern zu kribbeln?
Boris:
Klar, das hat damals einfach total viel Spaß gemacht – auch wenn es von Auftritt zu Auftritt ein Kampf war: Das SO36 war immer schon sehr alternativ, daher mussten wir uns an die Vorgabe halten, unsere House-Musik erst ab 2:00 Uhr aufzulegen – und vorher waren wir gezwungen, solche Sachen wie The Cranberries zu spielen.
Im Laufe der Monate hat sich das zeitlich aber immer weiter nach vorne verschoben. So durften wir irgendwann schon ab 1:00 Uhr und schließlich sogar ab 0:00 Uhr die Musik spielen, die nicht nur wir lieber mochten, sondern auch das Publikum.
Aber leider wurde Mitte 1995 das Führungsplenum des SO36 gewechselt. Da gab es plötzlich Leute, die relativ viel an uns rumzunörgeln hatten. Wir wurden in der Konsequenz nicht mehr gebucht und die ganze Sache ist eingeschlafen.
Jonas:
Wie ging es danach weiter?
Boris:
Zwei Freunde von mir arbeiteten damals in der Motzstraße in einer Schwulenbar namens Hafen. Sie erzählten mir, dass sie für ihre Schicht einen DJ suchen – und so haben wir kurze Zeit später dort gemeinsam den Donnerstag gestaltet. Bis 1999 habe ich vier Jahre lang jede Woche im Hafen aufgelegt.
Verglichen mit dem, was damals in Berlin clubmäßig los war, war das zwar nichts Großartiges, aber mit den angesagten Läden wie Tresor, E-Werk oder Planet konnte ich zu der Zeit eh nichts anfangen: Ich kam mit vollkommen anderen Musikvorstellungen und Erfahrungen aus New York, daher war mir diese neue Berliner Clubszene ziemlich fremd.
Ich glaube, ich bin damals einfach zu sehr in meinen New Yorker Erinnerungen versunken und konnte mich deshalb nicht auf die Clubszene hier einlassen.
Jonas:
Was genau hat dich daran gestört?
Boris:
Ich glaube, ich bin damals einfach zu sehr in meinen New Yorker Erinnerungen versunken und konnte mich deshalb nicht auf die Clubszene hier einlassen. Vielleicht war diese Einstellung auch ein wenig arrogant, wer weiß.
Jonas:
Eventuell hast du auch ein wenig die finanzielle Basis und den geregelten Job vermisst, die dir in New York eine gewisse Sicherheit gegeben haben.
Boris:
Ich habe Ende der 90er in Berlin tatsächlich wenig Geld verdient. Aber dafür bin ich meiner Leidenschaft gefolgt. Ob es jetzt die Arbeit im Hardwax war oder das Auflegen im Hafen: Ich kam einfach ständig mit Musik in Berührung.
Jonas:
Wahrscheinlich hätte dich auch alles andere unglücklich gemacht.
Boris:
Um ehrlich zu sein: Ein wenig unglücklich war ich schon, als unser Engagement im SO36 zu Ende ging und ich vier Jahre lang im Hafen jede Woche mehr oder weniger die gleiche Musik gemacht habe. Irgendwann habe ich mir daher einige Fragen gestellt: Was ist dieses Musikmachen eigentlich für mich? Ist das ein Hobby? Oder hat es vielleicht doch Potenzial für mehr? Soll ich damit überhaupt weitermachen? Oder das Ganze eher fallen lassen?
Ich saß total in der Klemme, denn ich konnte ja mit der Berliner Clubszene nach wie vor nichts anfangen – was ja die Grundvoraussetzung gewesen wäre, um hier professionell Fuß zu fassen. Aber dann ist glücklicherweise 1998 das Ostgut entstanden.
Jonas:
Ein legendärer Ort.
Boris:
Ja – und in gewisser Weise ein Persona non grata-Club.
Jonas:
Wie meinst du das?
Boris:
Das Ostgut lag in einem Gebiet, in dem es Ende der 90er keinen öffentlichen Nahverkehr gab. Man ist entweder mit dem Fahrrad hingefahren, hat ein Taxi genommen oder ging zu Fuß. Das war damals ein absolutes Niemandsland – stockdunkel und dazu noch hinter der Mauer.
Ich hatte aber erfahren, dass es im Ostgut eine Partyreihe names „Dance with the Alien“ gab, auf der der New Yorker DJ George Morel auflegte. Ich dachte mir: Wenn man pro Jahr fünfmal einen DJ aus New York einfliegen lässt, nur um ihn im Ostgut auflegen zu lassen, dann kann ich mich da ja auch mal bewerben. Also habe ich eine Mixkassette zusammengestellt und einem Freund zugesteckt, der damals an der Bar gearbeitet hat. Eine Woche später gab er mir die Kassette zurück – mit dem Kommentar, dass er sie nicht für gut genug hielt, um sie weiterzugeben. Das war’s für mich, alles in Scherben.
Jonas:
Die Sonne geht doch immer wieder auf, wenn sie mal untergegangen ist.
Boris:
Ja, aber es war trotzdem deprimierend. Jetzt hatte ich mal den Schritt gewagt, mich tatsächlich als DJ zu bewerben, und dann funktionierte es nicht. Aber wie das Leben so spielt, habe ich kurze Zeit später den Musikjournalist Thilo Schneider kennengelernt. Thilo schrieb damals für das Flyer-Magazin, das Ende der 90er ziemlich populär war. Und er war sehr fasziniert vom Ostgut – sogar so sehr, dass er den Betreibern angeboten hatte, sie beim Booking und der Künstlerauswahl zu unterstützen, was er dann auch tatsächlich zwei, drei Jahre lang getan hat.
Im Sommer 1999 kam Thilo im Hafen vorbei. Als er meine Musik hörte, sagte er: „Hey, du spielst ja einen echt coolen Sound, das hört sich richtig gut an!“ Sechs Wochen später rief mich einer der Ostgut-Betreiber an und erzählte, dass ihnen noch ein DJ für die Snax-Party im Lab fehlte. Und so stand ich im September 1999 zum ersten Mal dort hinter dem Plattenteller.
Nach meinem ersten Auftritt schauten die Betreiber vorbei und fanden es gut, was ich da machte. Sie erzählten mir, dass sie im Januar 2000 einen weiteren Floor namens Panorama Bar eröffnen wollen, und fragten mich, ob ich mir vorstellen könnte, dabei zu sein. Natürlich habe ich zugesagt! So fing vor 15 Jahren alles an – dank Thilo Schneider.
Jonas:
Hattest du nun das Gefühl, plötzlich alle Antworten auf die Fragen gefunden zu haben, die du dir noch kurz vorher gestellt hattest?
Boris:
Nicht plötzlich, aber die Antworten haben sich im Laufe der nächsten Monate immer stärker manifestiert. Zu Ostgut-Zeiten habe ich ja ausschließlich im Ostgut aufgelegt, da habe ich an ein Leben als hauptberuflicher DJ noch nicht gedacht. Und dementsprechend gab es damals auch noch keine Gedanken an eine Booking-Agentur – das kam erst mit dem Berghain, dem Nachfolgeclub des Ostgut. Seitdem wurde ich immer öfter von nationalen und internationalen Clubs angefragt und bin dadurch in den letzten Jahren ziemlich in der Welt herumgekommen.
Jonas:
Im Jahr 2003 musste das Ostgut schließen, weil auf dem dortigen Gelände die O2-Arena errichtet werden sollte. Wie hast du das Ende des Clubs erlebt?
Boris:
Das war für mich und viele andere Berliner der absolute Weltuntergang! Man muss wissen, dass das Ostgut von 1998 bis 2000 ein hartgesottener Schwulenclub mit marginalem Frauenanteil war, zu dem die neue Panorama Bar ab dem Jahr 2000 ein Gegengewicht darstellen sollte – softer, hedonistischer und mit etwas anderer Musik. Dadurch ist das Ostgut schlagartig zum hipsten Club Berlins geworden. Und es war der einzige Ort in der Stadt, an dem man bis in den späten Sonntagnachmittag feiern konnte.
Jonas:
Eine interessante Parallele zur Paradise Garage im New York der 80er…
Boris:
Stimmt, allerdings ging dort die Party nur bis 12:00 Uhr mittags und es gab keinen Alkohol. Wie bei der Paradise Garage dachte man aber auch beim Ostgut, dass es das Beste ist, was es in der Stadt gibt. Und so wurde der Club auf einmal überrannt, als irgendwann der Termin für den Spatenstich der O2-Arena feststand und damit das Ende des Ostgut besiegelt war.
Jeder wollte noch mitnehmen, was geht. Es hat sich damals ein regelrechter Kult entwickelt, die Leute haben sogar geweint.
Wir verlassen den kleinen Clubraum und steigen einige Treppenstufen zur zweiten Ebene hinauf. Das bunte Glas der riesigen Fenster kreiert gemeinsam mit der Stille eine sonderbare Stimmung in dem Raum: Fast andächtig ist es hier – und trotzdem farbenfroh.
Jonas:
Hat sich bei dir im Laufe der Jahre das Bedürfnis entwickelt, etwas Bestimmtes mit deiner Musik zu sagen? Oder ist das Auflegen für dich etwas, das rein aus deinem Gefühl heraus entsteht?
Boris:
Musik bedeutet irgendwie alles für mich, daher gibt es da bei mir einen gewissen Automatismus: Seit ich auflege, drücke ich mich auch emotional darüber aus. Ich spiele einfach, wie ich von innen her spielen will. Und egal in welcher physischen Verfassung ich bin, ob müde oder nicht müde –sobald ich hinter dem Plattenteller stehe, ist alles verflogen und die Energie da. Und dann versuche ich, mein ganzes Gefühlsspektrum und meine Gedankenwelt so über die Musik zu transportieren, dass die Leute das irgendwie annehmen, aufnehmen und verstehen können.
Jonas:
Hast du dabei nicht das Gefühl, dich vor deinem Publikum komplett zu offenbaren?
Boris:
Manchmal. Aber nicht immer.
Jonas:
Nimmst du bewusst wahr, dass du mit deiner Musik andere Menschen in gewisser Weise steuern kannst?
Boris:
Ja natürlich! Das wird mir durch das enorme Feedback bewusst, das mir die Leute geben. Es ist einfach schön zu wissen, dass man Menschen so tief in ihrer Gefühlswelt berühren kann.
Jonas:
Beflügelt dich dieses Wissen?
Boris:
Auf jeden Fall bestätigt es einen in dem, was man tut. Ich habe gemerkt, dass ich mit meiner Musik irgendwie in der Lage bin, einen ganz bestimmten Draht zu den Leuten aufzubauen.
Jonas:
Das klingt sehr bescheiden.
Boris schweigt.
Das Einzige, wo ich mich selbst nicht reduzieren kann, ist die Musik.
Jonas:
Ist dir Bescheidenheit wichtig im Leben?
Boris:
Ich würde jetzt nicht sagen, dass es mein Lebensmotto ist, aber ich finde es schon wichtig, dass man mit wenig auskommt und auch versucht, sich auf wenige Sachen zu konzentrieren.
Man sollte im Leben einfach versuchen, so wenig materialistisch wie möglich zu denken – das Einzige, wo ich mich selbst nicht reduzieren kann, ist die Musik.
Jonas:
Könntest du dir vorstellen, in deinem Leben auch etwas ganz anderes zu tun?
Boris (lacht):
Etwas anderes tun? Ich koche gerne – aber nur für Freunde, nicht professionell. Mit dem Kochen ist es bei mir übrigens wie mit der Musik: Ich experimentiere gerne und probiere viele neue Kombinationen aus. Deshalb mag ich auch das Berghain so sehr – ich kann dort einfach Dinge machen, die nur dort funktionieren. Das liegt zum einen an der Anlage und zum anderen an dem ganz besonderen Umfeld: Das Team, die Gäste und überhaupt die ganze Situation dort machen es möglich, dass ich genau das tun kann, was ich tue.
Es ist sowieso unnötig, irgendetwas festhalten zu wollen. Leider liegt es in der Natur des Menschen, sich zwanghaft an das zu klammern, was glücklich macht.
Jonas:
Würdest du sagen, dass das Berghain ein elementarer Teil deines Lebens ist?
Boris:
Ich fühle mich im Berghain absolut zuhause und sehr gut aufgehoben – daher möchte ich es nie missen. Aber alles geht ja irgendwann auch mal vorbei: Das Berghain geht vorbei, ich gehe vorbei – man kann nichts festhalten.
Es ist sowieso unnötig, irgendetwas festhalten zu wollen. Leider liegt es in der Natur des Menschen, sich zwanghaft an das zu klammern, was glücklich macht. Ich persönlich glaube aber, dass das der absolut falsche Blick auf’s Leben ist. Das Glück liegt eher in der Vergänglichkeit. Das macht es so wertvoll.
Boris schließt für einen Moment seine Augen, öffnet sie wieder und wirft uns einen festen Blick entgegen. Ganz langsam ziehen sich dabei seine Mundwinkel nach oben.
Da ist es wieder, dieses Lächeln, das schon vor elf Wochen so anders war als all’ die Lächeln um ihn herum. Würde er jetzt wie damals seinen Oberkörper leicht nach hinten neigen, man wüsste, was ihn halten würde – auch dann, wenn alles einmal vorbei geht.
Boris Dolinski ist 52 Jahre alt, DJ und lebt in Berlin.
I Heart Sharks
Interview — I Heart Sharks
To Be Young
Warum ist eure Musik so wahnsinnig traurig? Die Jungs von I Heart Sharks erklären uns die Kraft der Zerbrechlichkeit – und warum sie nicht ewig leben wollen.
3. Mai 2014 — MYP No. 14 »Meine Wut« — Interview: Jonas Meyer, Fotos: Maximilian König
Das „Hackbarth’s“ in der Berliner Auguststraße ist immer für ein Bier gut – und in der Regel auch für ein interessantes Gespräch: Die Stunden hier können lang und erkenntnisreich werden.
Und so zieht es uns auch heute wieder an diesen äußerlich zwar unscheinbaren, aber dafür im Inneren um so prächtigeren Ort: Sandfarbene Wände, blaue Kacheln, dunkles Holz und eine vor Messingbeschlägen nur so strotzende Bar verbreiten eine ganz eigentümliche Wohlfühlatmosphäre. Je dunkler es draußen wird, desto stärker erstrahlt das kleine Lokal in einem seidig schimmernden Goldton.
Aber noch ist später Nachmittag – und das Wetter so unverschämt gut, dass wir uns fast dafür entschuldigen müssten, drinnen einen Tisch reserviert zu haben. Doch die von uns gewählte Ecke ist angenehm hell und gemütlich, es fällt sogar ein wenig Sonnenlicht in das charismatische Lokal.
Kaum haben wir es uns auf den Eckbänken des großen Tischs gemütlich gemacht, betreten Simon, Pierre und Martin das „Hackbarth’s“ – die Sharks sind da! Und so sitzen wir wenige Minuten später stammtischartig in großer Runde beisammen, ordern Getränke und starten das Aufnahmegerät.
Herzlich willkommen, I Heart Sharks!
Jonas:
Pierre und Simon, ihr seid euch vor sieben Jahren in Berlin begegnet. Wie kam es dazu?
Simon:
Ich bin damals gezielt nach Berlin gekommen, um hier Musik zu machen. Zwar bin ich in München geboren, in New York und Virginia aufgewachsen und habe auch eine Zeit lang in Dresden gelebt, aber irgendwie schien mir Berlin der ideale Ort zu sein, um eigene Musik zu produzieren und dafür die richtigen Leute zu treffen.
Pierre:
Ich hatte gerade in London ein Studium in Grafikdesign und Kunstgeschichte abgebrochen und wollte eigentlich nach Paris ziehen, um ebenfalls Musik zu machen – aber auch mir schien Berlin dafür die bessere Wahl zu sein.
Schon als kleines Kind wollte ich immer in einer Band singen – wahrscheinlich weil mir mein Vater fast täglich die Musik seiner Jugend vorgespielt hat: Bei uns zuhause lief ständig David Bowie, Queen und wie sie alle heißen. Ich habe zwar später in der einen oder anderen Band gesungen, allerdings war es mir nie wirklich möglich, mich dort musikalisch einzubringen – ich habe ja nie ein Instrument gelernt und musste es daher immer anderen überlassen, die Songs zu schreiben. Das wollte ich einfach nicht mehr.
Jonas:
Und wie genau haben sich hier in Berlin eure Wege gekreuzt?
Simon:
Beim Feiern im Berghain! Zur damaligen Zeit wollten wir beide in Berlin andere Musiker kennenlernen und sind zufälligerweise an einem Wochenende im Berghain ins Gespräch gekommen.
Piere:
Als ich 2007 nach Berlin gezogen bin, war ich relativ oft im Berghain und anderen Clubs. Elektronische Musik war damals in London ja im Gegensatz zu heute noch nicht wirklich cool. Daher fand ich es richtig toll, diese Musik in der Berliner Clubszene zu erleben.
Interessanterweise geht mir elektronische Musik heute gar nicht mehr so ab. Gerade mag ich gut gemachte Popmusik irgendwie mehr – vor allem, wenn sie intelligente Texte und eingängige Melodien hat, die die Leute zum Tanzen bringen. Und ehrlich gesagt macht es auch mehr Spaß, eigene Musik zu machen, als an den Wochenenden in Clubs zu feiern.
Jonas:
Sich gemeinsam im Berghain über Musik zu unterhalten ist aber immer noch etwas anderes, als tatsächlich eine eigene Band zu gründen und zusammen Musik zu machen. Wann habt ihr gemerkt, dass ihr beide musikalisch in die gleiche Richtung denkt und dass es da eine gemeinsame Basis geben könnte?
Simon (lächelt):
Der erste Versuch war irgendwie gleich ein Volltreffer – und hat bis jetzt gehalten! Jeder von uns hatte damals gewisse Vorstellungen, Ideen und vielleicht auch Talente, die wir einfach zusammengefügt haben. Das Ergebnis hat uns gefallen, also haben wir weitergemacht.
Jonas:
Martin, du bist 2011 als Schlagzeuger zur Band gestoßen, nachdem der damalige dritte Mann Georg Steinmaier ausgeschieden ist. Wie genau bist du Pierre und Simon begegnet?
Martin:
Pierre und ich haben uns kennengelernt, als ich mit meiner damaligen Band sein Projekt „Vienna“ supportet habe. Einige Zeit später schrieb er mich auf Facebook an und erzählte, dass sie einen neuen Schlagzeuger suchen. Ich weiß noch, dass ich gerade total euphorisiert von einem Coldplay Konzert kam, als ich seine Nachricht sah – daher habe ich auch direkt zugesagt. Martin grinst.
Jonas:
Im Jahr 2011 habt ihr auch euer erstes Album „Summer“ veröffentlicht. Habt ihr euch dafür bewusst vier Jahre Zeit gelassen?
Pierre:
Wir hatten am Anfang eigentlich gar nicht vor, ein Album zu produzieren, und wollten eher nur Live-Konzerte spielen – in Clubs, Kellern und wohin wir sonst noch so gepasst haben. Uns war es wichtig, immer unterwegs zu sein und neue Leute kennenzulernen. Daher haben wir unsere Songs auch hauptsächlich für Live-Auftritte geschrieben.
Wie das aber so ist, haben uns die Leute irgendwann gefragt, wann wir endlich mal ein Album veröffentlichen wollen. Also haben wir uns ernsthaft mit diesem Thema befasst und „Summer“ produziert. Die ersten Tracks der Platte sind allesamt Stücke, die ursprünglich nur für unsere Live-Auftritte geschrieben wurden. Daher war es uns bei unserem zweiten Album „Anthems“ umso wichtiger, dass diesmal alles etwas besser zusammenpasst.
Jonas:
Trotzdem hatte man schon bei „Summer“ den Eindruck, dass hinter dem Album ein schlüssiges Gesamtkonzept steht, weil der Sound über die gesamte Platte so klar und prägnant wirkt.
Pierre:
Das liegt daran, dass wir die Songs immer in relativ kleinen Proberäumen eingeübt haben, wo die Akustik schlecht war und die Instrumente ziemlich viel Lärm gemacht haben. Wir mussten für diese Gegebenheiten also Gitarrensounds erzeugen, die durch den ganzen Lärm durchschneiden konnten.
Als wir diese Live-Songs dann später für unser erstes Album aufgenommen haben, haben wir eine etwas andere Ästhetik erzeugt und relativ viele Elemente rausgelassen, was die Stücke insgesamt etwas nackter gemacht hat. Die Songs auf unserem zweiten Album „Anthems“ dagegen sind ganz anders balanciert, weil sie von Anfang an für eine andere Umwelt geschrieben wurden.
Jonas:
Bei dem Song „To be young“, der ersten Single-Auskopplung eures neuen Albums, hört man zwar direkt I Heart Sharks heraus, trotzdem hat man das Gefühl, euch von einer ganz neuen, poppigeren Seite kennenzulernen.
Pierre:
Es war nicht unser vorrangiges Ziel, auf der neuen Platte poppiger zu klingen. Wir wollten vielmehr generell etwas anderes machen als vorher. „To be young“ beispielsweise zeigt nur eine Seite des Spektrums des neuen Albums. Die nächste Singleauskopplung dagegen wird dafür eine ganz andere Seite dieses breiten Spektrums zeigen.
Ich glaube auch, dass man sich das neue Album ein paar Mal anhören muss, um komplett reinzukommen. Alle 14 Tracks sind sehr unterschiedlich, dennoch haben wir darauf geachtet, dass der rote Faden erkennbar ist – und dass man bei jedem Song erkennt, dass es sich um I Heart Sharks handelt.
Simon:
„Anthems“ ist aber wie schon das erste Album kein Konzeptalbum: Wir haben uns nicht im Vorfeld konspirativ zusammengesetzt und geplant, ein in sich geschlossenes, themenbezogenes Werk zu produzieren. Die Platte ist vielmehr so entstanden, dass wir uns immer mal wieder getroffen und dabei einen Song geschrieben haben. Dann waren wir mal bei einem Konzert oder haben etwas Besonderes erlebt, haben uns erneut getroffen und einen weiteren Song geschrieben. So kam im Laufe der Monate immer ein Stück dazu. Somit ist das neue Album durch eine Kette von Entwicklungen entstanden, die interessanterweise erst im Nachhinein und beim Betrachten des finalen Ergebnisses den Eindruck vermitteln, als stünde tatsächlich ein großes inhaltliches Gesamtkonzept dahinter.
Musikalisch gesehen hatten wir allerdings schon eine gewisse Idee davon, wie das Album werden soll: Insgesamt wollten wir uns mehr am etwas schmutzigeren, rotzigeren Sound englischer Bands orientieren und nicht so sauber klingen, wie man das aus dem deutschsprachigen Raum gewohnt ist. Daher haben wir auch mit einem Produzenten aus Manchester zusammengearbeitet, der über eine sehr große Erfahrung in diesem Bereich verfügt.
Jonas:
Wie genau lief eure Zusammenarbeit ab?
Simon:
Wir haben alle sehr viel Zeit miteinander verbracht und den Produzenten quasi übergangsweise als viertes Bandmitglied aufgenommen. Das Gute war, dass er uns nie vorgegeben hat, wie wir diesen Sound erreichen müssen. Alles hat sich sehr natürlich und in gemeinsamer Arbeit entwickelt.
Pierre:
Und nachdem die Songs auf unserem ersten Album mehr auf einzelne Statements fokussiert waren, wollten wir diesmal mit jeden Lied eine Geschichte erzählen.
Jonas:
Im Refrain von „To be young“ heißt es: „Had no time to be young“ – habt ihr selbst das Gefühl, keine Zeit gehabt zu haben, um jung zu sein?
Pierre:
Den Begriff „jung sein“ verstehe ich eher als eine Metapher: Es geht darum, sich Zeit für sich selbst zu nehmen und die Dinge zu tun, die einen glücklich machen. Viele Menschen legen in ihrem Leben den Schwerpunkt einfach viel zu sehr auf ihre Arbeit und geben ihrer Freizeit dabei zu wenig Raum. Irgendwann aber geht man in Rente und merkt plötzlich, dass man sein halbes Leben verpasst hat.
Jonas:
Es gibt eben Berufe, die einen zeitlich sehr vereinnahmen.
Pierre:
Das stimmt. Es geht mir auch vielmehr darum zu zeigen, dass man nicht ewig leben wird und seine Zeit daher sinnvoll nutzen soll. Ich selbst musste in den letzten Jahren schmerzhaft meine Grenzen kennenlernen und feststellen, dass ich nicht für immer und ewig ein junger Mann bleiben werde. Irgendwann lernt jeder seine eigene Zerbrechlichkeit kennen und fragt sich zwangsläufig: Bin ich eigentlich glücklich? Mache ich genau das, was ich für mein Leben will?
Jonas:
Dabei ist Zerbrechlichkeit etwas, was die heutige Gesellschaft eigentlich gar nicht mehr gestattet. Da geht es um Stärke, Leistung und ein ständiges Höher-schneller-weiter.
Simon:
Davon sind aber auch wir nicht wirklich verschont. Es gibt auf der Welt und vor allem in Berlin viele talentierte Leute, die gute Musik machen und damit Geld verdienen wollen. Man steht da in einem ständigen Wettbewerb und hat eigentlich keine Zeit, sich auszuruhen.
Pierre:
Ich glaube aber, dass sich viele Leute unnötig unter Druck setzen, weil sie glauben, unbedingt auf diesen Höher-schneller-weiter-Zug aufspringen zu müssen. Dabei stopfen sie ihren Kopf mit unnötig vielen Informationen voll, um ja nichts zu verpassen. Doch gerade dadurch verpassen sie es, sich auf das Wesentliche in ihrem Leben zu konzentrieren.
Geht es nicht letztendlich darum herauszufinden, was für das eigene Leben wesentlich ist? Wenn man glücklich mit sich selbst ist und sich gezielt die Dinge rauspickt, die einen weiterbringen, ergibt sich der Plan des Lebens ganz von alleine.
Für einen kurzen Moment wird es ganz still – als würde jeder der am Tisch Versammelten die gerade gesprochenen Sätze für sich und sein eigenes Leben überprüfen.
Plötzlich poltert ein Lastwagen über das Kopfsteinpflaster der Auguststraße und unterbricht abrupt die Stille. Wie durch einen Automatismus richten sich unsere Blicke mit einem Mal zur Eingangstür: Das Leben spielt sich heute draußen ab – und das Wetter ist nach wie vor gigantisch! Wir zahlen kurzerhand und verlassen das Lokal, denn wir wollen noch ein wenig Sonne einfangen. Und so spazieren wir wenig später entlang der August- und Mulackstraße in Richtung Rosa-Luxemburg-Platz, lassen uns treiben und genießen diesen wunderschönen Tag unter strahlend blauem Himmel. Dabei halten wir immer mal wieder an, um das eine oder andere Foto von Simon, Pierre und Martin zu schießen.
Jonas:
Würdet ihr das, was ihr tut, als Beruf bezeichnen?
Martin:
Ich glaube, Beruf ist da nicht das richtige Wort. Ich würde es eher Leidenschaft nennen – auch weil darin das Wort Leiden steckt. Man ist in unserem Job ja immer auf Achse, steht unter Stress, versucht Termine einzuhalten und schleppt Equipment von einem Ort zum anderen.
Aber wenn man auf der Bühne steht, bekommt man von den Leuten so viel zurück, dass man weiß, wofür man das alles tut. In dieser einen Stunde während des Auftritts vergisst man den ganzen Mist, der davor war. Und genau das treibt einen jedes Mal wieder dazu an, mit all dem weiterzumachen.
Es macht meinen Tag zwanzig Mal schöner, wenn sich fremde Menschen mit mir über unsere Musik unterhalten und beispielsweise erzählen, was einer unserer Songs in ihnen auslöst.
Jonas:
Was genau ist es denn, was man von den Leuten vor der Bühne zurückbekommt?
Simon:
Das ist ein Gefühl, das den gesamten Körper in einen Rausch versetzt. Für mich ist es immer wieder atemberaubend, die Dynamik der großen Menschenmasse zu erleben, etwa wenn die Leute tanzen oder gleichzeitig hochspringen. Das hat eine ganz eigene Ästhetik.
Pierre:
Stimmt. Und wenn man nach dem Auftritt vor hunderten Menschen plötzlich alleine im tristen Backstage-Bereich sitzt, merkt man noch viel deutlicher, wie gut das war, was man gerade erlebt hat.
Für mich hat aber nicht nur diese große Masse etwas Magisches, sondern auch die persönliche Begegnung mit den Leuten. Es macht meinen Tag zwanzig Mal schöner, wenn sich fremde Menschen mit mir über unsere Musik unterhalten und beispielsweise erzählen, was einer unserer Songs in ihnen auslöst.
Jonas:
Welche Musik löst denn in euch etwas aus?
Pierre:
Ich bin immer den Tränen nahe, wenn ich mir das Album „Hurry up, we’re dreaming“ von M83 anhöre. Das zerstört mich jedes Mal auf’s Neue. Oder die Musik von The National.
Martin:
The National zerreißen mir auch das Herz. Ende letzten Jahres war ich zusammen mit Pierre auf einem Konzert von The National in der Berliner Max-Schmeling-Halle. Uns beiden stand das Wasser in den Augen – und wir haben zwei Stunden lang nur gestaunt, wie unfassbar gut diese Musik ist.
Simon:
Live-Musik kann sowieso viel mehr Emotionen auslösen als jede CD oder Schallplatte. Wenn ein Künstler leibhaftig vor mir steht und mir ehrlich verkauft, was er da tut, hat das großes Gänsehaut-Potenzial. Für mich erzeugt beispielsweise die Band Efterklang eine unglaubliche Magie auf der Bühne.
Jonas:
Seit ein paar Jahren beobachten wir zwei sehr gegensätzliche Entwicklungen: Auf der einen Seite scheinen sich junge Leute immer ausführlicher und intensiver mit Musik – auch mit Indie-Musik – zu beschäftigen, auf der anderen Seite spielt medial die Qualität von Musik eine immer kleinere Rolle: Menschen stehen Schlange bei unzähligen Casting-Shows, um in möglichst kurzer Zeit ein wenig Ruhm und Aufmerksamkeit zu erlangen. Nehmt ihr diese Veränderungen ähnlich war?
Simon:
Musik gehört heute viel stärker zum persönlichen Lifestyle als noch vor ein paar Jahren. Alleine die Tatsache, dass man seine Musik auf dem Smartphone überall dabei hat, führt dazu, dass man sich permanent darüber definiert. Dadurch kommt der Musik automatisch ein höherer Stellenwert zu.
Pierre:
Indie ist ja auch der neue Mainstream.
Simon:
Und Mainstream ist das neue Indie.
Pierre:
Indie war am Anfang ja kein eigenes Musikgenre, sondern stand einfach für „Independent Records“. Es hat sich nur deshalb zu einem Genre entwickelt, weil die Bands alle sehr ähnlich klangen. Wahrscheinlich wird der Indie-Künstler der Zukunft jemand sein, der zuhause im Schlafzimmer irgendwelche Beats und Sounds an seinem Laptop baut und dadurch „independent“ und nicht Mainstream ist.
Insgesamt ist Mainstream aber auch nichts Schlechtes: Es bedeutet ja in erster Linie nur, dass viele Menschen diese Musik mögen und daher öfter hören.
Jonas:
Im Gegensatz zu vielen Mainstream-Bands gelingt es euch, eure Musik auch grafisch zu interpretieren. Alleine die Schriftart, die ihr verwendet, orientiert sich mit ihrer klaren, spitzen und aussagekräftigen Architektur sehr stark am I Heart Sharks-Sound.
Pierre:
Mir war es sehr wichtig, dass eine inhaltliche Verbindung zwischen unserem Sound und unserem visuellen Auftritt hergestellt wird. Daher habe ich unsere Typo auch selbst entworfen. Insgesamt wollte ich bei I Heart Sharks grafische Klarheit schaffen und kein Chaos erzeugen. Und ich versuche, über alle Alben ein in sich schlüssiges Corporate Design zu etablieren.
Jonas:
Dabei scheint bei dem Artwork eures zweiten Albums „Anthems“ die Fotografie eine wesentlich größere Rolle zu spielen als vorher.
Pierre:
Das stimmt, die Optik ist sehr stark von der Fotografie Helmut Newtons inspiriert, den ich während des Schreibens für mich entdeckt habe. Ich kannte zwar seine Bilder schon vorher, aber habe mich erst vor kurzem intensiver damit auseinandergesetzt.
Ich muss sagen, dass mich seine Farbfotos noch wesentlich stärker berühren als seine Schwarzweiß-Werke. Ich liebe einfach diese Traumwelten, die er mit prägnanten, übersättigten Farben und starken Kontrasten kreiert. Diesen Stil wollte ich für „Anthems“ interpretieren, da unsere Musik ebenfalls sehr prägnant und kontrastreich, aber dennoch in gewisser Weise träumerisch ist.
Traurig sein hilft der Kreativität enorm, da man in diesem Zustand in viel mehr Richtungen denkt und seine Gefühle besser kanalisieren und auf Papier bringen kann.
Jonas:
Aus welchem Gefühl heraus könnt ihr denn am besten komponieren und texten?
Simon:
Ich bin ja leider eher der sachliche Typ, gehe alles sehr systematisch an und entscheide wenig aus dem Bauch heraus. Das nervt mich ein wenig, lässt sich aber nicht so einfach abstellen.
Pierre:
Ich finde Reisen dafür perfekt: Andere Länder kennenzulernen macht mich immer total kreativ. Aber auch negative Emotionen wie etwa Traurigkeit lassen mich bessere Texte verfassen. Als ich die Songs für unser neues Album geschrieben habe, hatte ich gerade eine Trennung hinter mir. Unser Manager scherzt immer, dass wir öfter Beziehungen beenden sollten, weil dadurch unsere Songs besser würden.
Martin (lacht):
Für einen Schlagzeuger ist wahrscheinlich Wut die beste Gefühlslage, bei einem Gitarristen würden ja direkt die Saiten reißen.
Aber ich gebe Pierre recht: Traurig sein hilft der Kreativität enorm, da man in diesem Zustand in viel mehr Richtungen denkt und seine Gefühle besser kanalisieren und auf Papier bringen kann. Wenn man glücklich ist, macht man sich eben nicht so viele Gedanken – dann ist man einfach nur glücklich.
Wir sind mittlerweile am Rosa-Luxemburg-Platz angekommen und lassen uns auf den steinernen Treppen der Berliner Volksbühne nieder. Die Sonne hat sich zurückgezogen, es ist ein wenig kühl geworden. Der Himmel strahlt nach wie vor in kristallklarem Blau und wartet zufrieden auf die Dunkelheit.
Wir schießen die letzten Fotos und verabschieden uns wenige Minuten später von Simon, Pierre und Martin. Mit jeder Minute, in der sich die Dämmerung stärker über den Rosa-Luxemburg-Platz legt, betreten immer mehr Lichter der Großstadt die Bühne.
Wie gut, dass wir noch draußen waren und den Rest dieses wunderschönen Tages erleben konnten.
Dafür sollte man sich ohnehin mehr Zeit nehmen – und für alles andere, was im Leben wichtig ist.
Pierre Bee, Simon Wangemann und Martin Wolf sind gemeinsam die Band I Heart Sharks.
Metronomy
Interview — Metronomy
Raum und Zeit
Mit „The Look“ haben Joseph Mount und seine Band Metronomy einen echten Indie-Klassiker ge-schaffen. Dabei hatte Joseph in dem Song nie das Potenzial gesehen, überhaupt erfolgreich zu werden. Wir sprechen mit ihm über die Anfänge der Band, die Aufgabe von Musik und das neue Album „Love Letters“.
3. Mai 2014 — MYP No. 14 »Meine Wut« — Interview: Jonas Meyer, Fotos: Maximilian König
Ein wenig morbide ist es ja schon, das Areal des ehemaligen Reichsbahnausbesserungswerks im Süden Friedrichshains. Auch wenn sich in den letzten Jahren das sogenannte RAW-Gelände mit seinen diversen Galerien, Clubs, Kultur- und Sporteinrichtungen zu einer der beliebtesten Touristenattraktionen Berlins entwickelt hat, spürt man an jeder Ecke mehr das Gestern als das Heute. Und so ertappt man sich dabei, dass man hier nicht fragt, was ist, sondern nur, was war – damals, lange vor dem Jahr 2014.
Es ist Sonntagnachmittag. Gemeinsam mit dem Metronomy-Gründer Joseph Mount sitzen wir hinter dem Astra Kulturhaus an einem kleinen Campingtisch und beobachten die Güterzüge, die nur wenige Meter entfernt von uns am S-Bahnhof Warschauer Straße vorbeirattern. Die ganze Situation erscheint ein wenig unwirklich, erinnert sie doch mit ihrer Kulisse aus unzähligen Güterwaggons an ein Ostküsten-Roadmovie aus den USA. Dabei würde man Joseph instinktiv eher an der Südwestküste Englands verorten – schließlich ist er dort aufgewachsen und hat dieser Gegend vor drei Jahren mit dem Album „The English Riviera“ ein musikalisches Denkmal gesetzt.
Jonas:
Vor kurzem habe ich auf einer deutschen Design-Plattform den Reiseführer „Eat, Surf, Live“ entdeckt, in dem atemberaubende Landschaftsfotos vom Südwestzipfel Englands zu sehen sind – es muss sehr inspirierend sein, in dieser Gegend aufzuwachsen und zu leben.
Joseph:
Ja, das ist es in der Tat. Die Menschen dort erleben ihre Kindheit auf eine ganz andere Art und Weise als die Leute in anderen Teilen Großbritanniens, weil es einfach schön und entspannend ist, immer in der Nähe des Meeres zu sein. Sie haben daher irgendwie eine angenehmere und unaufgeregtere Lebenseinstellung.
Jonas:
Du selbst bist in der Grafschaft Devon in Südwestengland aufgewachsen. Welche Erinnerungen hast du an deine Kindheit und Jugend dort?
Joseph:
Ich erinnere mich vor allem an die Möglichkeit, enorm viel Zeit für alles zu haben. Vor allem als Teenager hat man am Wochenende nicht wirklich die Wahl, was man tut. Es gibt dort ja keine großen Städte und dementsprechend auch so gut wie keine Clubs. Daher ist man gezwungen, selbst kreativ zu werden und auf seine ganz eigene Art und Weise für Unterhaltung zu sorgen.
Jonas:
Etwa indem man seine eigene Musik macht…
Joseph:
Ganz genau. Und dabei ist es ein riesiger Vorteil, nicht diesem ganzen Input von irgendwelchen Clubs ausgesetzt zu sein, wie man das aus der Großstadt kennt. So kann man völlig unbeeinflusst seine ganz eigenen Ideen umsetzen. Um ehrlich zu sein: Meine Musik wäre nicht so, wie sie ist, wenn ich nicht dort aufgewachsen wäre.
Jonas:
Ohne Geschichte keine Zukunft.
Joseph:
Das kann man so sagen.
Jonas:
Erinnerst du dich noch, wie du zum ersten Mal bewusst mit Musik in Verbindung gekommen bist?
Joseph:
Als ich zehn Jahre alt war, habe ich begonnen, Schlagzeug zu spielen – das war vor 21 Jahren. Als Teenager habe ich dann in verschiedenen Bands gespielt und nebenbei angefangen, mit dem Computer Musik zu machen. Dadurch konnte ich ganz allgemein eine Menge über Musik lernen – und bin zum ersten Mal auch so richtig mit elektronischer Musik in Kontakt gekommen.
Jonas:
Dabei hat aber hoffentlich der Eurodance der 90er keine inspirierende Rolle gespielt.
Joseph (lacht):
Nein, glücklicherweise nicht! Mein Vorteil war es eher, gute Freunde mit einem sehr interessanten und ausgefallenen Musikgeschmack zu haben. Wenn man an einem Ort wie Devon lebt, braucht es eine Menge Glück, um andere Leute zu finden, die sich ebenfalls für Musik begeistern. Durch meine Freunde habe ich damals Musik kennengelernt, die ich sonst nie gehört hätte in meinem Leben.
Jonas:
Wann hast du gemerkt, dass du in deinem Leben nicht nur hobbymäßig, sondern wirklich professionell Musik machen willst?
Joseph:
Schon mit 16 war mir absolut klar, dass ich für den Rest meines Lebens Musik machen will. Wir hatten damals eigentlich eine echt tolle 5er-Band, bedauerlicherweise hat uns aber irgendwann der Sänger verlassen. Er wollte lieber mit seiner Freundin zusammenleben und hat der Band plötzlich den Rücken gekehrt.
Interessanterweise wussten die drei anderen Bandmitglieder damals ebenfalls schon ganz genau, dass sie professionell Musik machen wollen – und wie ich haben auch sie alle weiter in erfolgreichen Bands gespielt.
Jonas:
Du hast Ende der 90er das Projekt Metronomy ins Leben gerufen und hast zunächst als Solokünstler elektronische Musik gemacht. 2005 hast du dir mit Oscar Cash und Gabriel Stebbing musikalische Unterstützung ins Boot geholt, wodurch Metronomy zu einer echten Band wurde. War euch allen von Anfang an klar, in welche Richtung sich das Ganze entwickeln soll?
Joseph:
Nein, nicht wirklich. So etwas muss einfach wachsen und sich mit der Zeit entwickeln. Trotzdem hatten wir natürlich irgendwo dieselbe musikalische Grundlage, von der aus wir begonnen haben, uns als Gruppe zu formieren: Wir tauschten Musik aus und entwickelten nach und nach eine gemeinsame Vorstellung von Musik.
Jonas:
Und plötzlich passierte es, dass ihr einen Klassiker wie den Song „The Look“ produziert! War euch bewusst, dass ihr damit einen Sound erschaffen hattet, der die Leute sehr berührt und überall Anerkennung findet?
Joseph:
Als ich Ende der 90er mit Metronomy startete, befand ich mich noch in einer absoluten Lernphase, was das Musikmachen betrifft. Aber nur wenige Jahre später passierten von jetzt auf gleich große Dinge, die mich total überrascht haben – wie zum Beispiel mit „The Look“.
Bei diesem Song war es besonders interessant: Ich hatte eine Art Demo mit dem Orgel-Part und konnte mir nicht wirklich vorstellen, dass ich jemals etwas damit machen würde: Für meine Begriffe war dieser Orgel-Part fast schon lächerlich simpel. Aber dann dachte ich: Scheiß’ drauf, du bringst das jetzt zu Ende!
Als ich mir den Song zum ersten Mal in der finalen Version angehört habe, habe ich in ihm nicht das gehört, was viele andere Leute in dem Track hörten – ich fand absolut nichts, was in irgendeiner Form ins Radio gepasst hätte. Aber letztendlich hat sich gezeigt: Es hängt sehr von den Leuten ab, was mit einem Song passiert – man kann eben nicht einfach so eine erfolgreiche Single produzieren. Es sind am Ende immer die Fans, die einen Song aussuchen und zu dem machen, was er ist.
Jonas:
Das liegt wahrscheinlich daran, dass man Musik besonders mag, wenn man sie mit bestimmten Situationen und Gefühlen verbinden kann. Ich persönlich finde euer Album „The English Riviera“ beispielsweise perfekt für endlose Samstag- oder Sonntagnachmittage – so wie den heutigen. Gibt es für dich ebenfalls diese typische Saturday Afternoon Music?
Joseph:
Ja klar, davon gibt es für mich eine ganze Reihe. Würden wir jetzt hier draußen in der Sonne ein Barbecue veranstalten, würde ich wohl das Album „Fulfillingness’ First Finale“ von Stevie Wonder oder „3 Feet High and Rising“ von De La Soul auflegen. Das ist zwar beides recht alt, aber erinnert mich genau an solche Tage aus meiner Teenagerzeit.
Musik macht persönliche Momente und Zeiten oft erst lebendig.
Jonas:
Spielt für dich in der Musik Zeit überhaupt eine Rolle, wenn Songs und Alben auch heute noch die gleiche Stimmung bei ihren Hörern erzeugen wie damals?
Joseph:
Manche Leute sagen, dass Musik auch existieren könne, ohne dass man sie in den Kontext einer bestimmten Zeit oder Situation setzen würde. Aber meiner Meinung nach macht Musik persönliche Momente und Zeiten oft erst lebendig.
Es gibt ja dieses klassische Beispiel: Man ist in einem Club, lernt ein Mädchen kennen und im Hintergrund läuft ein ganz bestimmter Song. Diesen Song wirst du immer mit diesem Moment in Verbindung bringen. Ähnlich ist es bei dir mit „The Look“ und einem ewigen Samstagnachmittag
Für mich selbst ist es unmöglich, Musik zu machen, ohne mir dabei über die Verknüpfung zu der jeweiligen Zeit bewusst zu sein: Wenn ich im Jahr 2014 ein Album herausbringe, wird es für immer mit diesem Jahr verbunden sein.
Joseph vergräbt sich in seiner dunkelblauen Jacke und reibt sich beide Oberarme: Windig ist es hier und auch ein wenig kühl. Daher beschließen wir kurzerhand, unser Gespräch im Inneren des Astra Kulturhauses fortzusetzen, und folgen dem 31jährigen in den Backstage-Bereich.
Die erste Sitzecke, die wir entdecken, sieht nicht wirklich einladend aus, also schlendern wir weiter Richtung Bühne. Im Barbereich stoßen wir auf eine orange-gelbe Sesselgruppe, die förmlich danach schreit, in unsere Unterhaltung miteinbezogen zu werden. Denn auch sie hat eine Geschichte zu erzählen: von einer Zeit, in der man stilistisch voll auf Ohrensessel, wilde Mustertapeten und knallige Farben setzte. Wüsste man nicht um das stattliche Alter dieser Möbel, man würde sie wohl Retro schimpfen.
Jonas:
Wenn euer neues Album „Love Letters“ anhört und dazu die Musikvideos zu den Songs „Love Letters“ und „I’m Aquarius“ kennt, hat man das Gefühl, sich auf eine große Zeitreise zu begeben – von den 60ern bis in eine ferne Zukunft.
Joseph:
Nun ja, die Videos sind eher ein Spaß.
Jonas:
Aber trotzdem sind vor allem die visuellen Elemente ein wichtiger Bestandteil eurer Musik.
Joseph:
Absolut. Wir benutzen zwar einerseits eine gewisse Sixties-Ästhetik für das neue Album, aber andererseits ist es eben auch einfach nur ein Werk im Raum. Es soll sich nicht auf eine bestimmte Zeit in der Vergangenheit oder Zukunft beziehen – sondern auf die Gegenwart, in der es entstanden ist.
Jonas:
Das Video zu „Love Letters“ wurde von Michel Gondry produziert – einem international sehr renommierten Regisseur. Wie hat sich diese Zusammenarbeit ergeben?
Joseph:
Ich hätte mir in meinem Leben nie vorstellen können, dass wir mal mit solch einer Filmgröße zusammenarbeiten würden. Aber in den letzten Jahren ist auch schon so einiges passiert, mit dem ich nicht gerechnet hätte.
Soweit ich damals wusste, machte Michel nur Filme und keine Music Clips. Aber dann fanden wir heraus, dass er gerne auch mal ein Musikvideo drehen wollte – aber dafür noch keinen Song hatte. Als wir das herausfanden, haben wir ihn einfach gefragt, ob er sich nicht vorstellen könnte, einen Clip für unseren neuen Track „Love Letters“ zu produzieren.
Da wir bei einem französischen Label unter Vertrag stehen und Michel ebenfalls Franzose ist, gab es da bereits gewisse Verbindungen. Michel mochte einfach unsere Musik und vor allem den Song „Love Letters“ – und so passierte das, wovon ich niemals gedacht hätte, dass es mal passieren würde.
Jonas:
Also war euer Kennenlernen nicht wirklich zufällig.
Joseph (lacht):
Nein, da muss ich dich leider enttäuschen – wir haben uns nicht irgendwie per Zufall in einer Cocktailbar getroffen oder so.
Jonas:
Du hast persönlich ebenfalls einen sehr starken Bezug zu Frankreich: Seit drei Jahren lebst du in Paris. Was ist für dich das Besondere an dieser Stadt?
Joseph:
Eigentlich lebe ich erst seit einem Jahr so wirklich dort, weil wir bei meinem Umzug im Jahr 2011 mitten in einer Tour steckten. Damals bin ich einfach nicht dazu gekommen, mich dort einzurichten.
Ich empfinde Paris als eine eher kleine Stadt – jedenfalls im Vergleich zu London, wo ich vorher gelebt habe. Erst als ich nach Paris gezogen bin, habe ich London auch wirklich schätzen gelernt – und am meisten vermisse ich die vielen Parks. Dennoch mag ich Paris ebenfalls sehr, Franzosen haben allgemein eine bemerkenswerte Haltung gegenüber Musik und Kunst. Meine Freundin ist Französin, daher nehme ich viel von der französischen Kultur auf.
Jonas:
Euer neues Album klingt wesentlich akustischer und reduzierter als „The English Riviera“.
Joseph:
Das stimmt. Ich hätte zwar das Album auch auf die gleiche Art wie „The English Riviera“ produzieren können, aber das wäre nicht so interessant gewesen. Bei der „Love Letters“-Platte habe ich versucht, alles auf ein sehr einfaches Level zu filtern. So sind die Songs auf diesem Album in gewisser Weise präziser geworden als die Songs auf „The English Riviera“.
Manchmal ist es einfach spannend zu bemerken, wie sehr man sich in der Regel doch auf Hilfsmittel wie Technik oder Klangverschönerung verlässt. Das zu reduzieren war zwar mit einem gewissen Risiko verbunden, aber hat total viel Spaß gemacht und sich richtig gut angefühlt.
Jonas:
Für uns wirkt euer neues Album fast wie der Soundtrack zu einem Film – einem Film, der noch gar nicht existiert.
Joseph:
Das ist sehr interessant zu hören. Für mich sollte ein Album grundsätzlich immer einen gewissen Charakter haben, in dem man idealerweise die Leute wiederfinden kann, die es gemacht haben – oder den Ort, wo es entstanden ist.
Dabei muss man seiner Musik aber immer einen entsprechenden Raum geben, in dem sie leben und sich bewegen kann, damit auch beim Hörer überhaupt solche Assoziationen wie etwa die des Film-Soundtracks entstehen können. Ich habe in letzter Zeit so viele Platten gehört, bei denen dieser Charakter einfach nicht festzustellen war. So etwas finde ich immer irgendwie schade.
Ich versuche immer im Voraus zu denken.
Jonas:
Plant ihr als Metronomy gezielt eure musikalische Weiterentwicklung? Oder lasst ihr euch eher von dem überraschen, was so passiert im Laufe der Zeit?
Joseph:
Es ist eine Mischung aus beidem. Ich verfolge sehr aufmerksam, wie Musikkritiker unsere Musik beurteilen und was sie von uns erwarten. Gleichzeitig habe ich aber auch immer die Erwartungen unserer Fans im Blick.
Es gibt viele Dinge, die ich persönlich gerne tun möchte. Man muss aber clever genug sein, diese so zu tun, dass man weder die Kritiker noch die Fans oder gar sich selbst verärgert. Das ist ein schwieriges Spiel. Nach „The English Riviera“ wusste ich, dass ich auf keinen Fall eine zweite Version dieses Albums machen wollte. Aber ich wusste auch, dass wir mit diesem Album unzählige Fans gewonnen haben. Daher wollte ich mit „Love Letters“ unbedingt vermeiden, dass die Fans denken, sie hätten uns falsch verstanden.
Ich versuche, immer im Voraus zu denken, meine Gedanken besser zu organisieren und dabei alles im Gleichgewicht zu halten. Mein Ziel ist es ja nicht, so berühmt wie möglich zu werden und eine Million Alben zu verkaufen – meine Ziele sind eher kreativer Natur.
Auf der anderen Seite freut sich unser Label natürlich, wenn wir eine Million Platten verkaufen. Daher muss man beides miteinander kombinieren können und idealerweise versuchen, dabei alle glücklich zu machen – was natürlich unmöglich ist.
Jonas:
Vielleicht muss man nur einfach man selbst sein.
Joseph:
Ganz genau! Glücklicherweise kann ich das ganz gut – und ich glaube, das verbinden die Fans auch mit unserer Band.
Mit einem etwas müden, aber zufriedenen Gesichtsausdruck erhebt sich Joseph von seinem Sessel, verabschiedet sich und läuft zurück zum Backstage-Bereich. Einige Minuten später sind auch wir aufbruchsbereit und verlassen das Astra Kulturhaus.
Gemütlich spazieren wir zurück über das morbide RAW-Gelände, vorbei an dutzenden Besuchern, die an jeder Ecke mit ihren Smartphone-Kameras versuchen, das Gestern festzuhalten.
Dabei geht es doch nur darum, was ist – heute, im Jahr 2014.
Joseph Mount ist 31 Jahre alt und der Gründer der Band Metronomy.
Kilian Kerner
Interview — Kilian Kerner
Im Jetzt
Als Teenager fühlte er sich so unwohl, dass er mehrmals die Schule wechseln musste. Heute hat Kilian Kerner sein eigenes Design-Label und ist das coole Kind im Block. Im Gespräch verrät er uns, wie er durch einen Zufall zum Modedesigner wurde und was für ihn im Leben wichtig ist.
3. Mai 2014 — MYP No. 14 »Meine Wut« — Interview: Jonas Meyer, Fotos: Franz Grünewald
Was meint das Leben nur, wenn es uns manchmal glauben lässt, unser Gegenüber seit einer halben Ewigkeit zu kennen – obwohl wir ihm heute erst begegnet sind?
Ein Donnerstagmorgen Ende März. Im Innenhof des Gebäudekomplexes der Berliner KW Institute for Contemporary Art (Kunst-Werke) hat vor wenigen Minuten das Café Bravo seine Pforten geöffnet. Während die Morgensonne noch zaghaft ihre Strahlen durch die breite Glasfassade wirft, beugen sich die ersten Gäste bereits gedankenversunken über ihre Tageszeitungen. Der Duft frischer Croissants liegt in der Luft, dazu liefert die schnaufende Kaffeemaschine gemeinsam mit dem kleinen Radio hinter der Bar die entsprechende Morgenakustik.
Wir lassen uns an einem kleinen Tisch mit direktem Blick zum Innenhof nieder. Kaum haben wir unser Equipment ausgepackt, betritt auch schon der Berliner Modedesigner Kilian Kerner das Café. Der 35jährige begrüßt uns herzlich und setzt sich zu uns. „Habt ihr auch solchen Hunger?“, schießt es aus ihm heraus, als er einen großen Teller mit Croissants auf dem Tresen entdeckt.
Natürlich haben wir Hunger! Jetzt kein Frühstück zu bestellen wäre ein Verbrechen – also ordern wir, was die kleine Karte hergibt. Nur wenige Minuten später füllt sich der kleine Tisch mit dem, was wir bestellt haben. Die Basis ist damit geschaffen – es kann losgehen!
Jonas:
Du bist 1979 in Köln geboren und hast dort etwa zwei Drittel deines Lebens verbracht. Welche Erinnerungen an deine Kindheit und Jugend sind dir geblieben? Immerhin hast du die 80er Jahre voll mitgenommen.
Kilian:
Ja, das stimmt – ich bin ein absolutes Kind der 80er. Ich liebe einfach alles aus diesem Jahrzehnt und erinnere mich daher beispielsweise auch noch ganz genau an meine Lieblingsfernsehserie namens „Ich heirate eine Familie“. Erst letzte Weihnachten habe ich mir wieder alle alten Folgen angesehen, als mich meine Mutter in Berlin besucht hat. Faul wie ein Couchpotatoe lag ich dabei vor dem Fernseher.
Jonas:
Kilian Kerner als faules Couchpotatoe vor der Glotze – das kann man sich nur schwer vorstellen.
Kilian:
Du glaubst ja nicht, wie faul ich zuhause bin! Sobald meine Wohnungstür zugefallen ist, habe ich keine Lust mehr, mich aufzuraffen und das Haus zu verlassen.
Jonas:
Ich gehe mal davon aus, dass bei deinem Arbeitspensum die Zeit eher überschaubar ist, in der du zuhause bist.
Kilian:
Ja, daran bin ich aber selbst schuld. Ich bin geradezu ein Getriebener und kann nicht abgeben.
Jonas:
So etwas kann man aber lernen.
Kilian:
Stimmt, ich versuche auch gerade, mir das irgendwie beizubringen.
Jonas:
Deine Erinnerung an die 80er beschränkt sich aber hoffentlich nicht nur auf „Ich heirate eine Familie“…
Kilian:
Nein, natürlich nicht! Nena beispielsweise ist mir nach wie vor total präsent, da sie in den 80ern meine Heldin der Welt war – und ich sie heute noch absolut cool finde.
Jonas:
Das klingt nach einem tollen Jahrzehnt.
Kilian:
Naja, natürlich habe ich auch negative Erinnerungen an meine Kindheit und Jugend. Mit Abstand das Schlimmste war für mich die Schule: Wenn ich ehrlich bin, fand ich die Schule immer zum Kotzen – und die Schule mich wahrscheinlich auch, denn als Jugendlicher war ich ein ziemlich komischer Typ. Ich habe nach der 10. Klasse mehrfach die Schule gewechselt , war auf kaufmännischen Schulen und einer Abendschule. Irgendwann wollte ich auch mal BWL studieren. Ich und BWL – das wär’s gewesen.
BWL, warum auch nicht? Das Leben schlägt ja manchmal unerwartete Haken. Kilian bricht ein Stück seines Croissants ab und wendet für einige Augenblicke den Kopf zur Seite. Dabei breitet sich auf seinem Gesicht ein jugendliches, vergnügt wirkendes Grinsen aus – flankiert von zwei wachen und neugierigen Augen.
Jonas:
Statt BWL hast du aber Schauspiel studiert. Wie kam es zu der Kehrtwende?
Kilian:
Seit ich denken kann, habe ich mich immer sehr für Film und Fernsehen interessiert und mich der Schauspielerei auf besondere Art und Weise verbunden gefühlt. Das war irgendwie in mir drin, aber konnte nie so richtig raus.
Obwohl ich eigentlich immer ein sehr selbständiger Mensch war, hatte ich nie den Mut und das Selbstbewusstsein, tatsächlich eine Schauspielerausbildung zu starten. Dazu brauchte es erst eine neue Beziehung und einen kleinen Schubser in die richtige Richtung.
Jonas:
Inwiefern?
Kilian:
Mein damaliger Freund hat mir nach kurzer Zeit die Frage gestellt, was ich denn eigentlich so mit meinem Leben machen wolle. Ich druckste mich um die Antwort herum, denn mir war es fast peinlich, “Schauspieler” zu sagen. Also hat er mich heimlich bei einem Schauspielkurs angemeldet und mir eine Woche vor Beginn gesagt: „So, da gehst Du jetzt hin!?“
Ich muss sagen, dass das mit das Coolste war, was jemals jemand für mich getan hat. Ich fand die ganze Aktion so romantisch, dass ich natürlich hingegangen bin. Und schon nach kurzer Zeit habe ich gemerkt, dass das genau das ist, was ich machen will. Zumindest dachte ich das drei bis vier Jahre lang.
Jonas:
Das klingt nach einer typischen Jungschauspieler-Story: durch Zufall in die Sache reingerutscht und dabei seine Passion für die Schauspielerei entdeckt.
Kilian:
Für mich gab es damals einen Schlüsselmoment: Schon in der ersten Stunde bestand unsere Aufgabe darin, die Kursräume für zwei Stunden zu verlassen, uns in der Öffentlichkeit irgendeine Person auszusuchen, sie zwei Stunden zu beobachten, zurückzukommen und diese Person dann zu spielen. Ich hatte mir eine H&M-Verkäuferin ausgesucht und war in meinem Spiel auch scheinbar gar nicht so schlecht. Dadurch schlug meine Schauspiellehrerin mich für eine Rolle vor. Eine Regisseurin suchte damals unerfahrene Schauspieler, die mit erfahren Schauspielern ein Stück spielen sollten: „Das Spiel von Liebe und Zufall“. So bekam ich meine erste Hauptrolle in einem Theaterstück.
Jonas:
Eine Hauptrolle am Theater spielen und gleichzeitig eine kaufmännische Schule besuchen – kann das gutgehen?
Kilian:
Meine schulischen Leistungen waren zwar ganz gut, aber durch die Schauspielerei hat mich auf einen Schlag nichts anderes mehr interessiert. Daher habe ich mich auch immer seltener in der Schule blicken lassen und schließlich drei Monate vor dem Fachabi hingeschmissen.
Ich habe mich damals voll und ganz auf das Theaterstück konzentriert und wenig später auch angefangen, einige kleinere Film- und Fernsehrollen zu spielen. Irgendwie hat sich alles total gut und richtig angefühlt, was ich da mache. Und so habe ich mich im Jahr 2000 dazu entschieden, mich an einer Schauspielschule zu bewerben. Ich wollte diesen Beruf einfach von Grund auf erlernen – und wurde genommen.
Während wir hier so gemütlich mit ihm sitzen und uns unterhalten, beschleicht uns ein sonderbar angenehmes Gefühl von Vertrautheit: Der Modedesigner wirkt seit der ersten Sekunde so offen und herzlich, dass man glaubt, sich mit ihm schon dutzende Male zum Frühstück getroffen und ausgetauscht zu haben.
Dabei kennen wir uns gerade einmal zehn Minuten…
Nach zwei Jahren in Köln hatte ich aber keine Lust, wieder komplett von vorne anzufangen – irgendwie wollte ich mehr.
Jonas:
Hast du die Ausbildung zum Schauspieler abgeschlossen?
Kilian:
Nee, die habe ich abgebrochen. Ich wurde Mitte 2002 ziemlich krank und hatte etliche Monate mit meinem schlechten Gesundheitszustand zu kämpfen. Mein Platz in der Schauspielschule wurde zwar freigehalten, aber als ich nach knapp einem Jahr zurückkam, hatte ich irgendwie das Gefühl, neu anfangen zu müssen.
Ich wollte nach der Krankenhauszeit und dem, was damals mit mir passierte, einfach aus Köln weg. Also bin ich Anfang 2003 nach Berlin gezogen und dort nochmal kurz auf eine Schauspielschule gegangen. Nach zwei Jahren in Köln hatte ich aber keine Lust, wieder komplett von vorne anzufangen – irgendwie wollte ich mehr.
Jonas:
Das klingt erstaunlich pragmatisch für so eine grundlegende Veränderung.
Kilian:
Es ging ja auch erstaunlich schnell! Ich wollte einfach nicht mehr in Köln bleiben. Irgendwann kam ich abends von einer Party nach Hause und habe mir gesagt: So, jetzt ist Feierabend. Du ziehst hier weg.
In der Anfangszeit bin ich allerdings auf Berlin überhaupt nicht klar gekommen und fand alles ganz schrecklich: Ich kannte hier einfach niemanden und kam auch mit den Menschen nicht zurecht. Wenn man auf Partys irgendwelche Leute kennengelernt und Nummern ausgetauscht hatte, konnten sie sich nicht mehr an einen erinnern, man sich zwei Tage später gemeldet hat. Diese schroffe Art fand ich ganz schlimm, so etwas kannte ich aus Köln einfach nicht.
Jonas:
Trotzdem hat dich Berlin nicht mehr losgelassen.
Kilian:
Ja, das stimmt. Irgendwann habe ich auch andere Menschen kennengelernt, die nicht diese schroffe Oberflächlichkeit besaßen und die ich sehr mochte. Wir haben uns angefreundet und viel unternommen. So konnte ich die Stadt von einer ganz anderen, schönen Seite kennenlernen.
Jonas:
Das war vor ziemlich genau elf Jahren. Wer hätte damals geahnt, dass dein Name mal für ein eigenes Modelabel stehen würde…
Kilian:
Wenn mir damals jemand so etwas erzählt hätte, hätte ich ihn für verrückt erklärt.
Jonas:
Trotzdem hast Du das Label bereits 2004 gegründet – das muss ein ereignisreiches Jahr gewesen sein seit deinem Umzug nach Berlin. Wie bist du zur Mode gekommen?
Kilian:
Von heute aus betrachtet ging das wirklich schnell. Ohne es zu wissen, wurde der Grundstein dafür aber schon etwas früher gelegt – und zwar durch puren Zufall: Als ich 2001 in Köln mit einem Mädel in eine WG zog, fanden wir es dort ziemlich schmutzig. Also haben wir Chlorreiniger gekauft und uns vorgenommen, mal richtig durchzuputzen. Und tolpatschig wie ich bin, habe ich im Vorbeilaufen die offene Flasche umgestoßen. Alles lief auf eine meiner Lieblingshosen, die auf dem Boden lag – und was Chlorreiniger mit Klamotten macht, das wissen wir ja.
In meiner Verzweiflung habe ich einen Schwamm genommen und angefangen, damit auf der Hose rumzumalen und zu –schreiben. Und plötzlich stand in riesigen Lettern „NENA“ drauf. Ich mochte das irgendwie sehr und habe die Hose deshalb auch so getragen. Lustigerweise wollten alle Leute aus meiner damaligen Clique dann auch eine Hose haben, auf der der Name ihrer Lieblingsband stand. Also habe ich angefangen, ihre Hosen umzugestalten und zu beschriften: „Depeche Mode“, „Take That“ und was es sonst noch alles gab. Irgendwann hatten wir alle so eine Hose an, das war echt lustig.
Meine erste Berührung mit „Ich mache mir etwas zum Anziehen“ hat mir ziemlich viel Spaß gemacht. Und so kam es, dass ich immer wieder mal hobbymäßig für mich und meine Freunde Kleidungsstücke verändert habe.
In meiner Anfangszeit in Berlin gab es beispielsweise ein Mädchen namens Ellen, die jedes Wochenende von mir etwas Neues zum Anziehen haben wollte. Also habe ich mir Woche für Woche etwas einfallen lassen und für sie kreiert.
Die Leute haben damals immer öfter gefragt, woher Ellen oder ich die Klamotten hatten. Als sich herausstellte, dass ich selbst diese Sachen entworfen und kreiert hatte, sollte ich plötzlich eine Modenschau auf die Beine stellen. Von so etwas hatte ich aber keinen blassen Schimmer, also habe ich daraus ein Theaterstück gemacht – eine Inszenierung in einer Irrenanstalt.
Auf einmal habe ich aber gemerkt, welche Disziplin ich an den Tag legen kann, wenn ich mir zuhause neue Kleidungsstücke ausdenke.
Jonas:
Und so hat sich abgezeichnet, dass sich dein Leben in Richtung Modedesign verschieben wird?
Kilian:
Nein, wenn ich ehrlich bin, hatte ich nach einiger Zeit absolut keine Lust mehr auf diesen Zirkus. Ich fand auch die Leute viel zu komisch, die ich in nur kurzer Zeit kennengelernt hatte. Trotzdem konnte mich wenig später ein Freund dazu überreden, eine zweite Modenschau auf die Beine zu stellen. Nur leider hatte ich dafür keine Kleidungsstücke mehr. Und so musste ich innerhalb von zwei Wochen etliche Ideen entwickeln und Stücke entwerfen.
Interessanterweise habe ich während meiner Zeit an der Schauspielschule nie wirklich diszipliniert gearbeitet: Ich habe Texte nur mäßig oder gar nicht gelernt und bin gerne mal zu spät gekommen. Alles, was ich heute verabscheue, war ich damals selbst.
Auf einmal habe ich aber gemerkt, welche Disziplin ich an den Tag legen kann, wenn ich mir zuhause neue Kleidungsstücke ausdenke – und dass mir so etwas wesentlich mehr Spaß macht, als auf irgendwelchen Partys abzuhängen. Also habe ich mir vorgenommen, das Ganze auf eine professionellere Art und Weise anzugehen und mir eine Schneiderin gesucht, mit der ich in den Folgemonaten intensiv zusammenarbeiten konnte. So ist dann 2004/2005 die erste Kilian Kerner Kollektion entstanden.
Jonas:
Dabei ist dir in der Anfangszeit nicht nur Wohlwollen entgegengeschlagen, sondern vor allem auch Spott. Wie bist du damit umgegangen?
Kilian:
Ich glaube, das hat mir damals eher zusätzliche Energie gegeben als mich runtergezogen. Und aus der heutigen Perspektive betrachtet wirkt das Ganze sogar eher lustig: Bei unserem ersten Jubiläum, der zehnten Show in Folge auf der Berliner Fashion Week, musste ich wieder daran denken, dass die Personen, von denen der Spott damals hauptsächlich ausging, nach wenigen Jahren ihre eigenen Labels wieder aufgegeben haben. Mich aber gibt es immer noch – obwohl mir das vor zehn, elf Jahren nur wenige Leute zugetraut hatten.
Ich muss aber sagen, dass mich das Thema etwas verfolgt, seitdem ich es einmal nebenbei in einem Interview erwähnt hatte. Und wenn ich mir heute anschaue, was ich damals so gemacht habe – Sterne ausschneiden und auf Hosen kleben beispielsweise – war das ja auch eher amüsant und durchaus kritikwürdig.
Jonas:
Trotzdem hat es funktioniert – und ganz nebenbei gesagt hast du dich als erster Berliner Modedesigner etabliert, der in der Hauptstadt jede Fashion Week konsequent mitgemacht hat.
Kilian:
Ja, es hat damals sogar richtig gut funktioniert. Vor zehn Jahren war dieses Customizing in der Modewelt einfach total in. Alleine nach meiner ersten Modenschau wurden meine Stücke direkt von fünf Berliner Läden geordert.
Ich erinnere mich beispielsweise auch noch daran, dass einmal auf irgendeinem Magazincover ein T-Shirt von uns zu sehen war. Dadurch bekamen wir so viele Bestellungen, dass ich drei Wochen lang nichts anderes gemacht habe, als zuhause zu sitzen und T-Shirts zu zerreißen und zu bemalen.
Natürlich habe aber auch ich eine gewisse Zeit gebraucht, um mich zu entwickeln und weniger Fehler zu machen. Das gehört einfach dazu – meine Entwicklung dauert nach wie vor an dauert und wird auch immer andauern. Gott sei Dank lernt man ja jeden Tag dazu.
Es ist kur vor 12:00 Uhr, in den KW Institute for Contemporary Art öffnet gleich die Themenausstellung „Echte Gefühle: Denken im Film“, die wir uns gemeinsam ansehen wollen.
Wir verlassen das Café und betreten wenige Meter weiter die dunklen Ausstellungsräume, deren einzige Lichtquelle unzählige flimmernde Fernsehschirme und Projektoren sind. Die Ausstellung, so lesen wir im Programm, „widmet sich den Affekten und Emotionen im bewegten Bild. Sie geht der Frage nach, wie Filme Emotionen vermitteln und eine Authentizität erzeugen, an der individuelle und kollektive Erfahrung aufeinandertreffen“.
Gemeinsam laufen wir von Fernsehschirm zu Fernsehschirm. Dabei entdecken wir immer wieder Ausschnitte von Filmen, die wir noch aus unserer Kindheit kennen, und fragen uns, welche menschliche Emotion wohl mit der jeweiligen Filmsequenz verknüpft sein könnte.
Jonas:
Die meisten Menschen, die sich wie du etwas von Grund auf aufbauen, werden früher oder später von Existenzängsten aufgesucht. Hast du derartige Situationen auch erlebt?
Kilian:
Jeder klassische Student, der nicht gerade über reiche Eltern verfügt, weiß doch ganz genau, wie es ist, wenn man nicht den ganzen Tag zuhause sitzt, sondern raus geht und lebt. Da wird ab der Mitte des Monats das Geld zwangsläufig knapp. Bei mir war das nicht anders.
Für mich selbst finde ich es total wichtig, dass ich diese Erfahrung im Laufe meines Lebens immer wieder gemacht habe. Dadurch schätze ich heute vielmehr, was ich habe. Und es bringt eine gewisse Bodenhaftigkeit mit sich, die die Gefahr reduziert, irgendwann abzuheben – dafür weiß man einfach viel zu gut, wie es ist, ab dem 15. des Monats kein Geld mehr zu haben, Miracoli zu essen und Pfandflaschen zurückzubringen.
Doch auch wenn manchmal das Geld wirklich knapp war, muss ich sagen, dass ich trotzdem meistens eine gute Zeit hatte – wie etwa 2003 in meiner Berliner WG. Es ging uns damals gut, auch ohne Geld.
Jonas:
Der klassische Student verfügt aber in der Regel auch über eine berufliche Perspektive und weiß, dass es spätestens in ein paar Jahren wirtschaftlich bergauf geht, wenn er sein Studium abgeschlossen und einen Job gefunden hat.
Kilian:
Ich habe immer etwas getan und an etwas geglaubt. Und ich wusste immer, dass ich nicht still stehen werde.
Ganz allgemein bin ich aber kein Mensch, der sich hauptsächlich Gedanken darüber macht, was in fünf Jahren ist. Ich stelle mir eher die Frage: Was ist morgen? Was ist übermorgen? Davon abgesehen spielt sich mein Leben jetzt eh nur noch in Saisons ab und nicht mehr in Jahren. Ein Jahr hat zwei Saisons, das ist das für mich das einzig Wesentliche.
Ich versuche daher, absolut im Jetzt zu sein und mich darauf zu fokussieren, was gerade bzw. morgen wichtig ist – und das jede Saison auf’s Neue. Trotzdem liegt dabei mein Fokus natürlich auch darauf, dass das Label Kilian Kerner weiter aufgebaut wird: Es gibt definitiv immer Ziele, auf die wir alle dort hinarbeiten.
Jonas:
Und jede Saison versuchst du auf’s Neue, mit deiner Kollektion eine Geschichte zu erzählen.
Kilian:
Das stimmt. Ich glaube, das ist eine Herangehensweise, die ich aus der Schauspielerei mitgenommen habe.
Jonas:
Siehst du dich selbst eher als Geschichtenerzähler oder als Modedesigner?
Kilian (lächelt):
Ich würde sagen, ich bin ein Geschichten erzählender Modedesigner. Mir geht es bei meiner Arbeit darum, nicht einfach nur Kleidung zu entwerfen. Man vollzieht in diesem Business ja jeden Tag einen Seelen-Striptease – und auf einer Show zeigt man dann, was im Laufe der Wochen und Monate davor tief in einem entstanden ist.
Dem Ganzen möchte ich einfach eine gewisse Handlung geben, denn das hat für mich wesentlich mehr Relevanz, als wenn ich mich etwa davon inspirieren lassen würde, was in den 50er Jahren so passiert ist.
Während wir weiter neugierig durch die Ausstellung schlendern und an jeder Ecke altbekannte Filmsequenzen entdecken, malen die großen Filmprojektoren ihr farbenfrohes Bild auf Kilians Stirn und Wangen. Es wirkt geradezu, als sei dem jungen Modedesigner dabei die Story des Films ins Gesicht geschrieben – in das Gesicht, das mit seinen wachen und neugierigen Augen auch ohne Projektor unendlich viel zu erzählen hat. Vom Leben etwa. Oder von den Menschen und ihren Gefühlen.
Wenn man sich fragt, worum es im Leben wirklich geht, kommt man letztendlich immer auf die Liebe.
Jonas:
Du hast wahrscheinlich im Laufe der Jahre und bei der Vielzahl deiner Kollektionen jede einzelne menschliche Emotion thematisiert, die so entstehen kann…
Kilian:
Das ist durchaus möglich. Aber als ich vor kurzem mit meiner Grafikerin zusammensaß, sagte sie interessanterweise Folgendes: „Kilian, alles hat bei dir irgendwie immer mit der Liebe zu tun.“ Und ich glaube, da hat sie nicht unrecht.
Wenn man sich fragt, worum es im Leben wirklich geht, kommt man letztendlich immer auf die Liebe – was auf der Welt hat denn letztendlich nichts mit der Liebe zu tun?
Ich liebe meine Freunde, mein Zuhause, meine Arbeit oder gutes Essen. Und ich liebe es, wenn die Sonne scheint. Was kann einen denn mehr antreiben als das Gefühl, jemanden oder etwas zu lieben? Mich jedenfalls nichts.
Bedauerlicherweise definieren viele Menschen das Gefühl der Liebe nur über die Zuneigung zu einem Partner.
Jonas:
Der Mensch interessiert sich ja auch in erster Linie immer für den Menschen.
Kilian:
Ja, aber bedauerlicherweise definieren viele Menschen das Gefühl der Liebe nur über die Zuneigung zu einem Partner – was ja nicht wirklich richtig ist.
Jonas:
Deine jüngste Kollektion stellt die Frage in den Mittelpunkt, was im Leben wirklich wichtig ist – ein emotionales Grundsatzthema. Wie kam es dazu?
Kilian:
Auslöser war der plötzliche Tod einer sehr jungen Person in meinem näheren Umfeld. Als ich von diesem schrecklichen Ereignis erfahren habe, hatte ich gerade damit begonnen, die neue Kollektion zu entwerfen. Dieser unerwartete Tod hat mich so sehr beschäftigt, dass ich dadurch auch mein eigenes Leben komplett in Frage gestellt habe: Da legt sich ein sehr junger Mensch abends schlafen und wacht morgens nicht mehr auf – das kann uns allen passieren.
Ich habe mich also gefragt: Um was geht es eigentlich wirklich im Leben? Und dann habe ich dieses Gefühl dazu benutzt, die neue Kollektion zu machen.
Jonas:
Was genau heißt in diesem Zusammenhang „benutzt“? Bezieht sich das eher auf die allgemeine Stimmung, die du brauchst, um zu entwerfen, oder geht es eher um die konkrete Übersetzung in Farben, Schnitte oder Muster?
Kilian:
Das kann man nicht wirklich voneinander differenzieren. Es fängt damit an, dass ich mich komplett in diese Stimmung fallen lasse – das funktioniert übrigens nicht im Atelier, dazu muss ich zuhause sein. Erst schreibe ich ganz viel, dann zeichne ich. Dieser Prozess ist schön und hässlich, bringt Freude und tut weh, hebt die Stimmung und killt sie wieder. So entsteht das emotionale Grundgerüst der Kollektion.
Und wenn es in den darauf folgenden Monaten um die Umsetzung geht, bin ich jeden Tag so sehr in diese besondere Emotionalität involviert, dass sich das letztendlich auch über die Beschaffenheit der einzelnen Kleidungsstücke ausdrückt.
Jonas:
Besteht bei diesem Prozess nicht die Gefahr, sich selbst total zu verlieren?
Kilian:
Nein, ich habe glücklicherweise im Laufe meines Lebens gelernt, mich selbst ganz gut kontrollieren zu können – zumindest was diesen Teil meiner Arbeit angeht.
Jonas:
Auch ein Verdienst der Schauspielschule?
Kilian:
Nein, das habe ich mir tatsächlich erst danach durch die Arbeit als Modemacher angeeignet.
Jonas:
Welche Antwort hast du denn durch die Arbeit an der jüngsten Kollektion für dich persönlich gefunden? Was ist dir wichtig in deinem Leben?
Kilian:
Meine Unabhängigkeit! Ich genieße wirklich nichts mehr als meine Unabhängigkeit – jedenfalls in meinem Privatleben. Beruflich bin ich nicht ganz so unabhängig, da ich beispielweise auch eine große Verantwortung gegenüber meinen Mitarbeitern habe. Trotzdem bin ich dort natürlich auch nicht so sehr fremdbestimmt, als wenn ich woanders arbeiten würde.
Jonas:
Auch wenn du nicht gerne darüber nachdenkst, was mal in ein paar Jahren sein wird – hast Du konkrete Pläne für die Zukunft?
Kilian:
Ich würde in den nächsten Jahren gerne in den USA Fuß fassen. Auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, dort zu leben, verspüre ich momentan große Lust, dort beruflich etwas zu starten. Ich war jetzt schon ein paar Mal beispielsweise in Los Angeles und werde wahrscheinlich im Sommer wieder dorthin fliegen.
Jonas:
Die Welthauptstadt des Films hat ja auch eine besondere Anziehungskraft.
Kilian:
Absolut – und meine Leidenschaft für den Film ist ja nach wie vor ungebrochen. Selbst mein Freundeskreis besteht hauptsächlich aus filmschaffenden Menschen. Ich finde diese Leute wesentlich inspirierender als die aus dem Modebusiness, wir haben uns irgendwie mehr zu sagen. Vielleicht liegt das daran, dass ich in meiner Freizeit einfach keine Lust habe, über Mode zu reden. Immerhin verbringe ich beruflich schon den ganzen Tag damit. Irgendwann ist’s mal gut – im Leben gibt es ja außer Mode auch noch etwas anderes.
Wir sind am Ende der Ausstellung angekommen und treten aus den dunklen Räumen hinaus ins Freie. Auf Kilians Gesicht breitet sich wieder dasselbe jugendliche Lächeln aus, das wir bereits am Vormittag kennenlernen durften.
Während wir uns von dem jungen Berliner Modedesigner verabschieden, fällt unser Blick plötzlich auf seine pinkfarbenen Sneakers: Sie leuchten so intensiv, als hätte man sie direkt in die farbigen Videos der Ausstellung getaucht.
Kilian wünscht uns einen schönen Tag und verlässt den Innenhof der KW. Aus dem Inneren des Cafés summt das kleine Radio, die Mittagssonne wärmt unsere Wangen.
Was meint das Leben nur, wenn es uns manchmal glauben lässt, unser Gegenüber seit einer halben Ewigkeit zu kennen – obwohl wir ihm heute erst begegnet sind?
Es meint, dass nur das Heute wichtig ist.
Und natürlich die Liebe.
So wie im Film.
Kilian Kerner ist 35 Jahre alt, Modedesigner und lebt in Berlin.
Anke Nunheim
Submission — Anke Nunheim
Snæfellsjökull
3. Mai 2014 — MYP N° 14 »Meine Wut« — Text & Foto: Anke Nunheim
Alles wird zerbrochen, vermengt und für alle Zeit zusammen aufgehäuft. Höher und höher, bizarr und majestetisch in den Himmel ragend. Darunter verborgen sind Welten aus vergangenen Zeiten. Brodelnde Giganten unter dem ewigen Eis. Grau. Kalt. Magisch.
Ich versuche nach dir zu schreien, dir entgegen zu schreien, mich hinaus zu schreien, doch kein Laut verlässt meine Lippen. Und langsam beginnt es zu regnen. Auf nackte Menschen prasselnd, schmerzhaft und Löcher hinterlassend. Unaufhörlich, ohne Rücksichtnahme. Instabil und rastlos.
Auch die Strahlen der Sonne können es nicht beschönigen.
Anke Nunheim ist 26 Jahre alt, Fotokünstlerin und lebt in Berlin.
Jakob Temme
Submission — Jakob Temme
Hallo Wut!
3. Mai 2014 — MYP N° 14 »Meine Wut« — Text: Jakob Temme, Foto: Roberto Brundo
Hallo Wut,
da wir uns schon länger nicht richtig begegnet sind, wollte ich mich mal melden. Ich glaube, unser letztes Aufeinandertreffen war, als dieser Polizist auf dem Kreuzberg in der Walpurgisnacht mir seinen Ellbogen ohne Grund in die Rippen rammte.
Unsere zufälligen Treffen sind jedoch sehr sporadisch und kurzweilig. Vielleicht ist Abstand aber auch nicht das Schlechteste. Manchmal frage ich mich, ob wir uns überhaupt schon mal richtig kennengelernt haben. Bin ich dir zu sehr aus dem Weg gegangen? Hätten wir uns aussprechen sollen? War ich dir gegenüber zurückhaltender als zum Beispiel dem Optimismus?
Wenn ich dann jedoch weiter über unsere Beziehung nachdenke und in mich reinhorche, merke ich, dass du in mir ruhst und immer ein Teil von mir sein wirst. Ich möchte dich auf keinen Fall vergessen oder verdrängen, denn ich weiß deine Eigenschaften sehr zu schätzen. Du kannst Kräfte in mir entfalten, von denen ich nie zu träumen gewagt hätte.
Gerade fällt mir auf, dass du ab und zu doch sehr präsent bist. Und zwar dann, wenn ich merke, dass Menschen, die mir am Herzen liegen, lethargisch werden und beginnen, ihre Ausstrahlungskraft zu verlieren. In diesen Momenten kommst du ganz schnell
in mir hoch.
Bei Kleinigkeiten im Alltag komme ich sehr gut ohne dich zurecht. Man sieht sich dann wohl eher während bewegender Gespräche mal wieder.
So liebe Wut, genug der großen Worte. Ich hoffe, es geht dir gut und wir sehen uns bestimmt bald mal wieder. Vielleicht trifft man sich ja auch mal ganz bewusst auf einer Demo oder XYZ.
Und damit du dir keine falschen Hoffnungen machst, wollte ich dir noch sagen, dass ich meine ausgeglichene und optimistische Art als sehr angenehme Lebensabschnittsgefährtin empfinde und mir auch eine Zukunft mit ihr vorstellen kann.
Viele liebe Grüße!
(auch wenn du diese schnulzigen
Umgangsformen hasst)
Dein Jakob
P.S. Falls mal chronische Langeweile eintreten sollte, kannst du ja mal darüber nachdenken, Kurse anzubieten: „Wie bleibe ich im Hintergrund, ohne mich minderwertig zu fühlen“. Da könntest du deine Erfahrungen teilen, so von Wut zu Wut.
Jakob Temme ist 22 Jahre alt, Student, Publizist und lebt in Berlin.
Natalie K & Dirk Brune
Submission — Natalie K & Dirk Brune
Lebenswut
3. Mai 2014 — MYP N° 14 »Meine Wut« — Text: Natalie K, Foto: Dirk Brune
lebe Deine Wut
ich lebe meine Wut
eine Kraft in mir drin
stark, kaum zu bändigen
packt mich, lässt mich kaum noch los
doch ich gebe ihr Raum
sonst vernichtet sie mich selbst
oder auch jemand anderen.
Wut ist wie ein Feuer
sie kann zerstören
aber sie macht auch neues möglich
weil altes vergeht
Wut verteidigt meine Grenzen
sichert meinen Selbsterhalt
Wut ist eine Auflehnung
aus meiner ohnmächtigen Trauer
Wut zeigt mir, dass ich lebe!
Lukas Leister
Submission — Lukas Leister
Fremde Wut
3. Mai 2014 — MYP N° 14 »Meine Wut« — Text & Foto: Lukas Leister
Dass er die Wut, die sich seit Wochen erst unmerklich langsam, dann unaufhaltsam schnell in ihm ausbreitete, irgendwann nicht mehr werde zurückhalten können, hatte er geahnt. Woher diese Wut kam, konnte er allerdings nicht sagen. Anfangs war er sich noch nicht einmal sicher, gegen wen oder was sich seine Wut richtete, und später war es ihm egal.
Das Blaulicht blendete ihn. Grelles Licht hatte er früher nur sehr schwer ertragen können, doch heute beruhigte es ihn. Auch die ständigen Lautsprecherdurchsagen, das Klirren zersplitternden Glases und das Geschrei derer, die hinter ihm standen, hätten damals mehr als Unbehagen in ihm ausgelöst. Hier und jetzt fernab von seinem gut bezahlten Job, dem geerbten Einfamilienhaus und den unerträglich freundlichen Schwiegereltern fühlte er sich weniger schlecht als sonst.
Es ging ihm wirklich nicht darum, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, oder darum, einem verlorenen Idealismus hinterherzujagen. Er war weder auf der einen noch der anderen Seite. Paul war auf der Suche. Und er war sich sicher, sie zwischen all den Vermummten und Uniformierten zu finden. Irgendwo in der Masse von Gesichtslosen, bei der ein Einzelner kaum mehr zu erkennen war, würde sie sein. Sie würde dastehen, unbeeindruckt von Wasserwerfern und Kieselsteinen, würde ihn anlächeln und zuflüstern: „Ich bin deine Wut.“
Lukas Leister ist Fotokünstler und lebt in Wien.
Stefania Pop
Submission — Stefania Pop
Into Grey
3. Mai 2014 — MYP N° 14 »Meine Wut« — Text & Photo: Stefania Pop
Nature has always been my escape. Spring brings me hope each year
because when I see trees and meadows come alive after a long
winter I know there is still something to look forward to.
Whenever I feel sad or uninspired I just take my camera and go outside.
Nature has always been my escape that’s why it makes me angry
to see man destroying nature, Green means life, means hope.
But today we are turning green into grey.
Stefania Pop is a 27-year-old photo artist living in Cluj-Napoca, Romania.
Jonas Meyer
Submission — Jonas Meyer
Ewiges Schwarz
3. Mai 2014 — MYP N° 14 »Meine Wut« — Text & Foto: Jonas Meyer
Seine Stimme ist hell, fast schrill, wenn er sich ereifert. Blut schießt in seinen Kopf, sein Körper bebt. Der Ton ist aggressiv, alle Zeichen stehen auf Kampf. Wer nicht für ihn ist, ist gegen ihn. Und gegen ihn, das bedeutet Krieg.
Berauscht ist er von der eigenen Überzeugung. Und süchtig ist er. Nach sich selbst.
Man könnte Wut empfinden. Pure Wut.
Doch sein Temperament ist nur ein Deckmantel: Unter dem Tarnnetz der großen Bühne verbergen sich Angst, Unsicherheit und Selbstzweifel. Zusammengekauert verstecken sie sich vor der Außenwelt und hoffen, nicht erkannt zu werden.
Aggression als Kostüm.
Einige Tage später. Um mich herum ein tiefes, wummerndes Schwarz. Mein Gefühl für Zeit ist längst zur Illusion verkommen, ich schwebe in ewiger Dunkelheit.
Wie eine Maschine folge ich dem Takt der Nacht, permanent getrieben vom übermächtigen Bass. Erbarmungslos zieht er dabei alle Energie aus meinem Körper. Und flöst sie mir wenig später in einer Mischung aus Mut und Zuversicht wieder ein.
Ich bin berauscht von der Musik. Und süchtig nach Freiheit.
Der Tag bricht an. Vorbei an dem, der mir einst ebenfalls Mut und Zuversicht einflöste, verlasse ich das ewige Schwarz.
Nachhause. Schlafen. Träumen.
Ohne Wut.
Jonas Meyer ist Art Director, Publizist und lebt in Berlin.