MIA.
Interview — MIA.
Wunderland
Man hasst sie oder man liebt sie – seit Jahren tanzt und frohlockt die knallbunte Mieze Katz mit ihrer Band MIA. durch die deutsche Pop-Landschaft. Wir konfrontieren sie mit der Frage, warum sie bei DSDS mitgemacht hat und ob sie sich als Vorbild sieht.
14. Dezember 2014 — MYP No. 16 »Meine Stimme« — Interview: Jonas Meyer, Fotos: Steven Lüdtke
Die frühen 90er in Berlin – was muss das für eine Zeit gewesen sein! Wer sich heute auf die Suche macht nach Zeugnissen der Jahre nach dem Mauerfall, stößt auf unzählige Fotos, Filme und Erzählungen. Doch so lebendig die Erinnerungen an damals auch erscheinen mögen – sie alle zeichnen das Bild einer Stadt, die es so nicht mehr gibt.
Aber was sind schon Straßenzüge und Fassaden? Wichtig sind nur die Gefühle, die diese Stadt erzeugt. Und Gott sei Dank: An ihnen hat sich nichts geändert.
Aus dieser Perspektive wirken jene alten Fotos, Filme und Erzählungen plötzlich nah und ganz vertraut: Mal fühlt sich ihr Berlin so nüchtern-melancholisch an wie im Video zu Efdemins „Transducer“, mal wirkt es wild und ausgelassen wie im Bildband „Berlin Wonderland“.
Dieses Buch hat es uns angetan: Die Fotos darin dokumentieren die „Wilden Jahre“ in Berlin von 1990 bis 1996 – und enden damit dort, wo kurz darauf die aufregende Geschichte der Band MIA. beginnt. Also klemmen wir uns das gute Stück kurzerhand unter den Arm und machen uns auf den Weg nach Weißensee. Dort sind wir heute mit Mieze Katz, der MIA.-Frontfrau, zum Gespräch verabredet. Vielleicht kann sie uns helfen zu verstehen, wie es damals genau war in diesem Wunderland – dem Berlin der frühen 90er.
Einige Minuten später. Wir stehen vor einem unscheinbaren Haus und klingeln. Mieze öffnet bestens gelaunt die Tür, begrüßt uns und bittet uns herein. Kaum haben wir das Haus betreten, staunen wir nicht schlecht: Hinter der beige-grauen Fassade verbirgt sich der Proberaum der Band, der wie ein buntes Sammelsurium aus knapp zwei Jahrzehnten Bandgeschichte wirkt. Überall entdecken wir skurrile Utensilien, die uns irgendwie bekannt vorkommen – und tatsächlich: Einiges von dem, was wir hier finden, gehört zur Requisite des Videos zu „Nein! Nein! Nein!“, dem neuesten Song der Band.
Während im Hauptraum Gunnar und Andy beschäftigt vor einem Mischpult sitzen, nehmen wir gemeinsam mit Mieze an einem kleinen Tisch im Nebenraum Platz. Bevor wir das Aufnahmegerät starten, überreichen wir den mitgebrachten Bildband. Mieze blättert durch das Buch und bleibt immer wieder an einigen Fotos hängen. Ob da vielleicht gerade einige Erinnerungen wach werden? Wer weiß. Wir sollten starten, schließlich haben wir nur 30 Minuten Zeit – für ein halbes Leben.
Jonas:
Die Band MIA. gibt es mittlerweile seit 17 Jahren. Wie genau habt ihr euch damals kennengelernt?
Mieze:
Andy und ich kennen uns vom John-Lennon-Gymnasium in Mitte, wir sind dort in den 90ern zusammen zur Schule gegangen. Ich fand Andy damals schon schweinecool, weil er E-Gitarre in einer Band spielte – ich selbst hatte eine klassische Gesangsausbildung und kam also aus einer ganz anderen Musikrichtung. Nachdem ich aber einige Male zu den Proben seiner Band mitkommen durfte, habe ich gemerkt, dass Klassik zwar die Musik ist, die ich mache, aber nicht die Musik, die ich höre.
Ich habe daraufhin beschlossen, dass ich von jetzt an nur noch die Musik machen will, die mir selbst etwas bedeutet – und bin Schritt für Schritt aus der Klassik ausgestiegen. Andy und ich haben damals wie die Blöden gejammt und ständig Sachen von REM oder Skunk Anansie gespielt. Kurze Zeit später haben wir Bob kennengelernt, Gunnar kam 2001 dazu. Ich erwische mich lustigerweise immer noch dabei, dass ich ihn „den Neuen“ nenne – obwohl er seit mittlerweile 13 Jahren ebenfalls fester Bestandteil unserer Band ist.
Jonas:
REM und Skunk Anansie – diese Bandnamen habe ich seit gefühlt 15 Jahren nicht mehr gehört.
Mieze:
Ja, die 90er eben.
Jonas:
Das heißt, ihr hattet von Anfang an eine genaue Idee davon, welche Musik ihr machen wollt?
Mieze:
Nein, in der Anfangszeit stand einfach das Jammen im Vordergrund. Das war total schön, weil wir dabei unsere ersten gemeinsamen Glücksgefühle erlebt haben: Wenn du eine Akkordfolge spielst, der Schlagzeuger darauf eine Drum gibt und dann alle ohne Absprache auf den nächsten Akkord wechseln – so etwas erzeugt eine sehr starke Bindung. Wir alle haben uns quasi mit der Musik erst kennengelernt: Seit wir gemeinsam Musik machen, kennen wir uns – und seit wir uns kennen, machen wir gemeinsam Musik. Ich glaube, das ist der Grund, warum unsere Zusammenarbeit auch eine so emotionale ist – MIA. ist Familie.
Jonas:
Familie heißt: mit allem, was dazugehört?
Mieze:
Klar! Natürlich streiten und diskutieren wir auch untereinander. Was aber viel wichtiger ist: Wir haben in unserer Band genug Platz für alle Verrücktheiten und unsere unterschiedlichen Charaktere.
MIA. bedeutet außerdem, dass prinzipiell alle musikalischen Strömungen in unsere Songs einfließen dürfen – wichtig ist nur, dass wir am Ende gemeinsam zu etwas Ja sagen können. So kommen manchmal auf einen veröffentlichten Song bestimmt 30 unveröffentlichte Skizzen – es ist fast schon besorgniserregend, wie viel Ausschuss wir haben.
Mieze lächelt.
Wir alle sind geprägt von dieser Freiheit, die damals in der Luft lag und heute immer noch liegt.
Jonas:
An musikalischen Strömungen mangelt es in Berlin ja nicht gerade – auch wenn sich die Stadt seit dem Mauerfall immens verändert hat. Welche Bedeutung hat Berlin für euch und eure Musik?
Mieze:
Ich bin wie die anderen hier geboren und aufgewachsen, dementsprechend sind unendlich viele meiner Erinnerungen mit Berlin verknüpft. Als 1989 die Mauer fiel, war ich gerade einmal elf Jahre alt. Ich weiß noch, dass ich die Zeit direkt nach der Wende als total positiv empfunden habe, ich fühlte mich frei wie ein Vogel. Die Erwachsenen waren damals sehr mit sich selbst beschäftigt, wir Kinder konnten daher mehr oder weniger machen, was wir wollten.
Als wir 1997 die Band gegründet haben, kamen natürlich etliche musikalische Erlebnisse dazu – vor allem in den ersten Jahren sind wir ja quasi nur in Berlin aufgetreten. Es gibt hier so viele Clubs, in denen wir mal gespielt haben: Würfel, Fuchsbau, Hof 23, Garage, Pfefferberg ¬– ich könnte die Liste unendlich weiterführen.
Ich glaube, wir alle sind geprägt von dieser Freiheit, die damals in der Luft lag und heute immer noch liegt. Die Stadt war und ist einfach permanent in Bewegung, es geht hier immer noch sehr viel. Man findet hier für jede Musik ein Publikum. Und so, wie die Stadt seit jeher ein Schmelztiegel der unterschiedlichsten Musikstile ist, treffen bei MIA. ebenfalls diverse musikalische Ströme aufeinander.
Jonas:
War für dich persönlich von Anfang an klar, dass du als professionelle Musikerin deinen Lebensunterhalt verdienen und das Ganze zu deinem Beruf machen willst?
Mieze:
Ich habe mich immer davor gedrückt, meine Tätigkeit als Beruf zu bezeichnen. Es hat auch ewig gedauert, bis ich überhaupt einmal von mir selbst gesagt habe, dass ich Künstlerin bin. Mir war immer nur wichtig, dass ich etwas tue, was mir Spaß macht – egal in welcher Sparte.
Vor langer Zeit habe ich mal ein Lied von Bill Ramsey gehört: „Pigalle, Pigalle, das ist die große Mausefalle mitten in Paris.“ Ich wusste damals zwar noch nicht, was damit genau gemeint war, aber Show, Bühne, Lichter, Zauber – das alles war mein Traum.
Jonas:
Diesen Traum scheinst du dir mit MIA. doch erfüllt zu haben.
Mieze:
Stimmt, mit unserer Band kann ich das alles ausleben. Daher ist ein MIA.-Konzert auch immer eine Einladung an unser Publikum. Wir wollen an jedem Abend eine gewisse Magie erzeugen – aber ohne Publikum geht das nicht.
Doch gerade das Publikum ist für uns immer das größte Fragezeichen: Auch nach 17 Jahren weiß man nie, wie die Leute am Abend drauf sind und wo man sie abholen kann. Ich fühle mich auf der Bühne zwar grundsätzlich sauwohl, aber es gibt dafür nie einen Plan A, B oder C.
Jonas:
Hättet ihr euch 1997 vorstellen können, wo das Ganze einmal hinführen würde?
Mieze:
Nö, damals hieß es: machen, machen, machen, spielen, spielen, spielen.
Jonas:
Immerhin habt ihr zwei Jahre später mit „Sugar My Skin“ schon den offiziellen Song zur Jugendmesse „YOU“ geliefert.
Mieze:
Zu dieser Zeit haben wir zwar zum ersten Mal mit einer Plattenfirma zusammengearbeitet, trotzdem war das damals für uns immer noch eine sehr experimentelle Phase – auch was unsere Outfits betraf: Ich erinnere mich zum Beispiel an gelackte rote Haare und ein Oberteil aus weißem Gaffa-Tape. Alles war für uns ein riesengroßes Spielfeld. Dass da eigentlich schon der Ernst des Lebens begonnen hatte, haben wir alle zum Glück noch nicht geahnt. So konnten wir die Dinge einfach nehmen, wie sie gekommen sind.
Jonas:
Konntet ihr von Anfang an von eurer Musik leben?
Mieze:
Nö, das kann ja keiner. So einen Status muss man sich immer erst erarbeiten. Wir hatten damals alle irgendwelche Jobs: Andy hat nebenbei auf der Baustelle gearbeitet, Gunnar hat gekocht, Robert war beim Winterdienst, ich selbst habe an der Garderobe gearbeitet. Das gehört einfach dazu.
Aber irgendwann ist man an dem Punkt, an dem es einfach wichtiger ist, ein Konzert zu spielen als an der Garderobe zu stehen. Zwar kommt auch dann die Miete immer noch irgendwie zusammen, aber das Ganze bleibt ein Risiko – ein künstlerischer Beruf ist immer ein Risiko. Und was nach außen vielleicht nach einem schönen, geraden Weg aussieht, war für uns alles andere als gerade. Und erst recht nicht vorherbestimmt.
Jonas:
Was genau meinst du damit?
Mieze:
Es gibt viele Dinge, von denen die Leute heute sagen, dass sie damals für uns sehr erfolgreich waren – die uns selbst aber zu jener Zeit große Probleme bereitet haben. Als wir beispielsweise angefangen haben, auf Deutsch zu texten, hat eine ganze Industrie behauptet: „Das wird nichts, das braucht ihr gar nicht erst versuchen.“ Zum Glück strafen heute noch etliche andere deutsche Künstler diese Behauptung Lügen.
Auch als wir im Jahr 2004 am Vorentscheid des Eurovision Song Contest teilgenommen haben, gab es nur Negativstimmen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sich die Leute aufgeregt haben! Da hieß es nur: „Auf keinen Fall machen! Lasst das sein!“ Dabei war diese Teilnahme für uns total wichtig: Auf einmal wussten die Leute, wer MIA. ist. Dementsprechend groß ist für uns auch die Bedeutung des Songs „Hungriges Herz“, mit dem wir damals angetreten sind.
Jonas:
Glaubst du, dass ihr euch in dieser Zeit ziemlich viel Mut angefressen habt?
Mieze:
Mut war eigentlich immer schon so ein kleiner Grundbestandteil unserer Band. Ich würde daher eher sagen, dass wir uns damals ein dickes Fell zugelegt haben. Seit dieser Zeit ist unser Fokus noch stärker auf die Erkenntnis gerichtet, dass es hier um nichts anderes als unser Leben geht – und darum, was wir persönlich für uns wollen.
Wir sind ständig damit konfrontiert, dass irgendwie jeder zu wissen glaubt, was gut für uns ist. Doch tausend Menschen haben auch tausend Ideen. In all dem Chaos ist es daher umso wichtiger, die Verantwortung nicht abzugeben und bei sich zu bleiben.
MIA. ist ganz allgemein ein Ausdruck von Freiheit: Es geht darum, sein Leben zu leben, sein Zentrum zu finden und die Freiheit wirklich wahrzunehmen, die einem geboten wird. Das heißt in der Praxis, dass man sich bei jeder Anfrage, bei jedem Event fragen muss: Will ich das machen? Kann ich das machen? Und vor allem: Kann ich das gut machen? Alles, was ich tue, möchte ich ja auch extrem gut tun.
Ich glaube, dass es einen sonst langfristig unglücklich macht, wenn man nur danach lebt, anderen zu gefallen.
Jonas:
Das klingt nach einem großen Anspruch an dich selbst.
Mieze:
Das ist doch der einzig mögliche Weg. Ich glaube, dass es einen sonst langfristig unglücklich macht, wenn man nur danach lebt, anderen zu gefallen. Das kann zwar manchmal auch die eigenen Bedürfnisse treffen, muss es aber nicht zwangsläufig. Für mich wäre dieses Verhalten ein Handeln aus absoluter Vernunft – allerdings hat mich persönlich mein Bauchgefühl immer besser beraten, als stundenlang Argumente hin- und herzuwälzen.
Jonas:
Ebenfalls um das Jahr 2004 herum hattet ihr wegen des Songs „Was es ist“ völlig unerwartet mit heftigem Gegenwind zu kämpfen: Einige Gruppierungen glaubten damals, in diesem Lied nationalistische Untertöne entdeckt zu haben. Wie seid ihr damit umgegangen, plötzlich im Zentrum solch massiver Kritik zu stehen?
Mieze:
Ich war vor langer Zeit selbst in der Antifa. Daher war es für mich umso überraschender, dass es gerade die Antifa war, die sich am peinlichsten über das Ganze aufgeregt hat.
Wir haben damals mit dem Lied eine simple Frage gestellt. Die Unruhen, die daraus entstanden sind, spiegeln wiederum bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen wider, die dem Song als inhaltliche Basis dienen – ein meiner Meinung nach interessantes Phänomen.
In dieser Zeit ist nicht nur unser Fell dicker geworden – auch unser Humor ist deutlich gewachsen: Im Zusammenhang mit diesem Song wurde immer von einem schwarz-rot-goldenen Kleid berichtet, das ich getragen haben soll. Dieses Kleid gab es aber nie. Das Ganze war eine Erfindung der Presse und wurde brav von einem Medium zum nächsten weiterzitiert.
Wenn man selbst einmal Teil einer solchen Kampagne gewesen ist, relativiert sich die Wahrnehmung der Presse total. Es bleibt einem dabei auch gar nichts anderes übrig, als das Ganze mit Humor zu nehmen und weiterhin genüsslich seine Meinungsfreiheit auszuleben. Und ehrlich gesagt finde ich es aufregend, dass MIA. scheinbar dafür sorgt, dass man die Musik entweder total gut oder richtig scheiße findet. Es gibt wenige Dinge, die einen so fordern.
Ich finde, dass wir nicht wirklich zu kritischen Menschen gemacht werden, sondern maximal zu guten Konsumenten.
Jonas:
Ich finde es ganz allgemein bemerkenswert, dass ihr regelmäßig Position bezieht, euch einmischt und dabei auch eine klare Haltung formuliert. Glaubst du, diese Fähigkeit ist der Gesellschaft abhanden gekommen? Immerhin hat der SPIEGEL vor kurzem auf einer Titelseite die Frage gestellt: „Generation Merkel: unkritisch, ehrgeizig, unpolitisch?“
Mieze:
Je älter ich werde, desto schwieriger finde ich es, Position zu beziehen. In unserer Gesellschaft wird man dazu ja auch nicht permanent ermuntert. Ich finde, dass wir nicht wirklich zu kritischen Menschen gemacht werden, sondern maximal zu guten Konsumenten. Dass der Verbraucher eigentlich am längsten Hebel der Welt sitzt, das macht ihm ja niemand bewusst: Keiner erzählt ihm, dass er selbst jeden Tag mit seinem Einkaufskorb darüber entscheiden kann, wie diese Welt funktioniert. Aber es ist ja auch einfach nicht gewünscht, dass die Bürger so reflektiert sind.
Bei mir persönlich ist es eher so, dass ich total dankbar für die Kooperationen bin, die sich im Laufe der Zeit etwa mit Greenpeace oder Amnesty International ergeben haben. Je mehr ich die Zusammenhänge auf der Welt begreife, desto ohnmächtiger komme ich mir vor. Doch gleichzeitig wird mir mehr und mehr bewusst, dass man im kleinen Kreis und nach seinen Möglichkeiten anfangen muss zu handeln. Deshalb sehe ich MIA. als meinen verlängerten Arm, um bestimmten Themen eine Plattform zu geben. So kann ich beispielsweise auf einer Tour dem Publikum erzählen, dass es starke Organisationen gibt, die handlungsfähig sind – gerade wenn man als Einzelner denkt, nichts ausrichten zu können.
Jonas:
Dass man mit wenigen Leuten zumindest in der Musik etwas bewegen kann, habt ihr in den letzten 17 Jahren deutlich gezeigt. Ist dir bewusst, dass viele eurer Lieder mittlerweile fest im kollektiven Musikgedächtnis der Menschen verankert sind? Irgendein Radiosender spielt doch immer gerade einen MIA.-Song.
Mieze:
Ich habe schon das Gefühl, dass es für uns Lieder gibt, die ganz bestimmte Momente markieren. Aber dass beispielsweise ein Song wie „Tanz der Moleküle“ so eine Langzeitwirkung hat, kann man ja im Vorfeld nicht ahnen. Viele Menschen schreiben uns und erzählen, dass sie zu dem Lied heiraten, sich lieben, es zu ihrer Hymne machen – das ist schon sehr viel größer als wir. Es ist total schön, das abzugeben und einfach passieren zu lassen.
Jonas:
Empfindest du den hohen Bekanntheitsgrad einiger eurer Lieder als einen Vorteil? Oder ist er eher eine Bürde, weil die Gefahr besteht, immer wieder auf diese Songs reduziert zu werden, und es schwerer fällt, Neues zu etablieren?
Mieze:
Für mich ist es ein wenig von beidem. Es wird immer Leute geben, die jedes Lied von uns mit „Tanz der Moleküle“ vergleichen. Und es wird sogar immer Leute geben, die alles, was von MIA. kommt, in Relation zu dem Song „Alles neu“ von unserer ersten Platte setzen. Trotzdem sehe ich das Ganze als einen sehr beweglichen Prozess – und ich fühle mich in dieser Band immer noch frei.
Jonas:
Wie genau entsteht bei euch ein Song, wie laufen die Entscheidungsprozesse ab?
Mieze:
Es gab bei uns nie ein eindeutiges Prinzip der Entscheidungsfindung. Mal war es so, dass alles demokratisch ablief – drei Leute wollten etwas und einer nicht, also war er überstimmt. Mal war es so, dass wir etwas nicht umgesetzt haben, wenn es mindestens ein Bandmitglied gab, das sich mit etwas nicht wohl fühlte.
Bei unseren Songs ist es ähnlich: Zu dem Lied „Fallschirm“ beispielsweise sind Text und Musik parallel entstanden. Anschließend haben sie sich getroffen und es war Liebe auf den ersten Blick. Bei „Mein Freund“ gab es zuerst die Gesangsmelodie und den Text, dann wurde die Musik komplett um dieses Konstrukt herum komponiert. Und bei unserem neuesten Song „Nein! Nein! Nein!“ gab es von den Jungs eine Steilvorlage: Sie haben nicht nur die Musik geschrieben, sondern auch 90 Prozent des Textes. Ich habe bei diesem Lied letztendlich nur eine einzige Zeile geändert.
Normalerweise ist der Text ja meine Baustelle – und das, was mir am meisten Spaß macht. Aber ich habe nur einen kleinen Moment damit gehadert und war schon kurz darauf ziemlich stolz: Die Jungs haben einen Text geschrieben, der mich wahnsinnig zum Lachen bringt. Er ist wie ein geheimes Zeichen. Überhaupt löst der gesamte Song bei uns ähnlich viele Glücksgefühle aus, wie wir sie damals hatten, als wir zum ersten Mal miteinander gejammt haben. Denn sich auf eine gemeinsame Musik zu verständigen, das ist das Eine – aber einen gemeinsamen Humor zu finden, das ist nochmal ein gutes Stück schwieriger.
Jonas:
Was ist die Idee hinter „Nein! Nein! Nein!“?
Mieze:
Das Lied ist quasi die Sammlung aller Zweifel, Warnungen, Kritiken und Negativmeinungen, die uns seit der Gründung von MIA. begegnet sind – diese ganzen Neins von außen waren unsere ständigen Begleiter. Das musste mal raus.
Jonas:
Das Video zu dem Song wirkt wie eine große Persiflage auf die omnipräsenten Casting-Shows im TV – dabei warst du in diesem Jahr selbst Teil der Jury des RTL-Formats „Deutschland sucht den Superstar“. Habt ihr vorher innerhalb der Band darüber diskutiert, was das für MIA. bedeutet? Oder war es eine ganz persönliche, individuelle Entscheidung?
Mieze:
Ich habe das einfach als eine interessante Abwechslung verstanden – außerdem wollte ich immer schon herausfinden, wie Fernsehen in so einer Dimension funktioniert. Als dann die Anfrage für DSDS kam, habe ich gesagt: Ich will es machen, also mache ich es.
Wie immer hatte auch hier im Vorfeld jeder etwas dazu zu sagen. Von „Das musst du tun!“ bis „Das darfst du auf keinen Fall tun!“ war wirklich alles an Meinungen dabei.
Ich muss sagen, dass ich sehr gerne mitgemacht habe und das Ganze überaus spannend fand. Sollte ich mal ein Buch schreiben, würde ich dieser speziellen Erfahrung bestimmt ein Kapitel widmen.
Jonas:
Was genau hast du für dich lernen und mitnehmen können?
Mieze:
Ich fand es faszinierend, dass diese Show scheinbar immer noch das beliebteste Casting-Format im deutschen Fernsehen ist, obwohl es von allen gehatet wird. Das kam mir ein wenig bekannt vor, ich nenne es ein typisches MIA.-Phänomen: Entweder man hasst es oder man liebt es. Aber man weiß immer, was dort vor sich geht, damit man auch etwas dazu sagen kann.
Ich kannte die Sendung natürlich auch schon vorher, allerdings nur als klassischer Zuschauer zuhause auf der Couch. Die Tatsache, dass ich meine Couch gegen die das Jurypult und damit die erste Reihe eintauschen konnte, war total aufschlussreich für mich. Ich wusste zum Beispiel nicht, dass es bereits zwei Vorcastings gibt, bevor das im TV gezeigte Casting stattfindet. Und ich wusste ebenfalls nicht, dass manche Teilnehmer sogar RTL verklagen, weil sie demzufolge nicht im TV zu sehen sind.
Jonas:
Von Andy Warhol stammt der Satz: „Everyone will be world-famous for 15 minutes.“ Das dürfte zu diesem Format vielleicht ganz gut passen.
Mieze:
Mag sein. Ich finde es aber wichtiger, Talente langfristig zu fördern anstatt ihnen lediglich 15 Minuten zu geben. Im Jahr 2013 – also noch vor DSDS – habe ich auch als Jurorin für den Kinderkanal angefangen. Das Format „Mein Song“ beschäftigt sich mit jungen Komponisten und deren tatsächlicher Förderung – das finde ich wesentlich interessanter. Insofern habe ich das Gefühl, ein umfangreiches Praktikum bei der Mutter aller Casting-Shows absolviert zu haben und dadurch jetzt bestens gewappnet zu sein: Zumindest fernsehtechnisch kann mich nichts mehr schocken.
Uns erreichen viele Nachrichten von Menschen, die wir mit unserer Musik in krassen Momenten ihres Lebens begleitet haben und ihnen Kraft zum Durchhalten geben konnten.
Jonas:
Siehst du dich selbst als Mutmacherin?
Mieze:
Ja, definitiv: MIA. – ein anderes Wort für Mut. Aber auch ein anderes Wort für Trost. Uns erreichen viele Nachrichten von Menschen, die wir mit unserer Musik in krassen Momenten ihres Lebens begleitet haben und ihnen Kraft zum Durchhalten geben konnten. Das gibt nicht nur der Band, sondern auch meinem persönlichen Leben einen wunderschönen übergeordneten Inhalt.
Jonas:
Siehst du dich auch als Vorbild?
Mieze:
Hm, ich möchte das nicht unbedingt sein. Wenn überhaupt bin ich Vorbild darin, einen Ausdruck für sich selbst zu finden und es sich zu erlauben, glücklich zu sein. Das ist etwas, was mir persönlich sehr wichtig ist – und was mir beispielsweise auf einer Tour wie der, die jetzt gerade ansteht, in idealer Art und Weise ermöglicht wird.
Jonas:
Was wünschst du dir denn von dieser Tour? Welches Gefühl möchtest du haben, wenn du zurückkommst?
Mieze:
Ich wünsche mir einen absoluten Glücksgefühletaumel. Am liebsten wäre mir, wenn ich nach der Tour sagen könnte: Ich will direkt wieder los! Das Schönste an unserer Tour ist ja, dass es eine Clubtour ist: Wir kommen aus den Clubs und wir gehen wieder in die Clubs. Es gibt ganz viele Bilder von früher in meinem Kopf, an die ich hoffentlich mit dieser Tour anknüpfen kann.
Jonas:
Und was wünschst du dir persönlich?
Mieze (singt):
„Viel Glück und viel Segen / auf all deinen Wegen / Gesundheit und Frohsinn / sei auch mit dabei.“ Ich möchte einfach glücklich sein. Aber wie sich dieses Glück ausdrückt, möchte ich mir selbst gar nicht vorschreiben – dafür gibt es einfach zu viele Dinge auf der Welt, in denen man sein ganz persönliches Glück finden kann.
Für einen kurzen Moment fokussiert uns Mieze mit ihren großen, dunkelbraunen Augen – dann springt sie auf, greift sich „Berlin Wonderland“ und läuft in den Hauptraum zu Gunnar und Andy. Wenige Sekunden später sitzen die Drei gemeinsam auf einer kleinen Ledercouch und blättern eifrig durch den Bildband. Immer wieder scheinen sie dabei auf alte Fotos zu stoßen, die ihnen wohl irgendwie bekannt vorkommen.
„Sollen wir ein wenig Musik machen?“, fragt uns Mieze plötzlich. Noch bevor wir antworten können, hat sie sich das Mikrofon geschnappt und fängt an zu singen. Im nächsten Moment steigen auch Gunnar und Andy mit Schlagzeug und Gitarre ein – und spielen für ein paar Minuten vor dem wahrscheinlich kleinsten Publikum Berlins.
Nachdem das Privatkonzert vorbei ist, verabschieden wir uns und verlassen jenes unscheinbare Haus in Weißensee, das uns vor knapp einer Stunde in eine andere Welt entführt hat. Wir laufen einige Meter, bleiben stehen und blicken noch einmal zurück: Was sind schon Straßenzüge und Fassaden?
Wichtig ist letztendlich nur, was es dahinter zu entdecken gibt.
Mit etwas Glück ist es ein Wunderland.
So wie eben.
Mieze Katz, Andy Penn, Bob Schütze und Gunnar Spies leben in Berlin und sind zusammen die Band MIA.
Benedikt Blaskovic
Submission — Benedikt Blaskovic
Mit erhobener Stimme
14. Dezember 2014 — MYP No. 16 »Meine Stimme« — Text: Benedikt Blaskovic, Foto: Dennis König
Meine Stimme. Wenn ich an diesen „Begriff“ denke, denke ich sofort daran, dass die eigene Stimme alle eigenen Gefühle unbewusst ausdrückt. Man hört sofort, ob du in deiner Mitte bist, eher im Kopf oder eher im Bauch, ob du Angst hast oder mutig bist. Die Stimme ist der Ausdruck von allem, sie ist unser Instrument, das auf unserer eigenen Wellenlänge schwingt und uns einzigartig macht.
Leider ist unsere Gesellschaft oft so aufgebaut, dass wir anderen unsere eigene, echte und wahrhaftige Stimme nicht zeigen „dürfen“. Ein gutes Beispiel ist das sterile Büro. Negative Gefühle werden unterdrückt, damit bloß keiner unsere Schwächen sieht. Ich finde das schade, denn ich habe oft die Erfahrung gemacht, dass sich – wenn wir ehrlich unsere „echte Stimme“ zeigen – etwas verändern kann. Für uns und in unserer Umwelt. Unsere Stimme drückt das aus, was wir denken und fühlen und wo wir hin wollen. Wenn wir es nicht ausdrücken, stagnieren wir und bleiben dort stehen, wo wir sind.
Meine ganz eigene Stimme klingt verschiedenartig. Je nach dem wie ich mich fühle, ist sie eher hoch (im Kopf) oder tief (im Bauch und beim Herzen). Ich liebe das Gefühl innerer Ausgeglichenheit und wenn die Stimme somit in Ihrer ganz natürlichen leichten Wellenlänge schwingt. Dann resoniert der ganze Körper mit dieser Schwingung. Das ist ein Gefühl von Urlaub, von zu Hause sein – und ein Gefühl von „von hier aus kann ich überall hingehen“.
Ich bin in Bayern als Sohn einer Hessin und eines Nordrhein-Westfalen aufgewachsen. Da hat man es oft nicht leicht, seine Stimme zu erheben. Denn man wird im tiefsten Urbayern dann als „Preiss“ abgestempelt, obwohl man dort geboren ist und bayerisch spricht. Ich hatte als Kind oft Angst, meine Stimme zu erheben. Ich trug eine Brille, sah aus wie Harry Potter und hatte einen Topfhaarschnitt. Und dazu kam eben noch, dass meine Familie nicht von innerhalb der bayerischen Weißwurstgrenze kam. Erst im Laufe meiner Jugend lernte ich, meine Stimme zu erheben und das auszudrücken, was ich fühle, denke und will.
Die Musik hat mir dabei sehr geholfen. Mit acht lernte ich Gitarre spielen, mit zehn Schlagzeug. Ich hatte meine ersten Bands. Als ich 15 war, spielte ich neben der Schule in fünf bis sechs verschiedenen Bands diverser Genres (Rock, Pop, Klassik, Jazz, Big Band…). Später wurde ich dann Schauspieler und lernte noch mehr das auszudrücken, was ich wirklich fühle, und meinem ganzem ICH eine Stimme zu geben. Meine Stimme – das bin ich.
Heute nehme ich kein Blatt mehr vor den Mund und drücke (zumindest in den meisten Fällen) das aus, was ich wirklich sagen möchte und was ich fühle. Ich mache meinen Mund auf, wenn Unrecht geschieht, stelle mich mit meiner Stimme vor die Schwachen. Die kleine Frage „Ist alles ok?“ oder „Kann ich dir helfen?“ kann so viel Kraft und Macht haben – nur wir benutzen sie viel zu selten.
Um denjenigen eine Stimme zu geben, die es nicht ganz so gut haben wie wir, habe ich 2011 den Zimtsterne e.V. gegründet und 2013 das 50 Cent World Project ins Leben gerufen. Mit beidem unterstützen wir soziale Projekte weltweit.
Lasst uns gemeinsam die Stimme erheben gegen Unrecht auf dieser Welt und lasst uns damit im Kleinen anfangen. Lasst uns mit unserer Stimme andere Menschen verändern, ihnen eine Stütze sein, eine Hoffnung. Lasst uns anderen Menschen Mut geben mit unserer Stimme und lasst uns vor allem kein Blatt vor den Mund nehmen. Gemeinsam sind wir eine starke Stimme und jeder einzelne kann seine Stimme benutzen, um etwas zu bewegen.
Benedikt Blaskovic ist 26 Jahre alt, Schauspieler und lebt in München.
Hanna Becker
Submission — Hanna Becker
Im Herzen Kapitän
14. Dezember 2014 — MYP No. 16 »Meine Stimme« — Text & Foto: Hanna Becker
Wenn die Bahn nicht gerade streikt, dann fahre ich Bahn, meistens ICE und eigentlich auch nur eine Strecke: Berlin Hbf – Düsseldorf Hbf. Manchmal steige ich auch schon in Hamm aus, wenn ich in die Heimat will, hin und wieder fahre ich auch nur bis nach Dortmund, aber meistens sitze ich 4 Stunden und 20 Minuten im Zug. Die angegebene Zeit ist natürlich das Optimum, wenn der Zug mal keine Störung hat oder Verspätung oder sonst irgendwas… und wenn es der ICE ist… IC dauert länger, IC mit Verspätung dauert am längsten.
Doch diese 4 Stunden und 20 Minuten können schneller vorbei gehen, als man denkt. Meistens gibt es in der Zeit immer was zu tun, Mails schreiben, ein gutes Buch lesen oder auch einfach aus dem Fenster starren… aber am besten sind die Fahrten mit ungeahnten Überraschungen.
Auch heute sitze ich wieder einmal für mehrere Stunden im Zug mit dem Ziel: Berlin Hbf.
Wie immer gibt es noch eine Butterbrezel auf die Hand und dazu eine Flasche Cola-Light. „Achtung auf dem Gleis 18, der IC nach Berlin Südkreuz über Essen, Bielefeld, Hannover, Wolfsburg und Berlin Hbf. hält Einfahrt.“, tönt es aus dem Lautsprecher. Platzreservierung gibt es diesmal nicht. Ich hoffe, noch einen erwischen zu können. Das Lustige am IC: Es gibt immer einzelne Abteile mit jeweils sechs Sitzen. Das waren die besten Klassenfahrten… die roten, mit Samt überzogenen „Pull-Sitze“, die man zu einer kompletten Liegewiese ausziehen konnte. Laute Musik, knutschen mit den Jungs und sich total groß fühlen. Es ging schließlich nach Hamburg, München oder Berlin.
Heute betrachte ich die kleinen Abteile eher unter einem anderen Aspekt: Mit wem halte ich es die nächsten vier Stunden aus? Der Banker im ersten Abteil macht einen angespannten Eindruck… also weiter. Es folgen: eine vierköpfige Familie, zwei Männer, die wild auf ihren Computer hacken, ein Mann, der viel zu laut telefoniert. „So, jetzt vielleicht, dann doch mal irgendwo rein.“, ermahnt mich meine innere Stimme.
Durch den ganzen IC laufen macht es auch nicht besser. Ich entscheide mich, einfach der nächsten Sechser-Gruppe beizutreten, egal wer sich dort befindet.
Augen zu, Tür auf und Überraschung. Eine warme Welle kommt mir entgegen, was sich im ersten Moment gut anfühlt. Es folgt jedoch ein penetranter Geruch von Moschus. Als ich die Augen öffne, sitzt am Fenster ein fülliger Mann, ungefähr Mitte sechzig, schwarze Bomberjacke, buntes Hemd und blaue Hose.
„Da musst du jetzt wohl durch“, ist mein erster Gedanke. Mit tiefer Stimme wird der erste Kontakt zu mir aufgenommen: „Guten Tag, kann ich ihnen mit ihrer Tasche behilflich sein?“ „Für eine Bomberjacke ganz nett.“, spricht mein Inneres. Ich hole meinen iPod und meine Cola-Light aus der Tasche mit dem Plan, mich die nächsten vier Stunden abzuschotten. „Wohin fahren Sie denn?“, werde ich angesprochen.
Ich halte inne, lasse meine Hand mit meinen Kopfhörern auf den Schoß sinken. „Berlin Hbf.“, antworte ich mit müder Stimme. „…nach Hause“. Der Mann erzählt mir, dass er von Beruf Busfahrer ist. Zuhause hält er es nicht lange aus. Sein Zuhause liegt irgendwo in der Nähe von Bielefeld.
In London, Paris, Spanien und Frankreich ist er schon gewesen. Eigentlich wollte er Kapitän werden, so wie sein Vater, aber seine Mutter hat es ihm verboten. „Ein Seemann in der Familie reicht.“, hat sie ihm deutlich zu verstehen gegeben. Also hat er eine kaufmännische Ausbildung absolviert, „aber das hat mir keinen Spaß gemacht.“
„Haben Sie denn auch einen Ort, wo Sie mit ihren Reisegruppen am liebsten hinfahren?“, will ich von ihm wissen. Das Gespräch macht mir Spaß. Es ist sehr selten geworden, dass ein Fremder sich so mitteilt. „Am liebsten fahre ich nach London, mit der Fähre von Calais nach Dover. Dann trinke ich mir eine Tasse Kaffee auf der Fähre und schaue mir dabei die Kreidefelsen an… einfach wunderschön!“
Er erzählt mir von seinen Fahrten nach Spanien, mit seinen „Omis“, wie er die Damen ab sechzig aufwärts liebevoll nennt und, dass er mit ihnen meistens eine gute Zeit verbringt. Ich muss immer wieder schmunzeln und vergesse die Zeit. Auf einmal steht der Mann auf. „So, jetzt muss ich mich beeilen, die nächste Station ist Bielefeld.“
„Oh, das ging jetzt aber schnell.“, sagt meine innere Stimme und ich versuche, mich an die vorherigen Stopps zu erinnern. Klappt aber nicht. „Na dann noch ‘ne gute Reise, tschüss.“
„Äh… ja danke“, stammele ich. Schon ist er weg, nur noch der Moschus-Duft erinnert mich an meinen Busfahrer, der im Herzen ein Kapitän ist.
Ich krame nach meinen Kopfhörern, die irgendwo zwischen Mantel und Sitz gerutscht sind, stecke sie ins Ohr und kann mir ein Grinsen über mich selbst nicht verkneifen. Nette Bomberjacke… gutes Gespräch.
Hanna Becker ist 28 Jahre alt, Fotografin und lebt in Berlin.
Anja Balssat
Submission — Anja Balssat
Tonlos im Rundherum
14. Dezember 2014 — MYP No. 16 »Meine Stimme« — Text & Illustration: Anja Balssat
Sie wissen, Sie werden gewesen sein.
Reden, reden immerzu.
Immerzu vom Jetzt:
Die Stadt ist noch dunkel,
Ein Getöse, genau hab ich’s gehört.
Ellie, er hat’s doch so gesagt, wenn ich’s doch sage.
Und dann.
Sie vertrauen einander an.
Dieses Jetzt.
Tiefe Beschaulichkeit.
Und dann:
Wenn sie’s doch sagt, er hat es getan!
Die Stadt und der Schnee, so ein Gestöber.
Und die Kinder, ja, Ruthi, die Kinder auf ihren Schlitten.
Dieses ganze Jetzt. Diese unsagbaren.
Diese immer gleichen Wörter, aneinander gewebt.
Ein Leintuch.
Es wickelt sie ein.
Ja sie wissen’s: sie werden gewesen sein.
Mumien tief in ihren Gräbern.
Jetzt.
Großmütterchengesicht.
Mumienoberhaupt.
Sie wedeln den Staub.
Räumen beiseite,
Den Rahmen, die Schalen, das rostige Rad.
Und Spielen nicht.
Sie reden davon.
Jetzt.
Anja Balssat ist 37 Jahre alt, Kommunikationsdesignerin und lebt in Aachen.
Mirjam Geiss
Submission — Mirjam Geiss
Fast schon besonders
14. Dezember 2014 — MYP No. 16 »Meine Stimme« — Text & Foto: Mirjam Geiss
Meine Stimme
Einzigartig. Eigenartig. Andersartig.
Manchmal fremdartig.
All das ist sie: meine Stimme.
Jeder einzelne Laut,
ist mir eigentlich vertraut,
hör‘ sie ja schließlich ständig.
Ich glaub‘ sie zu kennen, will die Tonlage benennen.
Mal tiefes Gebrummel, dann leises Gemurmel,
angeraut, manchmal ausgelaugt.
Jetzt gerade irgendwie ausgeglichen,
aber wann anders bewegt sie sich in fast unwirklichen
Tonlagen.
Irgendwie alles zusammen.
Ich glaube, meine Stimme hat verschiedene Farben,
die Nuancen und Töne, eine bunte Palette.
Zwar alles Eins, aber mehr als nur eine Facette.
So wie die Blätter eines Baumes im Herbst,
den du mit Pinsel und Farbe einfach verfärbst.
Keiner hört meine Stimme so oft wie ich,
aber diese Tatsache alleine spricht schon für sich.
Und dabei nicht für mich.
Denn für alle klingt meine Stimme gleich.
Nur ich hör‘ sie anders,
fast schon besonders.
Und doch muss ich mir schließlich eingestehen,
zwar hört sie keiner so oft wie ich,
wirklich kennen tu‘ ich sie deshalb lange noch nicht.
Mirjam Geiß ist 21 Jahre alt, studiert Kommunikationsdesign und lebt in Flörsheim am Main.
Philip Gunkel
Submission — Philip Gunkel
Breath Of Berlin
14. Dezember 2014 — MYP No. 16 »Meine Stimme« — Text & Foto: Philip Gunkel
Das Foto „Breath of Berlin“ entstand im Januar 2014 in Anlehnung an mein Foto „Potsdamer Tor“ aus der Serie „Die Berliner Akzisemauer“ aus dem Jahr 2012. In dieser Serie habe ich anderthalb Jahre lang die Orte dokumentiert, an denen die Stadttore der ehemaligen Zollmauer Berlins von ca. 1730 bis 1860 standen.
Vor zwei Jahren bot sich mir nicht die Gelegenheit, aber ich hatte schon damals die Idee, die Hochhäuser des Potsdamer Platzes im Nebel verschwinden zu lassen. Als dann eines Tages endlich sehr dichter Nebel aufzog, wusste ich sofort, dass ich die Aufnahme erneut in dieser besonderen Stimmung fotografieren würde. Mit Hilfe eines Neutraldichtefilters und einer daraus resultierenden langen Belichtungszeit von mehreren Minuten gelang es mir, dem Betrachter einen stillen, tiefen und zeitlosen Einblick in den Ort sowie seiner Architektur zu geben. Mit Hilfe des dichten Nebels und der dämmrigen Lichtstimmung wollte ich einen anderen Potsdamer Platz zeigen, als wir ihn heute kennen, und Raum schaffen für einen zweiten, tieferen Blick – losgelöst von dem einen Moment, geographisch und zeitlich austauschbar.
An den Toren der Berliner Akzisemauer wurde damals erstmals der Handel kontrolliert und die Akzise, die damaligen direkten Verbrauchssteuern auf eingeführte Waren, erhoben. Obwohl die Mauer nur etwas mehr als 130 Jahre stand, ist sie in der städtebaulichen Gliederung Berlins bis heute präsent. An den Verkehrsknotenpunkten, die meist nach einer Stadt in der jeweiligen Richtung benannt waren, entstanden unter anderem die ersten Eisenbahnverbindungen mit ihren Kopfbahnhöfen vor Berlin, wie z.B. der Hamburger, Frankfurter (heute Ostbahnhof) oder der Anhalter Bahnhof. Mich hat damals besonders interessiert, welchen Veränderungen diese Orte auf Grund der Stadttore und des damit verbundenen Handels architektonisch sowie gesellschaftlich unterzogen waren.
Der Potsdamer Platz ist dafür ein Paradebeispiel, denn er entwickelte sich damals innerhalb weniger Jahrzehnte von einer ruhigen und ländlich geprägten Kreuzung zu einem entscheidenden Verkehrsknotenpunkt Europas und wurde damit auch immer mehr zu einem begehrten Treffpunkt der politischen, sozialen und kulturellen Szene der damaligen Zeit. Der Platz vor dem Potsdamer Tor erhielt 1838 einen eigenen Fernbahnhof, den Potsdamer Bahnhof und Anschluss zu Berlins erster U-Bahnlinie um 1902 (U1), die auch entlang der damaligen Stadtmauer gebaut wurde.
Philip Gunkel ist 28 Jahre alt, Fotograf und lebt in Berlin.
Tami Dorina Doikas
Submission — Tami Dorina Doikas
Gelebte Worte
14. Dezember 2014 — MYP No. 16 »Meine Stimme« — Text & Foto: Tami Dorina Doikas
Die Luft hier drin ist stickig. Ich traue mich kaum zu atmen. Vor mir ein großes Chaos. Ein großer Haufen Blätter. „Nicht gut genug.“, stand auf manchen Blättern. Worte wie diese flattern auf den Blättern, die sie tragen, zu Boden, direkt neben meine Füße. Ich will mir die Haare raufen, das Herz herausreißen, schreien, stampfen, bis ich keine Kraft mehr habe.
Irgendetwas bewegt sich und wirbelt Blätter auf. Die Blätter, die ich zuvor auf den Grund habe fallen lassen. Alles fängt an sich zu drehen. Und mit einem Mal wird mir klar, dass ich gefangen bin. In meinem eigenen Kopf. Ich kriege kein Wort heraus. Es ist, als hätte mir jemand meine Stimme gestohlen. Sie ist weg.
Ich fange an, alle Blätter aufzusammeln. Gedanken, Träume, Ideen und Geschichten. Ich ordne sie, staple sie. Beginne ein Blatt nach dem anderen zu lesen und zu leben. Die Luft wird besser. Mit jedem Blatt, das ich erhasche, spüre ich eine Last von mir fallen.
Es wird heller, ein frischer Herbstwind durchflutet den Raum. Ich atme tief ein, schließe die Augen und höre meine Stimme wieder:
„Gedanken sind Worte, die gelebt werden müssen.“ Meine Hände greifen zur Kamera.
Tami Dorina Doikas ist 22 Jahre alt, Mediengestalterin und Fotografin und lebt in Siegen.
Moritz Aust
Submission — Moritz Aust
Stimme gefunden
14. Dezember 2014 — MYP No. 16 »Meine Stimme« — Text & Foto: Moritz Aust
Eine eigene Stimme zu finden war nie wirklich einfach für mich. Als Kind wurde ich permanent als schüchtern, zurückhaltend und still eingeschätzt. Ich habe es selten gewagt, meine Stimme zu benutzen und meine Meinung offen und ehrlich gegenüber anderen auszusprechen oder zu meinen Träumen zu stehen.
Lange Zeit bin ich dem gefolgt, was mir die breite Masse, Freunde und Familie vorgelebt haben, ohne dies zu hinterfragen.
Doch vor ein paar Jahren entdeckte ich die Fotografie für mich, was dazu führte, dass ich endlich meine eigene, individuelle Stimme gefunden habe.
In meinem Leben gab es nun ein Medium, mit dem ich mich perfekt ausdrücken konnte – und ich fing an, meine Stimme für die Dinge zu erheben, die ich für richtig hielt.
Moritz Aust ist 18 Jahre alt, Fotokünstler und lebt in Berlin.
Acacia Johnson
Submission — Acacia Johnson
Into The Light
14. Dezember 2014 — MYP No. 16 »My Voice« — Text & Photo: Acacia Johnson
Wind batters the side of the house, thrashing upon the frosted windows in great sheets of wet, blowing snow. Tungsten light spills warm across the floor; I feel it in the wood grain under my toes. I sweep its surface clean, smooth, reflecting the ever-present blueness of the world outside. Tor Edvin stands at the door, lacing his boots, buttoning his coat.
“I’ll go dig out the car.”
A gasp of howling wind shudders through the door at the moment he opens it, snowflakes billowing into the room. I sink my hands into the last of the steaming dishwater, miraculous in its froth and heat. Soon everything is clean, and we are scraping ice from windshields and passenger windows, hands numbing in the storm, and our little world of golden warmth is speeding behind us as we depart town. First, glittering clusters of harbor lights illuminate the roadside; next, the bridge to the mainland glows dimly through the blustery haze. All too soon there is nothing, nothing but us and an eternal blur of white, Tor Edvin at the wheel and glare ice under our tires. Into the oblivion we soar, barreling through an infinite whiteness that descends steadily into indigo.
Hours pass. Heat pours from the little slots in front of the passenger seat and I press my fingers to the warm plastic, fidgeting. I have to tell him, I think. The radio fades in and out of coherence as our car plunges into valleys and crests mountain passes, dipping around corners of remote peaks. Music. Static. Stories. Silence. I watch Tor Edvin watch the road. I watch the road. I watch the mountains and the sky, and the ocean, when we glide alongside its ominous waters. The words won’t come. I close my eyes and watch my dreams. The snow grows thicker. We see no one. I feel small and fragile in the car, a little creature clinging to a precious piece of warmth, bundled so tightly in down and wool and sealskin.
Hours pass and finally there are lights on the horizon, at the seaside. A lone ferry looms through the winter storm, its dark shape a vague silhouette in the wind. We pull our car into its vacuous hold, dropping our coins into the weathered palm of the ticket-taker. Harsh artificial light stings our eyes, reflecting off the melting snow that pools under the car where it sits parked, exhausted and encrusted with ice.
Silence in the wake of the engine. Slowly we unbuckle our seatbelts and open the doors. Our breath comes in clouds that shine silver under fluorescent lights. Our footsteps echo across the empty platform and we slip inside just as the ferry begins the gentle rolling of departure.
Rows upon rows of empty seats greet us, a ghost ship, and I think we have traveled here before, you and I, in some idyllic world of golden sun and endless light. I press my face to the cold windows and watch the glimmering lights grow fainter and fainter until nothing but perpetual blue surrounds the boat and we are leaving this world behind.
Hours pass and there are no streetlights where the ferry finally touches land – just blackness and blowing snow that weaves and snakes across the road in swirling patterns, flakes blasting past the windshield like racing stars. A last chance. The words well up inside, spinning, pressing – but they remain, buried. I try to ignore the increasing slickness of the swerves underneath our tires; trees grow thicker, the darkness deeper. Our isolation, greater.
When we suddenly see it, we know. Home. A little sign in the darkness, a smaller road, a thicker forest, those granite walls caught in the headlights. My heart pounds, yet the fear wins. We have traversed worlds. I leave my words calling and crying out in the abyss behind us, buzzing electric under my skin. We step forward into silence, into the light.
Acacia Johnson is a 24-year-old photographer based in Anchorage, Alaska.
Jonas Meyer
Submission — Jonas Meyer
Kinderspiel
14. Dezember 2014 — MYP No. 16 »Meine Stimme« — Text & Foto: Jonas Meyer
Irgendetwas sagt mir, ich soll gehen.
Einfach gehen.
Als wäre es ein Kinderspiel,
den Zustand der permanenten Erschöpfung
zu durchbrechen.
Als wäre es ein Kinderspiel,
dem zersetzenden Gefühl der Unfreiheit
Adieu zu sagen.
Als wäre es ein Kinderspiel,
jene Zweifel abzuschütteln, die sich schon
viel zu tief in den Verstand gegraben haben.
Und nach und nach das Herz auffressen.
Irgendetwas sagt mir, ich soll gehen.
Einfach gehen.
An jenen Ort,
der mir ein Dauerlächeln schenkt.
An jenen Ort,
der mich nicht frieren lässt.
An jenen Ort,
der eigentlich ein Fremder ist.
Und trotzdem ein Vertrauter.
Irgendetwas sagt mir, ich soll gehen.
Einfach gehen.
Doch eine Stimme flüstert mir:
Du bist schon dort.
Jonas Meyer ist freiberuflicher Art Director und Publizist und lebt in Berlin.