Milos Miskovic

Interview — Milos Miskovic

»Es ist keine langfristige Lösung, seine Gefühle zu verstecken«

Er gilt als der Udo Walz von Budapest: Milos Miskovic wuchs als schwuler Junge in Serbien auf, überlebte den Balkankrieg und avancierte in Ungarn zu einem berühmten Damenfriseur. Eine beeindruckende Biografie aus einer Generation, die bei uns in Westeuropa gleich mehrfach um Sichtbarkeit ringt.

8. Januar 2024 — Interview & Text: Katharina Viktoria Weiß, Fotografie: David Ajkai

Mitte der Achtziger im serbischen Dorf Ostojićevo. Wenige Tage vor einem Handballturnier wird Teenager Milos Miskovic von seinem Trainer aufgefordert, sich einen anständigen Haarschnitt zuzulegen. Also schaut er im einzigen Friseurladen der kleinen Gemeinde vorbei und verhandelt: Wenn er Friseurmeisterin Éva bei der Arbeit zur Hand geht, erhält er einen Last-Minute-Termin für sein wildes Haupthaar.

Als Milos aus nächster Nähe erlebt, wie Éva ihre Kund*innen verwandelt, findet er prompt seine Berufung – und verärgert ebenso prompt seine Eltern. Denn die sind ganz und gar nicht erfreut, dass der Filius plötzlich Damenfriseur werden will. Und nicht Anwalt, wie ursprünglich geplant und erhofft. Denn in einem serbischen Dorf wie Ostojićevo gilt es für einen Mann damals als peinlich, diesen Beruf auszuüben. Doch Milos setzt sich durch und eröffnet 1989, da ist er gerade mal 17 Jahre alt, seinen ersten Salon im Erdgeschoss des Elternhauses.

Heute, gut drei Dekaden später, lebt er in Ungarn und ist einer der bekanntesten Hair-Stylisten des Landes. Manche seiner Kundinnen fliegen sogar aus ganz Europa ein, einige kommen von noch weiter. Sein exklusives Studio, das den Namen „MMhair“ trägt, liegt im Zentrum Budapests und ist nur wenige Gehminuten von der berühmten St.-Stephans-Basilika entfernt. Eine edle Adresse. Dennoch ist Milos Miskovic in all den Jahren ein bodenständiger Handwerker der Schönheit geblieben: ein kerniger Typ, dessen Gestik wie eine einzige Umarmung an die Welt anmutet.

Seine große Empathie ist dabei auch ein Resultat seiner ganz eigenen Geschichte, die er in seiner kürzlich erschienenen Biografie niedergeschrieben hat. „Fear of myself“ erzählt von einem jungen, schwulen Mann in Jugoslawien und im späteren Serbien, der im politischen Chaos der neunziger Jahre in eine ungewöhnliche Karriere stürzt. Eine Karriere, die ihm hilft, der großen Einsamkeit zu entkommen, die mit dem Anderssein einhergeht.

In dem Buch erzählt Milos auch, wie der Umgang mit dem Tod seines Vaters und die Krankheit seiner Mutter ihren Tribut forderten. Aber er beschreibt auch, wie er bei einem Urlaub in Spanien seine erste Begegnung mit der Liebe machte: Es ist nur eine flüchtige Romanze, die ihm aber die Tür zu einer Welt öffnet, von der er wusste, dass er zu ihr gehört – obwohl er sie nie zuvor betreten hatte.

Milos, der heute mit seinem langjährigen Partner Simon zusammenlebt, schafft mit seinem Buch ein wichtiges Dokument queeren Lebens in Mittel- und Osteuropa und zeichnet darin Lebenswege einer LGBTQIA*-Generation nach, die bisher kaum sichtbar war. Eine Generation, die schon wieder in großer Sorge lebt angesichts des politischen Rechtsrucks vieler europäischer Staaten – und die, uns alle mahnend, den Zeigefinger hebt.

»Wenn jemand mit einem bestimmten Stil auftrat, fiel er sofort auf.«

MYP Magazine:
Nimm uns mit auf eine Zeitreise: Wie fühlte sich in Deiner Jugend das Leben in Jugoslawien an – einem Staat, den es heute nicht mehr gibt?

Milos Miskovic:
Die Region Vojvodina, in der ich aufgewachsen bin, lag damals im landwirtschaftlichen Teil Jugoslawiens, nahe der ungarischen und rumänischen Grenze. Die Bevölkerung war multikulturell: Serben, Ungarn, Tschechen, Polen und andere. Fast jede Familie besaß ein Stück Land. Fast alle Häuser hatten das gleiche Format – mit einem kleinen Garten neben dem Haus und dahinter ein oder zwei größere Flächen, um Hühner und andere Kleintiere zu halten, sowie einen Gemüsegarten. Jede Familie besaß Obstbäume: Pflaumen, Aprikosen, Äpfel und Birnen. Nut etwa 30 Prozent der Frauen arbeiteten, meistens in Fabriken, die anderen waren Hausfrauen. Modische Kleidung war keine Priorität. Wenn jemand mit einem bestimmten Stil auftrat, fiel er sofort auf. Nur einige hochgebildete Leute sowie ein paar Teenager tanzten modisch aus der Reihe.

»Gleichheit und Brüderlichkeit waren das Motto in Jugoslawien – dennoch waren wir nicht gleichgestellt.«

MYP Magazine:
Welche Erinnerungen hast Du allgemein an die späten Achtziger im heutigen Serbien?

Milos Miskovic:
Die achtziger Jahre waren echt schön. Jugoslawien war zu dieser Zeit ein reiches Land. Die Menschen hatten normale Gehälter und konnten von dem, was sie verdienten, etwas sparen. Auf dem Land produzierten wir alles zu Hause, so dass unsere Gemeinde ein schönes Leben und genug Geld für einen komfortablen Lebensstil hatten. Gleichheit und Brüderlichkeit waren das Motto in Jugoslawien – dennoch waren wir nicht gleichgestellt mit anderen Familien, denen es besser ging. Und so wurde mir klar, dass ich mich anstrengen muss, um etwas aus meinem Leben zu machen. In der Schule hatte ich manchmal Probleme, weil es in meiner Familie orthodoxe Priester gab. Andererseits: Das Bildungssystem war sehr gut und bot viele Möglichkeiten für kluge Kinder, unabhängig von ihrem familiären Hintergrund.

MYP Magazine:
„Ich hoffe, dass er aus diesem Wahnsinn herauswächst“, zitierst Du deinen Vater und seine Sicht auf Deinen Berufswunsch. War das eher seine persönliche Meinung? Oder spiegelt der Satz eher die generelle kulturelle Sichtweise auf Männlichkeit zu dieser Zeit wider?

Milos Miskovic:
Ich denke, das war beides gleichermaßen. Ich war ein ungewöhnliches Kind: sehr kultiviert, sensibel, aber auch schlau. Mein Vater sagte mir, dass ich meine guten Noten im Gymnasium beibehalten müsse, sonst würde er mir nicht erlauben, in einem Haarstudio zu lernen. Meine Noten waren immer sehr gut, also konnte er sich nicht beschweren.

»Mein Highlight war es zu versuchen, bis zum nächsten Tag zu überleben.«

MYP Magazine:
Bereits 1989 hast Du deinen ersten Salon eröffnen – das hatte auch mit einer Inflation von unglaublichen 2.700 Prozent zu tun. Was ist da passiert?

Milos Miskovic:
Zu dieser Zeit dachte niemand daran, dass es in Jugoslawien eine Hyperinflation geben würde. Für mich war das ein echtes Glück, denn ich nahm davor einen Kredit bei der Bank in Dinar auf – und als die Hyperinflation einsetzte, wurde die monatliche Rate zu einem Witz. So konnte ich den Kredit ganz einfach zurückzahlen.

MYP Magazine:
In den folgenden Jahren hast Du unter anderem in einem renommierten Spa in Belgrad gearbeitet und bist gelegentlich nach London oder nach Paris gefahren, zum ersten Mal im Jahr 1997. Dennoch schreibst Du in Deinem Buch: „Nach meinem Arbeitstag ging ich zurück in meinen goldenen Käfig. Allein, um mich auszuruhen und Energie und Kraft für einen neuen Tag zu sammeln.“ Du warst damals ein junger Mann. Wie war das mit dem Ausgehen und Daten in dieser Phase Deines Lebens?

Milos Miskovic:
Ich habe zu jener Zeit auch eine Weile im Friseursalon eines Rehabilitations-Zentrums in Kanjiza gearbeitet, in der Nähe meiner Heimatstadt. Ich konnte nicht daten, weil ich wusste, dass ich schwul bin. Und wenn man mich in einer Stadt oder sogar weiter weg mit einem Mann gesehen hätte, hätten es alle herausgefunden. Also ging ich nach der Arbeit nach Hause. Mein Highlight war es, ein schönes Abendessen zu kochen und zu versuchen, bis zum nächsten Tag zu überleben. In dieser Zeit fühlte ich mich nur im Studio gut aufgehoben.

»Wir wussten nicht, wo die Bomben als nächstes fallen.«

MYP Magazine:
1999 begann die Bombardierung Deiner Heimat. Wie erinnerst Du dich an den Krieg?

Milos Miskovic:
Ich hätte nie gedacht, dass unser Land bombardiert werden würde. Für mich war das irgendwie absurd: Das ganze Volk sollte wegen der Entscheidung der Regierung bestraft werden. Zu diesem Zeitpunkt war das Land bereits von Milošević übernommen worden und die Bevölkerung hatte so gut wie keine Kontrolle über das, was die Regierung tat. Es war eine schreckliche Zeit. Wir alle hatten Angst, denn wir wussten nicht, was morgen passieren wird – und wo die Bomben als nächstes fallen.

MYP Magazine:
Wenn du heute über Kriege in der Ukraine oder im Nahen Osten liest: Hast Du einen besonderen Bezug zu den Betroffenen?

Milos Miskovic:
Wenn ich heute etwas über einen Krieg lese, tun mir die Opfer wirklich leid. Die Menschen, die keinen Krieg erlebt haben, können nicht verstehen, was für ein Druck das ist – und was für eine furchtbare Erfahrung. Sie können es sich einfach nicht vorstellen.

»Er brauchte seine Freiheit – aber ich brauchte jemanden wie ihn, der mich in das schwule Leben einführte.«

MYP Magazine:
„In dem Moment, in dem ich den Garten betrat, sah ich einen atemberaubend schönen jungen Mann an einem Pool liegen. Ein Blick auf seinen perfekten Körper ließ meinen Magen verkrampfen. Ich schaute schnell weg.“ Im Jahr 2000 hast Du auf Ibiza einen besonderen Mann kennen gelernt. Er hat Dir die Frage gestellt: „Bist du schwul?“ War das das erste Mal in Deinem Leben, dass Dich jemand nach Deiner Sexualität hat?

Milos Miskovic:
Ja, das allererste Mal. Ich war schockiert, dass er den Mut hatte, mich so etwas zu fragen. Gleichzeitig war ich auch von seiner enormen Schönheit schockiert – eine doppelte Verwirrung.

MYP Magazine:
Wie hast Du reagiert?

Milos Miskovic:
Ich habe erkannt, dass er tief im schwulen Lifestyle steckte. Außerdem war er in einer Lebensphase, in der er sich fragte: „Wo will ich hin und was will ich vom Leben?“ Und ich war da, um ihm zuzuhören. Ich hatte damals keine Ahnung von schwulen Communitys. Er leitete mich und versuchte, mich über alles aufzuklären, worauf ich achten musste. Wir beide waren zwei starke Menschen, die sich zur richtigen Zeit gefunden hatten. Dennoch wusste ich früh, dass er nicht in der Lage war, einer Person gegenüber loyal zu sein. Er brauchte seine Freiheit – aber ich brauchte jemanden wie ihn, der mich in das schwule Leben einführte.

»Wenn man seinen Beruf ernst nimmt, kann man nicht jeden Monat den Partner wechseln, das ist nicht seriös.«

MYP Magazine:
Dein Coming-out-Prozess hat sich über mehrere Jahre hingezogen. Wie hat Budapest Dein Leben als schwuler Mann verändert?

Milos Miskovic:
Das Beste war, dass ich dort frei war. Dennoch wurde mir schnell klar, dass die jungen Männer in Budapest keine ernsthafte Beziehung wollen und eher auf Sex aus sind – aber ich wollte unbedingt etwas Festes. Es war nicht leicht, jemanden zu finden, der es ernst meint mit mir; jemanden, der mich versteht und mit dem ich mein Leben gestalten will. Ich fing an zu erkennen, welche Art von Person die richtige für mich ist, und habe mich auf die Suche nach einem Partner gemacht…

MYP Magazine:
… und hast schließlich das Glück gefunden. Mit Deinem Partner Simon bist Du seit mittlerweile 17 Jahren liiert. Wie hat die ungarische Gesellschaft in den fast zwei Jahrzehnten auf Eure öffentlichen Auftritte reagiert?

Milos Miskovic:
Für mich ist es sehr wichtig, dass ich eine stabile Beziehung habe. Wenn man seinen Beruf ernst nimmt, kann man nicht jeden Monat den Partner wechseln, das ist nicht seriös. Die Gesellschaft in Serbien und auch in Ungarn betrachtet uns als normales, erfolgreiches Paar, das sich liebt. Als wir in Serbien das erste Mal zusammen gesehen wurden, wurden dort garantiert ein paar Augenbrauen hochgezogen. Aber da ich schon damals recht berühmt war und einige Leute meine Sexualität sicherlich schon länger in Frage gestellt hatten, war es keine große Überraschung, als ich eines Tages mit einem Mann aufgetaucht bin. Und dass wir von Menschen mit einer gewissen gesellschaftlichen Bedeutung akzeptiert wurden, die uns als Paar zu Partys und Hochzeiten einluden, hat uns ebenfalls den Weg geebnet.

»Es ist sehr besorgniserregend, welche repressiven Maßnahmen aktuell in Ungarn gegen die Queer- und Transgender-Community ergriffen werden.«

MYP Magazine:
Heute ist das queere Leben in Ungarn wieder bedroht: Was beunruhigt Dich, wenn Du auf die junge Generation blickst?

Milos Miskovic:
Man muss verstehen, dass Budapest mehr oder weniger eine Bubble ist und man das schwule Leben hier nicht mit dem im Rest des Landes vergleichen kann. Gleichzeitig ist es sehr besorgniserregend, welche repressiven Maßnahmen aktuell in Ungarn gegen die Queer- und Transgender-Community ergriffen werden – Maßnahmen, von denen wir alle wissen, dass sie aus rein politischen Gründen erfolgen. Das ist absolut nicht gut für das Selbstwertgefühl sowie das Selbstvertrauen junger queerer Menschen.

»Mein Leben wäre weniger einsam gewesen, wenn ich in der Lage gewesen wäre, mit einigen ausgewählten Vertrauten etwas offener zu sein.«

MYP Magazine:
Vor allem älteren Queers wird immer wieder folgende Frage gestellt: „Was würdest du deinem jüngeren Ich mit auf den Weg geben, wenn du es heute treffen würdest?“ Was würdest Du deinem sagen?

Milos Miskovic:
Meinem jüngeren Ich würde ich raten, Gruppen und Orte aufzusuchen, an denen sich aufgeschlossenere Menschen versammeln – einfach, um ein soziales Sicherheitsnetz um sich herum aufzubauen. Außerdem würde ich ihm sagen, dass es keine langfristige Lösung ist, seine Gefühle zu verstecken und zu unterdrücken. Die Rechnung kommt immer am Ende. Und ich würde meinem jüngeren Ich empfehlen, vor allem seinen engsten Freunden mehr zu vertrauen und mit ihnen offen über seine Gefühle zu sprechen. So sehr wir alle versuchen, unsere wahre Natur zu verbergen, am Ende kommt sie doch zum Vorschein.
Das Interessante dabei ist, dass es den meisten intelligenten und emotional entwickelten Menschen egal ist, wer wie fühlt und wer wen liebt. Ich selbst durfte das leider erst relativ spät lernen. Ich bin ziemlich sicher: Mein Leben wäre einfacher und weniger einsam gewesen, wenn ich in der Lage gewesen wäre, mit einigen ausgewählten Vertrauten etwas offener zu sein.


Romain Berger

Fotoserie — Romain Berger

Für Frankreich zu vulgär

Mit seinen Bildern feiert der queere Fotograf Romain Berger seit Jahren ein rauschendes Fest der Farben, Körper und Begierden: eine Freizügigkeit, die immer wieder mal mit den Moralvorstellungen von Instagram & Co. kollidiert – und die ihm auch in der analogen Welt das Leben schwer macht, zumindest in seiner Heimat. Denn den meisten französischen Galerien sind seine Arbeiten zu vulgär. »Une opportunité ratée«, wie wir finden – eine verpasste Chance.

21. Dezember 2023 — Fotografie: Romain Berger, Text: Jonas Meyer

»Dass Künstler*innen wie ich auf Instagram gesperrt werden, ist für mich schon lange nichts Neues mehr.«

„Dass Künstler*innen wie ich auf Instagram gesperrt oder einzelne Inhalte gelöscht werden, ist für mich schon lange nichts Neues mehr“, erzählt Romain Berger, als er sich nach knapp drei Jahren wieder mit einer Fotostrecke an uns wendet. Der queere Fotograf aus Rennes, der Ende der Achtziger im ländlich-konservativen Nordwesten Frankreichs geboren wurde und auch dort aufgewachsen ist – ganz ähnlich übrigens wie der berühmte Schriftsteller Édouard Louis („Das Ende von Eddy“) – beschrieb bereits im März 2021 im Rahmen einer Veröffentlichung einiger seiner Arbeiten in unserem Magazin, mit welchen seltsamen Moralvorstellungen er es immer wieder auf Social-Media-Plattformen zu tun hat.

Damals schrieben wir: Die Community-Politik von Facebook ist etwas, über das sich leidenschaftlich streiten lässt. Während auf den einzelnen Plattformen des US-Konzerns immer noch Autokraten und ihre radikalisierte Gefolgschaft fast ungehemmt ihre menschenfeindlichen Botschaften in alle Welt verbreiten dürfen, während Verunglimpfungen und Shitstorms wie die Axt im Walde wüten, während Falschnachrichten mehr schlecht als recht bekämpft und demokratische Systeme sukzessiv unterwandert werden, tut sich an ganz anderer Stelle ein bizarres Verständnis von Moral auf: bei der Abbildung des menschlichen Körpers.

»Wenn sexuell aufgeladener Content aus der heteronormativen Ecke kommt, scheint Instagram damit viel weniger ein Problem zu haben.«

Zum Verhängnis wurde Romain damals (wie heute) immer wieder die Darstellung von zu viel Schambehaarung in seinen Bildern. Man könnte laut loslachen, wenn es nicht so traurig und absurd wäre.

Die kürzlich aktualisierten Nutzungsbedingungen des Meta-Konzerns hätten die Situation für ihn dabei nur noch verschärft, erzählt der 35-Jährige: „Für queere Künstler*innen wie mich wird es auf Instagram immer schwieriger, unsere Inhalte sichtbar zu machen und dafür Reichweite zu generieren. Wenn sexuell aufgeladener Content dagegen aus der heteronormativen Ecke kommt, scheint die Plattform damit viel weniger ein Problem zu haben.“

Immer wieder müsse er erleben, wie er dem sogenannten shadow banning zum Opfer falle: dem Sperren von spezifischen Inhalten, über das die betroffenen User*innen aber nicht informiert werden. Stattdessen verhindert das soziale Netzwerk einfach, dass andere User*innen die Inhalte zu sehen bekommen.

»Die französischen Galerien erachten meine Arbeiten als zu vulgär für eine Ausstellung.«

Doch mit dieser Quasi-Zensur hat Romain nicht nur in der digitalen Welt zu kämpfen, sondern auch in der analogen – vor allem in seiner Heimat.

„Während es im Ausland verhältnismäßig leicht ist, Galerien für meine Bilder zu finden, ist das hier in Frankreich immer noch ein großes Problem“, schildert er seine Situation. „Die französischen Galerien erachten meine Arbeiten als zu vulgär für eine Ausstellung. Die einzige Galerie, die sich dazu mal mit viel Optimismus bereiterklärt hatte, musste am Ende resigniert feststellen, dass auch ihr es nicht möglich war, die Köpfe und Herzen der Menschen zu öffnen.“

Chez nous, tu seras toujours accueilli à bras ouverts, cher Romain!


Christian Ruess

Interview — Christian Ruess

»Ich akzeptiere den Status quo nicht«

Mit seiner Plattform »Container Love« kämpft Christian Ruess seit 2013 für mehr Akzeptanz und Sichtbarkeit queeren Lebens. Zum zehnjährigen Jubiläum treffen wir den Creative Director in seinem Berliner Studio. Ein Gespräch über Pinkwashing, Selbstfürsorge und schwierige Millennials; über die Popkultur der DDR und queere Menschen in Uganda; und über eine rührende Geschichte von einer Hamburger Mami und dem Nagellack ihres Sohnes.

10. November 2023 — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotografie: Sven Serkis (Portraits) & Milena Zara (Event)

Tausendvierhundertzweiundzwanzig. So viele Straftaten zählt der Kriminalpolizeiliche Meldedienst in Deutschland für das Jahr 2022, wenn es um Hassdelikte im Zusammenhang mit den Themenfeldern „Sexuelle Orientierung“ und „Geschlechtsbezogene Diversität“ geht.

1.422 Gewalttaten, Beleidigungen, Volksverhetzungen und andere Abscheulichkeiten gegenüber Personen, die sich als lesbisch, schwul, bisexuell, trans*, inter* und/oder queer bezeichnen. 1.422 Menschen, die im letzten Jahr allein deshalb angegriffen wurden, weil sie irgendwie von einer vermeintlichen Norm abweichen.

Dabei gehen Expert*innen davon aus, dass etwa 90 Prozent der Vorfälle in Deutschland nicht gemeldet werden.

Die Situation ist auch deshalb alarmierend, weil sich die Zahlen der erfassten Straftaten seit 2018 um fast 200 Prozent erhöht haben. Allein in Berlin erreichte die Menge queerfeindlicher Fälle bereits Ende August 2023 das Niveau des Vorjahres.

Was also tun?

Leider gibt es nicht die eine große Antwort oder die eine große Strategie, um das Leben queerer Menschen erträglicher zu machen und sie vor Hass zu schützen, weder in Deutschland noch anderswo.

Umso wichtiger ist es, dass man sich für queere Menschen engagiert. So wie Christian Ruess. Der Berliner Creative Director hat es sich mit seiner Plattform „Container Love“ zur Aufgabe gemacht, queeres Leben sichtbarer zu machen – in all seinen Facetten, mit all seinen Themen und auch mit all seinen Widersprüchen. Und das seit vielen Jahren.

„Wissen bedeutet weniger Angst – und keine Angst bedeutet Freiheit“, sagt Christian auf der Website von „Container Love“. Dieses Wissen vermitteln er und sein Team dort mit Hilfe sorgfältig kuratierter Arbeiten, darunter Fotostrecken, Filme, Texte und andere Werke spannender Künstler*innen: ein digitaler safe space für queere Kultur.

Eines der aktuellen Highlights zum Beispiel ist der Kurzfilm „The Hidden Dimension“, ein Portrait des queeren polnischen Fotografen Leo Maki. Der gut vierminütige Streifen, den Christian im letzten Jahr mit seiner Crew produziert hatte, erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter etwa den „Silver Screen“ beim „Young Director Award 2023“ in Cannes.

Doch „Container Love“ findet nicht nur im digitalen Raum statt, sondern einmal im Jahr auch im analogen – wie zum Beispiel im August am Berliner Kurfürstendamm. Unter dem Titel „Visible Love“ waren dort diverse Foto- und Videoarbeiten zu bewundern, die queeres Leben in all seiner Schönheit und Vielfalt zeigen. Daneben gab es Liveshows, Podiumsdiskussionen und Artist Talks – kostenlos und zugänglich für alle. Diese Chance ergriffen am Ende über 2.500 Besucher*innen.

Bei dieser Gelegenheit wurde auch das zehnjährige Bestehen der „Container Love“ gefeiert: Im Sommer 2013 hatte Christian seine erste Fotoausstellung auf dem „MS Dockville“ in Hamburg – das beliebte Kunst- und Musikfestival hatte er zehn Jahre lang mitgestaltet. Als Ausstellungsraum diente damals, man ahnt es, ein alter Schiffscontainer.

Neben seiner karitativen Tätigkeit berät Christian seit vielen Jahren große Marken und hilft ihnen dabei, in ihrer Kommunikation diverser zu werden – und auch damit mehr Sichtbarkeit queeren Lebens in der Öffentlichkeit herzustellen. Dabei zieht es ihn persönlich eher in die zweite Reihe statt ins Rampenlicht, wie er uns vor dem Interview verrät.

Bei Kaffee und Donuts treffen wir ihn in seinem gemütlichen Studio in der Neuköllner Hobrechtstraße.

»Wir öffnen unsere Tür für alle. Ob man durch sie hindurchgehen will oder nicht, muss man ganz allein entscheiden.«

MYP Magazine:
Die „Visible Love 2023“ liegt bereits einige Wochen zurück. Wie blickst Du mit etwas Abstand auf die Ausstellung?

Christian Ruess:
Bei unseren Veranstaltungen treffen sich immer viele interessante Leute, die Lust haben, etwas zu bewegen und zu verändern. Das war auch diesmal so. Aus diesem Grund bin ich nach wie vor unendlich dankbar für das, was dort stattgefunden hat. Das gibt mir das Gefühl, dass wir mit unserer Arbeit etwas Richtiges tun. Und dass es wichtig ist, dass wir da sind.
Da die „Visible Love“ diesmal am Ku’damm stattfand – also einem Ort, der touristisch etwas überladen ist – haben sich auch immer wieder Leute in unsere Ausstellung verirrt, die nach 30 Sekunden wieder draußen waren. Ohne ein Hallo, ohne ein Tschüss. Dabei würde ich mir wünschen, dass gerade diese Menschen viel neugieriger und offener sind für die Geschichten, die wir präsentieren. Aber ihre Reaktionen zeigen mir, dass es noch viel zu tun gibt, wenn es um die Sichtbarkeit und Akzeptanz queeren Lebens geht. Gleichzeitig möchte ich aber niemanden zwingen. Wir öffnen unsere Tür für alle. Ob man durch sie hindurchgehen will oder nicht, muss man ganz allein entscheiden.

»Wenn euer Sohn das Gefühl hat, sich mit Nagellack äußern zu wollen, dann ist das toll. Damit könnt ihr arbeiten.«

MYP Magazine:
Welche Reaktionen von Besucher*innen sind Dir in besonderer Erinnerung geblieben?

Christian Ruess: (überlegt)
Es gibt aus den letzten Jahren zwei Geschichten, die ich gerne erzählen möchte. Die erste geht so: Bei unserer letzten großen Ausstellung vor Corona – das war während des Reeperbahn-Festivals in Hamburg – kam eines Nachmittags eine dreiköpfige Familie herein und schaute sich die vielen Bilder an, die wie immer sehr viel zu zeigen hatten. Da gab es keinen Raum für Interpretation. Wir stehen auf dem Standpunkt: Die Vielfalt ist nun mal da, queer heißt viel, also schaut gefälligst hin!
Diese Familie jedenfalls schaute sich erst die Bilder und dann mich völlig ratlos an. Plötzlich erzählte mir die Mutter etwas besorgt von ihrem Sohn, der gerade 14 geworden war und angefangen hate, sich die Nägel zu lackieren. Ich versuchte, ihr die Angst zu nehmen, dass irgendetwas mit dem Sohn nicht stimmen könnte, und sagte: Schaut euch doch um, das alles hier ist wunderschön! Und wenn euer Sohn das Gefühl hat, sich mit Nagellack äußern zu wollen, dann ist das toll. Damit könnt ihr arbeiten, das ist ein Zeichen, geht damit um!
Das Lustige war: Normalerweise trage ich selbst auf all meinen Veranstaltungen Nagellack, nur diesmal hatte ich es vor lauter Stress vergessen. Zwei Stunden nach unserem Gespräch kam die Mutter zurück und brachte mir den Nagellack ihres Sohnes. Zu Hause hatte sie ihm von uns erzählt, er kannte „Container Love“ bereits und sagte zu seiner Mami: „Schenk dem Typen mal meinen Nagellack.“ Das hat mich an dem Abend zu Tränen gerührt.

MYP Magazine:
Und die zweite Geschichte?

Christian Ruess:
Bei unserer diesjährigen „Visible Love“ im Pop Ku’damm gab es eine ähnliche Situation. In unsere Ausstellung schlich eine bayerische Familie, bei der man auf den ersten Blick erkennen konnte, wer sie an diesen Ort gelockt hatte: der Sohn. Nachdem alle schweigend durch den Raum gelaufen waren, warf mir der Sohn beim Gehen ein Lächeln zu. Ich dachte mir nur: Du musst nichts sagen, wir haben es alle verstanden. Und mir war klar: Für solche Momente mache ich das alles.

»Queere Menschen haben unendlich viel zu erzählen.«

MYP Magazine:
Wissen die Menschen, die auf den Fotos zu sehen sind, um ihre Mut machende Wirkung? Ist ihnen bewusst, dass sie nicht nur Models, sondern vor allem role models sind?

Christian Ruess:
Ja, weil unser gesamtes Magazin so konzipiert ist. Ich wollte immer ein Format schaffen, das einerseits queeren Lifestyle zeigt und sich andererseits auch tatsächlich mit den Menschen dahinter auseinandersetzt. Die meisten Hochglanzmagazine, die man seit 100 Jahren auf der Couch liegen hat, können und wollen das gar nicht leisten. Dabei haben queere Menschen unendlich viel zu erzählen, jede*r von uns hat eine Geschichte. Und diesen Geschichten wollte ich eine Plattform geben – eine, die auch außerhalb des pride month, außerhalb queerer Kampagnen und außerhalb der bekannten Social-Media-Kanäle funktioniert. Eine Plattform in Form eines Magazins, die leicht ist, Spaß macht und dabei trotzdem Themen wie Diversität oder body positivity behandelt. Und die trotzdem nicht mit dem erhobenen Zeigefinger durch die Gegend läuft.

»Ich bin kein großer Fan davon, immer alles gleich zu labeln.«

MYP Magazine:
Die „Visible Love 2023“ war in einem luftigen, modernen Gebäude beheimatet, das so wirkte, als hätte es sich zwischen zwei alte Betonklötze geschoben und dort seinen Platz beansprucht – ein schönes Symbolbild, das man auch auf die queere Community übertragen könnte. Muss man sich manchmal mit Nachdruck irgendwo dazwischen quetschen, um ein Teil des etablierten Straßenbilds zu werden?

Christian Ruess:
Ja, allerdings gilt das nicht nur für die queere Community, sondern für alle Menschen, die in irgendeiner Form marginalisiert werden. Und da ich kein großer Fan davon bin, immer alles gleich zu labeln, daher sage ich es etwas allgemeiner: Wenn man ein Anliegen hat, ist es wichtig, sich Gehör zu verschaffen und einen Platz zu erarbeiten. Es bringt in unserer Gesellschaft nichts, sich wegzuducken.

»Der Einzige, vor dem man sich outen muss, ist man selbst.«

MYP Magazine:
Einer der ausgestellten Fotokünstler, AdeY, sagt im Zusammenhang mit seinen Arbeiten Folgendes: „Sichtbarkeit heißt, sich um seine Mitmenschen zu kümmern – weil man weiß, dass diese Menschen einen genauso sehen, wie man ist, und sie sich in demselben Maße auch um einen selbst kümmern.“ Ist queere Sichtbarkeit für Dich ebenfalls ein Akt von Achtsamkeit? Und gibt es vielleicht sogar eine moralische Pflicht zum Aktivismus und zur Sichtbarmachung des eigenen Queerseins?

Christian Ruess:
Jein. Ich halte nichts von Outing. Ich persönlich habe mich in meinem Leben auch nie geoutet. Warum auch? Aus welchem Grund sollte ich mich vor irgendjemandem aufbauen und sagen, dass ich dieses oder jenes bin? Äh, nein, fickt euch! Das geht niemanden etwas an, das ist ganz allein meins. Der Einzige, vor dem man sich outen muss, ist man selbst. Man muss sich selbst erkennen und lernen, das mit Stolz nach außen zu tragen – ohne sich dafür zu erklären oder zu entschuldigen. Das ist das Allerwichtigste.

»In der Popkultur der DDR gab es niemanden, der mich hätte inspirieren können.«

MYP Magazine:
Wie ist Dir das in Deiner eigenen Kindheit und Jugend gelungen?

Christian Ruess:
Ich bin in den Achtzigern und Neunzigern in einem kleinen Kaff in Mecklenburg-Vorpommern aufgewachsen. An diesem Ort hätte ich gar nicht die Möglichkeit gehabt, mich zu outen oder zu erklären – weil es dort weder die Worte gab für jemanden wie mich noch irgendwelche role models, zu denen ich hätte aufschauen können. In der Popkultur der DDR gab es niemanden, der mich hätte inspirieren können – nicht im Entferntesten! Meine einzige Inspiration war Madonna.
Von daher war es für mich immer schwierig, mich irgendwo einzusortieren und zu mir selbst zu finden. Als Teenager war ich erst Raver, dann Punk, dann habe ich Hip-Hop-Klamotten getragen und zum Schluss hatte ich bunte Haare. Ich habe geschneidert, Musik gemacht, Geschichten geschrieben. Ich wusste nicht, wohin mit dieser Kreativität. Und ebenso wenig wusste ich, wo all das herkam und was das sollte. Ich war immer auf der Suche nach einer Antwort, nach einer Erfüllung. Und diese Suche wurde schnell zu einem „ich gegen die anderen“. Erst als ich schon lange erwachsen war, habe ich herausgefunden, dass dieses Getriebensein seinen Ursprung darin hat, dass mir als Kind niemand sagen konnte, dass es okay ist, wie ich bin. Und dass es dafür einen Begriff gibt: queer.

»Die Millennials sind eine schwierige Generation.«

MYP Magazine:
Viele queere Millennials – also Menschen, die im Zeitraum der frühen 1980er bis zu den späten 1990er Jahren geboren wurden – haben Schwierigkeiten, ihre persönlichen Outing-Erfahrungen oder Diskriminierungserlebnisse mit anderen zu teilen. Die Generation Z zum Beispiel scheint da ganz anders zu ticken. Wie kann man queere Menschen dieser Altersgruppe dazu bringen, sich mehr zu öffnen und ihre wichtigen Geschichten zu teilen?

Christian Ruess:
Ich habe da ganz ähnliche Erfahrungen gemacht. Die Millennials sind eine schwierige Generation. Viele haben einen Schlussstrich unter ihre oft schwierige Vergangenheit gezogen, haben sich ein solides Leben aufgebaut und sind irgendwo angekommen. Und ganz ehrlich: Auch das ist vollkommen okay.

MYP Magazine:
Hast Du eine Erklärung, warum das so ist?

Christian Ruess:
Ich glaube, das liegt an der deutschen Kultur. Wir sind in unserem Land sehr angstgetrieben und fragen uns immer: Findet mich die Nachbarschaft gut? Findet mich die Familie gut? Finden mich die Arbeitskolleg*innen gut? Und wie muss ich mich verhalten, dass mich alle gut finden? Das macht einen doch wahnsinnig! Ich persönlich denke: Solange man nett ist und ein Herz hat, kannt man machen, was man will, und rumlaufen, wie man will. Doch in einer Kultur, in der es vor allem darum geht, nicht aufzufallen, ist das schwierig.
Gerade deshalb ist es wichtig, dass viel mehr Leute ihre Erfahrungen teilen und diese nach außen tragen. Ich zumindest versuche das mit „Container Love“, aber auch in meiner Arbeit als Creative Director. Agenturen geht es doch immer darum, eine Emotion zu verkaufen oder eine Geschichte zu erzählen. Dabei denke ich mir immer: Dann erzählt doch die Geschichten! Sie liegen auf der Straße, man muss nur hinschauen, zuhören und den Mut haben, sie weiterzutragen.

»Bitte genießt weiter eure Freiheit – aber schottet euch nicht ab!«

MYP Magazine:
Dazu gehören zum Beispiel die Geschichten queerer Menschen aus der Babyboomer-Generation, die in der AIDS-Krise der Achtziger und Neunziger fast ihren gesamten Freundeskreis verloren haben. Eine Katastrophe, von der viele jüngere Queers noch nie etwas gehört haben. Was können die Jungen tun, um das Leid der Alten nicht in Vergessenheit geraten zu lassen?

Christian Ruess:
Auch da komme ich wieder nur zu der Lösung, einander zuzuhören. Selbstverständlich müssen solche Geschichten erzählt werden. Es ist wichtig, dass man darum weiß. Aber ganz ehrlich: Auch hier kann ich niemanden zwingen, sich dafür zu interessieren. Wenn ich etwa auf die queere Community in Berlin schaue, machen die Jungen im Prinzip auch nur das, was ich mit 18 gemacht habe. Sie schneidern sich ihre eigenen Klamotten zusammen, färben sich die Haare und kümmern sich einen Scheißdreck darum, was andere von ihnen halten. Ich finde das super und genau richtig. Bitte genießt weiter eure Freiheit! Ich habe dabei nur ein Anliegen: Schottet euch nicht ab!

»Es geht darum, unsere Unterschiedlichkeiten zu feiern – und nicht unsere Gemeinsamkeiten.«

MYP Magazine:
Wie meinst Du das?

Christian Ruess:
Wenn ich auf das queere Leben in Berlin blicke, habe ich das Gefühl, dass sich die Community eher aufsplittert als zusammenzuwachsen. Es gibt immer mehr Nischen-Communitys, in der alle ihren ganz eigenen safe space finden. Das führt dazu, dass die Leute außerhalb ihrer eigenen Bubble kaum mehr etwas miteinander zu tun haben. Ich weiß nicht, ob ich diese Entwicklung so gut finde. Am Ende sind wir doch eine Community, in der es darum geht, unsere Unterschiedlichkeiten zu feiern – und nicht unsere Gemeinsamkeiten. Wäre es nicht toll, wenn sich all diese kleinen Gruppen untereinander solidarisieren und ihre geschützten Räume zusammenlegen würden, um ihre Meinungen und Visionen miteinander zu teilen? Genau das ist übrigens der Anspruch und Nukleus von „Container Love“.

»Wir haben keine Ahnung, ob sie überhaupt noch leben.«

MYP Magazine:
In vielen Ländern der Welt ist es immer noch lebensgefährlich, sich als queerer Mensch sichtbar zu machen. Zum Beispiel wurde in Uganda vor Kurzem ein 20-Jähriger wegen „schwerer Homosexualität“ angeklagt. Nach dem neuen Anti-LGBTQ-Gesetz, das dort im Mai in Kraft getreten war, droht dem jungen Mann die Todesstrafe. Ist queere Sichtbarkeit ein westliches Privileg?

Christian Ruess:
Das Privileg ist vor allem ein demokratisches. Wir Queers hier in Deutschland sind es gewohnt, unsere Stimmen hörbar zu machen – auch wenn das lange genug gedauert hat. Doch viele andere Menschen haben diese Möglichkeit nicht. Es ist auch nicht absehbar, dass sich ihre Situation in naher Zeit wirklich verbessert. Ganz im Gegenteil: In vielen Ländern wird es immer schlimmer.
Das ist übrigens auch einer der Gründe, warum „Container Love“ existiert: um den Leuten klarzumachen, dass wir in einer seligen Blase leben. Zwar ist auch hierzulande nicht alles rosig. Aber als queerer Mensch in Deutschland zu leben, ist in den allermeisten Fällen immer noch ein Privileg. Anderswo dagegen ist es oft ein Albtraum. Da spreche ich leider aus Erfahrung…

MYP Magazine:
Inwiefern?

Christian Ruess:
Vor einigen Jahren wollte uns eine Künstlergruppe aus Uganda eine Fotostrecke für unsere Plattform zur Verfügung stellen. Doch kurz nachdem die Gruppe per Mail an uns herangetreten war, brach der Kontakt ab. Erst Monate später hörten wir wieder etwas von ihnen. Die Künstler*innen baten uns, sofort alles zu löschen, was online war. Sie fürchteten um ihre Sicherheit. Wir wissen bis heute nicht, ob es ernsthafte Konsequenzen für sie gab. Wir haben keine Ahnung, ob es ihnen gut geht oder sie überhaupt noch leben.

»Die queere Community ist nicht dumm und sie ist nicht blind.«

MYP Magazine:
Wie Du gerade angemerkt hast, ist auch in Deutschland noch nicht alles rosig, wenn es um queere Sichtbarkeit und Akzeptanz geht. So wäre es noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen, dass ein DAX-Konzern sein Logo in Regenbogenfarben taucht. Mittlerweile ist das mehr oder weniger Standard, zumindest im Juni, dem pride month.

Christian Ruess:
Ja, aber auch nur hier im westlichen Teil der Welt. In Dubai zum Beispiel passiert das nicht. Dort findet man queere Menschen scheiße. Warum sollten man also mit ihnen Werbung machen? Das kann man gut finden oder nicht, aber Dubai ist da zumindest ehrlich – was man von vielen Konzernen nicht unbedingt behaupten kann.

MYP Magazine:
In Deinem Job als Creative Director hilfst Du großen Marken dabei, in ihrer Kommunikation diverser zu werden. Hast du nicht Sorge, dass Deine Arbeit am Ende nur dem Pinkwashing-Bestreben eines Unternehmens dient?

Christian Ruess:
Die queere Community ist nicht dumm und sie ist nicht blind. Queere Menschen haben ein sehr feines Gespür dafür, wer da draußen Pinkwashing betreibt. And let’s face it: Die meisten Unternehmen benutzen queere Sichtbarkeit hauptsächlich für ihre Werbe- und Marketingzwecke. Das tatsächliche gesellschaftliche Engagement kommt entweder lange danach oder gar nicht. Aus diesem Grund geht hier immer noch wahnsinnig viel in die falsche Richtung, das ist sehr schade.
Ich persönlich mache Marken da ein ganz klares Angebot. Ich sage: Redet mit uns, wir können helfen. Wir können euch sagen, wo ihr anfangen müsst, aus welchen Gründen ihr das machen müsst und wohin ihr damit wollt. Wir geben euch das alles an die Hand. Es gibt so viele queere Konsument*innen, die es gut finden würden, wenn Marken ihre Geschichten richtig und ausführlich erzählten; wenn die richtigen Pronomen benutzt würden; wenn richtig gegendert würde. Es gibt so viele Möglichkeiten, uns zu repräsentieren und uns in die Markenwelt mitzunehmen.

»In mir steckt ein kleiner Aktivist, der die Welt verändern will.«

MYP Magazine:
Wie bist Du überhaupt dazu gekommen, Marken in Sachen Diversität zu beraten?

Christian Ruess:
Ich piesacke gerne Leute und akzeptiere den Status quo nicht. Außerdem steckt in mir ein kleiner Aktivist, der die Welt verändern will – und der es gleichzeitig liebt, kreativ zu arbeiten, Menschen vor die Kamera zu bringen und gute Geschichten zu erzählen.
Darüber hinaus habe ich im Laufe meines Berufslebens genug Mist erlebt. Ich hatte zum Beispiel mal einen Kunden aus dem Automobilsektor, für den ich Photoshoots für den asiatischen Markt konzipieren sollte. Mir wurde verboten, für die Kampagne nichtweiße Models zu buchen. Die Begründung: Der asiatische Markt mag die nicht. Aus solchen unnötigen Situationen ist eine Wut entstanden, die ich benutzen wollte, um tatsächlich etwas zu verändern.

»Manchmal braucht es ein kleines Kompliment, vor allem an sich selbst.«

MYP Magazine:
In einem der Filme, die ihr auf der „Visible Love“-Ausstellung gezeigt habt, wird folgende Frage gestellt: „Wenn ich mein Teenager-Ich treffen könnte, was würde ich ihm sagen?“ Welche Botschaft hättest Du für Dein jüngeres Ich?

Christian Ruess:
Es fällt mir schwer, das auszusprechen. Aber ich glaube, ich würde meinem teenage self sagen, dass es sich selbst lieben solle. Weil das etwas ist, das mir nie beigebracht wurde. Punkt.

MYP Magazine:
Ist das auch der Grund, warum bei der Ausstellung überall Sticker mit der Aufschrift „You look good“ herumlagen?

Christian Ruess:
Klar! Manchmal braucht es ein kleines Kompliment, vor allem an sich selbst. Das ist wichtig. Außerdem sind so viele Os grafisch einfach hübsch. Kommunikation ist das A und O. Und ein Kompliment ist ein guter Einstieg.


Monica Conesa

Portrait — Monica Conesa

Diese Opfer muss man bringen, um ein Opernstar zu werden

Die aktuellen Top-Opernstars der Welt sind in ihren Fünfzigern, daher wagt sich so langsam die nächste Generation aus der Deckung: Das kubanisch-amerikanische Nachwuchstalent Monica Conesa hat die Stimme, die Eleganz und das Durchhaltevermögen für die Position der Primadonna. Außerdem trällerte sie bereits als Netrebko-Vertretung in Verona. Ein Portrait.

4. November 2023 — Text: Katharina Viktoria Weiß, Fotografie: Frederike van der Straeten

Aktuell schwebt Monica Conesa in den Fußstapfen von Anna Netrebko über die Bühne.

Monica Conesa singt Opern, wie Tennisspielerinnen sich auf die US Open vorbereiten: Alle Emotionen sind auf das Ziel gerichtet, der Körper wird athletisch optimiert und die Technik wird stets perfektioniert. Und ähnlich wie viele Sportstars reist die kubanisch-amerikanische Sängerin auch mit ihrem Trainer um die Welt.

Wir treffen die beiden im Berliner Precise Hotel, das mit seinem spanischen Vintage-Charme die perfekte Kulisse für die katzenhafte Künstlerin und ihren Gesangslehrer ist. Der in Mexico geborene Mauricio Trejo ist für den 27-Jährigen Nachwuchsstar das, was Giovanni Battista Meneghini für die Jahrhundertsängerin Maria Callas war: Mentor, Coach und Gefährte auf einem Weg zur globalen Megakarriere.

Denn aktuell schwebt Monica Conesa bereits in den Fußstapfen von Anna Netrebko über die Bühne, der derzeit bekanntesten Opernsängerin der Welt: Letztes Jahr debütierte sie als anmutige Aida in der gleichnamigen Verdi-Oper, und zwar in der legendären Arena di Verona, Italiens spektakulärster Kulisse für klassische Musik.

Und auch im Sommer 2023 wurde sie erneut eingeladen, um sich mit Anna Netrebko die Hauptrolle der äthiopischen Prinzessin mit einem atemberaubenden Programm zu teilen, das die beliebtesten und meistaufgeführten Werke des legendären Amphitheaters in ein neues Zeitalter führen sollte – eine ganz besondere Ehre, denn die Opernfestspiele in der Arena feierten ihr 100-jähriges Jubiläum.

Die Aufführungen in der malerischen Kulisse sind stets spektakulär, was zu einem ungewöhnlich jungen Publikum führt: Von allen Theatern Italiens beansprucht das Opernhaus den größten Anteil an Besucher*innen unter 30 Jahren für sich.

»Diese Geschichte zeigt, wie unsere Hände zärtlich streicheln oder brutal zerstören können.«

Für dieses Publikum ist Monica Conesa ein Magnet: Ihr gesanglicher Ausdruck ist klar, ihre Bewegungen sind leidenschaftlich und in ihrem unverbrauchten Blick lodert das Feuer ebenso explosiv wie in ihrer einzigartigen Stimme. Diese reizvolle Verkörperung von unbändigem Willen und erdbebenhafter Energie passte perfekt in die Inszenierung von Regisseur Stefano Poda, der seine Eröffnungsoper bei einem Berlin-Besuch im Frühjahr als „ein breit hingepinseltes Fresko der Menschheitsgeschichte“ bezeichnete.

„Diese Geschichte zeigt, wie unsere Hände zärtlich streicheln oder brutal zerstören können“, äußerte sich Poda außerdem. Seine „Aida“ sei futuristisch und technologisch und habe ästhetische Ähnlichkeiten zur Renaissance-Tour von Beyoncé. Ein Vergleich, der Monica Conesa zum Schmunzeln bringt. „Bei ihm verschmelzen Epochen, Welten und Dimensionen. Seine Produktionen bringen das Unterbewusste als körperliche Choreografie auf die Bühne“, erklärt Conesa.

So erdachte sich Poda beispielsweise Szenen, in denen Aidas Erinnerungen an ihre Kindheit in Äthiopien als Tanzformationen versinnbildlicht werden. So ein Bühnenbild regierte zwischen antiken Ruinen und Raumschiffen. Ein Experiment, dass unter dem Sternenhimmel der offenen Arena di Verona ein bildgewaltiges Statement setzte – und bei dem sich die Opernsängerin einmal mehr bewusst wurde, warum ihr dieser Lebensweg all die Opfer wert ist.

»Früher habe ich mich für eine Karriere als Tierärztin interessiert.«

Monica Conesa wuchs auf der Insel Venice in Florida auf, unweit von Disney World. Sie erinnert sich an eine glückliche Kindheit. Die schillernden Fantasie-Welten hätten ihre Ambition, selbst ein Märchen zu erleben, stark geprägt, erzählt sie. „Durch die ganzen Zoos in der Umgebung, die die Besucherscharen mit exotischen Tieren locken, habe ich mich früher für eine Karriere als Tierärztin interessiert.“ Ihre Eltern haben kubanische Wurzeln und sind Ärzte, ihre ganze Familie hat starken beruflichen Bezug zum medizinischen Sektor.

Doch dann entdeckte sie als 14-Jährige eine DVD in der Sammlung ihres Großvaters. Es war das mittlerweile legendäre „The Berlin Concert“ von Plácido Domingo, Anna Netrebko und Rolando Villazon aus dem Jahr 2006. Dass der Dirigent der Aufführung, Maestro Marco Armiliato, ebenjener war, unter dem sie Jahre später auch ihr Debüt als Opernstar in Verona feiern sollte, ist nur eines von vielen Beispielen, wie sich in der Karriere von Monica Conesa immer wieder magische Kreise schließen.

»Meine Lungen sollen sich mit Luft gefüllt haben, anscheinend waren mir die Anstrengung und der Wille anzusehen.«

„Und so verliebte ich mich in die Oper. Ich verbrachte den ganzen Sommer damit, jede Opern-Aufzeichnung in die Finger zu bekommen, die irgendwie in Reichweite war.“ Wenn sie von diesem Augenblick berichtet, schwingt in ihrer schönen Erzählstimme die Obsession mit, die sie seitdem begleitet.

Sie ist ihren Eltern dankbar, dass die ihre Leidenschaft von Anfang an unterstützten, und den Teeanger zu einem Opernkurs für Jugendliche anmeldeten. „Meine Mutter erzählt immer von der Anekdote, als ich ein kleines Baby war. Ich lag nackt auf der Couch und beobachtete sie. Plötzlich fing sie an zu singen. Meine Augen wurden ganz groß und fixierten ihr Gesicht. Danach sollen sich meine Lungen mit Luft gefüllt haben, anscheinend waren mir die Anstrengung und der Wille anzusehen. Plötzlich kam ein lautes ‚Ahhh‘ heraus – mein erster langer Ton.“ Es sollten noch viele lange und dann immer längere Töne folgen.

»Meine Lehrerin hat mir von Anfang an sehr ehrlich beschrieben, wie schwierig dieses Leben ist.«

Ihre erste Lehrerin an der Opernschule in Sarasota war eine berühmte Mezzosopranistin, die über weite Teile ihrer Laufbahn in München gesungen hatte. „Sie bestärkt mich in dem Traum, bereits zu Beginn meiner Karriere Engagements in Europa anzustreben. Sie war auch diejenige, die mir von Anfang an sehr ehrlich beschrieben hat, wie schwierig dieses Leben ist und warum es so voller Entbehrungen steckt.“

Um auf dem Niveau singen zu können, wie es Monica Conesa tut, muss der Körper mit einer Disziplin geformt werden, die der von Hochleistungssportler*innen ähnelt. Neben Alkohol und sehr salzhaltigen Gerichten müssen auch Nüsse vermieden werden, da sie Allergien auslösen können. Und auch Lebensmittel, die das Aufstoßen von Magensäure begünstigen, sollten vom Speiseplan gestrichen werden. Zudem gibt es viele Nächte, in denen man als Sängerin stumm zu Hause sitzen muss, um die Stimme für den großen Auftritt zu schonen.

»Am Ende hängt alles an dem Körper – und an den Muskeln, die den Sound supporten.«

Monica Conesa ging direkt nach der High School auf die Manhattan School of Music. Während sich andere in New York die Nächte um die Ohren schlugen, trank Conesa zu Hause Tee und lernte Opernsprachen wie Deutsch und Italienisch. „Mir wurde früh gesagt, wie viel Druck diese Karriere bedeutet. Aber ich habe meine Entscheidung nie hinterfragt, diese Opfer fielen mir leicht. Außerdem stellte ich schnell fest, dass ich nicht nur auf der Bühne in Topform sein will, sondern auch mit der Stimme trainieren will, die ja irgendwann in einem Opernhaus zu hören ist. Und am Ende hängt eben alles an dem Körper – und an den Muskeln, die den Sound supporten. Mein Klang ist zu 100 Prozent ein Produkt dieser Region hier“, sagt Conesa und streicht sich dabei über die Körpermitte.

Um zu verdeutlichen, wie stark sich ihre Konstitution durch das Gesangstraining verändert, erzählt sie, dass ihr Brustkorb um eine BH-Größe angewachsen sei. Gerade in Zeiten, in denen sie jeden Tag für Vorstellungen übt oder vor Publikum singt, müsse sie sich zudem sehr proteinreich ernähren, um die nötige Energie aufzubringen.

»Deine Freunde sind dir nur voraus, du wirst ihnen später begegnen.«

Über lange Jahre machte sie das zu einer Außenseiterin. „Aber ich war schon immer okay damit, eher eine Einzelgängerin und vielleicht manchmal auch etwas einsam zu sein.“ Denn es habe nie viele Gleichaltrige gegeben, die Conesas Faszination für die Opernkultur, in die sie sich so vertiefen wollte, teilen konnten.

„Meine Mutter sagte dann immer: ‚Mach dir keine Sorgen, deine Freunde sind dir nur voraus, du wirst ihnen später begegnen‘. Ich folgte ihren Rat und bildete mich stetig weiter. Nun bin ich in einer Situation, in der mir viele Menschen begegnen, die meine Leidenschaften teilen und mein Leben mit Glück erfüllen.“

»Ich habe immer gesagt, Monica hat einen Hals wie ein Mann.«

Zu diesem Menschen gehören auch ihr Mentor Mauricio Trejo und seine Frau Elisabeth. Als Monica Conesa noch in New York lebte, kämpfte sie mit der Tatsache, dass ihre ausdrucksstarke und laute Stimme nicht ganz den Zeitgeist traf. Sie wanderte von Gesangslehrerin zu Gesangslehrer und wurde letztlich an Elisabeth de Trejo verweisen. Sie gilt als Expertin auf dem Gebiet der starken Stimmen. Vielleicht auch, weil ihr Ehemann Mauricio selbst so ein Organ besitzt.

De Trejo half ihrer Schülerin dabei, Körper, Arbeitsethos und Geisteshaltung in eine Linie zu bringen – und übergab den Staffelstab dann an ihren Gatten. „Ich habe immer gesagt, Monica hat einen Hals wie ein Mann“, sagt der Stimmcoach, als er seinen Zögling einen Espresso vorbeibringt.

Das Ausufern ihrer Stimme ist nun kein Hindernis mehr – sondern ein wertvolles Alleinstellungsmerkmal.

Während in der Pandemie viele talentierte Künstler*innen den Operngesang an den Nagel hingen, zog Monica Conesa bei dem Mentoren-Ehepaar ein. Sie half den de Trejos beim Homeschooling der beiden Kinder und erhielt im Gegenzug intensives Gesangstraining. Zusammen haben sie die Technik der Nachwuchs-Sopranistin so verfeinert, dass das Ausufern ihrer Stimme nun kein Hindernis mehr ist – sondern ein wertvolles Alleinstellungsmerkmal.

Das erkannte auch Maestro José Carreras. Der Klassikstar war Juryvorsitzender des Premio Fausto Ricci Wettbewerbs und verlieh 2021 die Trophäe an Monica Conesa. In diesem Zuge bescheinigte er ihr „eine außergewöhnliche, theatralische und sichere Stimme“.

Besonders wundervoll kommt diese im Zusammenspiel mit ihren männlichen Kollegen zum Ausdruck. Wenn Conesa auf der Bühne steht und einen ebenbürtigen Tenor zur Seite hat, schaukelt sich die Melodie hoch, wie bei einem spannenden Tennismatch. Obwohl sich die Opernsängerin in ihren Rollen für die Liebe umbringen lässt oder vor Leidenschaft zergeht, versucht sie sich im Privaten von zu viel Drama fernzuhalten.

»Für einen Termin wie heute schicke ich meine Bühnenpersona oder mein kreatives Ich ins Rennen.«

Sie erzählt von einer Methode, bei der Künstler*innen ihre Bühnenpersona, ihr kreatives Ich und ihr privates Ich voneinander trennen. „Zwei davon können sich vermischen, aber für die dritte ist kein Platz mehr. Für einen Interview-Termin wie heute – oder für einen Auftritt vor Publikum – schicke ich meine Bühnenpersona oder mein kreatives Ich ins Rennen. Und mein privates Ich, das eher schüchtern ist, bekommt dann Pause und kann sich entspannen. Das ist tatsächlich weniger schizophren, als es jetzt klingt“, sagt sie lachend.

»Niemand will Monica aus Florida sehen, die nach einer Probennacht um zwei Uhr tot ins Bett fällt.«

Das schenkt ihr die Möglichkeit, alle Facetten ihres Berufs zu genießen. Für unser Shooting zum Beispiel bereitete sie sich dadurch vor, dass sie ein exquisites Schmuckset beim italienischen Designer Giovanni Raspini erwarb. „Niemand will Monica aus Florida sehen, die nach einer Probennacht um zwei Uhr tot ins Bett fällt. Die Menschen kommen für Monica Conesa.“

Mit ihrem Stil unterstreicht sie diese Vision. Sie ist inspiriert von den vierziger und fünfziger Jahren – und paart den zeitlosen Diven-Look mit kontemporären Accessoires. Statt in Leggins probt sie stets in High-Waste-Hosen und Audrey-Hepburn-Bodys. Doch das hat nicht nur Fashion-Gründe: „Zum einen kann Mauricio dann ständig meine Atmung sehen und mich korrigieren. Und an der Taille spüre ich, ob mein Bauch den richtigen Druck nach außen ausübt.“

»Die Deutschen sind verrückt nach Opern.«

Trotz ihres hinreißenden Temperaments scheint alles an Monica Conesa sehr überlegt zu sein. Auch ihre nächsten Schritte in Europa wird sie mit wachem Geist machen. In der Hauptstadt geistert das Gerücht um, dass Berlin als „Hollywood für Opernsänger“ gelte.

Darauf angesprochen überlegt Conesa kurz und bestätigt dann: „Die Deutschen sind verrückt nach Opern, auch in Italien ist der Großteil des Publikums aus Deutschland. Zusammen mit der Schweiz und Österreich ist der Markt sehr groß – und die Opernhäuser in Berlin oder Wien sind ein Traum.“

Ihr Mentor könnte sich seinen Schützling auch in einer Wagner-Oper vorstellen. Doch letztlich ist es egal, ob es die Künstlerin nach Bayreuth oder an das Sydney Opera House ziehen wird: Die großen Opernstars unserer Zeit, wie Anna Netrebko oder Jonas Kaufmann, sind in ihren Fünfzigern, die neue Generation wurde noch nicht identifiziert. Nur „Die Conesa“ bringt sich jetzt schon in Aufstellung für die Aufnahme in den Olymp.


JEREMIAS

Interview — JEREMIAS

»Songschreiben ist eine ziemlich egozentrische Sache«

Mit ihrem zweiten Album, liebevoll »Von Wind und Anonymität« genannt, ermöglichen uns JEREMIAS einen tiefen Einblick in ihr Seelenleben. Dabei ist es der Hannoveraner Band gelungen, eine musikalische Grundsätzlichkeit zu schaffen, mit der sie das Gesagte millimetergenau auf den Punkt bringt. Kurz gesagt: ein Album mit Geist und Groove – chapeau! Wir treffen Frontmann Jeremias Heimbach zu einem sehr persönlichen Interview: ein Gespräch über die Vorzüge der Anonymität, die Anziehungskraft von Hermann Hesse, doofe Memes und eine windige Insel, auf der man hin und wieder auf die Fresse fällt.

27. Oktober 2023 — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotografie: Maximilian König

Man stelle sich kurz folgende Situation vor: Man sitzt abends allein in einer kleinen Bar, sinniert so vor sich hin und plötzlich fragt ein Unbekannter, ob er sich dazusetzen dürfe. In einer Mischung aus Höflichkeit und Neugier bietet man ihm einen Platz an und lässt sich auf ein Glas Vino Bianco einladen.

Kaum hat man sich zugeprostet, fängt der Unbekannte an, aus seinem Leben zu erzählen. Mal berichtet er vom Tod eines geliebten Menschen, mal vom Umzug in eine neue Stadt, mal von der Sorge um einen engen Freund. Ohne Berührungsängste und mit beeindruckender Eloquenz teilt seine tiefsten Gefühle und privateste Gedanken. Dabei wirkt er überraschend unverzagt und ganz bei sich. Mehr noch: Seine Gier nach Leben ist geradezu ansteckend.

Nach einer knappen Dreiviertelstunde steht der Unbekannte auf und verabschiedet sich mit einer herzlichen Umarmung. Plötzlich ist da nichts als Stille – und das Gefühl, gerade eine Form emotionaler Verbundenheit erlebt zu haben, mit der man zu Beginn des Abends nicht gerechnet hätte.

So oder so ähnlich fühlt es sich an, wenn man zum ersten Mal „Von Wind und Anonymität“ hört, das neue Album von JEREMIAS. Die vierköpfige Band, die sich 2018 in Hannover gründete und drei Jahre später mit „Golden Hour“ ihr erstes Studioalbum präsentierte, hat nun mit ihrer zweiten Platte ein Werk geschaffen, das einen auf vielfältige Art und Weise berührt. Ein Album mit Geist und Groove, das von Anfang bis Ende großen Spaß macht – auch wenn Ben Hoffmann, Jeremias Heimbach, Jonas Hermann und Oliver Sparkuhle damit ihre Hörer*innen tief in ihr Seelenleben blicken lassen. Oder gerade deshalb.

Hatte sich der 23-jährige Sänger und Bandgründer Jeremias vor einiger Zeit noch unbekleidet auf einem EP-Cover abbilden lassen, macht sich auf dem zweiten Album nun die gesamte Band nackt – allerdings aus rein emotionaler Perspektive. Und wenn man ehrlich ist, ist das bei Menschen auch der deutlich interessantere Aspekt.

Verpackt sind diese überaus persönlichen Gefühle und Gedanken in eine textliche Poesie, die sich erfrischend klar und wortgewandt von eingetretenen Deutschpop-Pfaden absetzt. Und in einen Sound, der das Gesagte musikalisch auf den Punkt bringt, und zwar millimetergenau. Der Sound des neuen Albums kommt im Vergleich zu „Golden Hour“ zwar weniger fulminant daher, wirkt dafür aber wesentlich grundsätzlicher und selbstbewusster. Man könnte auch erwachsener sagen, aber mit diesem Begriff, so wird uns Frontmann Jeremias im Interview erzählen, hat er so seine Probleme.

Alles in allem ist „Von Wind und Anonymität“ ein Plädoyer dafür, dass die Welt der Musik eine schlechtere wäre, wenn sie nur noch aus hastig veröffentlichten Singles bestünde – ohne reichhaltige, sorgfältig kuratierte Alben wie dieses, deren Reiz gerade darin besteht, dass man sich einfach mal 45 Minuten auf sie einlassen muss. Wie auf einen Unbekannten, der sich abends in einer kleinen Bar zu einem an den Tisch setzt und von seinem Leben erzählt.

Im Moabiter Studio von Fotograf Maximilian König treffen wir Jeremias Heimbach zu einem sehr persönlichen Gespräch.

»Wir freuen uns, dass mit diesem Album wirklich alles einmal gesagt wurde.«

MYP Magazine:
Mit Eurem neuem Album gestattet Ihr uns, den Hörer*innen, einen tiefen Blick in Euer Seelenleben. Wie geht es Dir und den anderen drei damit, ein so intimes Stück Musik in die Welt geworfen zu haben?

Jeremias:
Uns geht‘s definitiv gut damit. Wir haben ja im Vorfeld schon sieben Singles rausgehauen und sind dabei auf sehr viel positive Resonanz gestoßen. Außerdem ist es mittlerweile fast ein Jahr her, dass wir die Platte aufgenommen haben. Dadurch haben wir alle auch einen gewissen Abstand dazu. Aber ich will das jetzt gar nicht kleinreden, ganz im Gegenteil: Wir freuen uns, dass mit diesem Album jetzt, zum 22. September 2023, wirklich alles einmal gesagt wurde.

»Wir machen das alles einfach nur aus einer puren Freude, Liebe und inneren Dringlichkeit heraus.«

MYP Magazine:
Wenn man „Von Wind und Anonymität“ zum allerersten Mal hört, kann es passieren, dass man sich emotional ziemlich überrollt fühlt: Die Tatsache, dass einem vier fremde Menschen so private Gedanken und Gefühle anvertrauen, scheint eine besondere Verbindlichkeit zu schaffen, der man als Hörer*in auch irgendwie gerecht werden will. Wie gehst Du persönlich mit der Verantwortung um, die entsteht, wenn man mit seiner Musik für andere Menschen einen so großen emotionalen Resonanzraum schafft?

Jeremias:
Dass unser neues Album derartige Gefühle auslösen kann, höre ich gerade zum ersten Mal – und berührt mich. Aber diese krasse Verantwortung, von der Du sprichst, spüre ich persönlich überhaupt nicht, zumindest nicht im Moment. Das liegt wahrscheinlich daran, dass wir das alles einfach nur aus einer puren Freude, Liebe und inneren Dringlichkeit heraus machen. Das allein ist der Kern unserer Musik. Vielleicht entspringt daraus dieses Nichtverantwortungsgefühl.

»Mist! Wir singen davon, dass wir den Winter überlebt haben? Leute überleben den scheiß Krieg nicht!«

MYP Magazine:
Öffentlich über seine Gefühle zu sprechen, ist etwas, das immer noch nicht selbstverständlich ist in unserer Gesellschaft – insbesondere für Männer. Viele argumentieren, dass ihre Probleme im Vergleich zu anderen eher unbedeutend seien, vor allem mit Blick auf das Elend dieser Welt. Gab es bei Euch ähnliche Gedanken bei der Entwicklung der neuen Platte? Hattest Du persönlich Zweifel, dass Deine Gefühle nicht „wichtig genug“ seien, um sie zu äußern?

Jeremias:
Ja, absolut. Ich kann Dir dazu sogar einen konkreten Moment nennen. Als ich im März 2022 in Barcelona war und den Song „Wir haben den Winter überlebt“ geschrieben habe, hatte Putin wenige Wochen zuvor die Ukraine überfallen. Ich dachte nur: Mist! Wir singen davon, dass wir den Winter überlebt haben? Leute überleben den scheiß Krieg nicht! Als ich darüber mit unserem A&R-Manager Maxi gesprochen habe, hat er mir einen wichtigen Satz mitgegeben. Er sagte, dass man menschliches Leid nicht vergleichen und Gefühle nicht gegeneinander aufwiegen solle. Und das habe ich seitdem auch nicht mehr getan…

MYP Magazine:
… weil alles Menschliche seine Berechtigung hat.

Jeremias:
Genau. Und dennoch glaube ich, dass man sich als Musiker in so einem Moment nur gutfühlen kann, wenn man ganz genau weiß, wofür man das alles macht. Natürlich wollen wir, dass die Leute unsere Songs hören; natürlich wollen wir, dass sie zu den Konzerten kommen und unsere Texte mitbrüllen. Aber absolut vorrangig ist für uns, in der Musik Ausdruck zu finden. Nur darum geht es, das ist unser Antrieb.

»Mit zunehmendem Erfolg haben wir festgestellt, dass jeder von uns auf einmal etwas anderes wollte.«

MYP Magazine:
Diese Einstimmigkeit innerhalb der Band gab es in den letzten Jahren aber nicht immer. Im Pressetext zum neuen Album heißt es: „Die Synchronisation untereinander und füreinander ging verloren, die Beziehungen gerieten aus dem Takt. Irgendwann die Frage aller Fragen: scheitern oder weiter?“ Was genau war passiert?

Jeremias:
Ich glaube, dass ein gewisser Erfolg für alle erst mal komisch ist – und sich auch auf jeden Einzelnen anders auswirkt: privat, in der Beziehung zueinander sowie in den Beziehungen zu anderen Menschen. Zwar befinden wir uns als Band immer noch auf einem entspannten Level, was den Hype angeht. Dennoch haben wir mit zunehmendem Erfolg festgestellt, dass jeder von uns etwas anderes wollte. Und diese Situation war für alle erst mal verwirrend.

»Plötzlich steht man an einem Punkt, an dem die Leute diverse Dinge auf einen projizieren.«

MYP Magazine:
Kannst Du beschreiben, warum?

Jeremias:
Als wir vor fünf Jahren mit der Band gestartet sind, waren wir einfach nur vier Freunde, die gemeinsam Mucke machen wollten. Dann haben wir gemerkt, dass das etwas Längerfristiges werden könnte – etwas, das man beruflich machen will. In unserem Fall hieß das: Man gründet eine fucking GbR und plötzlich steht man an einem Punkt, an dem einen die Leute auf der Straße erkennen und diverse Dinge auf einen projizieren. Man wird zu einer Person der Öffentlichkeit, hat diverse Geschäftspartner und es gibt erwachsene Menschen, die mit einem ihren Lebensunterhalt verdienen. All das war nicht nur super neu für uns, sondern gleich auf mehreren Ebenen anstrengend. So kam es, dass jeder von uns für sich und sein Leben etwas anderes wollte. Das war auch okay so, wir haben sehr viel daraus gelernt. Und letztendlich ist das bei vier Individuen auch normal.

»Die drei sind die einzigen, die wirklich nachvollziehen können, wie es ist, sich klein zu fühlen und riesig.«

MYP Magazine:
Was bedeuten Ben, Jonas und Olli für Dich?

Jeremias:
Diese drei Jungs sind mein Lebenselixier.

MYP Magazine:
Es gibt Menschen, die wählen hierfür den Begriff „chosen family“.

Jeremias: (lächelt)
Ich mag meine Familie sehr, daher würde ich das Wort auch nur exklusiv für sie verwenden. Aber wir vier sind genauso eng. Und ich bin sehr froh, mit diesen drei Jungs das große Abenteuer teilen zu können, das wir 2018 gemeinsam begonnen haben. Sie sind die einzigen, die wirklich nachvollziehen können, wie es ist, 70 Konzerte zu spielen; sich sicher zu fühlen mit der Öffentlichkeit und unsicher; sich geil zu fühlen und schrecklich; sich klein zu fühlen und riesig. Außenstehende werden das in der Form nie wirklich nachvollziehen können – weder das Management, noch das Label, noch das Booking. Auch nicht ein bester Kumpel. Ich bin sehr dankbar, dass wir vier diese gemeinsame Erzählung haben.

»In dem Moment, in dem es Olli nicht gut ging, war das Grund genug für mich zu sagen: Ich bin da für dich.«

MYP Magazine:
Du hast Olli den Song „Da für Dich“ gewidmet. In Deiner Stimme scheint hier eine ganz besondere Dringlichkeit und Betroffenheit zu stecken. Was hat Dich dazu gebracht, diesen Song zu schreiben?

Jeremias:
Auslöser war eine Show in Linz am 18. Mai 2022. Nach dem Auftritt kam Olli zu uns hinter die Bühne und sagte, dass er gerade eine Panikattacke gehabt habe – und dass er nicht wisse, ob er das alles noch könne und wolle. Damit meinte er nicht nur die Live-Shows, sondern auch die Band als solche. Als wir einen Tag später in Wien gespielt haben, kam mir im Backstage die Idee für den Song. Und später im Hotel habe ich angefangen, daran zu schreiben.

MYP Magazine:
„Da für Dich“ erzählt davon, dass Ollis Seele nicht nachkam in den letzten Jahren. Wie erging es Deiner eigenen Seele in dieser Zeit?

Jeremias: (zögert einen Moment)
Gut, denke ich… nein, eigentlich nicht gut, weil es meinem Bruder nicht gut ging. Aber irgendwie war ich okay damit. Oder besser gesagt: Mir selbst ging es okay. Aber weißt Du, das mit dem Songschreiben ist eine ziemlich egozentrische Sache. Ich kann am Ende immer nur über das schreiben, was mich persönlich triggert und in irgendeiner Form berührt. Alles andere ist mir egal, zumindest aus musikalischer Sicht. Soll heißen: In dem Moment, in dem es Olli nicht gut ging, war das Grund genug für mich zu sagen: Ich bin da für dich. Und das wollte ich in einem Song ausdrücken.

»Tobias? Elias? Wie heißt Du?«

MYP Magazine:
Im Song „Egoist“ erzählst Du davon, wie sich Dein eigenes Leben in den letzten Jahren verändert hat. Was hat Dich hier getriggert, dass Du des in einem Song verarbeiten wolltest?

Jeremias:
In „Egoist“ behandele ich meinen Umzug nach Berlin. In Hannover wurde ich in letzter Zeit immer öfter auf der Straße erkannt und angesprochen, das wurde mir irgendwann zu viel. In Berlin habe ich das absolute Gegenteil erlebt – und das ist heute immer noch so. Wenn ich mich hier jemandem vorstelle, gibt’s oft die Antwort: „Tobias? Elias? Wie heißt Du?“ Das fand ich vor allem am Anfang richtig geil. Ich dachte: Wie krass ist es, dass niemand etwas von mir will? Dieses Gefühl wollte ich in der Songzeile „Dann bin ich lieber nichts“ zum Ausdruck bringen.

MYP Magazine:
Wie gelingt es Ben, Jonas und Olli, sich ein Privatleben zu bewahren?

Jeremias:
Ich würde behaupten, dass es uns allen enorm hilft, jeweils einen festen Freundeskreis zu haben, der um das Gut Privatsphäre weiß. Daher funktioniert es auch für die drei noch ganz gut, so etwas wie ein Privatleben zu haben.

»Wer bin ich, dass ich den Leuten sage, was sie zu denken haben?«

MYP Magazine:
Als Ihr vor einigen Jahren in der Sendung „Inas Nacht“ aufgetreten seid, begrüßte Euch Moderatorin Ina Müller mit den Worten: „Ihr seht sooo gut aus.“ Wie geht Ihr damit um, wenn Euer Aussehen so explizit thematisiert und vielleicht sogar vor die Musik gesetzt wird? Ärgern Euch solche Momente?

Jeremias:
Ärgern ist ein viel zu großes Wort dafür. Wir haben uns damals riesig über Inas Einladung in die Sendung gefreut, daher läge mir nichts ferner, als ihr daraus einen Strick zu drehen. Sie hat in dem Augenblick nur das in Worte gepackt, was sie gedacht hat, und wollte uns ein schönes Kompliment machen. Wir jedenfalls haben uns in dem Moment sehr geschmeichelt geführt.

MYP Magazine:
Trotzdem gibt es Menschen, die Bands in erster Linie wegen ihres Aussehens gut finden – diesen Umstand beschreibt Ihr selbst auch im Song „Clown zum Freak“.

Jeremias:
Ja, safe. So etwas ist super einseitig und oberflächlich. Aber wer bin ich, dass ich den Leuten sage, was sie zu denken haben? Letztendlich hinterlässt jeder Mensch einen Eindruck. Wir können nichts dafür, wenn uns Leute aus optischen Gründen gut finden. Aber auch das ist natürlich okay… (lacht)
Es gibt übrigens eine deutsche Meme-Seite, die immer wieder ein Foto von uns nimmt und „Elevator Boys“ darunter schreibt. Ich denke mir dabei regelmäßig: Hä, warum? Aber es ist, wie es ist. Mittlerweile sind wir‘s gewohnt und ich habe aufgehört, dem nachzugehen. Man kann ohnehin nicht allen Leuten gefallen. Unmöglich. Entweder erkennen die Menschen das, was du tust, und lieben dich dafür. Oder eben nicht. Beides ist okay. Ich werde hier niemanden verurteilen. Und ich werde auch nicht versuchen, irgendwen zu überzeugen.

»Für mich ist es immer wieder faszinierend, wie aus einem einzelnen Wort eine physische, haptische Sache wird.«

MYP Magazine:
Eure jüngste Single-Auskopplung, der Song „Goldmund“, ist eine kleine Hommage an den berühmten Roman „Narziss und Goldmund“ von Herman Hesse. Welche Rolle spielt Literatur in Deinem Leben?

Jeremias:
Ich finde die Kunstform richtig geil! Das mag vielleicht ein bisschen altbacken klingen, aber für mich ist es immer wieder faszinierend, wie aus einem einzelnen Wort eine physische, haptische Sache wird; wenn so ein Wort auf ein weißes Blatt Papier gedruckt wird und dann in deinem Kopf Bilder auslöst, sobald du es gelesen hast. Ich habe zwar schon als Kind und Jugendlicher viel gelesen, zu Hause und in der Schule, aber erst vor Kurzem einige Klassiker für mich entdeckt. Die Werke von Hermann Hesse mag ich wirklich sehr, aber auch Bücher wie „Schachnovelle“ von Stefan Zweig oder „Das Parfum“ von Patrick Süskind. Ich bin einfach ein Freund guter Geschichten. „Schachnovelle“ zum Beispiel ist dramaturgisch so aufgebaut ist, dass du mit dem letzten Satz abgeholzt wirst – das erschüttert dich, weil‘s so gut ist.

»Goldmund gehört niemandem. Diesen Gedanken fand ich schön.«

MYP Magazine:
Und warum hat es Dir die Figur Goldmund so angetan?

Jeremias:
Ich habe „Narziss und Goldmund“ gelesen, als wir alle im zweiten Corona-Frühjahr steckten und jede*r ganz allein für sich war, im stillen Kämmerlein. Dieser Goldmund aber, der war draußen in der Welt unterwegs und konnte machen, was er wollte. Erst war er mit Narziss im Kloster, dann ist er dort ausgebrochen und im Anschluss durch die Dörfer getingelt. Das fand ich in dem Moment wahnsinnig schön und hoffnungsvoll.

MYP Magazine:
In den ersten Zeilen des Songs heißt es: „Goldmund, du erinnerst mich an mich“. Hermann Hesse beschreibt Goldmund in seinem Roman als jemanden, der „zu den Menschen gehöre, welchen ein Stück aus ihrem Leben verloren gegangen ist, welche unter dem Druck irgendeiner Not oder Bezauberung sich dazu verstehen mussten, einen Teil ihrer Vergangenheit zu vergessen.“ Ist dieser Aspekt ebenfalls einer, in dem Du dich widerfindest?

Jeremias:
Nein, überhaupt nicht. Meine Vergangenheit war super, ich bin dankbar für alles. Ich mochte einfach nur Goldmunds Art zu denken – damit kann ich mich persönlich absolut identifizieren. Goldmund lebt nach Lust und Laune in den Tag hinein, ist heute hier und morgen da, ist im einen Moment überschwänglich und happy und im nächsten Moment wieder bittertraurig. Dennoch macht er am Ende immer, was er will. Er gehört niemandem. Diesen Gedanken fand ich schön. Man muss aber auch aufpassen, dass es nicht zu pathetisch wird. (grinst)

MYP Magazine:
Pathos hat das Album an anderen Stellen ja auch im Überfluss.

Jeremias lacht laut.

»Ich habe den Knabenchor in Hannover gefragt, ob sie sich vorstellen könnten, das einzusingen.«

MYP Magazine:
Ist der sakrale Charakter des Songs „97“ auch von „Narziss und Goldmund“ und der mittelalterlichen Klosterschule inspiriert, in der der Roman spielt?

Jeremias:
Das mag man denken. Aber tatsächlich geht das auf die Entscheidung zurück, keine weitere Klavierballade machen zu wollen. Trotzdem wollten wir mit diesem Song irgendwie musikalisch umgehen. Die Option, das Ganze mit unseren Instrumenten neu zu arrangieren, kam für uns aber nicht infrage. Also habe ich den Knabenchor in Hannover angerufen, in dem ich selbst 16 Jahre lang gesungen habe, und gefragt, ob sie sich vorstellen könnten, das einzusingen. Nach ihrer Zusage habe ich ihnen kongruent zum Klavier ein Arrangement geschrieben. Deswegen klingt es so, wie es klingt. Ein sehr sakraler Vibe, aber auch richtig nice.

»Wir haben alles Mögliche ausprobiert, um am Ende doch noch zusammenzukommen.«

MYP Magazine:
Im Vergleich zu Eurem ersten Album wirkt die Musik jetzt zwar zurückhaltender, dennoch hat die neue Platte einen ganz eigenen, grundsätzlich und erwachsen wirkenden Sound. Wie ist der musikalische Charakter dieses zweiten Albums entstanden?

Jeremias:
Wie ich eben bereits angedeutet habe: In den letzten Jahren wollten alle vier zunehmend etwas anderes. Das bezog sich auch auf die Musik. Der eine wollte sich vor den PC hocken und produzieren, der andere wollte nur Klavierballaden schreiben und wieder ein anderer wollte einfach ein Mikrofon in den Raum stehen und acht Minuten lang jammen. Aus diesen vielen Gelüsten hat sich langsam und über Monate das Album entwickelt. „Von Wind und Anonymität“ ist das Ergebnis eines langen Prozesses, in dem wir alles Mögliche ausprobiert haben, um am Ende doch noch zusammenzukommen und unsere Wünsche zu vereinen.

»Wenn man da den Berg hochgeht, rutscht man tausendmal ab und fällt auch hin und wieder auf die Fresse.«

MYP Magazine:
Im März habt Ihr euch für ein paar Wochen aus dem deutschen Noch-Winter ausgeklinkt und seid nach Fuerteventura geflogen. Dort sind diverse Fotos, Videos und Visualizer für das neue Album entstanden. Warum habt Ihr euch ausgerechnet für die Kanareninsel entschieden?

Jeremias:
Wir hatten einen Ort gesucht, der das Album visuell gut zusammenfasst. Das klingt vielleicht ein bisschen platt, aber Fuerteventura heißt übersetzt so viel wie „starker Wind“. Wir empfanden das als eine schöne Analogie zum Albumtitel. Außerdem hatten wir das Gefühl, dass die Insel mit ihren steinigen und weitläufigen Hügellandschaften gut zur Musik passt. Aber dass es am Ende so perfekt aufgehen würde, war für uns alle dann doch überraschend.

MYP Magazine:
Inwiefern?

Jeremias:
Unsere erste Platte, „Golden Hour“, wirkt aus heutiger Perspektive sehr weichzeichnerisch und jugendhaft. Die Musik war zwar nicht irrelevant, aber im Vergleich zu „Von Wind und Anonymität“ ein bisschen nichtssagend. Daher wollten wir versuchen, die Essenz des neuen Albums – dieses deutliche, teilweise abgefuckte und stark kontrastierte Wesen – auch visuell adäquat darzubringen. Und dafür war Fuerteventura perfekt. Wenn man da den Berg hochgeht, rutscht man tausendmal ab und fällt auch hin und wieder auf die Fresse.

»Für mich ist das Kindsein viel faszinierender als das Erwachsensein.«

MYP Magazine:
In Eurer Musik finden sich immer wieder Referenzen auf Eure Kindheit, etwa im Song „Wir haben den Winter überlebt“ oder im Musikvideo zu „Sommer“. Wie bemerkst Du an dir persönlich das Erwachsenwerden – und welchen Aspekte schätzt Du daran?

Jeremias:
Am meisten schätze ich die Unabhängigkeit und die Freiheit, die dieses Erwachsensein mit sich bringt. Aber ganz ehrlich? Eigentlich verteufele ich das auch. Oder besser gesagt: Ich mag es nicht so gerne. Sobald ich merke, dass ich irgendwo einen erwachsenen Eindruck mache, macht mich das ein bisschen traurig. Für mich ist das Kindsein viel faszinierender als das Erwachsensein. Als Kind ist man so losgelöst und einfach für sich, daran denke ich immer wieder gerne zurück. Aber unabhängig zu sein und für sich selbst entscheiden zu können, was man machen will, ist natürlich auch nicht uncool. (lächelt)

»Am liebsten genieße ich gerade die Stille.«

MYP Magazine:
Zu Beginn unseres Gesprächs haben wir über die emotionale Verbundenheit gesprochen, die Hörer*innen in Eurer neuen Platte finden können. Gibt es für Dich persönlich ein Album, das Dich in den letzten Jahren begleitet hat und Dir besonders am Herzen liegt?

Jeremias:
Mich hat „Am Wahn“ von Tristan Brusch sehr mitgenommen – das habe ich sogar eben noch im Taxi gehört. Dieses Album mag ich sehr. Und vor kurzem bin ich auf den Song „Die Freiheit“ von Georg Danzer gestoßen, den mag ich ebenso… (schweigt einen Moment) Mann, sorry! Eigentlich würde ich Dir gerne sehr viel konkretere Sachen nennen.

MYP Magazine:
Vielleicht ist das etwas so Privates und Intimes, dass man es in einem Interview nicht preisgeben sollte: Musik, bei der man seine Seele öffnet.

Jeremias:
Das stimmt. Es ist aber auch so, dass ich vor allem in den letzten beiden Jahren wenig Musik gehört habe. Am liebsten genieße ich gerade die Stille. Aus diesem Gefühl heraus habe ich auch den letzten Song des Albums geschrieben. Ist schon strange, oder? Ich bin erst 23 und suche jetzt schon die Stille. Ich weiß nicht, wie das mit 80 werden soll.


Fatoni

Interview — Fatoni

»Im Rap kann Wut als Antrieb sehr hilfreich sein«

Rapper Fatoni ist seit über zwei Dekaden im Geschäft, im deutschen Hip-Hop genießt er so etwas wie Legendenstatus. Wie sein aktuelles Album »Wunderbare Welt« beweist, hat der 38-Jährige immer noch etwas zu sagen: etwa zu den Erfahrungen des Älterwerdens; oder zu den gesellschaftlichen Diskursen unserer Zeit. Damit holt er nicht nur seine treuen Millennial-Fans ab, sondern auch viele aus der Generation Z. Wenige Wochen vor dem Start seiner Deutschland-Tour haben wir den gebürtigen Münchner in Berlin zu einem sehr persönlichen Gespräch getroffen: ein Interview über den Bruch mit alten Idealen, junge Leute, die alles nur noch cringe finden, und die begrenzte Macht von Musik gegenüber rechten Parolen.

12. Oktober 2023 — Interview & Text: Anna Kasparyan, Fotografie: Steven Lüdtke

»Es war total wichtig für mich, mit alten Idealen zu brechen.«

MYP Magazine:
Fatoni, deine aktuelle Platte besticht wieder mit etlichen Artist-Features, darunter etwa Tristan Brusch, MOLA, Danger Dan, Deichkind oder Max Herre. Wie wählst du aus?

Fatoni:
Dass ich die Leute cool finde, ist natürlich die Voraussetzung! Deichkind und Max Herre zum Beispiel haben mich in meiner Jugend stark beeinflusst, auch wenn ihre Musik eine ganz unterschiedliche ist. So sind die Features auf meinen Alben auch immer ein persönliches Statement.

MYP Magazine:
Auf vergangenen Platten hast du Max Herre noch gedisst…

Fatoni:
Max Herre ist ein Jugendidol von mir. Ich war sehr lange Fan von ihm, hatte dann aber eine kurze Phase, in der ich seine neuen Sachen doof fand. Es war in diesem Lebensabschnitt total wichtig für mich, mit alten Idealen zu brechen und so einen Held auch mal zu demontieren. Das ist aber lange her, mittlerweile entdecke ich wieder viele Motive aus meiner Jugend. Dass Max Herre und Deichkind auf der Platte sind, ist also Absicht. Obwohl ich schon lange kein Teenager mehr bin, ist das Album so etwas wie eine Coming-of-age-Platte.

»Wenn man als junger Rapper Leute disst, hat das viel mit einem selbst zu tun.«

MYP Magazine:
Wie konntest du deinen Frieden mit früheren Phasen schließen?

Fatoni:
Wenn man als junger Rapper Leute disst, hat das viel mit einem selbst zu tun. Nicht, dass man sie inhaltlich wack (Anm. d. Red.: umgangssprachlicher und vor allem im Hip-Hop geläufiger Begriff für blöd, lahm, schlecht) finden würde. Man ist eher frustriert, dass man es mit der eigenen Musik nicht zu so einem Erfolg schafft. Das führt zu Unzufriedenheit, die aber auch eine Motivation sein kann. Im Rap kann Wut als Antrieb sehr hilfreich sein.

»Vielleicht würde auch ich heute auch in eine Casting-Show gehen – allein fürs Geld!«

MYP Magazine:
Du rappst auch: „Wär doch schlimm, wenn ich nicht so geworden wäre, wie ich niemals werden wollte.“ Woran merkst du, dass sich deine Haltung zu Themen über die Jahre verändert hat?

Fatoni:
Vor zehn Jahren einen Witz über Max Herre zu machen, weil er als Juror in einer Casting-Show war, empfand ich damals als passend. Aus heutiger Sicht wirkt das vielleicht etwas hängengeblieben. Ich finde meinen Fokus von damals eher komisch. Vielleicht bin ich jetzt aber auch eher in einer Position wie Max Herre damals. Und vielleicht würde auch ich heute auch in eine Casting-Show gehen – allein fürs Geld! Es ist auch easy, über solche Jobs zu witzeln, wenn man 28 ist und denkt: Dieses Angebot wird für einen selbst niemals kommen. Es ist in der eigenen Realität gar nicht vorhanden. Wenn ich ehrlich bin, war ich eigentlich nur unzufrieden mit meiner eigenen Karriere.

»Früher hatte ich immer Schiss, mir einen Korb abzuholen.«

MYP Magazine:
Denkst du gerade über neue Kollaborationen nach?

Fatoni:
Sophie Hunger wäre ein Traumfeature. Auch im Deutschrap gibt es gerade tolle junge Künstlerinnen, aber ich sehe aktuell nicht, was man da zusammen machen könnte. Trotzdem bin ich zum Beispiel ein Fan von Paula Hartmann und Nina Chuba. Und dann habe ich vor kurzem DJ Koze auf Instagram geschrieben. Früher hatte ich immer Schiss, mir einen Korb abzuholen. Mittlerweile ist mir das egal. Es tut zwar weh, aber ich denke mir: Ich bin 38 Jahre alt – warum sollte ich rumeiern? Er hat auch zurückgeschrieben und gesagt, dass er sich gerade um sein Album kümmern muss, aber wir danach was starten können.

»Es ist immer eine Frage von Erfolg und finanziellen Möglichkeiten, ob man seine Visionen umsetzen kann oder nicht.«

MYP Magazine:
Hast du jemals Angst, deine Kreativität zu verlieren?

Fatoni:
Ja, schon manchmal. Auch, weil es immer eine Frage von Erfolg und finanziellen Möglichkeiten ist, ob man seine Visionen umsetzen kann oder nicht. Es ist unmöglich, alles allein zu machen, und ich kann bereits jetzt nicht alles umsetzen, worauf ich Bock habe. Vielleicht auch, weil ich nicht den Elan oder den Wahnsinn habe. So wie die Künstlerin Mine, mit ihren krassen Shows und dem Riesenorchester. Was Mine auf die Beine stellt, ist einzigartig und sehr beeindruckend. Viele Projekte sind nur möglich, wenn man wahnsinnig erfolgreich ist – oder nicht abhängig ist vom freien Markt. Etwa, weil man staatlich subventioniert wird für die Shows.

»Wenn ich auf der Bühne vor den Leuten stehe, trägt mich das am meisten.«

MYP Magazine:
Was treibt dich voran?

Fatoni:
Was ich neben dem Rappen und der Musik am spannendsten finde, ist das Unvorhergesehene: das, was bei den Shows auf der Bühne dazwischen passiert oder davor. Ebenfalls spannend finde ich es, mit den Leuten zu kommunizieren. Ich rede darüber eher selten und es fällt mir auch jetzt schwer, das in Worte zu fassen. Ich denke, dass ich vor allem Leute unterhalten kann. Wenn ich auf der Bühne vor den Leuten stehe, trägt mich das am meisten – da bin ich in the zone.

»Ich dachte lange nicht, dass die Sache mit der Musik funktionieren würde.«

MYP Magazine:
In deinen Texten thematisiert du oft deine Münchener Herkunft, die herausfordernde Schulzeit oder die Entscheidung, dich voll und ganz auf die Musik zu konzentrieren. Wenn du heute einen Blick zurückwirfst: Kannst du Lebensentscheidungen skizzieren, die du für unabdingbar hältst – weil sie dich an den Punkt gebracht haben, an dem du jetzt bist?

Fatoni:
Diese Entscheidung habe ich nie wirklich bewusst gefällt. Ich hab’s einfach gemacht. Ich dachte lange nicht, dass die Sache mit der Musik funktionieren würde. Genauso wie ich nie gedacht hätte, dass ich jemals die Position in der Musikwelt erreiche, in der ich heute bin. Aber jetzt will ich natürlich mehr. Ich hatte in den Anfangsjahren mehrere Jobs, die fast schon Berufe waren. Dass ich diese nicht weiter verfolgt habe, lag aber nie daran, dass ich darauf gesetzt habe, dass das mit der Musik letztendlich besser klappen würde. Ich habe es einfach gehasst, diese Berufe auszuüben – ich hatte also keine andere Wahl.

»Damals dachte ich: Das Theater ist jetzt mein Lebensentwurf, das wird meine Karriere.«

MYP Magazine:
Hast du dafür ein Beispiel?

Fatoni:
Nach der Schauspielschule bin ich am Theater gelandet. Damals dachte ich: Das ist jetzt mein Lebensentwurf, das wird meine Karriere. Eigentlich ein Traumberuf, aber ich fand’s wirklich schlimm. Ich hatte fast ein Burn-out und bekam krasse psychosomatische Beschwerden, Bauch- und Kopfschmerzen. Und das über Monate! Es ging einfach nicht mehr. Ich konnte da nicht mehr bleiben, ich hab’s so sehr gehasst. Es ist zwar nicht so, dass ich das Theater an sich hasse, aber die Umstände waren für mich falsch. Fest an ein Theater werde ich wohl nie wieder gehen. Ich hatte sogar kurz überlegt, wieder zu kellnern. Die Gastro fand ich von all den Nebenjobs eigentlich am coolsten – weil man mit normalen Menschen spricht und meiner Erfahrung nach auch weniger Intrigen oder irgendwelche Spielchen aushalten muss.

»Manchmal frage ich mich, ob diese Sphäre des Angekommenseins überhaupt existiert.«

MYP Magazine:
Wie identitätsstiftend ist es jetzt, auf der Musikbühne zu stehen?

Fatoni:
Es ist immer Teil der Identität, wenn du etwas machst, das du machen willst – und du auch noch Erfolg damit hast. Aber ich wüsste nicht, wie es wäre, wenn’s nicht so wäre. Und privat bin ich natürlich auch nicht immer der Performer. Ich glaube, was sich durch meine Texte zieht, weil ich oft darüber rede, ist das Ankommen. Oder besser: das Gefühl zu haben, noch nicht angekommen zu sein. Manchmal frage ich mich, ob diese Sphäre des Angekommenseins überhaupt existiert.

MYP Magazine:
Alter scheint für dich eine wichtige Rolle zu spielen. Wieso?

Fatoni:
Ehrlich gesagt denke ich darüber viel zu viel nach. Es gab mal eine sehr coole Kritik in der Wochenzeitung „der Freitag“, in der eine tolle Journalistin darüber schrieb, dass es nerve, dass ich immer übers Älterwerden rappen würde. Tatsächlich hat sie dann im Artikel diverse Songs aufgezählt, in denen ich das thematisiere. Das hat mir gezeigt, dass ich beim nächsten Album nicht mehr so lächerlich viel darüber schreiben sollte. Andererseits kann mich wahrscheinlich nie komplett davon freimachen, da ich ja tatsächlich ständig älter werde. Und in diesem Prozess wird es immer wieder neue 20-jährige Rap-Stars geben. Dabei muss man selbst schauen, ob man den neuen Trends standhält und bleiben kann.

»Ich habe das Gefühl, die junge Generation ist sehr von der Coolness-Frage vereinnahmt.«

MYP Magazine:
Wie blicken die jüngeren Kolleg*innen dann auf dich?

Fatoni:
Neulich hat mir ein jüngerer Künstler gesagt, der früher oder vielleicht auch heute noch Fatoni-Fan ist: „Ich fühle deine Texte so hart. Du bist zwar mega cringe, aber halt auch mega cool.“ Ich habe das Gefühl, die junge Generation ist sehr von der Coolness-Frage vereinnahmt. Es geht oft darum, sich dadurch abzugrenzen, alles und sich gegenseitig cringe zu finden. Und cringe ist ja auch gleichzeitig cool, aber irgendwie ist auch nichts cool, da habe ich etwas den Anschluss verloren. Ich denke mir lieber: Ist doch egal. Wenn sie nach zehn Jahren auf ihre Fotos blicken, sollen sie sagen: „Das war ‘ne geile Zeit, aber Vokuhila ist schon mega cringe.“

»Ich glaube aber nicht, dass ich mit meinem Text einen Klimaleugner oder eine AfD-Wählerin umdrehen kann.«

MYP Magazine:
Wir leben aktuell in unruhigen Zeiten: Multiple Krisen folgen aufeinander, der Populismus erstarkt in Europa – auch in deinen Songs spielen Systemkritik und Gesellschaftssatire immer eine große Rolle. Was macht dir Mut?

Fatoni:
Boah! Ich traue mich gar nicht, darauf zu antworten. Die meisten Künstler*innen – und dazu zähle ich mich auch – haben keine Lösungen. Ich kann Probleme nur komprimieren und thematisieren. Daher habe ich viel mehr Respekt vor Leuten, die Realpolitik machen. Das sehe ich nicht für mich, was für ein krasser Kampf! Was kann man mit Musik schon bewirken? Es kann höchstens einer gewissen gesellschaftlichen Bubble das Gefühl geben, dass man nicht allein ist. Jede*r kennt das Gefühl, wenn Künstler*innen genau das ansprechen, was uns individuell wichtig ist. Ich glaube aber nicht, dass ich mit meinem Text einen Klimaleugner oder eine AfD-Wählerin umdrehen kann. Ich bringe die nicht mal ansatzweise zum Denken. Die würden meine Songs auch direkt wieder ausmachen – so wie ich die Mucke von Rechten nicht hören würde.

»Du siehst dir ein kapitalismuskritisches Theaterstück an. Aber dann bestellst du in der Nacht noch schnell auf Amazon.«

MYP Magazine:
Was gibt dir persönlich Mut?

Fatoni:
Eigentlich gar nichts, ich verdränge eher. Vor allem die Klimakatastrophe, aber auch die neuesten AfD-Umfragewerte. Da habe ich zum ersten Mal seit 2016 gedacht: Krass, ich sehe es zwar immer noch nicht, dass die AfD die Regierung stellt. Aber in Italien zum Beispiel gibt es mittlerweile schon eine rechte Regierung, das ist dort pure Realität und sehr beunruhigend. Kultur kann dem im Allgemeinen wenig entgegenstellen, sie ist zu weiten Teilen Unterhaltung. Du hörst Musik, die dich angesprochen hat, und siehst dir dann ein kapitalismuskritisches Theaterstück an. Aber dann bestellst du in der Nacht noch schnell auf Amazon. So ist das eben.


Stephen Sanchez

Interview — Stephen Sanchez

»I feel like music should help you learn from each other«

With his emotive and soulful music, Stephen Sanchez takes his audience on a journey back in time to the 1950s and 1960s. Yet, the young musician from Nashville is anything but a sentimentalist who glorifies the past. We met him for an interview about his debut album »Angel Face,« about music that feels like a warm hug, and a time when non-white artists had to use music to make themselves heard in the face of adversity and pervasive racism.

22. September 2023 — Interview & text by Jonas Meyer, photography by Stefan Hobmaier

Nostalgia is a perilous emotion. We often gaze back with a certain melancholy at the apparent glory of days long past, yearning for the return of the good old times. Yet, all too willingly, we forget that the past was far from perfect – especially concerning the socio-political circumstances that meant injustice, lack of freedom, and oppression for many people.

But who can truly blame us for occasionally indulging in nostalgia? It’s also undeniably tempting. Consider the 1950s and 1960s, for instance: From today’s perspective, everything possessed a distinct style, particularly in terms of fashion. People wore elegant suits instead of sweatpants, enjoyed leisurely meals rather than fast food, and, when dating, had to make a physical approach instead of swiping through an app. And just think of all the music legends this era has produced!

So, how can we indulge in nostalgia without feeling guilty? Stephen Sanchez sets an example. Born in 2002 and raised in Sacramento, California, he unveiled his musical talent to the world about three years ago when he released his single “Lady by the Sea.” Almost overnight, it skyrocketed on TikTok, turning his life upside down in the blink of an eye. Even though Stephen’s music and demeanor are deeply rooted in the style of the fifties and sixties, he is simultaneously a representative of the present — a modern young man with a wholly unfiltered and reflective view of the world.

That this young man is a serious music artist and not just a fleeting social media phenomenon became clear, especially after none other than Sir Elton John declared himself as his advocate and fan. The British music icon, known for consistently nurturing young musicians, recently bestowed a distinct honor upon Stephen: On June 25th, during the final UK performance of his career, Elton John invited several guest stars onto the stage at the renowned Glastonbury Festival, and among them was Stephen Sanchez.

Originally, the plan was for the two to perform Elton’s song “I Guess That’s Why They Call It the Blues” together. But the pop giant made a spontaneous change. He wanted Stephen to play one of his own songs when inviting him onto the stage. Thus, the young man found himself performing his hit “Until I Found You” in front of a quarter of a million people.

Just a few days after this memorable performance and a couple of weeks prior to the release of his debut album “Angel Face,” we met the Stephen for an interview and a casual photoshoot at the headquarters of Universal Music Germany.

»Performing in front of so many people is something you don’t come down from quickly.«

MYP Magazine:
It was just three days ago that you were on stage with Elton John, performing in front of 250,000 people. How do you feel right now? Did you find it challenging to return to everyday life?

Stephen Sanchez:
I’m still buzzing from that experience and riding a high. Performing in front of so many people is something you don’t come down from quickly. I’m a person who can’t wait to get out and play shows anyway, but that experience has made me even more excited for the upcoming things — by which I mean the release of my debut record and a big tour for my band and me.

MYP Magazine:
What does it mean to you when someone like Elton John — an artist who has achieved everything in the music business — supports young musicians and talents like you?

Stephen Sanchez:
That gives me a lot of affirmation about what I’m doing. It makes me feel like I can do anything. Even though there are people in my personal life who make me feel like I could achieve anything, it’s pretty amazing to have someone like him champion me. I mean, Elton John is a hero, a music industry icon who has had a career spanning half the past century. I’m very grateful that such a person appreciates the music I’ve created, even though he doesn’t really know me. And by the way: I’ve never heard of Elton bringing anybody out to sing their own song in the middle of a set. That’s just incredible.

»I do feel a bit of pressure, but it’s not a pressure I’m afraid of.«

MYP Magazine:
In September, you are going to release your first album. Do you feel any pressure now that half the world already seems to be celebrating your music?

Stephen Sanchez:
I do feel a bit of pressure, but it’s not a pressure I’m afraid of, actually. I mean, the music industry is extremely different now. There are a lot of artists in their twenties with access to creating music. Whether they are really great or really bad, it’s kind of hard to push your own project through all the mess and be recognized as something truly great. So, I don’t feel weird. I feel like I’m exactly where I’m supposed to be. Putting this record out could be an amazing thing to watch happen.

»Having music that people can sit down and listen to all the way through, and find meaning in it at the end, is crucial.«

MYP Magazine:
What does it even mean to release an album with 13 tracks in the age of Instagram and TikTok, where sometimes only seconds decide about the success or failure of a single song?

Stephen Sanchez:
It’s exciting for me because this new record is a conceptual album. There’s a story to it, there are characters to it, and I think that makes it more digestible. Each song can stand on its own and speak for itself. It doesn’t rely on other songs to be great. I believe there’s importance in that. Having music that people can sit down and listen to all the way through, and find meaning in it at the end, is crucial — and that’s hopefully the same with my record. I think the world needs more of that because it truly helps. Just like when you watch a movie, you immerse yourself in the character’s shoes, feelings, experiences, and circumstances. It’s important for self-reflection on your own life: Ideally a movie helps you to see your own and understand yourself — and music functions the same way.

»Movies serve as a catalyst for evoking memories, which is wonderful because the same applies to music.«

MYP Magazine:
Movies are a good keyword. When listening to your music, it often feels like being immersed in a film scene, such as with the song “Death of the Troubadour,” characterized by a distinctive cowboy-Western sound. What role does Hollywood culture play for you when you’re crafting songs?

Stephen Sanchez:
I believe movie culture, in general, helps me bring out my emotions. I tend to watch movies that remind me of someone because I’ve watched those films with them. It’s like they trigger those memories. Then, later on, I can revisit those memories and write about them because they’ve been on my mind all day, you know? So, I think movies certainly serve as a catalyst for evoking memories, which is wonderful because the same applies to music. Everything is tied to memories. I can definitely say that certain movies have influenced my songwriting to some extent. However, I consider them as non-specific influences that remind me of someone I care about — no more, but no less.

»I feel like the music of the fifties and sixties was written for the future.«

MYP Magazine:
Your music and style evoke associations with a bygone era of music history. What particularly captivates you about the pop culture of the 1950 and 1960s?

Stephen Sanchez:
I feel like the music of the fifties and sixties was written for the future. It’s so timeless and still so universal because it’s riding on one concept, which is, for example, “I’ve lost her,” “my heart’s broken”, “I love her and I’m going to keep loving her,” or “I was a fool for you and now I don’t know what to do.” Or simply said: themes that are universally digestible.
To me, this music is so special because it’s straightforward. It doesn’t try to be dirty, provocative, or showy. It’s simple and direct, like saying, “I’ve made a mistake and I still love you.” There’s a beauty in that simplicity. Even in moments of struggle, there’s a certain elegance. For instance, Patsy Cline’s song “Walking After Midnight” is about her searching for her drunk husband after midnight and bringing him home as he cries over her. It’s incredibly powerful. I adore this straightforwardness; it holds a deep richness within its simplicity.

»Artists like Elton John still add value to the industry — and to society.«

MYP Magazine:
When this music was written about the future, would you say that today’s music is written about the past?

Stephen Sanchez:
Hmm, that’s an intriguing question. Maybe. Or it might be that this music is needed now because of its simplicity and the deep layers present in its songwriting. It’s almost like a blueprint for certain things, like how to love someone, how to apologize sincerely.
Nowadays, there doesn’t seem to be as much coherence in music. There isn’t much that’s significantly contributing to the world in a novel way, something that hasn’t been experienced to some extent already. You know, the music that has existed continues to contribute because it’s ingrained in our culture, like the music of the fifties, sixties, and rock and roll. Artists like Elton John still add value to the industry — and to society. However, we’re currently in an era of rapid releases, often filled with explicit content, drugs, or violence. It’s not really about laying a foundation, about showcasing the essence of being human and how to connect with each other. It mostly reflects what’s already present, lacking profound depth.

MYP Magazine:
Would you say we’ve lost focus?

Stephen Sanchez:
Yeah, definitely. I feel like music should teach you something. It should help you learn from each other and bring yourself closer to one another. Even though music in general has always done that, I think more and more often we just rely on the hype that is made about some things.

»We still have much to improve as a society.«

MYP Magazine:
On you Instagram page you say: “Welcome to 1964!” What were the strengths and weaknesses of that time? Or to phrase it differently: What do you miss from the sixties in today’s world? And what aspects of that period are you glad we left behind?

Stephen Sanchez:
Well, obviously, misogyny stands out as a significant issue. Unfortunately, racism continues to persist widely, and misogyny still exists to some extent. However, during that period, these negative aspects were deeply ingrained and normalized. Today, there’s at least an acknowledgment and a pushback against misogyny and racism in our culture. That’s a positive development. Yet, we still have much to improve as a society. It’s encouraging that these issues are no longer as accepted in mainstream American culture, but as long as they still exist, we have a considerable amount of work ahead of us.

MYP Magazine:
In 2020 you moved to Nashville. Why is it important for you as a young musician of the digital age to be physically on the spot?

Stephen Sanchez: (smiles)
It was kind of an accident, to be honest. I couldn’t afford to live in New York or L.A. back then, and my parents were moving to Nashville. Additionally, I had friends already in the city. So, things naturally led me there. I believe it’s a fantastic music community with wonderful people and artists who are truly inspiring — and who genuinely support each other instead of getting caught up in egos. Everyone’s focused on being there for one another, and that’s heartwarming. I’ve gained a lot from being in that environment.

»I’m drawn to that aspect of nostalgia — witnessing people using music to regain their voices in the face of adversity.«

MYP Magazine:
In the United States, we are currently witnessing a society divided between those who aim to preserve the past and those advocating for socio-political progress. Does it bother you that some factions of society manipulate the term “nostalgia” to further their own agendas?

Stephen Sanchez:
When I experience nostalgia, it’s for the positive aspects of that era, such as the cars, music, and rock and roll. I appreciate these elements because they hold significance. I also find inspiration in artists from that time, especially African-Americans who used music as a means of expression, given their voices were suppressed due to the pervasive racism in America. It was more than just creating love songs; it was a way of life. I’m drawn to that aspect of nostalgia — witnessing people using music to regain their voices in the face of adversity. That’s what matters to me.
So, I can only share my perspective and can’t speak for others as I am not in their shoes. However, anyone who promotes divisiveness and mistreats another culture due to personal preferences is, in my view, in the wrong. I believe in unity, and I feel like we should all come together as a society.

»If I were ever to lose someone, the music would be the outcome.«

MYP Magazine:
It seems that there is often a certain melancholy to your music. Do you consider yourself a melancholic person?

Stephen Sanchez:
Um, to some extent, I believe so. I think romance embraces both sides of the spectrum. I consider myself a strong romantic, and within that, there’s a sense of hopelessness as well as hopefulness. These two aspects constantly compete. So, I believe there’s undoubtedly a touch of melancholy in all things I’ve composed and sung about. However, there’s always a counterbalance. For instance, if I were ever to lose someone, the music would be the outcome. I can confidently say that.

»Love demands hard and substantial effort because human beings are complex.

MYP Magazine:
In the song “No One Knows” you sing: “No one knows the trouble, honey, that we’ve been through.” Are you someone who prefers to deal with heartbreak and relationship problems with yourself?

Stephen Sanchez:
Obviously, “Until I Found You” is about a specific person. I wrote that song when I was 18 while I was going through the breakup. However, if I were to be in a relationship now and faced a breakup, I would keep the details within the both of us. They wouldn’t spill out into the public space. Yet, in writing songs like that, I aim to convey that love can be challenging. It’s not always a simple case of instant puppy love. Love demands hard and substantial effort because human beings are complex.
Nevertheless, the outcome of this hard work is something incredibly beautiful — a healthy and happy relationship with someone who truly understands and sees you. I believe unless you navigate through difficulties and reveal your less-than-perfect self to someone, you discover that you’re not so different after all. You learn to love and appreciate those aspects of each other, wanting to comprehend and embrace the full spectrum rather than just the surface-level affection. So, in songs like “No One Knows,” the lyrics express a dual sentiment: “I love you, but also I struggle with these aspects of you.” The message is about choosing to accept both the flaws and the strengths of a person and of oneself, seeing them as equally valuable. Everyone should love both of those things as if they were the best.

»Love is about deciding on something and sticking with it.«

MYP Magazine:
Your music extensively explores the theme of love. Would you argue that this topic is the primary reason for the existence of music itself?

Stephen Sanchez:
Absolutely! I believe it’s about the pursuit of something, and love represents that pursuit. However, this concept isn’t confined solely to romantic love. It includes many more facets. If we consider love as a pursuit, then it’s the pursuit of one’s identity, one’s independence, one’s self-expression. Love manifests in all these aspects. It’s not limited to romantic relationships; it can revolve around countless other subjects. Whether it’s directed at a person, an object like a car or a home, or even the act of going out and having fun. (smiles) It’s quite profound, really. I mean, everything is pretty much a love song just to a degree — because love is about deciding on something and sticking with it.

»The idea of being homeward bound resonates deeply with me. It’s like a big warm hug.«

MYP Magazine:
What music can you personally escape to when you need a big hug?

Stephen Sanchez: (laughs)
Oh, man! A hug?!

MYP Magazine:
Isn’t that what music is all about? Being hugged?

Stephen Sanchez:
Yeah, well, I really love that, I’ve never really thought of it in that perspective before. Lately, I’ve been quite drawn to artists like Glen Campbell and Cat Stevens — artists with a comforting and hugging singer-songwriter style. I also just have to think of the song “Homeward Bound” by Simon & Garfunkel. It’s about yearning to return home, reflecting on one-night stands in various cities while on tour. The song captures the feeling of transience and the desire for a deeper connection. The idea of being homeward bound, going back to the person you love, resonates deeply with me. It’s like a big warm hug. Any song that revolves around this theme exudes a sense of comfort and tenderness in my opinion. The thought of heading back, all by yourself, evokes the feeling of a warm embrace as it brings to mind thinking about someone special.

»I’m now much better at expressing my love for someone outside of the musical world.«

MYP Magazine:
What would you say you can you express through your music that you can’t convey in an ordinary conversation?

Stephen Sanchez:
I feel like I’ve gotten better at expressing my feelings. When I was younger, I was using music for that. As I’ve met people in my life, such as the guys in the band and someone very dear to me, they’ve shown me that it’s totally okay to express your emotions and to experience them deeply. This was something I lacked while growing up; I didn’t have that sense of emotional security. Now, I find myself capable of communicating clearly.
In essence, I’m a blend of both. I find it more exquisite to sing a love song and let my emotions flow through music. It’s definitely my preferred method. However, I think I’m now much better at expressing my love for someone outside of the musical world. It’s a more profound form of connection. Yet, music remains a powerful means of expression, a very significant one, and it’s still my favorite.


Teddy Swims

Interview — Teddy Swims

»The older I get, the further I move from who I thought I was«

With »I've Tried Everything But Therapy (Part 1)« Teddy Swims presents his long-awaited debut album — a record that the vocal powerhouse from Atlanta has linked to a very special promise to himself. We met the warm-hearted and approachable artist in Berlin for a deeply personal interview: a conversation about mental health, the advantages of being a grown man, and the musical magic of Georgia.

15. September 2023 — Words by Jonas Meyer, photography by Maximilian König

In life, there are two types of encounters: those that fade after a short time, and those that linger in our memories for a long while. The encounter we had last Saturday in July definitely falls into category 2 — but not because it took place at Hole 44, a quirky venue on the southern outskirts of Berlin that appears more like a car workshop from the outside but has been hosting the most interesting music acts for some time now. Rather, it’s because we had the privilege to meet a human being whose approachability, warmth, and sincerity left a lasting impression on us.

The individual in question goes by the name Teddy Swims and is legally known as Jaten Dimsdale. How he’s addressed is of little concern to the 30-year-old. In any case, Teddy aka Jaten is unreserved and, after a brief yet friendly greeting, cheerfully leads us to the backstage area on the first floor, where we settle down on a small couch for the interview. Meanwhile, a dozen guys downstairs are setting up the band equipment on the stage, as the singer-songwriter, who is currently among the most hyped musicians in both the analog and digital realms, will be performing one of his few concerts in Germany here in a few hours.

The previous evening, Teddy Swims could be seen in Hamburg — or more accurately, could be heard, because his voice is nothing short of a force. Although we don’t typically resort to using press text terminology, we must make an exception here, for there’s no better way to describe this voice than with the term “vocal powerhouse.”

That Teddy would one day grace the stages of the world and generate millions of streams on the internet was by no means predestined for him. Jaten Dimsdale was born and raised in Atlanta, Georgia, as the grandson of a Pentecostal pastor. During his childhood and youth, he focused on football for many years before discovering musical theater, and then went on to play in several bands from high school onward, spanning genres from 80s glam metal, funk, modern metalcore, and soul to alternative country.

However, he truly gained recognition when he started covering famous songs on YouTube in 2019, including Lewis Capaldi’s “Someone You Loved” and George Michael’s “I Can’t Make You Love Me.” These videos were so successful that in early 2020, Warner Music took notice and signed him. After releasing numerous singles, his long-awaited debut album titled “I’ve Tried Everything But Therapy (Part 1)” was finally published today on September 15th — an album that Teddy has linked to a very special promise to himself…

»As I grow older, I think that everyone would benefit from therapy, myself included.«

MYP Magazine:
Teddy, your new record sounds like a basket full of soul and groove. Is there a specific personal emotion from which you wrote the album?

Teddy Swims:
I believe this record simply reflects the ups and downs of coping mechanisms I use in my life. When I came up with the title, “I’ve Tried Everything But Therapy,” I had in mind that the young generation of our time is the first one that is really openly talking about mental health and ways we can deal with issues like depression. As I grow older, I think that everyone would benefit from therapy, myself included. However, I feel that it’s still very hard for me to motivate myself to do it for whatever reason, even though I know it would be good for me. Maybe the reason lies in the way I was raised — I just feel like I’m terrified of going, you know?

»This album is my first step into trying to accept that some things are out of my control.«

MYP Magazine:
So, you’ve literally tried everything but therapy…

Teddy Swims:
Indeed, I haven’t tried it yet. But this album is my first step into openly discussing my own mental health with the world and engaging in sincere conversations about the ways I cope with things. Whether it’s drinking a lot of tequila, biting my nails or cheeks, or having any other tics, I have specific ways of dealing with things. However, as I already mentioned, there’s a deep-seated fear within me when it comes to considering therapy. Maybe it’s because I’m afraid of getting answers to questions I didn’t even want. That’s why this album, for me, is my first step into trying to accept that some things are out of my control; and that I can openly talk about my insecurities and hopefully be candid about my issues. By the way, I made a promise to myself that when the album comes out, that’s when I’ll start therapy. I’ll allow myself just a few weeks of fear, and then I’ll finally face it. (laughs)

MYP Magazine:
But don’t be afraid — be excited! Therapy can significantly improve your life.

Teddy Swims:
I believe I’ll feel that way. However, for some reason, something has been preventing me from pursuing it for many decades now. I don’t know what it is. That’s why I’ve made this promise to myself. And I think if I can share these thoughts right now, perhaps it will encourage someone else to take that step towards getting help too.

»To any parents out there: You should recognize the power you give your kids by allowing them to pursue their dreams.«

MYP Magazine:
Your father introduced you to soul music when you were a little boy. Would you say that was the point when you actually started creating your first album?

Teddy Swims:
I guess I always wanted that. I remember hearing Keith Sweat, Al Green, or Boyz II Men for the first time and just thinking, “God, I want to be that too!” I mean, I’ve never heard music like Al Green’s before. The moment I heard his voice, I was convinced that I would never forget it. And I still haven’t to this day — it changed me forever.
My dad raised me on a lot of good soul music, but he also introduced me to other genres like old hip hop, as well as country music from artists like George Strait and Alan Jackson. I really have to thank my dad a lot for my music taste, and he’s also the first person who encouraged me to become an actual musician. When I was 19, I was attending cosmetology school to learn about hair. He told me, “Son, if you want to pursue music as your career, you need to drop out of school immediately and focus on this without a backup plan.” He added, “Believe me, this is going to work.” I followed his advice, and now I’m here.
That’s why I’m so grateful to my dad. All I personally needed was his support; I just needed his permission to chase my dream, which meant dedicating my life to making music. He was completely supportive and just said, “Go for it, baby.” To any parents out there: You should recognize the power you give your kids by allowing them to pursue their dreams.

»Some of the best music ever, from every walk of life, has emerged from Georgia.«

MYP Magazine:
You were born and raised in Atlanta, Georgia. How did this place shape your understanding of pop culture and music in particular?

Teddy Swims:
Well, I’m very fortunate. You know, all the guys you see here today, the people touring with me, they’re all my best friends from school. For instance, there’s a guy named Jessie who has been my best friend since I was in sixth grade. His dad was the first person I knew who played guitar and sang. He used to be in bands, and we spent a lot of nights at his house when he was downstairs in the basement rehearsing old rock songs with his band. He introduced me to all the cool rock shit, like Van Halen or Pink Floyd. That also had a significant impact on my musical upbringing.
And just being from Georgia in general, a lot of country music comes out of Georgia, while hip hop largely originates from Atlanta. I mean, we had T.I., we had Jeezy, we had OutKast! There are numerous hip hop artists and soul musicians as well. Legends like James Brown, Otis Redding, and Ray Charles came from Georgia, among others. So, I would say that some of the best music ever, from every walk of life, has emerged from Georgia. It’s the most beautiful melting pot. I think just culture and people in general, I love it there.

»When I used to play in metal bands, literally the best way to express anger was to scream.«

MYP Magazine:
Wikipedia says: “Jaten Dimsdale is an American singer-songwriter, known for blending genres including R&B, soul, country, and pop.” That sounds like an old winemaker who blends a special cuvée from many different grapes. What is so charming about this way of making music?

Teddy Swims:
I love that comparison. I never really think about the genre when I’m in the process of making music. I just focus on which sounds would best help convey the emotion. And maybe certain genres are more suited to certain emotions than others. When I used to play in metal bands, literally the best way to express anger was to scream. You can’t really channel that level of anger in R&B, you know? But at the same time, in metal, you can’t really express love in the way you can in R&B or talk tenderly about the love of your life. And if you want to tell a compelling story in the right way, you have to lean more towards country, as it allows you to convey a chronological narrative. I believe that certain genres or styles of music are more adept at conveying specific emotions you want to portray. I’m always striving to match the emotion I want to express with the song’s style or genre, as they naturally align with that emotion.

»When I first opened my mouth, I wasn’t very good at it.«

MYP Magazine:
You grew up in a football-crazy family and played yourself for many years before discovering your passion for musicals and theater. What have these different worlds imparted to you for your life today? What experiences and lessons can you draw upon?

Teddy Swims:
I remember when I first got into musical theater, I went to my mom and said, “I think I don’t want to play football anymore. I just want to do this — only this.” Her response consisted only of crying and more crying. She said, “You’ve been playing football since you were six years old. Why would you do this?” She was so hurt by it. But I recall the first musical theater performance I did. I mean, I only had like two lines to say, but she heard me and she just said, “Maybe this is where you belong. This is your superstar moment.” I think in American Football, I wasn’t going very far at a height of 5’7’’ anyway. (smiles)
To be honest, becoming a musician wasn’t easy for me either, at least in the beginning. When I first opened my mouth, I wasn’t very good at it. Even though I improved my singing over time, I had actually fallen more in love with the process, the acting, and the emotions that come alive on stage. I just loved that. I felt so at home there. And I still do.

MYP Magazine:
But is there something that you learned in football that you can use today on stage as a musician?

Teddy Swims:
Yeah, I believe discipline. Very much so. Discipline is something I’ve taken away from my time in football. Getting up, moving your body, staying hydrated, and drinking water — these habits I learned from football are applicable. While what I do on stage isn’t as physically demanding as football, maintaining or improving my physical condition, adhering to discipline, waking up early, and starting my day with purpose are all lessons I’ve carried over. Additionally, football taught me about teamwork, leadership, and the importance of a sense of family. We’re all a team here.

»For the first time in my life, I feel like I’m truly a grown man.«

MYP Magazine:
You came comparatively late to a career as a professional musician. What is the advantage of entering this world as an adult compared to those teen stars?

Teddy Swims:
I think that only now I am finally ready for the storm that’s about to happen because even just three years ago, if I had experienced the success I’m having right now, I would have been drinking too much, partying too much, and doing cocaine too much. I would have constantly put fucking whatever up my nose and into my lungs.

MYP Magazine:
Or maybe you would have bought a Lamborghini…

Teddy Swims:
Yeah, buying stupid shit is another one of those behaviors. But I’m very aware that my priorities are in order. For the first time in my life, I feel like I’m truly a grown man. And I’m doing what people do who are grown men. I’m fortunate to be able to say that I’ve become someone people trust, that my close friends and I work together, and we make money together. Our health and well-being is crucial to keeping food on each other’s tables. I believe that if I were younger, my priorities would not be the same. So, I’m grateful to have the mindset I currently do and to know what truly matters in life. I feel that my priorities are heading in the right direction. And I’m no longer constantly getting hammered like I used to when I was a kid. (smiles)

»I believe that there is a certain set of words said in a certain way at a certain time that can fix any problem on the planet.«

MYP Magazine:
You have an hourglass tattooed next to your left eye. What does time mean to you in your life?

Teddy Swims:
I believe everything is about timing. Timing holds immense power. Just as you mentioned, if I had started earlier, I don’t think I would have been prepared for it. I think everything comes with divine timing, whether that’s guided by a higher power or something else. I believe that everything unfolds in its proper moment. And, when it comes to timing, I’m also a firm believer that there is a certain set of words said in a certain way at a certain time that can fix any problem on the planet. I truly hold the belief that if you convey the right message at the right time, it has the potential to heal almost anything.

»You have to choose love every day.«

MYP Magazine:
The second part of your artist’s name stands for “Someone Who Isn’t Me Sometimes.” What’s appealing about not being yourself occasionally?

Teddy Swims:
I’ll say it like this: The older I get, the further I move from who I thought I was — the person I was planning to be five or ten years ago. Today, I am so distant from what I thought I wanted and who I believed I was supposed to be or going to be, or how I perceived myself.
That name resonates more with me as I grow older because I am constantly evolving into somebody different. Over the last two years, I’ve felt like I’ve been three different people. The aspects of music that I’ve cherished, and the way this has become a career, have undergone a complete transformation for me. There are aspects of it that feel like a job; I had to retrain my brain, get rid of onerous habits, and remind myself to be grateful for being here.

MYP Magazine:
That sounds very challenging.

Teddy Swims:
Absolutely. Let’s put it this way: If you’re in a relationship for two years and you keep growing, it’s not like every day you wake up thinking, “Oh, it’s another wonderful day loving you. I’m so happy all the time.” You have to choose love every day. You have to rediscover yourself and let parts of you die every day to approach each day with a fresh perspective and tackle everything as it comes. Sometimes I’m not able to do that. I falter. Sometimes I wake up and think, “Okay, I just want to punch everybody. I don’t want to be around anyone.”
And then, I have to remind myself that I’m incredibly fortunate to be here. I look at myself in the mirror and say, “You are beautiful. You deserve this. You are good enough for this. You are good enough in general. You are lucky. Be thankful for being here!” So, a significant part of that name serves as a reminder to me that I will continue to grow and transform into someone else throughout every step of the journey ahead.

»Comparisons and expectations are the artist’s worst enemies.«

MYP Magazine:
There’s a following quote of you in your press kit: “I’m finally learning to trust my gut, stop trying to compare myself to people, and to just let me be authentic to the only me in the world.” Comparing yourself to others, for example on Instagram, seems to be causing more and more emotional damage in our society. What has comparing to others done to you?

Teddy Swims:
I think it completely made me such an insecure person. When I was coming up and doing covers, I covered so many great songs that are some of the best in the world. And when I tried to transition to making my own music and releasing that, I felt like I was holding myself to that same level of fame. But you can’t just step out and expect your own music to be like “I Can’t Make You Love Me.” It takes time. It takes years to develop. And not just that. You can’t compare where you don’t compete, you know? I always thought, “I’m not John Mayer, I’m not Otis Redding. I’ll never be like them and I’ll never beat that. I’m setting myself up for failure. I’ll hate everything I create.”

MYP Magazine:
A classical imposter syndrome…

Teddy Swims:
Rather a mental block. There was a time when I was experiencing severe writer’s block. I was at home during the holidays or Christmas. I started talking to my aunt and she said, “Son, you’re always in places like L.A., Nashville, or London, just writing, writing, writing, and we never see you. Yet, you’ve only released five songs. What are you doing all that time?” And I replied, “Well, I’m just trying to make sure I write something good.” She said, “Why do you only write the good ones?”
That hit me like a ton of bricks. I realized I can’t write great songs every time. I have to write the shitty ones, the bad ones as well. And that realization unlocked something for me. I understood that writer’s block only happens when you expect something to be good, when you compare it to your desired outcome and block out what’s actually there. The creative part of your brain wants to be free; comparisons and expectations are the artist’s worst enemies.

»Frank Ocean’s influence is deeply ingrained in my music.«

MYP Magazine:
The world became aware of you and your voice when you started covering famous songs on YouTube. If you could wish for a famous musician to cover one of your songs, which artist would that be, and which song?

Teddy Swims:
Damn, that’s a great question. When the new album comes out, there’s a song on it called “Last Communion,” and I believe it’s a beautiful song. Andrew Jackson, an incredible writer, wrote it, and I feel fortunate to have him as its creator. I think I would absolutely love to hear Frank Ocean sing that particular song. I feel like I leaned into my admiration for him. You can probably tell that structurally, it’s heavily influenced by him when you listen to it. His influence is deeply ingrained in my music. He’s my all-time favorite artist. I think you can discern a lot of his influence in my music. I would be thrilled to hear him sing that song. But actually, I don’t think Frank Ocean should cover any of my songs because he’s God, he’s the one. And I’m just a kid from Atlanta. (laughs)

MYP Magazine:
Not making yourself so small anymore is definitely something you learn in therapy.

Teddy Swims: (smiles)
That’s good to know. Like I mentioned before, I made this promise to myself, and I am a person who sticks to his promises.


Tina Pfurr

Interview — Tina Pfurr

»Ihr könnt mich alle mal, ich mach‘ das trotzdem«

Seit 2011 leitet sie das Ballhaus Ost, nun hört sie auf: Schauspielerin und Performance-Künstlerin Tina Pfurr blickt im Interview zurück auf zwölf außergewöhnliche Ballhaus-Jahre und ein Vierteljahrhundert Theaterarbeit. Ein Gespräch über patriarchale Machtstrukturen, toxische Körperideale und eine neue SWR-Sitcom aus einem Fitnessstudio, in dem wenig geschwitzt und sehr viel diskutiert wird.

8. September 2023 — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotografie: Osman Balkan

Es gibt Menschen, die haben nicht nur einen Job, sondern zwei. Manche haben sogar drei. Und Tina Pfurr hat vier. Mindestens. Denn die 42-Jährige arbeitet als Schauspielerin, Performance-Künstlerin, Hörspielsprecherin und leitet ein Theater. Okay, genau genommen sind es „nur“ dreieinhalb, denn sie teilt sich die künstlerische Leitung des Ballhaus Ost, einer freien Berliner Theaterspielstätte, mit ihrem Kollegen Daniel Schrader.

Geboren und aufgewachsen ist Tina Pfurr in Kassel. Nach dem Abitur und einem Jahr Regie- und Dramaturgie-Assistenz am Jungen Theater Göttingen zog sie 2001 nach Berlin. Hier stürzte sie sich nicht nur in ein Germanistik- und Philosophiestudium, sondern arbeitete bald auch mit dem renommierten Autor, Dramaturg und Regisseur René Pollesch zusammen. Seitdem war sie auch in etlichen Filmen und Fernsehserien zu sehen, spielte in diversen Theaterproduktionen, entwickelte ihre eigenen Performances und lieh einem halben Dutzend Hörspielen ihre Stimme. Daneben machte sie – zusammen mit Daniel Schrader und vielen anderen – das Ballhaus Ost zu einem national wie international anerkannten Ort für freies Theater.

Sein Zuhause hat das Ballhaus in der Pappelallee Nummer 15 im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg, genauer gesagt in der alten Feierhalle der Freireligiösen Gemeinde. Anfang des 20. Jahrhunderts neben dem Gemeindefriedhof errichtet, fanden in dem neuromanischen Backsteinbau fast 30 Jahre lang Jugendweihen, Trauungen, Trauerfeiern und sogenannte Sonntagserbauungsvorträge statt.

Nach der Auflösung der Gemeinde durch die Nazis im Jahr 1934 wurde das Gebäude samt Friedhof enteignet, nach dem Krieg nutzte man die Halle gastronomisch und taufte sie „Casino des Handwerks“. In den wilden Neunzigern wurde der Bau zu einem Billardsalon und Club umfunktioniert, aus dem historischen Friedhof wurde ein öffentlicher Park. Erst 2006 gründeten die Regisseure Uwe Moritz Eichler, Philipp Reuter und die Schauspielerin Anne Tismer hier das Ballhaus Ost, das sich heute als Spielstätte für freies Theater, Performance, Tanz, Musiktheater und Neue Musik versteht.

Seit 2011 ist Tina Pfurr hier als künstlerische Leiterin tätig – nun hat sie entschieden, das Ballhaus zum Jahresende zu verlassen. Das allein wäre schon Anlass genug für ein Interview. Aber da sie zudem seit heute in der neuen SWR-Fitcom „Sweat“ zu sehen ist (einer Sitcom, die in einem Fitnessstudio spielt), gibt es umso mehr Gesprächsbedarf.

Wir treffen die Frau mit den vier Jobs, von denen einer bald am Nagel hängt, an einem Sonntagnachmittag im Ballhaus Ost – ein bisschen im Geiste der sonntäglichen Erbauungsvorträge, die es einst hier gab, bevor die Nazis kamen. Eine mahnende Erinnerung, vor allem für die heutige Zeit.

»Ich kehre dem Theater nicht den Rücken. Ich mache nur eine Pause.«

MYP Magazine:
Tina, zum Jahresende wirst du die künstlerische Leitung des Ballhaus Ost abgeben – nach über zwölf Jahren. Warum hörst du auf?

Tina Pfurr:
Ach, in meinem Leben ist es einfach mal wieder Zeit, etwas anderes zu machen. Ich bin ein eher rastloser Mensch und brauche immer wieder neue Herausforderungen. Und was das Ballhaus betrifft, ist meine Geschichte hier so ziemlich auserzählt. Aber das ist auch völlig okay. Wir haben in den letzten zwölf Jahren an diesem Ort so viel aufgebaut und angeschoben, dass ich mein Amt guten Gewissens abgeben kann.

MYP Magazine:
Hast du schon eine Idee, was danach kommen soll?

Tina Pfurr: (lacht)
Erst mal ein bisschen Pause! Ich befinde mich seit vielen Jahren in einem Zustand, in dem ich ständig an diversen Dingen gleichzeitig arbeite. Ich frage mich schon eine ganze Weile, wie das alles auf Dauer funktionieren soll. Gerade in den letzten Monaten habe ich neben dem Job im Ballhaus so viel gedreht, dass ich das Gefühl hatte, den vielen Aufgaben nicht mehr in dem Maße gerecht werden zu können, wie ich das gerne würde. Daher möchte ich ab Januar einfach nur drehen und schauen, was noch so passiert. Aber ich kehre dem Theater nicht den Rücken. Ich mache nur eine Pause.

»Wir haben hier jahrelang praktisch zu viert ein ganzes Theater geschmissen.«

MYP Magazine:
Zwölf Jahre sind eine lange Zeit. Worauf bist du besonders stolz, wenn du auf dieses Kapitel zurückblickst? Und was wirst du am meisten vermissen?

Tina Pfurr:
Besonders stolz bin ich auf das, was wir aus dem Ballhaus gemacht haben. Das war zwar schon immer ein kleiner, feiner Ort, an dem viel los war, aber für den es kaum Geld gab. Wir haben hier jahrelang praktisch zu viert ein ganzes Theater geschmissen – mein Leitungskollege, ich und zwei Techniker:innen. Doch dadurch, dass wir das Programm anders kuratiert und mit viel mehr Leuten zusammengearbeitet haben, konnten wir uns im Laufe der Jahre inhaltlich und personell erweitern und uns Stück für Stück etwas aufbauen. Heute kann ich sagen, dass wir das Ballhaus Ost zu einem sehr anerkannten Ort gemacht haben. Und dank einer vierjährigen Konzeptförderung des Berliner Senats hat dieser Ort mittlerweile elf Festangestellte.

»Nur weil das Theater nach außen progressiver wirkt, heißt das noch lange nicht, dass wir hier nicht auch unter eingefahrenen, patriarchalen Strukturen leiden.«

MYP Magazine:
In Deutschland werden weniger als ein Viertel aller Theater von Frauen geleitet. Woran liegt das? Versteht sich das Theater nicht als Ort des gesellschaftlichen Fortschritts?

Tina Pfurr:
Ach was! Nur weil das Theater nach außen progressiver wirkt als andere Berufsbereiche, heißt das noch lange nicht, dass wir hier nicht auch unter eingefahrenen, patriarchalen Strukturen leiden, die sich nur langsam und mit Mühe auflösen. Und da schließe ich die großen Stadttheater ausdrücklich mit ein. Und so ist es leider immer noch so, dass es in unserer Branche zwar viele Dramaturginnen und Kostümbildnerinnen gibt, aber immer noch sehr wenige Frauen in Leitungspositionen.
Als Daniel und ich vor zwölf Jahren gemeinsam die künstlerische Leitung übernommen haben, war das in der klassischen Theaterwelt dreifach spektakulär. Erstens, weil wir beide erst Anfang 30 waren. Zweitens, weil wir als Duo angetreten sind. Und drittens, weil sich in dieser sogenannten Doppelspitze eine Frau befand. Für die freie Theaterszene war das zwar nicht ungewöhnlich – da gab es schon immer mehr Frauen und man hatte schon früh verstanden, dass eine Struktur, in der allein eine Person die Macht beziehungsweise das Sagen hat, nicht funktioniert. Aber in den großen Stadttheatern ist das bis heute nicht angekommen.

»Was sich verbessert hat: dass mehr Frauen da sind, die auch mehr zu sagen haben.«

MYP Magazine:
Die Theater-, aber auch die Filmbranche hat sich vor allem in den letzten Jahren stark gewandelt, einerseits durch gesellschaftspolitische Bewegungen wie #ActOut oder #MeToo, andererseits bedingt durch Krisen wie Corona. Wie hast Du selbst die Entwicklung der letzten 20 Jahren erlebt? Was hat sich zum Besseren verändert?

Tina Pfurr:
Was sich tatsächlich verbessert hat: dass mehr Frauen da sind, die auch mehr zu sagen haben. Das konnte ich an meinem eigenen Werdegang erleben. Ein Beispiel: Wenn wir – vor allem in den ersten Jahren unserer Dienstzeit – eine Einladung zu einem Panel erhalten haben, war die in der Regel an Daniel gerichtet, den männlichen Teil des Leitungsduos. Diese Praxis hat sich mit der Zeit geändert. Allerdings bin ich mir auch heute nie ganz sicher, ob es an irgendeiner Quote oder doch an meiner Kompetenz liegt, dass ich als Frau auf so ein Panel muss. Oft ist mir das aber auch echt egal. Hauptsache, es gibt vor Ort eine weibliche Stimme.
Darüber hinaus sehe ich, dass heute mehr Stimmen gehört werden als noch vor 20 Jahren; dass Leute auch in anderer Aufstellung Theater machen; und dass immer mehr Menschen aus den performativen Künsten oder den angewandten Theaterwissenschaften an die Bühnen kommen – statt wie früher aus den Germanistik- oder Regiestudiengängen. Dadurch hat sich über die Jahre die Machart und Erzählweise von Theater stark verändert. Die Leute wissen heute besser, was sie wollen, und haben mehr Ansprüche an sich und ihre Geschichten.

MYP Magazine:
Und wo gibt es noch offene Baustellen?

Tina Pfurr:
Neben den veralteten Strukturen ist vor allem das Thema Geld ein großes Problem. Gerade an freien Theatern erleben wir immer noch, wie sich die Theaterschaffenden selbst ausbeuten – weil einfach die finanzielle Grundlage für ihre Arbeit fehlt oder unzureichend ist. Im Ballhaus Ost zum Beispiel gleichen wir zwar gerade die Löhne an aktuelle Tarifniveaus an. Aber leider ist es in der Branche nach wie vor bittere Realität, dass viele Produktionen gerade einmal Mindesthonorare zahlen können.

»Wir dürfen Nazis in unseren Häusern keine Plattform bieten.«

MYP Magazine:
In Deutschland müssen wir gerade erleben, wie eine rechtsextreme und demokratiefeindliche Partei quer durch die Gesellschaft an Zustimmung gewinnt. Ihr menschenverachtendes Gedankengut scheint sich wie ein Lauffeuer zu verbreiten. Welchen Handlungsauftrag muss die deutsche Theaterlandschaft daraus für sich ableiten – das Ballhaus Ost mit eingeschlossen?

Tina Pfurr:
Es ist auch im Theater spürbar, dass der Druck und der Handlungsbedarf größer werden. Wir – und damit meine ich jede:n Einzelne:n – dürfen Nazis in unseren Häusern keine Plattform bieten. Wir müssen in relevanten Gesprächen und Diskussionen unsere Stimme erheben und dürfen uns nicht einschüchtern lassen. Ganz im Gegenteil: Wir müssen uns positionieren, solidarisieren und zusammenschließen, um gemeinsam gegen diesen Drift nach rechts standzuhalten. Das geschieht zum Beispiel durch Veranstaltungen, die von den Theaterhäusern gemeinsam organisiert werden. Oder durch Zusammenschlüsse mit Initiativen wie DIE VIELEN: ein Verein, der bis 2022 aktiv war und sich für eine offene, solidarische, vielgestaltige und demokratische Gesellschaft eingesetzt hat – ein wichtiger Impulsgeber für die Kunst- und Kulturszene.
Aus diesem Grund kann ich keinen konkreteren Auftrag für die Theaterlandschaft ableiten, als einfach weiter zu existieren und kreativen Menschen eine Bühne zu geben, die etwas zu erzählen haben. Hier im Ballhaus Ost ist das besonders wichtig, da wir selbst keine Stücke produzieren. Wir bieten Künstler:innen lediglich einen Ort, an dem sie relevante Themen behandeln können und dies auch tun. Die beängstigende Zunahme von Menschenhass und Nationalismus in unserer Gesellschaft ist übrigens so ein Thema.

»Die Theaterwelt versucht oft, besonders intellektuell daherzukommen.«

MYP Magazine:
Welche Stücke, Filme oder TV-Formate, die Du in der letzten Zeit gesehen hast, geben Dir in der aktuellen Lage Hoffnung?

Tina Pfurr: (grinst)
Muss ich jetzt „Barbie“ sagen?

MYP Magazine:
Du kannst natürlich „Barbie“ sagen.

Tina Pfurr:
Mir fällt da jetzt gar nicht unbedingt eine Serie oder ein Format ein. Es gibt aber viele Menschen und Gruppen, die mir gerade Hoffnung machen. Weil sie sich besonders ausführlich mit den Dingen beschäftigen, mit denen man sich in unserer Welt beschäftigen muss. Überhaupt machen mir alle Leute Hoffnung, die noch in der Kulturbranche arbeiten, vor allem im Theaterbereich.

MYP Magazine:
Die Themen, aber auch die Ensembles der vielen Theaterbühnen in Deutschland wurden über die letzten Jahre zunehmend diverser. Das Publikum dagegen wirkt in den meisten Fällen immer noch sehr homogen: Theater scheint nach wie vor ein Ort für das weiße Bildungsbürgertum zu sein. Wie kann es Eurer Branche gelingen, ein weniger exklusiver Ort zu sein?

Tina Pfurr:
Theater ist immer noch irrsinnig elitär, das stimmt. Für eine einzelne Karte zahlt man schnell mal 30, 40 Euro. Das ist für viele Menschen wahnsinnig viel Geld – und auch ich würde mir bei den Preisen zweimal überlegen, ob und wann ich ins Theater gehe. Darüber hinaus versucht die Theaterwelt oft, besonders intellektuell daherzukommen. Dabei braucht es das gar nicht, man kann viele Geschichten auch einfacher erzählen. Alleine deshalb ist dieser „Ich gehe ins Theater“-Lifestyle für viele Menschen nicht sexy. Und ganz ehrlich? Das kann ich verdammt gut nachvollziehen. Ich selbst war zum Beispiel in letzter Zeit mehrfach in großen Stadttheatern und weiß, warum mich das eigentlich nicht interessiert und mir das Publikum dort zu homogen ist.
Bitte nicht falsch verstehen: Natürlich kann man auch aus Stadttheatern etwas mitnehmen und ich will, dass so etwas weiter stattfindet. Dennoch glaube ich, dass Theater mehr Spaß macht, wenn es zugänglicher und ungezwungener ist. Wie etwa in der freien Theaterszene, wo man in der Regel nicht den puren klassischen Stoff behandelt – oder sich mit diesem inhaltlich anders auseinandersetzt.

»In Kassel gab es für mich zu wenig Erzählung.«

MYP Magazine:
War es am Ballhaus Ost eigentlich jemals ein Problem, dass du eine Westdeutsche bist?

Tina Pfurr: (lacht)
Nee, das haben hier auch alles Wessis gegründet! Aber an der Volksbühne war das anfangs ein Thema, weil ich dort die einzige Westperson unter Ostberliner:innen war. Aber irgendwann hat sich das auch gelegt.

MYP Magazine:
Apropos Westdeutschland: Du bist 1980 in Kassel geboren und auch dort aufgewachsen. Welche Erinnerungen hast Du an die Achtziger- und Neunzigerjahre? Was war das für ein Land – aus gesellschaftlicher, politischer und kreativer Perspektive?

Tina Pfurr:
Hmm, daran habe ich nicht wirklich eine Erinnerung. Auf jeden Fall war es immer so, dass meine Eltern mir ein Gefühl von Freiheit gaben – und davon, dass im Leben sehr viel möglich ist.

MYP Magazine:
Dabei ist es nicht unbedingt gewöhnlich, dass Kinder im Elternhaus auf Zustimmung stoßen, wenn sie sagen, sie möchten jetzt Theater machen oder Schauspielerei studieren.

Tina Pfurr: (grinst)
Das habe ich denen ja erst mal nicht gesagt. Aber im Ernst: Meine Eltern haben immer voll und ganz hinter meinen beruflichen Entscheidungen gestanden. Aber da ich nicht aus einem reichen Elternhaus komme, habe ich sehr früh angefangen, neben der Schule zu arbeiten. Ich wollte finanziell so früh wie möglich auf eigenen Beinen stehen. Aus diesem Grund hatten meine Eltern zu meinem Berufsweg theoretisch nicht viel zu sagen, weil sie dafür ja nicht zahlen mussten – obwohl sie das auch gerne getan hätten.
Um auf die ursprüngliche Frage zurückzukommen: Ich hatte in meiner Jugend zunehmend das Gefühl, dass mir in Kassel alles zu eng wurde. Als piefig würde ich die Stadt zwar nicht bezeichnen, viel los ist da aber trotzdem nicht. Außer vielleicht, wenn gerade Documenta ist. Als ich etwa 17, 18 war, habe ich gespürt, dass ich da schnell raus muss. In Kassel gab es für mich zu wenig Erzählung. Und zu wenig zu tun.

»In Berlin habe ich erst mal in einer Bäckerei Brötchen geschmiert – morgens um vier, wenn alle anderen nach Hause torkelten.«

MYP Magazine:
Du bist 2001 auf gut Glück nach Berlin gezogen. Was war das für eine Zeit in Deinem Leben?

Tina Pfurr:
Ich habe nach dem Abi erst mal in einem Göttinger Theater gearbeitet. Das war ziemlich krawallig… im Gegensatz zu Kassel war da richtig was los.

MYP Magazine:
Und das in Göttingen.

Tina Pfurr:
Ja, und das in Göttingen. Damals waren dort ständig Popliteraten wie Alexa Hennig von Lange oder Rainald Goetz zu Gast, deren Texte bei uns inszeniert wurden. Da ich schon als Teenager immer nach Berlin wollte, habe ich Anfang der 2000er unter anderem an diversen Berliner Schauspielschulen vorgesprochen. Mein Glück war, dass ich vom Göttinger Theater eine Dramaturgin kannte, die in Berlin eine Wohnung hatte. Dort konnte ich eine Woche lang übernachten. In dieser Woche habe ich durch Zufall jemanden kennengelernt, der seine Wohnung loswerden wollte. Und dann habe ich einfach gesagt: „Ich nehm‘ die.“ Kurz darauf habe ich den Mietvertrag unterschrieben, bin hierher gezogen und habe dann erst mal in einer Bäckerei in der Friedrichstraße Brötchen geschmiert – morgens um vier, wenn alle anderen aus den Clubs nach Hause torkelten.

»Bei Pollesch habe ich gelernt, dass es bei Theater nicht um Perfektion geht, sondern darum, Inhalte voranzutreiben.«

MYP Magazine:
Bereits in deinem ersten Berlinjahr hast du angefangen, mit dem berühmten Autor, Dramaturg und Regisseur René Pollesch zusammenzuarbeiten. Wie kam es dazu?

Tina Pfurr:
Eines Tages rief mich die Dramaturgin aus Göttingen an, die mittlerweile im künstlerischen Betriebsbüro der Berliner Volksbühne arbeitete. Sie sagte: „Wir haben in anderthalb Wochen Premiere und unsere Souffleuse ist krank geworden. Hast du nicht Lust, das zu übernehmen? Das hast du ja eh schon mal gemacht.“ Und so bin ich da reingerutscht.

MYP Magazine:
Als René Polleschs „Stamm-Souffleuse“ hast du neben den Schauspieler:innen auf der Bühne gestanden – als gleichwertiger und vor allem sichtbarer Teil des Geschehens. Wie hat Dich diese insgesamt 17-jährige Zusammenarbeit geprägt – künstlerisch, beruflich und privat?

Tina Pfurr:
Geprägt haben mich diese rund 30 Produktionen in vielerlei Hinsicht. Unter anderem habe ich gelernt, dass es bei Theater nicht um Perfektion geht, sondern darum, Inhalte voranzutreiben. Dafür ist die Souffleusen-Position ein gutes Beispiel. Warum sollte man sie verstecken? Sie ist ebenso ein Teil der Inszenierung. Und den sollte man dem Publikum nicht vorenthalten. Bei Pollesch stand immer die gemeinschaftliche Arbeit im Zentrum. Alle hatten die Möglichkeit, sich einzubringen und an der Diskussion zu beteiligen, egal ob Schauspielerin, Praktikant oder eben Souffleuse.
Überhaupt habe ich bei Pollesch eine Theater-Philosophie kennengelernt, die ich noch immer gut finde. Da geht es nicht darum, einen alten, klassischen Text zu reproduzieren – sondern andere Formen von Theater zu erschaffen. Die des Aushaltens zum Beispiel, bei Stücken, die sehr lange sind. Man muss wissen, dass es Anfang der 2000er noch etwas total Neues war, auf der Bühne diese enormen Textmassen zu wälzen, bei denen man nicht hinterherkommt und sich dauernd fragt, was das soll. Bei Pollesch gelingt es einem erst nach und nach, sich an einen interessanten Gedanken anzudocken und diesen im Laufe des Stückes zu verfolgen. Wenn man an diesem Punkt angekommen ist, versteht man, was die Texte mit dem eigenen Leben zu tun haben – so ging es mir auch. Davon zehre ich noch heute.

»Ich war bisher immer diejenige, die alle Leute im Freundeskreis informieren muss, dass wieder jemand gestorben ist.«

MYP Magazine:
Mit deinem eigenen Leben hat auch eine performative Arbeit zu tun, die du vor zwei Jahren der Öffentlichkeit vorgestellt hast. »I just called to say… sHe’s dead.« besteht aus fünf Video-Miniaturen, in denen du dich intensiv mit den fünf Phasen der Trauer auseinandersetzt. Was genau war dafür der Auslöser?

Tina Pfurr:
Die Tatsache, dass in meinem Freundeskreis in den letzten 20 Jahren ungewöhnlich viele Personen ums Leben gekommen sind – und viele nicht auf natürliche Art und Weise. Das ist für mich ein riesengroßes Thema, denn ich war oft diejenige, die man als erste anruft – und die dann alle Leute im Freundeskreis informieren muss, dass wieder jemand gestorben ist.
Ich habe all die Jahre einen Weg gesucht, mit dieser Belastung umzugehen und das Erlebte mit anderen zu teilen – mit Leuten aus meinem eigenen Umfeld, aber auch mit Fremden. Als die Performance vor zwei Jahren online präsentiert wurde, bin ich auf eine sehr große Resonanz gestoßen. Viele Menschen haben mir ihren Dank dafür ausgedrückt, dass ihnen für dieses sensible Thema ein Ort geboten wurde, an dem sie selbst mittrauern konnten. Oder dass es ihnen abgenommen wurde, mit einem Baseballschläger auf dieses Thema draufzuschlagen, wie es in einem der Videos zu sehen ist.

»Ich mag es viel mehr, die Alltagskomplexität eines normalen Menschen sichtbar zu machen, als irgendeine unrealistische, Indiana-Jones-artige Heldenfigur zu spielen.«

MYP Magazine:
In den letzten zwei Dekaden hast du nicht nur an und in unzähligen Theaterproduktionen mitgewirkt, sondern warst auch in diversen Serien und Filmen zu sehen. Dabei tauchst du mit Deinen Figuren immer wieder in die Lebenswirklichkeiten von Menschen aus verschiedensten gesellschaftlichen Milieus ein. Was reizt Dich so an Stoffen, die im normalen Alltag verortet sind und die Seele des „kleinen Mannes“ bzw. der „kleinen Frau“ sezieren?

Tina Purr:
Weil mich das am meisten interessiert! Ich interessiere mich generell für das, was das Leben ausmacht. Dazu gehört übrigens auch der Tod – nur leider redet unsere Gesellschaft über dieses Thema nicht so gerne. Dabei wäre es so wichtig, sich darüber mehr auszutauschen.
Was meine Rollen angeht, mag ich es tatsächlich viel mehr, die Alltagskomplexität eines normalen Menschen sichtbar zu machen, als irgendeine unrealistische, Indiana-Jones-artige Heldenfigur zu spielen. Im normalen Leben passiert doch eh schon genug. Ich selbst finde Filme spannend, die von oben in irgendeine Stadt reinzoomen, dort für einen Moment das Leben von normalen Menschen beleuchten und deren Geschichten erzählen.

»Wenn ich heute auf die deutsche Comedy-Szene schaue, sehe ich eine helle und eine dunkle Seite der Macht.«

MYP Magazine:
Im Jahr 2008 hast du eine Rolle in der Comedy-Serie „Torstraße intim“ übernehmen, die auf der damals noch jungen Online-Plattform YouTube veröffentlicht wurde. In einem Tagesspiegel-Artikel von damals heißt es, diese Art von Humor habe es zuvor in deutschen TV-Serien eher selten gegeben. Das Genre sei hierzulande nicht für Experimente offen, daher sei die Serie gleich fürs Internet konzipiert worden. Hat sich das Humorverständnis der Deutschen mittlerweile entspannt?

Tina Purr: (lacht)
Es ist noch immer eine Katastrophe, dass „Torstraße intim“ nicht erfolgreich wurde – wir waren einfach zu früh…
Ob man das Humorverständnis der Deutschen wirklich entspannt nennen kann, weiß ich nicht. Auf jeden Fall hat es sich verändert – nicht zuletzt durch die Vielzahl der Medien und Plattformen, die es heute gibt. 2008 konnten wir gerade mal auf MySpace und YouTube zurückgreifen, das damals noch in den Kinderschuhen steckte. Hätte es damals schon TikTok gegeben, wäre unsere Serie vielleicht viel eher durchgestartet.
Wenn ich heute auf die deutsche Comedy-Szene schaue, sehe ich eine helle und eine dunkle Seite der Macht: Auf der hellen Seite stehen Comedians, die sich in ihren Formaten mit dem normalen Leben von Menschen auseinandersetzen. Auf der dunklen Seite findet man dagegen Konzepte, bei denen es die ganze Zeit um nichts anderes geht, als Leute zu mobben und auf ihnen herumzuhacken…

MYP Magazine:
Hast du ein Beispiel?

Tina Pfurr:
Ich denke da etwa an dieses stumpfe „Ich rede dauernd abschätzig über Frauen“-Zeug. Von diesen Comedians, bei denen es immer nur darum geht, eine bestimmte Gruppe schlecht zu machen, gibt es in Deutschland echt viele. Oder besser gesagt zu viele. Dass es auch anders geht, zeigen die vielen wirklich talentierten Komiker:innen, die es in Deutschland ebenfalls gibt – und die oft auch sehr gute Schauspieler:innen sind. Wie zum Beispiel Anke Engelke.

»Die Charaktere wirken wie ganz normale Leute – und nicht wie langweilige Standard-Schönheiten.«

MYP Magazine:
Mit deiner Rolle in der neuen SWR-Serie „Sweat“ bist du erneut in einer deutschen Comedy-Serie zu sehen, die speziell fürs Internet entwickelt wurde – genauer gesagt für die Mediathek, die es Ende der Nullerjahre auch noch nicht gab. In der Serie spielst du die Figur Ezra, die als Stammkundin ständig im Fitnessstudio „Perle“ herumhängt. Was hat Dich an dem Format gereizt?

Tina Purr:
Ich finde „Sweat“ vor allem aus zwei Gründen interessant. Erstens, weil es in einem Fitnessstudio spielt – soweit ich weiß, gab es das zuvor noch nicht, bisher waren vergleichbare Formate ja eher im Büro oder im Supermarkt angesiedelt. Und zweitens mag ich „Sweat“ so, weil die sechs Hauptcharaktere einerseits so divers sind und andererseits miteinander arbeiten und interagieren müssen. Dabei wirken sie alles in allem trotzdem wie ganz normale Leute – und nicht wie langweilige Standard-Schönheiten, die man sich für gewöhnlich in so einem Gym vorstellen würde.

»Für Ezra ist dieser Ort ein safe space, an dem sie Zuflucht findet und so akzeptiert wird, wie sie ist.«

MYP Magazine:
Deine Figur Ezra wirkt ein bisschen wie der Charakter Schildkröte in „Dittsche“, der in vielen Folgen einfach permanent im Hintergrund auf einem Hocker sitzt – nur dass sich Ezra viel aktiver am Geschehen beteiligt.

Tina Pfurr:
Aber auch das ist doch wie im echten Leben. In jedem Gym, in jeder Kneipe, in jedem Theater gibt es diese eine Person, die eigentlich nicht zum Team gehört, aber dennoch immer da ist – und die man daher auch irgendwie anders respektiert als „reguläre“ Gäste.

MYP Magazine:
Gibt es im Ballhaus Ost auch so jemanden?

Tina Pfurr: (hüstelt absichtlich)
Kein Kommentar!

MYP Magazine:
Bleiben wir bei deinem Charakter: Was ist Ezra für ein Mensch? Warum verbringt sie so viel Zeit in der „Perle“ und tut sogar so, als würde sie dort arbeiten?

Tina Pfurr:
Für Ezra ist dieser Ort ein safe space, an dem sie Zuflucht findet und so akzeptiert wird, wie sie ist. Dazu kommt, dass ihre Meinung von allen sehr geschätzt wird. Ich glaube, ohne die Menschen aus dem Studio wäre Ezra oft allein in ihrem Leben, die „Perle“ ist für sie ein Familienersatz. Daher hängt sie da ständig rum.

»So ein Fitnessstudio ist halt ein Mikrokosmos, der den Querschnitt einer ganzen Gesellschaft abbildet.«

MYP Magazine:
In der Serie erleben wir unter anderem, wie Ezra mit Detlev Buck für ein Schäferstündchen in der Sauna verschwindet und fünf durchtrainierte Typen bei einem Power-Workout an ihre Belastungsgrenze bringt. Wie hast du die Dreharbeiten erlebt? Darfst du ein wenig aus dem Nähkästchen plaudern?

Tina Pfurr:
Diese Serie war eines der schönsten Projekte, in denen ich bisher mitwirken durfte. Das gesamte Team war superjung, der Dreh entsprechend lustig und entspannt und man war die ganze Zeit on set. Das bedeutet: Die Produktion fand an einer einzigen Location statt, einem ehemaligen Fitnessstudio in einem Marzahner Einkaufszentrum. So etwas ist ein großer Vorteil, da man nicht die ganze Zeit zwischen verschiedenen Drehorten hin- und herfahren muss, wobei man auch gerne mal vereinsamt. Insgesamt hatten wir nicht nur persönlich eine wahnsinnig gute Zeit, es konnte sich auch schauspielerisch sehr viel entwickeln – alleine dadurch, dass wir permanent aufeinandersaßen, vor und hinter der Kamera.

MYP Magazine:
Anders als der Titel vermuten würde, wird in „Sweat“ wenig geschwitzt, dafür aber so gut wie jedes Thema verhandelt, das unserer Gesellschaft gerade unter den Nägeln brennt: von Bodyshaming bis Jugendwahn, von sexueller Nötigung bis political correctness, vom schönen Schein des Influencertums bis zur biederen Tristesse des Analogen. Was kann man als Zuschauer:in aus der Serie mitnehmen? Warum sollte man sich „Sweat“ anschauen?

Tina Pfurr:
Weil es lustig ist. Weil es divers besetzt ist. Und weil die Behandlung der verschiedenen Themen nicht so zeigefingermäßig-plakativ stattfindet. „Sweat“ will kein aufklärerisches Werk sein, sondern ist eher subtil und nebenbei erzählt. Wir haben während des Drehs auch viel miteinander diskutiert, ob man einzelne Texte so sagen kann oder will. Und an welchen Punkten man persönlich den Eindruck hat, vielleicht selbst gemeint zu sein, und sich deshalb angegriffen fühlt. So ein Fitnessstudio ist halt ein Mikrokosmos, der den Querschnitt einer ganzen Gesellschaft abbildet und an dem die unterschiedlichsten Meinungen, Überzeugungen und Lebensphilosophien aufeinander treffen. Daher glaube ich, dass sich viele Zuschauer:innen in unseren Charakteren wiederfinden werden.

»Weiß und schlank war damals die Norm auf Schauspielschulen – für jede Abweichung davon fehlte den Leuten die Fantasie.«

MYP Magazine:
Die Serie thematisiert auch den Fitness- und Schönheitswahn unserer Gesellschaft, mal auf lustige, mal auf ernsthafte Art und Weise. Dabei geht es unter anderem um ein idealisiertes Körperbild, dem viele nicht entsprechen können oder wollen. Wie erlebst du persönlich die Film- und Theaterbranche in Bezug auf dieses Thema?

Tina Pfurr:
Die Branche hat sich in den letzten Jahren sehr verändert und normalisiert. Ich erinnere mich noch gut, wie ich vor 20 Jahren, als ich an Schauspielschulen vorgesprochen habe, die ganze Zeit nur aufs Maul gekriegt habe. Auch wenn ich damals schon recht sportlich war und mich in den einzelnen Rollen körperlich richtig verausgabt hatte, hieß es trotzdem nur: „Wir wüssten jetzt nicht, warum wir sie mit ihrem Körper annehmen und ausbilden sollten. Wir hätten auch gar keine Idee, wohin wir sie vermitteln sollten. Die Julia werden sie ja eh nie spielen können. Und immer nur die Amme sein, das wollen sie ja sicher auch nicht.“ Weiß und schlank war damals die Norm auf Schauspielschulen – für jede Abweichung davon fehlte den meisten die Fantasie.

»Man ist nicht einfach nur eine Person, die eine Rolle spielen soll. Man ist eine dicke Person, die eine Rolle spielen soll.«

MYP Magazine:
Wie bist du damit umgegangen?

Tina Pfurr:
Diese Ablehnung hat mich aber eher motiviert als deprimiert. Ich dachte nur: „Ihr könnt mich alle mal, ich mach‘ das trotzdem.“ Daher ist es für mich umso schöner, dass es irgendwann doch geklappt hat – vor allem, wenn ich manchmal wieder vor den Leuten stehe, die mir vor 20 Jahren gesagt haben, dass es keinen Weg für mich gibt.
Ebenso schön ist es für mich, dass das Thema Körper mittlerweile gesamtgesellschaftlich diskutiert und normalisiert wird. Dennoch ist es für jemanden wie mich noch immer nicht ganz einfach. Oft weiß ich schon im Vorfeld, dass ich eine Rolle nicht erhalte oder als Klischee besetzt werde – weil sich viele Verantwortliche nicht vorstellen können, dass ich das spielen kann. Bei vielen Kostümbildner:innen ist es genauso: Da fehlt in der Regel die Fantasie, mir etwas anderes anzuziehen als eine klassische Bluse mit einer weiten Strickjacke darüber. Wenn ich überlege, wie oft ich schon für eine Rolle sogenannte Dickenmode anprobieren musste! In solchen Momenten ist man nicht einfach nur eine Person, die eine Rolle spielen soll. Man ist eine dicke Person, die eine Rolle spielen soll.

MYP Magazine:
Na, Gott sei Dank haben wir heute im Adidas-Onesie geshootet.

Tina Pfurr:
Eine Strickjacke hätte ich auch nicht im Schrank gehabt.


Julia Penner

Interview — Julia Penner

»Opfer sind mehr als die Tat, die ihnen passiert ist«

Wie handelst du, wenn deine beste Freundin eine Affäre mit deinem Vater beginnt – und ihn nach der Trennung der Vergewaltigung beschuldigt? Diesem ethischen und juristischen Konflikt muss sich in der ARD-Miniserie »37 Sekunden« die Musikertochter Clara stellen, die ausgerechnet Anwältin ist. Wir treffen Drehbuchautorin Julia Penner an ihrem heimischen Arbeitsplatz – wo die Idee zur Geschichte entstand.

3. August 2023 — Interview & Text: Katharina Viktoria Weiß, Fotografie: Alicia Pfeifer

Drehbuchautorin Julia Penner hat sich mit der ARD-Serie „37 Sekunden“ an ein wuchtiges Thema gewagt: die Grauzone zwischen Vergewaltigung und einvernehmlichem Sex. Um diesen Konflikt zu erzählen, hat sie sich eine Familie mit viel Fallhöhe ausgesucht:

Der Musiker Carsten Andersen – vom Status her eine Art Herbert Grönemeyer oder Marius Müller-Westernhagen – bereitet sich auf seine Comeback-Tour vor. Bei seiner Geburtstagsfeier taucht ein unerwarteter Gast auf: Leonie, die beste Freundin seiner Tochter Clara. Die 32-jährige Sängerin hatte, was niemand weiß, eine leidenschaftliche Affäre mit dem Star, dessen poetisch-politische Musik sie seit Kindertagen liebt. Obwohl beide wissen, dass es vorbei ist, kommen sie sich mit aufgeladener Leidenschaft nochmals nahe. Leonie möchte keinen Sex, doch Carsten übergeht ihr „Nein“. Als sie ihrer besten Freundin das verstörende Erlebnis schildert, ohne einen Namen oder den Ort zu nennen, ist das für Clara eine klare Vergewaltigung. Doch als die Anwältin erfährt, um wen es sich handelt, ändert sie ihre Meinung…

Julia Penner, die an der HfS Ernst Busch Schauspiel und später an der DFFB Drehbuch studierte, erzählt von 37 Sekunden, die das Leben mehrerer Menschen für immer verändern. Zusammen mit ihrem Co-Autor hat sie eine für Deutschland ungewöhnliche Serie geschaffen: Denn obwohl das Thema hart aufschlägt und juristisch präzise verhandelt wird, bestechen Bilder und Dialoge durch eine feine Sinnlichkeit. Diese machen dem Publikum den ernsten Stoff nicht nur erträglicher, sondern heben gleichzeitig die Dringlichkeit hervor, sich mit den Motiven der Handlung auseinanderzusetzen.

Wir treffen Julia Penner an ihrem Arbeitsplatz: in ihrer Kreuzberger Wohnung. Dort, zwischen ihrem Lieblingssessel und ihrem Bett, erfindet sie große Geschichten – und erzählt uns, wie man gute Frauenfiguren entwickelt, was ihre Serie vom Fall Lindemann unterscheidet und von wem sie am meisten über das Schreiben gelernt hat.

»Schon als Schauspielerin habe ich immer Musik gehört, um in die Emotionen zu kommen.«

MYP Magazine:
Wir besuchen dich zu Hause und fotografieren dich an deinem Arbeitsplatz: im Bett. Bei welcher alltäglichen Routine kommen dir die besten Ideen?

Julia Penner:
Beim Spazierengehen, tatsächlich mit Musik. Ich erstelle für jedes Projekt eine Spotify-Liste. Diese Angewohnheit stammt noch aus meiner Zeit als Schauspielerin. Da habe ich immer Musik gehört, um in die Emotionen zu kommen. Und Berlin hat viele Parks und Wege, die ich sehr kreativ und inspirierend finde. Überraschenderweise habe ich vor kurzem auch eine große Liebesbeziehung zu Zürich begonnen. Ich habe dort an einem Projekt im Writers Room mitgearbeitet und schnell gemerkt, dass die Stadt mein Herz erobert hat.

MYP Magazine:
„37 Sekunden“ ist ein sehr heftiger Stoff. Kann man so etwas zu Hause schreiben? Oder sucht man dafür lieber einen Ort, der Distanz zum eigenen Privatleben schafft?

Julia Penner:
Da wir die Serie während der Pandemie geschrieben haben, erübrigt sich die Antwort wohl. (lacht)

»Ich wollte mit dieser Serie eine intakte Familie sezieren.«

MYP Magazine:
Du hast bereits 2016 mit dem Stoff begonnen und das Ganze dann 2020 mit deinem Co-Autor David Sandreuter fertiggestellt. Ihn hast du mit ins Boot geholt, um mit ihm an der männlichen Perspektive zu arbeiten. Wie hat das funktioniert?

Julia Penner:
Ich wollte mit dieser Serie eine intakte Familie sezieren. Der Stein, der den Konflikt innerhalb dieses Personenkreises ins Rollen bringt, ist eine Vergewaltigung. Da die Geschichte ursprünglich in Dänemark spielen sollte, habe ich vorrangig nach jemandem gesucht, der die dortige Landessprache spricht. Ich finde es falsch zu sagen: Es braucht einen Mann im Writers Room, um diese Geschichte zu erzählen. David ist einfach ein sehr guter Autor, der zufälligerweise auch ein Mann ist. Ich habe mich auch für ihn entschieden, weil wir uns von Anfang an gut verstanden haben und ich sofort gemerkt habe, wie sehr er sich in die Geschichte einfühlt. Ich habe selbst MeToo-Erfahrungen gemacht, er nicht. Und er war genauso offen für meine Erfahrungen wie ich für die Tatsache, dass wir die Geschichte nur gut erzählen können, wenn auch der Täter, Carsten, verstanden wird.
Diese Ambivalenz auszuhalten und auszuloten hat David stark unterstützt. Außerdem war er in vielen Momenten für mich da. Wir haben viel recherchiert und mit einigen Anwälten in Kopenhagen gesprochen, die uns von Vergewaltigungsfällen erzählt haben. Und wenn man den sechsten Fall hört, wird einem irgendwann ganz schlecht. Einmal musste ich weinen, und dann hat er mich in den Arm genommen. Das hat mir gezeigt: Ich kann mich irgendwo festhalten in diesem Arbeitsprozess.

»Mir war mir wichtig zu zeigen, dass nichts an dieser Untersuchung für die Protagonistin beschämend ist.«

MYP Magazine:
Warum war es für euch so wichtig, mit echten Jurist*innen zu sprechen?

Julia Penner:
Am Anfang haben wir überlegt, ob wir die Geschichte so erzählen, dass Carstens Tochter ihn selbst verteidigt. Aber das ist rechtlich nicht möglich. Später ging es darum, die Gerichtsverhandlung so realistisch wie möglich zu gestalten und die richtigen Abläufe und Begriffe zu verwenden. Wir haben auch mit Leuten gesprochen, die in sogenannten Rape Stations arbeiten: Dort wird nach einer Gewalttat eine gynäkologische Untersuchung durchgeführt. Das ist auch die Untersuchung, der sich die Hauptfigur in unserer Serie unterzieht. Hier war es mir wichtig zu zeigen, dass nichts an dieser Untersuchung für die Protagonistin beschämend ist. Es war mir wichtig, dass die Zuschauerin nach dem Sehen in dieser Szene denkt: Okay, wenn mir so etwas passiert, werde ich gut behandelt.

»Man merkt, wie schnell die Leute auch vom Thema Lindemann übersättigt waren.«

MYP Magazine:
Glaubst du, es ist heute einfacher als noch 2016, eine Serie über so ein Thema bei den Filmförderungen „durchzubekommen“?

Julia Penner:
Ich wollte eine Serie über Konflikte innerhalb einer Familie machen – und speziell über Loyalität und Freundschaft. Der Aufhänger der Vergewaltigung, war zum Beispiel den Lehrenden an meiner Universität im Jahr 2016 noch zu schwach. Mittlerweile gibt es da eine größere Offenheit. Andererseits merkt man, wie schnell die Leute auch vom Thema Lindemann übersättigt waren. Vielleicht schadet das Thema Vergewaltigung der Serie auch, weil viele keine Lust haben, sich das auch noch fiktionalisiert anzusehen.

»Wir sprechen über einen Moment in der Grauzone.«

MYP Magazine:
Der berühmte Musiker Carsten wird gegenüber einer jungen Frau übergriffig, die ihn anhimmelt – und viel weniger ökonomische Macht hat. Es ist schon verrückt, dass wir dieses Interview schon vor Wochen vereinbart haben und jetzt gerade der Skandal um die Band Rammstein öffentlich wird, der genau diese Machtkonstellation thematisiert. Wie siehst du diese Debatte?

Julia Penner:
Ich verstehe die Frage, aber ich finde, dass unsere Serie in einem ganz anderen Kontext stattfindet. Da gibt es eine Liebesbeziehung zwischen Täter und Opfer, und dann kommt es zu einer Trennung, bei der ein Moment entsteht, der kippt. Bei Till Lindemann geht es um einen möglichen Vergewaltiger, der ein System aufgebaut hat, in dem zum Teil minderjährige Frauen emotional ausgebeutet und sexuell ausgenutzt werden. Das ist strukturelle Gewalt. Wir sprechen über einen Moment in der Grauzone – deshalb kann man die Geschichten nicht miteinander vergleichen, auch wenn beide im Musikermilieu spielen.

»Ich bin froh, dass die Opfer, meistens Frauen, immer mehr den Mut haben zu sprechen.«

MYP Magazine:
Kennst du solche strukturelle Gewalt auch in deiner eigenen Branche?

Julia Penner:
Auf jeden Fall. Ich habe lange im Theater gearbeitet und viele künstlerische Bereiche erlebt, in denen es Machtmissbrauch von Männern gegenüber Frauen oder auch von Frauen gegenüber Männern gab. Ich bin froh, dass sich dieses Verhältnis zu Machtverhältnissen langsam ändert und die Opfer, meistens Frauen, immer mehr den Mut haben zu sprechen – auch wenn sie in den sozialen Medien auf eine Art und Weise angegangen werden, die mich immer wieder kopfschüttelnd zurücklässt.

»Ich frage mich, wie man ernsthaft glauben kann, dass eine Frau mit dem Satz ›Ich wurde vergewaltigt!‹ unbedingt in die Öffentlichkeit will.«

MYP Magazine:
Apropos soziale Medien: Die Art und Weise, wie Leoni, die Hauptfigur deiner Serie, von Kommentatoren in den sozialen Medien und der klassischen Presse unter Druck gesetzt wird, kann sicherlich eine Diskussion darüber anregen, wie wir als Öffentlichkeit mit Vergewaltigungsvorwürfen umgehen.

Julia Penner:
Das hoffe ich. Denn wie im Fall Rammstein ist die erste Reaktion vieler Menschen: „Schon wieder so eine Frau, die nur ins Rampenlicht will.“ Da frage ich mich persönlich, wie man ernsthaft glauben kann, dass eine Frau mit dem Satz „Ich wurde vergewaltigt!“ unbedingt in die Öffentlichkeit will. Außerdem wird oft sehr schnell Mitleid mit dem armen Boxer, dem armen Journalisten oder dem armen Regisseur geäußert – weil er Projekte verliert und seine Arbeit nicht mehr floriert. Aber was ist mit den Frauen, die sich getraut haben zu sagen: „Er hat mich vergewaltigt!“ Arbeiten die noch?

»Hält uns das Prinzip Familie von gewissen progressiven Schritten in unserer Gesellschaft ab?«

MYP Magazine:
Besonders spannend ist der Konflikt der beiden zentralen Frauenfiguren: Die Juristin Clara will ihren Vater schützen und muss sich dafür quasi gegen ihre gleichaltrige beste Freundin Leonie stellen. Sich vorzustellen, selbst in so einer Situation zu sein, tut wahnsinnig weh. Wie hast du diesen Konflikt gestaltet?

Julia Penner:
Die Prämisse war, dass sich alle Charaktere lieben, aber die Familie auf dem Spiel steht. Tochter Clara steht zwischen den Stühlen: Natürlich ist sie gegen Vergewaltigung, aber wenn auf einmal ihr Vater angeklagt wird, was passiert dann mit ihrer Loyalität? Das System, das die Serie damit hinterfragt, ist die Familie. Hält uns das Prinzip Familie von gewissen progressiven Schritten in unserer Gesellschaft ab? Am Anfang war auch Clara absolut die Hauptprotagonisten, weil sie es wahnsinnig schwer hat – und man ihre Entscheidungen trotz der ganz klaren Einsicht in das Tatgeschehen verstehen kann.

»Ich wollte die Perspektive von Leonie einnehmen, ohne ihr ganzes Leben auf diese 37 Sekunden Vergewaltigung zu reduzieren.«

MYP Magazine:
Trotz der Schwere des Themas ist die Serie sehr nahbar und lebendig, teilweise sogar erotisch – und auf jeden Fall nicht so deprimierend, wie man beim Lesen des Klappentextes hätte vermuten können. Wie ist das gelungen?

Julia Penner:
Vielschichtige und widersprüchliche Charaktere zu schreiben, denen man einfach gerne folgt, weil man sich in ihnen vielleicht sogar wiedererkennt. Ich habe den Eindruck, dass die Leute, nachdem sie einen Film oder eine Serie über sexuelle Gewalt gesehen haben, oft denken: „Ich will nie wieder in meinem Leben Sex haben.“ Und das wollte ich ändern – ich wollte die Perspektive von Leonie einnehmen, ohne ihr ganzes Leben auf diese 37 Sekunden Vergewaltigung zu reduzieren: Opfer sind mehr als die Tat, die ihnen passiert ist. Langfristig geht es für mich in der MeToo-Debatte neben der Veränderung von Machtstrukturen nicht nur um die Konsensfrage, ob wir Sex haben wollen. Sondern auch darum, wie wir Sex haben wollen und wie wir Intimität miteinander gestalten können.

»Ich weiß noch, wie ich dem Team gesagt habe: Wir müssen unbedingt drehen, sonst muss ich den Kühlschrank zurückgeben.«

MYP Magazine:
Häufig stammt die gesamte Vision für einen Film oder eine Serie von einem kleinen Team an Drehbuchautor*innen. Im Fall von „37 Sekunden“ warst du auch stark an der Umsetzung beteiligt – in den letzten beiden Folgen spielst du sogar selbst mit, in der Rolle der Richterin. Wie ist es, ein Projekt von der Idee bis zur Verfilmung zu begleiten?

Julia Penner:
Die Umsetzung kann manchmal ewig dauern. Zuerst hatten wir einen dänischen Sender, der sich dann kurzfristig zurückgezogen hat. Zu dem Zeitpunkt hatte ich schon angefangen, Dänisch zu lernen – und dann schien das Projekt plötzlich tot zu sein. Die Rettung kam aus Deutschland. Eigentlich war alles schon unter Dach und Fach, und ich habe den Moment genutzt, um mir diesen Kühlschrank zu kaufen (zeigt auf das Gerät in ihrer Wohnung). Weil ich dachte: Jetzt kommt Geld in die Kasse. Aber dann ging es turbulent weiter. Wir haben eine Förderung nicht bekommen, weil jemand in der Förderstelle gesagt hat, man glaube die Grundkonstellation nicht. Plötzlich war wieder völlig unklar, ob wir drehen oder nicht. Ich weiß noch, wie ich dem Team gesagt habe: Wir müssen unbedingt drehen, sonst muss ich den Kühlschrank zurückgeben.

MYP Magazine:
Und wie ging es weiter?

Julia Penner:
Wir hatten Glück und durften drehen, mussten aber stark einsparen. Unser Kernteam ist dann mit der Regisseurin Bettina Oberli aufs Land gefahren. Dort haben wir geschaut, wie wir kürzen und vereinfachen können. Es ist diesem Umstand geschuldet, dass wir die gleiche Vision von der Serie entwickelt haben, und das war wahnsinnig toll. Wir haben übrigens fast chronologisch gedreht. Neben der Regisseurin zu sitzen, als die letzte Klappe gedreht wurde, und diesen Meilenstein eines Projektes so mitzuerleben, war ein überwältigendes Gefühl.

»Meine Mutter war ein Kriegskind und hat mit selbstgemischter Tinte Gedichte aus einem Buch abgeschrieben.«

MYP Magazine:
Du hast an der renommierten Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch studiert und hast das Schreibkollektiv Q3 mitgegründet, dessen Serie „Druck“ zum Beispiel für den Grimme-Preis nominiert wurden. Was in deinem Leben hat dir am meisten über das Schreiben beigebracht?

Julia Penner:
Meine Mutter! Meine Mutter war ein Kriegskind und hatte kein Geld für Bücher. Sie hat Gedichte aus einem Buch abgeschrieben, mit selbstgemischter violetter Tinte. Diese Gedichte habe ich immer noch. Meine Mutter lebt nicht mehr, aber jedes Mal, wenn ich schreibe, habe ich das Gefühl, mit ihr verbunden zu sein.

MYP Magazine:
Welche Projekte beschäftigen dich aktuell und wie weit bist du im Schreibprozess?

Julia Penner:
Unter anderem die Spionageserie „Davos“ mit dem Headautor Adrian Illien, die dieses Jahr für den SRF und die Degeto gedreht wurde, sowie die Vampirserie „Love Sucks“ von Headautor und Creator Marc O. Seng, die im September fürs ZDF gedreht wird. Außerdem entwickele ich gerade einen Kinofilm mit Andreas Kleinert und ein Serienprojekt mit dem Titel „Julia Penner sucht ein Privatleben in: Zürich?!“ für die Schweiz.

MYP Magazine:
Wow, du brauchst echt ein Privatleben.

Julia Penner:
Inshallah! Wobei das in Zürich tatsächlich gerade floriert, was mich sehr happy macht. Ich würde in diesem Zusammenhang auch gerne etwas humorvolles Schweizerdeutsches dazu schreiben, aber das haben mir meine Schweizer Freund*innen strikt verboten. Als Deutsche ist das nur peinlich.